Ananke

Er wurde aus dem Schlaf gestoßen, in die Dunkelheit. Hinter ihm — wo? — blieben die rötlichen, rauchverhangenen Umrisse — einer Stadt, einer Feuersbrunst? — und der Gegner zurück, der Wettlauf, ein aufragender Fels, der — war es jener Mensch gewesen? Noch jagte er der schwingenden Erinnerung nach, aber schon resigniert und nur getröstet durch das aus solchen Augenblicken wohlbekannte Bewußtsein, daß einem die Wirklichkeit im Traum intensiver und unmittelbarer erscheint als im Wachen, der Worte entledigt, doch bei aller unberechenbaren Launenhaftigkeit von einem Gesetz regiert, das allein dort, im Alptraum, greifbar war. Er wußte nicht, wo er sich befand, er konnte sich auf nichts besinnen. Es hätte genügt, die Hand auszustrecken, um sich zu vergewissern, aber er ärgerte sich über die Trägheit des eigenen Verstandes und versuchte, ihn zu einer Erklärung zu zwingen. Es war Selbstbetrug in der Bewegungslosigkeit, trotzdem wollte er an der Beschaffenheit des Lagers erkennen, wo er war. Auf jeden Fall war es keine Koje. Ein Blitz. Die Landung, Funken in der Wüste, eine Scheibe wie ein falscher, großer Mond, Krater, aber von Staub verweht, Stöße eines schmutzigrötlichen Sturmwinds, das Quadrat eines Kosmodroms, Türme. Der Mars.

Er blieb liegen und überlegte nun schon ganz nüchtern, weshalb er erwacht war. Auf den eigenen Körper konnte er sich verlassen; der wäre nicht ohne Grund munter geworden. Allerdings war die Landung ziemlich kompliziert gewesen und er sehr müde nach zwei Wachen ohne eine Sekunde der Ruhe: Terman hatte sich den Arm gebrochen, als der Automat Schub gegeben hatte und er gegen die Wand geschleudert worden war. So ein Esel, beim Einsetzen der Schubkraft von der Decke zu fallen, und das nach elf Jahren Flugpraxis! Natürlich mußte er ihn im Revier besuchen. Also war es das? Nein. Er begann die Ereignisse des vergangenen Tages zu rekapitulieren, vom Augenblick der Landung an: Atmosphäre so gut wie keine, aber eine Windgeschwindigkeit von 260 km/h, es war fast unmöglich, bei dieser geringen Gravitation zu stehen. Keinerlei Reibung unter den Schuhsohlen, man mußte sich bis zu den Knöcheln in den Sand bohren. Und dazu dieser Staub, der mit eisigem Zischen den Raumanzug scheuerte, in jedes Fältchen eindrang, Sand, der weder richtig rot noch rostfarben war, gewöhnlicher, aber sehr feiner Sand. Zermahlen in Milliarden von Jahren. Es gab kein Kommandogebäude, denn auch ein normaler Hafen fehlte; das Marsprojekt war im zweiten Jahr seiner Existenz noch immer ein Provisorium; was sie gebaut hatten, war verschüttet worden — kein Hotel, keine Unterkunft, nichts. Sauerstoffgespeiste Kuppeln, jede so riesig wie zehn Hangars zusammen, unter glänzenden Schirmkonstruktionen aus Stahlseilen, die an Betonblöcken, unter dem Flugsand kaum zu erkennen, verankert waren. Baracken, Wellblech, Stapel von Kisten, Containern, Behältern, Riesenflaschen, Säcken, eine ganze Stadt aus Ladegut, das von den Bändern der Versorgungsschiffe gerollt war. Die einzige annehmbare, im Bau vollendete, ordentlich eingerichtete Lokalität war das Gebäude der Flugkontrolle hinter der „Glocke“, zwei Meilen vom Kosmodrom entfernt, wo er gerade lag, im Finstern, auf dem Bett des diensthabenden Kontrolleurs Seyn. Er richtete sich auf und tastete mit bloßem Fuß nach den Pantoffeln. Die nahm er immer mit, und er zog sich auch stets zum Schlafen aus, denn wenn er sich nicht richtig wusch und rasierte, fühlte er sich seinen Aufgaben nicht gewachsen. Er wußte nicht mehr, wie der Raum aussah, also stand er für alle Fälle vorsichtig auf; den Schädel konnte man sich einstoßen bei dieser Materialeinsparung (das ganze Projekt bestand nur aus Sparmaßnahmen; er war einigermaßen informiert). Dann ärgerte er sich schon wieder, weil er vergessen hatte, wo die Schalter angebracht waren. Wie eine blinde Ratte… Er streckte die Hand aus und berührte statt eines Schalters einen kalten Riegel. Als er ihn drehte, spürte er leichten Widerstand, und dann öffnete sich der irisierende Fensterflügel. Ein drückender, schmutziger, matter Morgen graute. Als er am Fenster stand, das eher ein Bullauge war, ertastete er Bartstoppeln auf seiner Wange, verzog das Gesicht und seufzte. All dies paßte ihm nicht, obwohl er nicht wußte, weshalb. Hätte er übrigens nachgedacht, wäre er daraufgekommen.

Er konnte den Mars nicht ertragen. Es war eine rein persönliche Angelegenheit, niemand wußte davon, und es ging auch niemanden etwas an. Der Mars war die Verkörperung verlorener, verhöhnter, verlachter — aber teurer Illusionen. Er hätte es vorgezogen, auf jeder anderen Strecke zu fliegen, für ihn war das ganze Geschreibsel über die Romantik des Projekts Schwindel, die Aussichten auf Kolonisierung reine Fiktion. Ja, der Mars hatte sie alle betrogen — betrogen seit hundert und — zig Jahren. Die Kanäle. Eines der schönsten, unheimlichsten Abenteuer der Astronomie. Der rote Planet: also nur Wüste. Die weißen Polarschneekappen: die letzten Reste von Wasser. Das feine, wie mit Brillanten in Glas geritzte Netz reiner Geometrie von den Polen bis zum Äquator: ein Zeugnis vom Kampf der Vernunft gegen die Vernichtung, ein starkes Bewässerungssystem, das Millionen Hektar Wüstengebiet versorgte — aber mit Einbruch des Frühjahrs veränderte sich dennoch die Farbe der Wüstenstriche, sie wurden dunkel von der erwachten Vegetation, und zwar auf eigenartige Weise: vom Äquator zu den Polen.

Was für eine Idiotie. Von Kanälen keine Spur. Die Flora? Die geheimnisvollen frost- und sturmfesten Moose und Flechten? Polymerisierte höhere Kohlenoxyde, die den Boden bedeckten — und sich verflüchtigten, wenn der alptraumhafte Frost sich so weit milderte, daß er nur noch gräßlich war. Die Schneekappen? Gewöhnliches, erstarrtes CO2. Kein Wasser, kein Sauerstoff, kein Leben — zerklüftete Krater, von Sandstürmen zerfressene erratische Blöcke, langweilige Ebenen, eine tote, flache, graue Landschaft mit bleichem, rötlich-fahlem Himmel. Keine Wolken, nur gestaltlose Nebelschwaden, finster wie heftige Gewitter. Luftelektrizität dagegen — jede Menge und noch ein bißchen dazu.

War da ein Ton? Ein Signal? Nein, der Wind harfte in den Stahlseilen des nächstgelegenen „Ballons“. In dem schmutzigen Licht (der vom Wind herangetragene Sand wurde binnen kurzem selbst mit dem härtesten Glas fertig, und auch die Wohnkuppeln aus Plaste sahen aus, als hätten sie den grauen Star) zündete er die Lampe über dem Waschbecken an und begann sich zu rasieren. Während er die Wangen spannte, dachte er einen Satz, der so dumm war, daß er lachen mußte: Der Mars ist ein Schwein.

Das war wirklich eine Schweinerei, so viele Hoffnungen derart zu täuschen. Das paßte zur Tradition — aber von wem stammte die eigentlich? Von keinem einzelnen. Niemand hatte sich das allein ausgedacht; diese Konzeption war ebenso anonymer Herkunft wie Sagen und Legenden. Vielmehr war aus zusammengetragenen Phantasievorstellungen (der Astronomen? Mythen der beobachtenden Astronomie?) folgende Vision entstanden: Die weiße Venus, der wolkenverschleierte Morgen- und Abendstern, war ein junger Planet voller Dschungel und Echsen und vulkanischer Ozeane, mit einem Wort: die Vergangenheit der Erde. Der Mars dagegen — im Austrocknen begriffen, rostfarben, voller Sandstürme und Rätsel (die Kanäle zum Beispiel kriegten es nicht selten fertig, sich in ihrem Verlauf zu teilen, sie wurden über Nacht zu Zwillingen, was soundso viele Astronomen bestätigt hatten), der Mars, der mit seiner Zivilisation heroisch gegen die Abenddämmerung des Lebens ankämpfte, war die Zukunft der Erde; einfach, klar, deutlich, verständlich. So sehr, daß es von A bis Z nicht stimmte. Hinter dem einen Ohr sprossen drei Härchen, die der elektrische Apparat nicht zu fassen kriegt; das Rasiermesser war jedoch im Raumschiff geblieben, also versuchte er anders mit ihnen fertig zu werden. Es ging nicht. Der Mars. Diese Astronomen aus den Observatorien waren doch Leute mit blühender Phantasie gewesen. Schiaparelli zum Beispiel. Die unerhörten Namen, die er zusammen mit seinem größten Feind, dem Kanalgegner Antoniadi, all den Dingen gegeben hatte, die er nie gesehen, sondern sich nur vorgestellt hatte. Wenigstens in der Gegend, in der man gerade das Projekt errichtete: Agathodaemon. Dämon war klar, Agatho — von agathon = Weisheit? Schade, die Astronauten lernten kein Griechisch. Er hatte eine Schwäche für die alten Handbücher der stellaren und planetaren Astronomie. Diese rührende Selbstsicherheit: Im Jahre 1913 hatte man geschrieben, daß die Erde, vom Kosmos aus gesehen, rot sei, denn ihre Atmosphäre verschlucke den blauen Teil des Spektrums, also müsse das, was übrigbleibe, zumindest rosafarben sein. Ein Fehlschluß. Und dennoch, wenn man sich Schiaparellis prächtige Karten ansah, dann wollte einem einfach nicht in den Kopf, daß er etwas Nichtexistentes erblickt hatte. Und was am seltsamsten war: Andere nach ihm hatten es auch gesehen. Es war so etwas wie ein psychologisches Phänomen, dem man später keine Beachtung mehr schenkte. Zuerst bestanden vier Fünftel jedes Werkes über den Mars aus der Topographie und Topologie der Kanäle — so hatte sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein Astronom gefunden, der ihr Netz einer statistischen Analyse unterzog und seine topologische Ähnlichkeit mit einer Bahn-, also Verkehrssystem im Unterschied zu dem Verlauf der natürlichen Risse oder Flüsse aufdeckte, und dann war die Sache geplatzt wie eine Seifenblase: eine optische Täuschung. Basta. Er säuberte den Rasierapparat, und während er ihn im Futteral verstaute, sah er sich noch einmal, schon mit unverhohlenem Mißvergnügen, dieses ganze Agathodaemon an, diesen rätselhaften „Kanal“, der aus einem langweiligen, flachen Terrain mit zahllosen Schutthaufen am nebligen Horizont bestand. Verglichen mit dem Mars, war der Mond geradezu gemütlich. Sicherlich wäre das jemandem, der sich noch nie von der Erde wegbewegt hatte, seltsam vorgekommen, aber es war nun mal die reine Wahrheit. Erstens wirkte die Sonne von dort aus gesehen genauso wie von der Erde aus, und daß dies wichtig war, wußte jeder, der sich weniger gewundert als vielmehr direkt erschrocken hatte, wenn er sie in Form eines geschrumpften, verwelkten, ausgekühlten Feuerbällchens erblickte. Und dann die majestätische blaue Erde, wie eine Lampe, wie ein Symbol sicherer Nähe, wie ein Symbol der Heimat, das die Nächte so schön erhellte — während der Phobos und der Deimos zusammen nicht einmal soviel Licht spendeten wie der Mond im ersten Viertel. Ferner die Stille. Das Fehlen jeglicher Atmosphäre — kein Zufall, daß es einfacher war, den ersten Schritt des Apolloprojekts im Fernsehen zu übertragen als einen analogen Vorgang beispielsweise vom Gipfel des Himalaja. Und was für den Menschen ein pausenloser Wind bedeutet, davon konnte man sich richtig erst auf dem Mars überzeugen.

Er sah auf die Uhr: Sie war eine völlig neue Errungenschaft mit fünf konzentrischen Zifferblättern, die die Standardzeiten der Erde, die Bordzeit und die planetare Zeit anzeigten. Es war kurz nach sechs. Morgen um diese Zeit bin ich vier Millionen Kilometer von hier weg, dachte er nicht ohne Genugtuung. Er gehörte zum „Klub der Transporter“, die das Projekt versorgten, aber die Tage seines Dienstes waren gezählt, denn für die Linie Ares-Terra waren schon die riesigen neuen Flugkörper mit einer Ruhemasse von hunderttausend Tonnen vorgesehen. Seit ein paar Wochen waren „Ariel“, „Ares“ und „Anabis“ auf Marskurs; Ariel sollte in zwei Stunden landen. Er hatte noch nie die Landung eines Hunderttausenders beobachtet, weil diese auf der Erde nicht aufsetzen konnten; sie wurden auf dem Mond beladen, den Berechnungen der Ökonomen zufolge zahlte sich das aus. Raumschiffe wie sein „Cuivier“ mit zehn-bis zwanzigtausend Tonnen sollten ein für allemal von der Bühne verschwinden. Bestenfalls würde man noch ein paar Kleinigkeiten mit ihnen transportieren. Es war sechs Uhr zwanzig, und ein vernünftiger Mensch hätte um diese Zeit etwas Warmes zu sich genommen. Der Gedanke an Kaffee war in der Tat verlockend. Aber er wußte nicht, wo man hier Verpflegung bekam. Er war zum erstenmal im Agathodaemon. Bisher hatte er das Hauptfeld angeflogen, das der Syrte. Weshalb man den Mars an zwei Punkten zugleich anging, die zehn- bis zwanzigtausend Meilen voneinander entfernt waren? Er kannte die wissenschaftlichen Gründe, aber er dachte sich sein Teil. Übrigens trug er seine Kritik nicht zu Markte. Die Große Syrte sollte das thermonukleare und intellektronische Polygon werden. Dort sah es ganz anders aus. Es gab Leute, die behaupteten, das Agathodaemon sei das Aschenputtel des Projekts, es hätte schon mehrmals vor der Auflösung gestanden. Aber immer noch rechnete man mit dem angeblich gefrorenen Wasser, mit den dicken Gletschern aus Urzeiten, die hier unter dem verharschten Boden verborgen sein sollten — sicher, wenn das Projekt auf Wasser stieße, wäre das ein wahrer Triumph in Anbetracht der Tatsache, daß vorerst jeder Tropfen von der Erde hergebracht werden mußte und daß man schon seit zwei Jahren an einer Einrichtung baute, die den Wasserdampf aus der Atmosphäre auffangen sollte. Die Inbetriebnahme wurde jedoch ständig aufs neue verschoben. In der Tat, der Mars besaß für ihn keinerlei Reiz. Er wollte noch nicht hinausgehen — in dem Gebäude war es so still, als wären alle ausgeflogen oder gestorben. Vor allem deshalb aber blieb er lieber hier, weil er sich ans Alleinsein gewöhnt hatte — als Kommandant eines Raumschiffes konnte man sich zurückziehen, wann immer man wollte, und die Einsamkeit tat ihm gut: Nach einem längeren Flug — jetzt, da Erde und Mars in Opposition standen, brauchte man mehr als drei Monate — mußte er sich immer überwinden, um gleich unter fremde Menschen zu gehen. Und hier kannte er niemanden außer dem diensthabenden Kontrolleur. Er hätte zu ihm hinaufgehen können, aber das schmeckte ihm nicht. Es gehörte sich nicht, die Leute bei der Arbeit zu stören. Er urteilte aus eigener Erfahrung: Ungebetene Gäste mochte auch er nicht. In seinem Necessaire steckte die Thermosflasche mit einem Rest Kaffee und ein Päckchen Keks. Er bemühte sich, beim Essen keine Krümel zu verstreuen, spülte mit Kaffee nach und schaute durch die sandzerkratzte Fensterscheibe auf den alten, flachen, gleichsam todmüden Boden dieses Agathodaemons. Der Mars machte einen seltsamen Eindruck auf ihn: als wäre ihm alles gleichgültig und als wären deshalb die Krater so merkwürdig angehäuft, anders als die Mondkrater, wie ausgeschwemmt (hineinretuschiert, hatte er einmal beim Betrachten großer, guter Fotos gedacht), und als wirkten deshalb die wilden Klüfte so sinnlos, „Chaos“ nannte man sie, die Lieblingsplätze der Areologen, denn ähnliche Formationen gab es auf der Erde nicht. Der Mars schien resigniert zu haben, er dachte weder daran, sein Wort zu halten, noch hielt er es für nötig, den Schein zu wahren. Wenn man sich ihm näherte, verlor er sein solides rotes Aussehen, hörte auf, ein Wahrzeichen des Kriegsgottes zu sein, überzog sich mit ausdruckslosem Dunkelgrau, mit Flecken und Schmutzspuren, zeigte keinerlei deutliche Konturen wie etwa die Erde oder der Mond. Verschwommenheit, rostiges Grau und ewiger Wind. Unter sich spürte er ein feines Zittern — ein Transformator. Ansonsten herrschte weiter Stille, in die ab und zu wie aus einer anderen Welt der ferne Gesang des Windes drang, der in den Seilen der Wohn-„Glocke“ spielte. Der verteufelte Sand war mit der Zeit sogar mit den Zweizöllern aus hoch veredeltem Stahl fertig geworden. Auf dem Mond konnte man jeden Gegenstand im Steingeröll liegenlassen und nach hundert, ja nach einer Million Jahren mit der Gewißheit zurückkehren, daß er unversehrt war. Auf dem Mars dagegen konnte man nichts aus der Hand legen — es versank auf Nimmerwiedersehen. Dieser Planet hatte kein Benehmen.

Um sechs Uhr vierzig rötete sich der Horizont, die Sonne ging auf, und dieser Fleck Helligkeit (ohne Morgenröte, woher auch) erinnerte ihn unvermittelt durch seine Farbe an den nächtlichen Traum. Voller Verwunderung stellte er langsam die Thermosflasche weg und wußte auf einmal, worum es gegangen war.

Jemand hatte ihn umbringen wollen — aber er hatte diesen Jemand getötet. Der Tote hatte ihn durch eine roterleuchtete Finsternis gejagt; er hatte noch ein paarmal versucht, ihm den Garaus zu machen, ohne daß es etwas half. Idiotisch natürlich, aber da war noch etwas gewesen: Er war so gut wie sicher, daß er im Traum diesen Mann gekannt hatte, jetzt jedoch hatte er keine Ahnung, mit wem er da so verzweifelt gekämpft hatte.

Möglicherweise war ihm das Gefühl des Bekannt seins auch nur vom Traum vorgegaukelt worden. Er grübelte vergebens; das eigenwillige Gedächtnis blieb stumm, und alles verkroch sich wieder wie eine Schnecke im Haus.

So stand er am Fenster, die Hand am Stahlrahmen, leicht verstört, als ginge es um wer weiß was. Der Tod. Es war klar, daß es mit der Weiterentwicklung der Raumfahrt auch zu Todesfällen auf den Planeten kam, und der Mond erwies sich in dieser Hinsicht als loyal. Hier versteinerten die Toten, wurden zu eisigen Bildsäulen, zu Mumien, deren Leichtigkeit, fast Gewichtslosigkeit das traurige Ereignis weniger tragisch erscheinen ließ. Auf dem Mars dagegen mußte man sich unverzüglich um sie kümmern, denn die Sandstürme zerschnitten jeden Skaphander binnen weniger Tage, und bevor die große Trockenheit die sterblichen Überreste mumifizieren konnte, waren die Gebeine freigelegt, poliert, geschliffen, bis das nackte Skelett in diesem fremden Sand, unter diesem schmutziggrauen, fremden Himmel zerfiel — eine Schmach, ein Vorwurf an das Gewissen, so als ob die Menschen, wenn sie auf ihren Raketen mit dem Leben zugleich auch die Sterblichkeit herbrachten, etwas Ungehöriges taten, etwas, dessen man sich schämen, das man wegtun, verstecken, vergraben mußte. All das hatte keinen Sinn, aber in diesem Augenblick empfand er es so. Um sieben Uhr war Ablösung bei den Flugkontrolleuren, und dann hatten auch Fremde zu ihren Arbeitsräumen Zutritt. Er verstaute seine paar Utensilien im Necessaire und ging mit dem Gedanken hinaus, daß er sich vergewissern mußte, ob die Entladung seines „Cuivier“ reibungslos klappte. Bis Mittag mußte das gesamte Stückgut geborgen sein, und es gab auch ein paar Dinge, die einer Überprüfung bedurften. Zum Beispiel das Kühlungssystem des Hilfsreaktors, zumal er mit verringerter Besatzung zurückkehren mußte, denn es konnte keine Rede davon sein, daß man ihm hier einen Ersatz für Terman stellte. Über die mit Schaumplast gepolsterte Wendeltreppe, deren Geländer seltsam warm, wie beheizt war, gelangte er ins Obergeschoß. Als er die breite Schwingtür mit den Milchglasscheiben öffnete, sah er sich plötzlich einer völlig anderen Umgebung gegenüber, so daß auch er nicht mehr er selbst zu sein glaubte. Der Raum sah aus wie das Innere eines Riesenkopfes mit sechs großen, konvexen Glasaugen, die in drei Himmelsrichtungen starrten. Nur in drei, denn an der vierten Wand waren die Antennen montiert, und der ganze kleine Saal war um die eigene Achse schwenkbar wie eine Drehbühne. Er stellte auch in gewissem Sinn eine Bühne dar, über die stets dieselben Stücke gingen: Starts und Landungen. Da sie sich nur in einer Entfernung von einem Kilometer abspielten, waren sie von den runden, breiten Pulten aus, die mit den silbriggrauen Wänden eine Einheit zu bilden schienen, so deutlich zu erkennen wie auf der flachen Hand. Das Ganze wirkte ein bißchen wie der Kontrollturm eines Flughafens und ein bißchen wie ein Operationssaal; an der blinden Wand thronte unter schräger Überdachung der Hauptcomputer für die Direktver-r bindung mit den Raumschiffen; er blinzelte und tickte in einem fort, während er seine stummen Monologe hielt und Stückchenweise Lochbänder ausspie; dann gab es drei Reservekontrollplätze mit Mikrofonen, Punktlampen, Drehsesseln und Handrechenautomaten der Kontrolleure, die klobigen Straßenhydranten ähnelten; und schließlich fand sich auch eine kleine, aber unförmige Bar mit leise zischender Espressomaschine. Da also war die Kaffeequelle! Seinen „Cuivier“ konnte er von hier aus nicht sehen, er hatte ihn auf Anweisung der Kontrolle drei Meilen weiter abgestellt, hinter all dem Betongerümpel. Das gehörte zu den Vorkehrungen, die für die Ankunft der ersten Superschweren Flugeinheit des Projekts getroffen wurden, als wäre sie nicht mit den neuesten Kosmonautic und Astrolokationsautomaten ausgestattet, die, wie die Konstrukteure der Werft zu rühmen wußten (er kannte sie fast alle), diesen Viertelmeilengoliath, dieses Eisengebirge auf einer Fläche von der Größe eines Schrebergartens sicher aufsetzen konnten. Alle Mitarbeiter des Hafens aus drei Schichten waren zu dieser Feier gekommen, die übrigens keine offizielle Feier war, denn „Ariel“ hatte wie jeder Prototyp Dutzende Probeflüge und Mondlandungen absolviert; allerdings war er noch nie mit voller Belastung in eine Atmosphäre eingedrungen. Bis zur Landung blieb noch fast eine halbe Stunde, also begrüßte Pirx diejenigen, die dienstfrei hatten, und drückte dann auch Seyn die Hand. Die Empfänger waren schon in Betrieb, über die Fernsehschirme liefen verschwommene Streifen, aber die Lichter des Anflugradars leuchteten noch in fleckenlosem Grün zum Zeichen, daß man noch eine Menge Zeit hatte und daß sich noch nichts tat. Romani, der Basisleiter des Agathodaemons, empfahl ihm zum Kaffee ein Gläschen Kognak. Pirx zögerte, aber schließlich war er ja Privatperson, und obwohl er es nicht gewohnt war, zu so früher Stunde Alkohol zu sich zu nehmen, sah er ein, daß es ihnen um eine symbolische Weihe des Augenblicks ging, wartete man doch seit Monaten auf diese Supereinheiten, die die Leitung von den ständigen Sorgen befreien sollten. Denn bisher hatte es ein unaufhörliches und ungleiches Rennen gegeben, ein Rennen zwischen den Bedürfnissen des Bauvorhabens, die von der Flottille des Projekts nicht befriedigt werden konnten, und den Bemühungen der Transportpiloten wie Pirx, ihren Dienst auf der Linie Mars-Erde so gut und schnell wie möglich zu verrichten. Jetzt, nach der Opposition, entfernten sich beide Planeten voneinander, die Distanz würde noch jahrelang wachsen, bis sie das bestürzende Maximum von Hunderten von Millionen Kilometern erreicht hatte; und gerade in diesem für das Projekt schlimmsten Zeitraum rollte die starke Unterstützung an. Alle sprachen gedämpft, und als das grüne Licht erlosch und die Summer ertönten, trat absolute Stille ein. Ein typischer Marstag zog herauf, nicht trüb, nicht klar, ohne deutlichen Horizont, ohne deutlichen Himmel, wie ohne Zeit, die sich bestimmen und berechnen ließe. Trotz des Tageslichts waren die Ränder der flach im Zentrum des Agathodaemons liegenden Betonquader befeuert; dort gingen automatisch die Lasersignale an, und der Umriß der zentralen Rundscheibe aus fast schwarzem Beton war markiert. Die Kontrolleure machten es sich in ihren Sesseln bequem, sie hatten übrigens so gut wie keine Arbeit; dafür ließ der Hauptcomputer seine Scheiben aufleuchten, als wollte er alle Anwesenden auf seine außergewöhnliche Wichtigkeit hinweisen. Die Relais begannen irgendwo leise zu schnarren, und aus dem Lautsprecher drang ein ausdrucksvoller Baß:

Hallo, Agathodaemon — hier Ariel. Klyne am Apparat, wir sind auf der Optischen — Höhe sechshundert, in zwanzig Sekunden schalten wir auf Landeautomaten um — Kommen! Agathodaemon an Ariel! sagte hastig der kleine Seyn, das Vogelgesicht an der Membran des Mikrofons — er hatte rasch seine Zigarre ausgedrückt. Wir haben euch auf allen verfügbaren Schirmen — Legt euch hin und kommt schön runter — Kommen! Wie witzig, dachte Pirx, der so etwas nicht mochte, vielleicht weil er abergläubisch war. Aber sie hatten den Ablauf offensichtlich im kleinen Finger. Ariel an Agathodaemon! Haben dreihundert, schalten die Automaten ein, steigen ohne Seitendrift ab, null zu null — Wie ist die Windstärke? Kommen!

Agathodaemon an Ariel! Wind 180 pro Stunde, Nordnordwest — der kann euch nichts anhaben — Kommen! Ariel an alle!

Steigen heckwärts axial ab — automatische Steuerung — Ende.

Es wurde still, nur die Relais schnarrten leise vor sich hin, und auf den Schirmen zeigte sich schon deutlich weiß ein flammender Punkt, der sich rasch vergrößerte, als würde ein bauchiges Gefäß aus geschmolzenem Glas aufgeblasen. Es war das feuerspeiende Heck des Raumschiffs, das in der Tat lotrecht niederging, ohne das leiseste Zittern, ohne Seitendrift, ohne Drehungen — für Pirx war das ein angenehmer Anblick. Er schätzte die Entfernung auf etwa hundert Kilometer; vor fünfzig hatte es keinen Zweck, den Himmel mit bloßem Auge zu beobachten, außerdem standen schon viele andere mit hochgereckten Köpfen an den Fenstern.

Die Kontrolle hielt ständigen Funkkontakt mit dem Raumschiff, aber es gab einfach nichts zu besprechen, die Besatzungsmitglieder lagen vollzählig in den Antischwerkraftsitzen, alles wurde von den Automaten unter Anleitung des Raketenhauptcomputers erledigt, der auch selbständig den Übergang von Atomschub auf Boranschub bestimmte, und zwar bei sechzig Kilometer Höhe, also genau an der Grenze der dünnen Atmosphäre. Pirx trat an das mittlere, das größte Fenster und erblickte am Himmel hinter dem blaßgrauen Nebelschleier ein mikroskopisch kleines, grellgrünes Feuer, das mit einem ungewöhnlichen Funkeln vibrierte, als würde der Marshimmel von oben mit einem glühenden Smaragd angebohrt. Der gleichmäßig glühende Punkt sandte nach allen Seiten blasse Streifen aus, wahrscheinlich Wolkenfetzen oder vielmehr Reste jener Mißgeburten, die deren Stelle in dieser Atmosphäre vertraten. In den Rückstoßbereich eingesogen, entzündeten sie sich und zerfielen wie Feuerwerk. Das Raumschiff wurde größer, das heißt nur sein rundes Heck. Die Luft darunter flimmerte erheblich von der Hitze, und daher konnte es einem Uneingeweihten scheinen, als neigte sich die Rakete ein wenig zur Seite, aber Pirx kannte diesen Anblick zu gut, um sich täuschen zu lassen. Alles verlief so ruhig, so ganz ohne Spannung, daß ihm die ersten Schritte des Menschen auf dem Mond in den Sinn kamen, wo es ebenfalls wie geschmiert gegangen war. Das Heck war jetzt schon eine feurige grüne Scheibe mit einem sprühenden Funkenkranz. Er blickte auf das Hauptaltimeter über den Kontrollpulten, denn wenn man es mit einer so großen Einheit zu tun hatte, konnte man sich beim Schätzen der Höhe leicht irren: elf, nein zwölf Kilometer trennten „Ariel“ vom Mars — offenbar ging er infolge des sich verstärkenden Bremsschubs immer langsamer nieder. Plötzlich passierten mehrere Dinge auf einmal. Die Heckdüsen des „Ariel“ in ihrer grünen Flammenkorona erzitterten anders, als es eben noch der Fall war. Aus dem Lautsprecher drang ein unverständliches Stammeln, ein Aufschrei, etwas wie „Hand“ oder „Halt“, nur ein einziges, unartikuliertes Wort, ausgestoßen von einer menschlichen Stimme, die so entstellt war, daß sie nicht Klyne zu gehören schien. Der grüne Feuerstrahl aus dem Heck verblaßte im Bruchteil einer Sekunde. Im nächsten Augenblick zerstob er in einem schrecklichen, weißblauen Blitz, und mit dem Schauder, der Pirx von Kopf bis Fuß durchfuhr, war ihm sofort alles klar, so daß ihn die schrille, gewaltige Stimme, die aus dem Lautsprecher drang, keineswegs überraschte.

Ariel… (Schnaufen) Abbruch des Manövers — Ein Meteorit — Mit vollem Schub axial voraus — Achtung, voller Schub! Das war der Automat. Seine Stimme wurde von Schreien untermalt, es hörte sich wenigstens so an.

Jedenfalls hatte Pirx die Veränderung in der Farbe der Rückstoßflamme richtig interpretiert: die Borane waren durch die volle Schubkraft der Reaktoren abgelöst worden, und das riesige Raumschiff verharrte — so sah es wenigstens aus —, wie vom Schlag einer gewaltigen, unsichtbaren Faust getroffen, in allen Fugen zitternd in der dünnen Luft, fünf-oder vielleicht viertausend Meter über der Scheide des Kosmodroms. Es war ein unerhörtes Manöver wider alle Regeln und Vorschriften, wider die gesamte Kosmoslotsenkunde, diese Masse von hunderttausend Tonnen zu stoppen, denn zuerst mußte ihre Fallgeschwindigkeit gedrosselt werden, ehe sie wieder in die Höhe schießen konnte. Pirx beobachtete in perspektivischer Verkürzung die Flanke des riesigen Zylinders. Die Rakete hatte ihre senkrechte Lage verloren, sie neigte sich. Ganz langsam begann sie sich aufzurichten, aber sie schlug nach der anderen Seite aus wie ein gigantisches Pendel, und der folgende, entgegengesetzte Neigungswinkel war noch größer. Bei einer so geringen Geschwindigkeit war der Verlust der Stabilität in dieser Amplitude nicht mehr auszugleichen; erst in diesen Sekunden vernahm Pirx den Schrei des Chefkontrolleurs: Ariel! Ariel… Was macht ihr da? Was ist passiert? Pirx, am unbesetzten Pult neben ihm, brüllte aus voller Lunge ins Mikrofon: Klyne! Geh auf Handsteuerung! Auf Handsteuerung zur Landung — Handsteuerung! Ein gedehntes, nicht enden wollendes Donnergetöse — erst jetzt drang die Schallwelle zu ihnen! Wie schnell mußte sich alles abgespielt haben! Die Leute an den Fenstern brachen in einen vielstimmigen Schrei aus, die Kontrolleure verließen ihre Pulte. Ariel sackte ab wie ein Stein, spie blindlings die Heckfeuer in die Atmosphäre, drehte sich langsam, kraftlos wie ein Leichnam; es war, als senkte sich ein riesiger Eisenturm vom Himmel auf den schmutzigen Wüstenflugsand. Alle standen wie angewurzelt in der dumpfen, schrecklichen Stille, denn es war nichts mehr zu machen; der Lautsprecher gab ferne, undeutliche, krächzende Geräusche von sich, unerfindlich, ob Meerestosen oder menschliche Stimmen, alles verschwamm zu einem einzigen Chaos, während der weiße, in Glanz gebadete, unvorstellbar lange Zylinder immer schneller in die Tiefe jagte; es sah aus, als würde er direkt im Kontrollgebäude einschlagen. Jemand neben Pirx stöhnte auf. Sie zuckten instinktiv zusammen. Der Rumpf schnitt schräg in eine der niedrigen Einfassungen hinter der Scheibe ein, zerbrach in zwei Teile, und während er weiter barst, so daß die Reste nach allen Seiten geschleudert wurden, bohrte er sich in den Staub. In Sekundenschnelle bildete sich eine zehn Stockwerk hohe Wolke, in der es donnerte, polterte, Feuergarben sprühte. Über den gischtigen Vorhang des aufgewirbelten Sands schob sich der immer noch blendendweiße Bug des Raumschiffs, der vom Rest abgerissen war, und flog ein paar hundert Meter durch die Luft. Sie hörten ein, zwei, drei heftige Aufschläge, die Erdstößen glichen. Das ganze Gebäude wurde erschüttert, es ging hoch und nieder wie ein Boot in der Brandung. Dann erhob sich unter dem höllischen Getöse des berstenden Eisenschrotts eine schwarzbraune Wand aus Rauch und Ruß, die alles verdeckte. Und das war „Ariels“ Ende. Als sie die Treppen hinunterstürzten, dem Ausgang zu, gab es für Pirx — er war als einer der ersten in die Kombination geschlüpft keinen Zweifel mehr: Einen solchen Absturz konnte niemand überleben.

Dann rannten sie, von Windstößen gepeitscht; in der Ferne, von der „Glocke“ her, sah man die ersten Raupenfahrzeuge und Hovercrafts. Aber zur Eile gab es keinen Grund mehr. Pirx wußte selbst nicht, wie und wann er ins Kontrollgebäude zurückgelangt war. Mit dem Anblick des Kraters und des zusammengedrückten Rumpfs vor Augen, fragte er sich, wieso er sich in seinem kleinen Zimmer befand, so daß er erst richtig zu sich kam, als er im Wandspiegel das eigene, grau gewordene, plötzlich geschrumpfte Gesicht erblickte.

— Mittags wurde eine Expertenkommission zusammengerufen die die Ursachen der Katastrophe untersuchen sollte.

Noch waren Arbeitsgruppen dabei, mit Baggern und Kränen die Teile des riesigen Rumpfs wegzuschleppen, noch war man nicht zu der tief in den Boden festgekeilten Steuerkabine vorgedrungen, in der sich die Kontrollautomaten befanden, als bereits eine Gruppe Spezialisten von der Großen Syrte angeflogen kam, mit einem der eigenartigen kleinen Hubschrauber, die mit riesigen Propellern ausgestattet waren und nur zum Verkehr in der dünnen Marsatmosphäre taugten. Pirx ging allen aus dem Weg und stellte keine Fragen, denn ihm war nur zu klar, daß die Sache außerordentlich mysteriös war. Während des normalen Landevorgangs, der in erprobte Etappen eingeteilt und programmiert war wie ein tadellos funktionierender Eisenbahnfahrplan, hatte der Hauptcomputer des „Ariel“ ohne ersichtlichen Grund den Boranschub gedrosselt, Signale gegeben, die in Relikten an Meteoritenalarm erinnerten, und auf Startantrieb mit vollem Schub umgeschaltet; die Stabilität, die er während dieses halsbrecherischen Manövers verloren hatte, konnte er nicht mehr zurückgewinnen. So etwas war in der Geschichte der Astronautik noch nicht vorgekommen, und naheliegende Vermutungen — daß der Computer versagt hatte, daß ein Kreis kurzgeschlossen oder durchgebrannt war — entbehrten jeder Wahrscheinlichkeit, denn es handelte sich um eines von zwei Programmen — Start und Landung —, die so gründlich gegen Havarien abgesichert waren, daß man schon eher auf Sabotage schließen konnte. In dem Kämmerchen, das ihm Seyn in der Nacht zuvor überlassen hatte, zerbrach er sich den Kopf über diese Frage und steckte absichtlich nicht die Nase aus der Tür, um nicht gesehen zu werden, zumal er ja in zehn bis zwanzig Stunden starten sollte, und er sah keinerlei Veranlassung, sich in die Kommission einzudrängen. Es zeigte sich jedoch, daß man ihn nicht vergessen hatte; kurz vor eins schaute Seyn bei ihm vorbei, begleitet von Romani, der auf dem Korridor wartete. Als Pirx herauskam, erkannte er ihn nicht gleich: der Chef des Agathodaemons sah auf den ersten Blick aus wie ein Mechaniker. Er trug einen schmutzigen, mit nassen Flecken bedeckten Arbeitsanzug, sein Gesicht schien vor Erschöpfung abgezehrt, der linke Mundwinkel zuckte, nur die Stimme war dieselbe geblieben. Er bat Pirx im Namen der Kommission, der er angehörte, den Start seines „Cuivier“ zu verschieben.

„Natürlich…, wenn ich gebraucht werde.“ Pirx war überrascht; er versuchte sich zu sammeln. „Ich muß nur die Genehmigung der Basis einholen.“

„Das erledigen wir, wenn Sie einverstanden sind.“ Keiner verlor mehr ein Wort darüber, und sie gingen zu dritt zum Hauptballon“, wo in dem langgestreckten, niedrigen Domizil der Leitung gut zwanzig Experten saßen — einige hiesige, die meisten jedoch von der Großen Syrte. Es war zwar Mittagszeit, aber es ging um Stunden, deshalb bekamen sie kalte Verpflegung aus dem Büfett, und so begannen die Beratungen bei Tee und Imbiß, was dem Ganzen einen inoffiziellen, fast unseriösen Anstrich gab. Der Vorsitzende, Ingenieur Hoyster, bat zuerst Pirx um eine Schilderung der Katastrophe, und der konnte sich denken, warum. Er war der einzige über jeden Zweifel erhabene unparteiische Zeuge, denn er gehörte weder zum Kollektiv der Flugkontrolleure noch zur Besatzung des Agathodaemons. Als Pirx auf sein eigenes Eingreifen zu sprechen kam, wurde er zum erstenmal von Hoyster unterbrochen.

„Also Sie wollten Klyne dazu bewegen, die gesamte Automatik außer Betrieb zu setzen und zu versuchen, von Hand zu landen. Ist das richtig?“

„Ja.“

„Und darf man erfahren, warum?“ Pirx zögerte nicht mit der Antwort: „Ich hielt es für die einzige Chance.“

„So. Aber mußten Sie nicht annehmen, daß der Über- gang auf Handsteuerung einen Stabilitätsverlust nach sich ziehen konnte?“

„Die war schon verloren. Das kann man übrigens nachprüfen; es gibt ja die Bänder.“

„Natürlich. Wir wollten uns zuerst einen allgemeinen Eindruck verschaffen. Was ist Ihre persönliche Meinung?“

„Über die Ursache…?“

„Ja. Denn bevor wir mit den Beratungen beginnen, müssen wir Informationen sammeln. Wir legen nicht jedes Wort auf die Goldwaage, aber jede Vermutung kann sich als wertvoll erweisen, und sei sie auch noch so gewagt.“

„Verstehe. Mit dem Computer ist etwas passiert. Ich weiß nicht was, und ich weiß ebensowenig, wie das möglich war. Wäre ich nicht Zeuge gewesen, ich hätte es nicht geglaubt, aber ich war dabei und habe alles gehört. Er hat das Manöver abgebrochen und Meteoritenalarm gegeben, wenn auch nur andeutungsweise. Es klang ungefähr wie „Meteoriten — Achtung, mit voller Leistung axial voraus“. Aber da keine Meteoriten da waren…“ Pirx hob die Schultern und brach ab.

„Dieses Modell, mit dem „Ariel“ ausgestattet war, ist eine verbesserte Version des Computers AIBM 09“, bemerkte Boulder, ein Elektroniker, den Pirx von flüchtigen Begegnungen auf der Großen Syrte kannte. Pirx nickte. „Ich weiß. Deshalb sage ich ja, daß ich es nicht glauben würde, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen. Aber es ist passiert.“

„Und was meinen Sie, Kommandant: Warum hat Klyne nichts unternommen?“ fragte Hoyster. Pirx spürte plötzlich eine innere Kälte und schaute in die Runde, ehe er antwortete. Diese Frage mußte natürlich kommen.

Doch er hätte es vorgezogen, sie nicht als erster beantworten zu müssen.

„Das weiß ich nicht.“

„Sicher. Aber Ihre langjährige Erfahrung gestattet Ihnen, sich an seine Stelle zu versetzen…“

„Das habe ich schon versucht. Ich hätte das gemacht, wozu ich ihm raten wollte.“

„Und er?“

„Es kam keine Antwort. Geräusche. Wie Schreie. Man wird die Bänder sehr aufmerksam abhören müssen, aber ich fürchte, daß nicht viel dabei herauskommt.“

„Herr Kommandant“, sagte Hoyster leise, aber ungewöhnlich langsam, als wählte er sorgfältig jedes Wort, „Sie sind über die Situation informiert, nicht wahr? Zwei weitere Einheiten derselben Klasse, mit demselben Steuersystem ausgestattet, befinden sich gegenwärtig auf dem Kurs Terra-Ares. „Ares“ wird in sechs Wochen eintreffen, „Anabis“ schon in einer Woche. Selbstverständlich sind wir den Opfern verpflichtet, aber noch größer ist unsere Verantwortung für die Lebenden. Zweifellos haben Sie während der letzten fünf Stunden über das Vorgefallene nachgedacht. Ich kann Sie nicht dazu zwingen, aber ich bitte Sie, uns Ihre Überlegungen mitzuteilen.“

Pirx fühlte, daß er blaß wurde. Was Hoyster sagen wollte, hatte er schon aus dessen ersten Worten erraten, und der seltsame Eindruck aus dem nächtlichen Traum war sofort wieder gegenwärtig: das Gefühl der wütenden, verzweifelten, stummen Anstrengung, mit der er gegen einen Gegner ohne Gesicht gekämpft hatte, ohne ihn zu besiegen, und danach mit ihm zusammen umgekommen war. Es war nur ein Augenblick. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt und konnte Hoyster in die Augen blicken. „Ich verstehe“, sagte er. „Klyne und ich gehören zwei verschiedenen Generationen an. Als ich zu fliegen anfing, war die Zuverlässigkeit der Automaten bedeutend geringer. Das wirkt sich auf das Verhalten aus. Ich glaube… er hat ihnen restlos vertraut.“

„Er war der Ansicht, daß der Computer einen besseren Überblick hatte? Daß er Herr der Situation war?“

„Er mußte nicht unbedingt damit rechnen, daß er Herr der Situation war, nur… wenn der Computer es nicht schaffte, konnte ein Mensch erst recht nicht dazu imstande sein.“ Pirx atmete auf. Er hatte gesagt, was er dachte, ohne den Schatten eines Vorwurfs auf den Jüngeren zu werfen, der nicht mehr am Leben war. „Gab es denn Ihrer Meinung nach Chancen zur Rettung des Raumschiffs?“

„Ich weiß nicht. Es war wenig Zeit. „Ariel“ hatte fast völlig die Geschwindigkeit verloren.“

„Sind Sie je unter solchen Bedingungen gelandet?“

„Ja. Aber mit Raumschiffen von geringerer Masse — und auf dem Mond. Je länger und schwerer eine Rakete ist, desto schwieriger ist es, die Stabilität bei Absinken der Geschwindigkeit wiederherzustellen, besonders wenn schon eine Neigung eingetreten ist.“

„Hat Klyne Sie gehört?“

„Das weiß ich nicht. Aber er müßte.“

„Hat er die Steuerung übernommen?“ Pirx lag die Antwort auf der Zunge, daß dies aus den Aufzeichnungen hervorgehen müßte, aber statt dessen sagte er: „Nein.“

„Woher wissen Sie das?“ Das fragte Romani. „Aus dem Kontrollapparat. Die Lampe für automatische Steuerung“ leuchtete die ganze Zeit und ging erst aus, als das Raumschiff zerschellte.“

„Halten Sie es für möglich, daß Klyne keine Zeit mehr hatte?“ fragte Seyn. Seltsam, sie waren doch per du. War plötzlich eine Distanz zwischen ihnen entstanden, Feindseligkeit?

„Die Situation kann auf mathematischem Wege rekonstruiert werden, und dann wird sich zeigen, ob es eine Chance gab.“ Pirx bemühte sich, sachlich zu bleiben. „So kann ich nichts sagen.“

„Aber wenn die Neigung fünfundvierzig Grad überschritten hatte, war die Stabilität nicht wiederherzustellen“, beharrte Seyn. „Ist es nicht so?“

„Auf meinem „Cuivier“ nicht unbedingt. Man kann den Schub über die zulässige Grenze hinaus steigern.“

„Eine Steigerung über zwanzig und mehr kann tödlich sein.“

„Sicher. Aber ein Absturz aus fünftausend Metern muß. “ Damit endete dieses kurze Wortgeplänkel. Unter den Lampen, die trotz des Tageslichts brannten, schwebten flache Rauchschwaden. Sie hatten sich Zigaretten angezündet.

„Nach Ihrer Meinung konnte Klyne die Steuerung noch übernehmen, aber er hat es nicht getan. Ist das richtig?“

Damit kehrte Hoyster zum Ausgangspunkt zurück. „Wahrscheinlich konnte er.“

„Halten Sie es für möglich, daß Sie ihn durch Ihr Eingreifen irritiert haben?“ warf Seyns Stellvertreter ein, ein Mann vom Agathodaemon, den Pirx nicht kannte. Waren alle Hiesigen gegen ihn? Selbst das konnte er begreifen. „Ich halte es für möglich. Zumal dort, in der Steuerkabine, die Leute durcheinanderschrieen. So sah es aus.“

„Nach einer Panik?“ fragte Hoyster. „Diese Frage kann ich nicht beantworten.“

„Warum nicht?“

„Bitte hören Sie die Bänder ab. Es war so undeutlich. Geräusche, die man verschieden auslegen kann.“

„Konnte die Bodenkontrolle nach Ihrer Meinung noch irgend etwas tun?“ fragte Hoyster mit eisiger Miene. Die Kommission schien in zwei Lager gespalten. Hoyster war von der Großen Syrte. „Nein, nichts.“

„Ihr eigenes Verhalten straft Ihre Behauptung Lügen.“

„Nein. Die Kontrolle hat nicht das Recht, die Entscheidungen des Kommandanten in einer solchen Situation zu beeinflussen. In der Steuerkabine kann die Sache ganz anders aussehen als unten.“

„Sie geben also zu, gegen die Vorschriften gehandelt zu haben?“ fragte Seyns Stellvertreter noch einmal. „Ja.“

„Warum?“ fragte Hoyster. „Vorschriften sind für mich nicht heilig. Ich verhalte mich immer so, wie ich es für richtig halte. Dafür bin ich schon zur Verantwortung gezogen worden.“

„Von wem?“

„Vom Tribunal der Kosmischen Kammer.“

„Aber Sie wurden freigesprochen?“ mutmaßte Boulder. Hier Große Syrte, dort Agathodaemon. Das lag auf der Hand.

Pirx schwieg. „Ich danke Ihnen.“

Er nahm etwas abseits Platz, denn nun berichtete Seyn und nach ihm sein Stellvertreter. Bevor sie fertig waren, kamen die ersten Bänder aus dem Flugkontrollgebäude und telefonische Meldungen über den Stand der Arbeiten am Wrack. Es stand bereits fest, daß es keine Überlebenden gab, aber zur Steuerkabine war man noch nicht vorgedrungen: Sie steckte elf Meter tief im Boden. Das Abhören der Bänder und das Protokollieren der Berichte dauerte ohne Unterbrechung bis sieben Uhr. Dann wurde eine einstündige Pause eingelegt. Die Leute von der Syrte fuhren in Begleitung von Seyn zum Unfallort. Romani hielt Pirx im Vorübergehen auf. „Kommandant…“

„Ja?“

„Sie haben hier zu niemandem…“

„Bitte, sagen Sie so etwas nicht. Der Einsatz ist zu hoch“, unterbrach ihn Pirx. Der andere nickte. „Sie bleiben vorläufig zweiundsiebzig Stunden hier. Wir haben das schon mit der Basis abgesprochen.“

„Mit der Erde?“ Pirx war überrascht. „Ich habe nicht den Eindruck, daß ich noch helfen könnte…“

„Hoyster, Rahaman und Boulder wollen Sie in der Kommission haben. Sie sind doch einverstanden?“ Alles Leute von der Syrte.

„Selbst wenn ich wollte, ich kann nicht“, antwortete er, und damit trennten sie sich.

Abends um neun kam man wieder zusammen. Die kompletten Aufzeichnungen der Bänder waren dramatisch, und noch mehr der vorgeführte Film, der alle Phasen der Katastrophe festgehalten hatte, von dem Augenblick an, da der grüne Stern des „Ariel“ im Zenit aufgetaucht war. Danach faßte Hoyster sehr lakonisch die bisherigen Untersuchungsergebnisse zusammen.

„Es scheint wirklich ein Versagen des Computers vorzuliegen. Wenn er auch nicht auf übliche Weise Meteoritenalarm gegeben hat, so hat er sich doch so verhalten, als läge „Ariel“ auf Kollisionskurs mit irgendeiner Masse. Die Aufzeichnungen beweisen, daß er die zulässige Schubkraft um drei Einheiten überschritten hat. Warum, wissen wir nicht. Vielleicht wird die Steuerkabine weitere Aufschlüsse bringen.“ (Er dachte an die Registrierstreifen aus dem Raumschiff; Pirx war in dieser Beziehung sehr skeptisch.) „Was in den letzten Augenblicken in der Steuerkabine vor sich gegangen ist, können wir uns nicht erklären. Im Hinblick auf das Operationstempo jedenfalls hat der Computer exakt gearbeitet, denn er hat sämtliche für die Aggregate bestimmten Befehle in Nanosekunden iteriert. Auch die Aggregate haben bis zum Ende ohne Ausfall gearbeitet.

Das ist völlig sicher. Wir haben absolut nichts entdeckt, was auf eine äußere oder innere Bedrohung des gesteuerten Landemanövers hindeutet. Von 7.03 bis 7.08 Uhr ist alles tadellos verlaufen. Die Entscheidung des Computers, das Landemanöver abzubrechen und einen vorzeitigen Start zu versuchen, läßt sich bis jetzt durch nichts erklären. Kollege Boulder?“

„Ich verstehe es nicht.“

„Ein Fehler in der Programmierung?“

„Ausgeschlossen. „Ariel“ ist mit Hilfe dieses Programms mehrmals gelandet — axial und mit allen nur möglichen Abdriften.“

„Aber auf dem Mond. Dort ist die Gravitation geringer.“

„Das kann sich auf die Kraftaggregate in gewissem Maß auswirken, aber nicht auf die Informationsgruppen. Die Kraft ist aber konstant geblieben.“

„Kollege Rahaman?“

„Ich bin mit dem Programm nicht genügend vertraut.“

„Aber Sie kennen das Modell dieses Computers?“

„Ja.“

„Was kann den Ablauf des Landemanövers unterbrechen, wenn keine äußeren Ursachen vorhanden sind?“

„Nichts.“

„Nichts?“

„Höchstens eine unter dem Computer angebrachte Bombe…“

Endlich war das Wort gefallen. Pirx hörte mit größter Aufmerksamkeit zu. Die Exhaustoren rauschten, vor ihren Ansaugdüsen unter der Decke ballte sich der Rauch. „Sabotage?“

„Der Computer hat bis zum Schluß gearbeitet, wenn auch auf eine für uns unbegreifliche Weise“, bemerkte Kerhoven, der einzige Spezialist für Intellektronik in der Kommission, der ein Hiesiger war. „Na ja, eine Bombe…, ich habe das nur so dahingesagt.“ Rahaman steckte zurück. „Der wichtigste Vorgang, also der des Landens oder Startens, kann normalerweise, also wenn der Computer in Ordnung ist, nur durch etwas Außergewöhnliches unterbrochen werden. Ein Kraftausfall…“

„Kraft war vorhanden.“

„Aber im Prinzip kann auch der Computer eine Unterbrechung herbeiführen?“

Das wußte der Vorsitzende doch selbst. Pirx begriff, daß dies nicht für sie bestimmt war. Er hatte gesagt, was die Erde hören sollte.

„Theoretisch ja. In der Praxis nicht. Seit die Raumfahrt existiert, hat es noch nie während eines Landemanövers Meteoritenalarm gegeben. Einen Meteoriten kann man während des Anflugs ausmachen. Dann wird die Landung einfach verschoben.“

„Aber es gab doch gar keine Meteoriten?“

„Nein.“ Das Ende der Sackgasse war erreicht.

Ein Weilchen blieb es still, nur die Exhaustoren rauschten. Vor den runden Fenstern war es schon dunkel. Die Marsnacht. „Wir brauchen die Leute, die dieses Modell konstruiert und die Belastungstests durchgeführt haben“, sagte schließlich Rahaman.

Hoyster neigte den Kopf. Er sah die Meldung durch, die ihm der Telefonist gereicht hatte.

„In einer Stunde etwa sind sie bei der Steuerkabine angelangt“, sagte er. Und dann, während er aufschaute:

„Morgen nehmen Macross und van der Voyt an den Beratungen teil.“

Man horchte auf. Das waren der Generaldirektor und der Chefkonstrukteur der Werft, auf der die Hunderttausender gebaut wurden.

„Morgen…?“ Pirx glaubte sich verhört zu haben. „Ja. Nicht hier natürlich. Sie werden per Fernsehen anwesend sein. Direktschaltung. Das ist das Telegramm.“ Er hob die Meldung hoch.

„Aber…! Welche Verzögerung haben wir jetzt?“ fragte jemand.

„Acht Minuten.“

„Wie stellen die sich das vor? Wir werden eine Ewigkeit auf jede Antwort warten“, protestierten einige. Hoyster zuckte die Schultern. „Wir müssen uns fügen. Sicher wird es umständlich sein. Wir werden ein entsprechendes Verfahren erarbeiten…“

„Die Beratungen werden auf morgen vertagt?“ fragte Romani.

„Ja. Wir treffen uns um sechs Uhr morgens. Dann liegen schon die Registrierstreifen aus der Steuerkabine vor.“

Romani hatte Pirx ein Nachtlager bei sich angeboten, und er war froh darüber. Er zog es vor, Seyn aus dem Wege zu gehen. Zwar verstand er sein Verhalten, doch er billigte es nicht. Die Leute von der Syrte wurden notdürftig untergebracht, und um Mitternacht war Pirx allein in dem kleinen Raum, der dem Chef als Handbibliothek und privates Arbeitszimmer diente. Er legte sich angezogen auf das zwischen Theodoliten stehende Feldbett, verschränkte die Hände unter dem Kopf und starrte an die niedrige Decke, fast ohne zu atmen.

Seltsam, mitten unter diesen fremden Menschen hatte er die Katastrophe als Außenstehender miterlebt, als einer von vielen Zeugen, nicht ganz beteiligt, selbst dann nicht, als er Feindseligkeit und Animosität hinter den Fragen spürte und den in der Luft hängenden Vorwurf der Einmischung in die Angelegenheiten der hiesigen Spezialisten, selbst dann nicht, als Seyn sich gegen ihn stellte. Es berührte ihn nicht, bewegte sich in den natürlichen Bahnen des Unvermeidlichen, wie es unter solchen Umständen nicht anders sein konnte. Er war bereit, für das geradezustehen, was er getan hatte, aber unter vernünftigen Voraussetzungen, schließlich war er nicht für das Unglück verantwortlich. Er war erschüttert, bewahrte jedoch Ruhe, blieb konsequent der Beobachter, der den Vorfällen nicht ausgeliefert war, denn diese Vorfälle hatten System — bei all ihrer Unbegreiflichkeit konnte man sie analysieren, Stück für Stück, nach der Methode, die der offizielle Verlauf der Beratungen vorgezeichnet hatte. Jetzt zerrann ihm all das unter den Fingern. Er dachte nichts, er rief sich keine Bilder ins Gedächtnis zurück sie wiederholten sich von selbst, von Anfang an: die Fernsehschirme, darauf der Eintritt des Raumschiffs in die Marsatmosphäre, das Abbremsen der kosmischen Geschwindigkeit, der Wechsel der Schubkräfte. Er kam sich vor, als sei er überall zugleich gewesen, im Kontrollraum und in der Steuerkabine, er kannte diese dumpfen Stöße, dieses Dröhnen, das über Kiel und Spanten lief, wenn die gedrosselte Atomenergie von der vibrierenden Arbeit der Borane abgelöst wurde, den Baßton, mit dem die Turbopumpen kundtaten, daß sie den Brennstoff komprimierten, den Rückschub, das majestätisch langsame Niedergleiten mit dem Heck voraus, die kleinen Seitenkorrekturen und diese Erschütterung, diesen Donner beim plötzlichen Wechsel der Schübe, wenn wieder volle Kraft in die Düsen schoß. Die Vibration, der Verlust der Stabilität, der verzweifelte Versuch, die Rakete abzufangen, die zu pendeln und zu schwanken begann wie ein betrunkener Turm, ehe sie kraftlos, tot, steuerlos absackte, blind wie ein Stein. Dann der Aufprall, die Zerstörung — und er war überall dabei. Er kam sich vor wie das kämpfende Raumschiff, und während er sich schmerzlich der völligen Unzulänglichkeit, der restlosen Verschlossenheit des Geschehenen bewußt wurde, kehrte er zugleich zu den letzten Sekundenbruchteilen zurück, mit der stummen, sich ständig wiederholenden Frage nach der Ursache. Ob Klyne versucht hatte, die Steuerung zu übernehmen, war jetzt schon unwichtig. Im Grunde traf die Kontrolle kein Vorwurf, obwohl sie da ihre Witze gerissen hatten, aber daran konnte sich nur jemand stoßen, der abergläubisch beziehungsweise in Zeiten groß geworden war, da man sich Schnurzigkeit nicht leisten durfte. Sein Verstand sagte ihm, daß daran nichts Unrechtes war. Er lag auf dem Rücken, aber ihm war, als stünde er an dem schrägen Fenster, das auf den Zenit wies, als der grünfunkelnde Stern der Borane von dem schrecklich sonnengrellen Blitz verschlungen wurde, dieser für die Kernenergie so charakteristischen Pulsion in den Düsen, die schon erkalteten, wodurch es eben nicht möglich war, das ganze Manöver so gewaltsam durchzuführen — die Rakete begann zuerst zu schaukeln wie der Schwengel einer von wahnsinnigen Händen in Schwung versetzten Glocke und kippte dann mit ihrer ganzen unvorstellbaren Länge über. Sie war so riesig, daß sie allein durch ihre Ausmaße, durch die Schwungkraft ihrer Größe die Grenzen jeglicher Gefahren überschritten zu haben schien: Genauso mußten ein Jahrhundert zuvor die Passagiere der Titanic gedacht haben. Plötzlich erlosch all das, und er kam wieder zu sich. Er stand auf, wusch sich das Gesicht und Hände, nahm Pyjama, Pantoffeln, Zahnbürste aus dem Necessaire und betrachtete sich zum dritten Mal an diesem Tag im Spiegel über dem Waschbecken — wie einen Fremden. Er war zwischen dem dreißigsten und vierzigsten Lebensjahr, dem letzteren näher: ein Schattenstrich. Nun mußte man schon die Bedingungen des Vertrages akzeptieren, den man nicht unterzeichnet hatte, der einem ohne Fragen aufgezwungen war; man wußte, daß man nicht anders war als die anderen, daß es keine Ausnahme von der Regel gab: Obwohl sich die Natur dagegen sträubte, man mußte dennoch altern. Bisher hatte der Körper das in aller Stille besorgt, doch nun genügte dies nicht mehr. Man mußte damit einverstanden sein. Das Jünglingsalter hatte die eigene Unveränderlichkeit zur Regel des Spiels erhoben — nein, zu seiner Voraussetzung: Ich war ein Kind, unerwachsen, jetzt bin ich wirklich ich, und so bleibe ich. Dieser Unsinn war schließlich die Grundlage der Existenz. Entdeckte man die Haltlosigkeit dieser These, so bedeutete das zuerst mehr Erstaunen als Erschrecken. Dieses Gefühl der Entrüstung war so stark, als hätte man eingesehen, daß falsches Spiel mit einem getrieben wurde. Der Endkampf mußte ganz anders sein; nach der Überraschung, dem Zorn, dem Widerstand begannen allmählich Verhandlungen mit dem eigenen Ich, dem eigenen Körper, die etwa so aussahen: Abgesehen davon, wie fließend und unbemerkt wir physisch altern — wir sind nie imstande, diesen Prozeß geistig mitzumachen. Wir legen uns auf fünfunddreißig, dann auf vierzig fest, als sollte es bei diesem Alter bleiben, und bei der nächsten Revision stößt die Zerstörung des Selbstbetrugs auf solchen Widerstand, daß der Impetus einen zu großen Sprung bewirkt. Ein Vierzigjähriger versucht sich also so zu verhalten, wie er sich die Lebensweise eines alten Menschen vorstellt. Haben wir uns einmal in das Unvermeidliche geschickt, fahren wir mit verbissener Wut in diesem Spiel fort, als wollten wir nunmehr den Einsatz verdoppeln: Bitte sehr, wenn es so unverschämt zugeht, wenn diese zynische, grausame Forderung, dieser Schuldschein bezahlt werden muß, wenn ich blechen muß, obwohl ich nicht einverstanden war, nicht wollte, nicht wußte, ich geb dir mehr, als meine Schuld beträgt — nach diesem Prinzip, das komisch klingt, wenn man es so ausspricht, versuchen wir den Gegner zu überlisten. Warte nur, ich werde auf der Stelle so alt, daß du aus der Fassung gerätst. Obwohl wir auf dem absteigenden Ast sind, in der Phase, da wir die Positionen verlieren und abtreten, kämpfen wir im Grunde noch weiter, denn wir leisten der Wirklichkeit Widerstand, und diese seelische Anspannung bewirkt, daß wir sprunghaft alt werden. Hier Überlastung, da Versagen, bis wir einsehen, meistens zu spät, daß dieser ganze Kampf, dieses selbstzerstörerische Ringen, diese Retiraden und Boutaden auch unseriös waren. Denn beim Altern sind wir wie die Kinder, das heißt, wir verweigern unsere Zustimmung zu einer Sache, die unserer Zustimmung von vornherein nicht bedarf, da, wo es keinen Platz gibt für Streit oder Kampf — der noch dazu auf Illusionen beruht. Der Schattenstrich ist noch kein Memento mori, aber ein in mehrfacher Hinsicht schlimmer Ort, denn von hier aus kann man bereits sehen, daß es keine unberührten Chancen gibt. Das heißt, das Jetzt ist keine Ankündigung, kein Warteraum, keine Einleitung, kein Trampolin großer Hoffnungen, denn die Situation hat sich unmerklich gewandelt. Das vermeintliche Training war unwiderrufliche Wirklichkeit; die Einleitung — der eigentliche Inhalt; die Hoffnungen — Hirngespinste; das Unverbindliche aber, das Provisorische, das Vorübergehende — alles, was das Leben ausmacht. Nichts von dem, was sich nicht erfüllt hat, wird sich noch erfüllen; und man muß sich schweigend damit abfinden, ohne Angst und wenn es geht auch ohne Verzweiflung.

Es ist ein kritisches Alter für Kosmonauten, kritischer als für andere Menschen, denn in diesem Beruf kann jeder, der nicht vollkommen fit ist, von heute auf morgen zum alten Eisen geworfen werden. Wie die Physiologen bisweilen sagen, sind die Anforderungen, die die Raumfahrt stellt, selbst für solche zu hoch, die körperlieh und geistig vollkommen gesund sind. Wenn man nicht mehr zur Spitze gehört, verliert man alles auf einmal.

Die Ärztekommissionen sind rücksichtslos — ein Umstand, der für den einzelnen niederschmetternd, aber unumgänglich ist, denn sie können nicht zulassen, daß einer am Steuer stirbt oder einen Unfall hat. Scheinbar im Vollbesitz seiner Kräfte geht man von Bord und sieht sich plötzlich am Ende; die Ärzte sind an Ausflüchte und verzweifelte Dissimulation so gewöhnt, daß niemand, der dabei ertappt wird, moralische oder disziplinarische Konsequenzen zu fürchten hat. Fast keiner kann über das fünfzigste Lebensjahr hinaus im aktiven Dienst bleiben. Überanstrengung ist der größte Feind des Gehirns. Vielleicht wird sich das in hundert oder in tausend Jahren ändern; im Augenblick ist diese Perspektive während der Monate des Fluges eine Qual für jeden — der im Schattenstrich steht.

Klyne hatte der nächsten Generation angehört, Pirx aber, und das wußte er, wurde von den Jüngeren „Automatenfeind“, „Konservatist“, „Mammut“ genannt. Etliche seiner Altersgenossen flogen nicht mehr; je nach Fähigkeiten und Möglichkeiten hatten sie umgesattelt — die einen waren Dozenten geworden, die anderen Mitglieder der Kosmischen Kammer, sie hatten einträgliche Posten in Werften und Aufsichtsräten, sie bestellten ihre Gärten. Im allgemeinen bewahrten sie Haltung. Sie spielten die Einsicht ins Unvermeidliche nicht schlecht — Gott allein wußte, was das manchen gekostet hatte. Aber es gab auch Fälle von Verantwortungslosigkeit, motiviert durch Mangel an Einsicht, hilflose Renitenz, Stolz und Zorn, durch das Gefühl unverdient erlittenen Unglücks. Verrückte kannte dieser Beruf nicht; aber einzelne Persönlichkeiten näherten sich gefährlich der Grenze der Psychopathie, wenn sie diese Grenze auch nicht überschritten. Immerhin kam es unter dem wachsenden Druck des Unausweichlichen zu Ausfällen, die zumindest grotesk waren. Ja, er wußte von diesen Schrullen, Verirrungen, abergläubischen Vorstellungen, denen sowohl Fremde als auch solche unterworfen waren, die er seit Jahren kannte und für die er, so schien es, die Hand ins Feuer legen konnte.

Süße Ignoranz war kein Privileg in einem Fach, das soviel zuverlässige Kenntnisse erforderte; jeden Tag gingen unwiderruflich einige tausend Neuronen im Hirn zugrunde, und schon vor dem dreißigsten Lebensjahr begann der eigenartige, unmerkliche, aber unaufhaltsame Wettlauf, die Rivalität zwischen dem Nachlassen der von Atrophie untergrabenen Funktion und ihrer Vervollkommnung dank wachsender Erfahrung, und so ergab sich ein instabiles Gleichgewicht, eine in der Tat akrobatische Balance, mit der man leben und fliegen mußte. Und träumen. Wen hatte er in der vergangenen Nacht so oft zu töten versucht? Hatte das nicht eine besondere Bedeutung?

Als er sich auf das Feldbett legte, das unter seinem Gewicht aufstöhnte, kam ihm der Gedanke, daß er vielleicht nicht einschlafen könnte — bisher hatte er nicht unter Schlaflosigkeit gelitten, aber eines Tages war auch das fällig. Dieser Gedanke beunruhigte ihn seltsamerweise. Er hatte gar keine Angst vor einer schlaflosen Nacht, aber eine Unnachgiebigkeit des Körpers, die auf die Verwundbarkeit von etwas bisher Untrüglichem hindeutete, nahm in diesem Augenblick selbst als Möglichkeit fast die Ausmaße einer Niederlage an. Er wünschte es einfach nicht, gegen seinen Willen mit offenen Augen dazuliegen, und obwohl das dumm war, setzte er sich auf, betrachtete gedankenlos seinen grünen Pyjama und hob den Blick zum Bücherbord. Da er nichts Interessantes erwartet hatte, überraschte ihn die Reihe dickleibiger Bände über dem von Zirkeln zerstochenen Reißbrett.

Wohlgeordnet stand dort fast die gesamte Geschichte der Aerologie; die meisten Bücher kannte er, sie befanden sich auch in seiner Bibliothek auf der Erde. Er stand auf und fuhr mit der Hand über die soliden Buchrücken. Da war nicht nur Herschel, der Vater der Astronomie, sondern auch Kepler mit der „Astronomia nova seu Physica coelestis tradita commentariis DE MOTIBUS MARTIS“ — nach den Forschungen Tycho de Brahes, Ausgabe von 1784. Und weiter Flammarion, Backhuyzen, Kaiser, der große Phantast Schiaparelli, seine Memoria terza, eine vergilbte römische Ausgabe, und dann Arrhenius, Antoniadi, Kuiper, Lowell, Pickering, Saheko, Struve, Vaucouleurs — bis zu Wernher von Braun und seinem Marsprojekt. Und Karten, zusammengerollte Karten mit allen Kanälen — Margaritifer Sinus, Lacus, Solis und das Agathodaemon…

Er stand da und brauchte keines dieser Bücher mit den glatten, bretterdicken Einbänden aufzuschlagen. Im Geruch der alten Leinwand, der Heftfäden, der vergilbten Blätter, der etwas Würdevolles und Morsches zugleich an sich hatte, wurden die Stunden lebendig, die über dem Geheimnis verstrichen waren. Zwei Jahrhunderte lang war es erstürmt worden, belagert von einem ganzen Ameisenhaufen aus Hypothesen: Einer nach dem anderen war dahingestorben, ohne die Lösung zu erleben. Antoniadi, der sein Lebtag keine Kanäle gesehen und erst an der Schwelle des Alters die Existenz „gewisser Linien, die an so etwas erinnerten“ zugegeben hatte. Graff, der nichts dergleichen wahrgenommen und statt dessen gesagt hatte, es gebräche ihm an der „Imagination“ der Kollegen. Die „Kanalisten“ dagegen hatten nächtelang beobachtet und gezeichnet, hatten Stunden vor der Linse verbracht und auf einen Augenblick unbewegter Atmosphäre gewartet, um dann auf der nebliggrauen Scheibe ein haarfeines, scharfes geometrisches Netz zu entdecken; Lowell hatte es enger skizziert, Pickering weiter, der aber hatte Glück gehabt mit der „Gemination“, wie die erstaunliche Verdoppelung der Kanäle genannt wurde.

Hatte man es mit einer Täuschung zu tun? Aber warum wollten sich bestimmte Kanäle nie verdoppeln? Als Kadett hatte er im Lesesaal über diesen Büchern gebrütet, denn solche Antiquitäten wurden grundsätzlich nicht ausgeliehen.

Pirx stand — muß das eigentlich noch gesagt werden? — auf der Seite der „Kanalisten“. Ihre Argumente erschienen ihm unumstößlich: Graff, Antoniadi, Hall, die bis zum Schluß ihre Rolle als ungläubiger Thomas gespielt hatten, waren auf die verräucherten Observatorien im Norden angewiesen, mit ewig bewegter Atmosphäre; Schiaparelli dagegen hatte in Mailand gearbeitet und Pickering auf seinem Berg hoch über der Wüste Arizonas. Die Antikanalisten hatten sinnreiche Experimente unternommen: Sie ließen eine Scheibe mit unordentlich aufgetragenen Punkten und Klecksen zeichnen, die sich bei größerer Entfernung zu etwas Ähnlichem wie einem Kanalnetz zusammenfügten, und fragten dann: warum sind sie auch mittels stärkster Instrumente nicht zu sehen?

Warum kann man die Mondkanäle auch mit bloßem Auge erkennen? Warum hatten die ersten Beobachter keinerlei Kanäle gesehen? Warum galten sie seit Schiaparelli als zuverlässig existent? Und die anderen hatten geantwortet: Bevor es Teleskope gab, hat auch auf dem Mond niemand Kanäle gesichtet. Große Teleskope erlaubten es einem nicht, mit voller Öffnungsblende zu arbeiten, mit maximalen Vergrößerungen, denn die Erdatmosphäre ist nicht ruhig genug; die Experimente mit den Zeichnungen sind also ein Ausweichmanöver…

Die „Kanalisten“ hatten auf alles eine Antwort parat. Der Mars, das war ein riesiger, gefrorener Ozean, und die Kanäle nichts anderes als Risse in seinen Eismassen, die sich unter Meteoreinschlägen aufgetan hatten — nein, die Kanäle waren breite Täler, durch die im Frühjahr das Tauwasser floß und an deren Ufern sich dann die Marsflora entfaltete. Die Spektroskopie machte auch durch diese Rechnung einen Strich: Sie förderte zuwenig Wasser zu Tage. Also betrachtete man die Kanäle nunmehr als riesige Einstürze, als lange Täler, in denen sich vom Pol zum Äquator Wolkenmassen dahinwälzten, angetrieben von Konvektionsströmen. Schiaparelli hatte niemals zugeben wollen, daß es sich um Schöpfungen eines fremden Verstandes handelte; er nutzte die Zweideutigkeit des Terminus „Kanal“ aus. Diese Schamhaftigkeit hatte der Mailänder mit vielen anderen Astronomen gemeinsam; sie nannten die Dinge nicht beim Namen, sie zeichneten nur Karten und veröffentlichten sie; aber Schiaparelli hatte in seinen Papieren Zeichnungen hinterlassen, aus denen hervorging, wie es zu dieser Verdoppelung, dieser berühmten Gemination kommen konnte: Wenn in parallel verlaufende, ausgetrocknete Betten Wasser eindrang und anschwoll, dann verschwammen plötzlich die Umrisse, so als füllte man Holzkerben mit Tusche aus… Die Gegner wiederum leugneten nicht nur die Existenz von Kanälen, häuften nicht nur Gegenargumente auf, sondern schienen mit der Zeit einem immer heftiger brennenden Haß zu verfallen. Wallace, nach Darwin der zweite Schöpfer der natürlichen Evolutionstheorie, der den Mars wohl nie durch ein Glas beobachtet hatte, war mit einem hundert Seiten starken Pamphlet gegen die Kanäle und gegen jeden Gedanken an Leben auf dem Mars zu Felde gezogen; der Mars, so hatte er geschrieben, ist nicht nur von intelligenten Wesen bewohnt, wie das Herr Lowell behauptet, sondern er ist absolut unbewohnbar.

Es gab keine Lauen unter den Areologen; jeder mußte sein Credo eindeutig formulieren. Die nächste Generation der „Kanalisten“ begann schon von einer Marszivilisation zu sprechen, und die Gegensätze wurden immer größer. Ein lebenerfüllter Raum, der von der Arbeit vernunftbegabter Wesen zeugt, sagten die einen — ein öder, verwüsteter Leichnam, entgegneten die anderen. Dann entdeckte Saheko die geheimnisvollen, in den aufziehenden Wolken erlöschenden Blitze, die für Vulkanausbrüche zu kurz waren und nur bei Konjunktion der Planeten auftraten, was also auch eine Sonnenreflexion im Eismassiv der Berge ausschloß. Das war noch vor der Freisetzung der Atomenergie, so daß der Gedanke an Kerntests auf dem Mars erst später auftauchte… Eine der streitenden Parteien mußte recht haben. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts einigte man sich allgemein darauf, daß Schiaparellis geometrische Kanäle nicht existierten, daß aber trotzdem etwas vorhanden sein mußte, was auf Kanäle hindeutete. Eine Sinnestäuschung konnte nicht vorliegen, denn zu viele Menschen hatten von zu vielen Orten auf der Erde aus dieses Etwas beobachtet. Sicherlich waren es keine offenen Gewässer in den Eisflächen und keine niedrigen Wolkenströme in den Tälern; vielleicht waren auch keine Vegetationszonen vorhanden, aber trotzdem… Dieses Etwas — wer weiß? — war womöglich noch unverständlicher, noch rätselhafter, und es wartete auf die Augen der Menschen, auf die Objektive der Kameras und auf die automatischen Sonden. Pirx hatte niemandem gestanden, was ihn nach der Lektüre dieser Werke bewegte, aber Boerst, gerissen und rücksichtslos, wie es sich für einen Klassenprimus gehörte, war hinter sein Geheimnis gekommen und hatte ihn für ein paar Wochen zum Gespött des Kursus gemacht, indem er ihn den „Kanalfan“ Pirx taufte, der in der beobachtenden Astronomie die Doktrin „credo, quia non est“ einführen wolle. Aber Pirx wußte, daß es keine Kanäle gab und daß, was vielleicht noch schlimmer war, nicht einmal etwas Ähnliches existierte. Wie sollte er es auch nicht wissen, war doch der Mars seit Jahren erobert und hielt er ja selbst areographische Kolloquien ab. Er hatte im Beisein der Assistenten nicht nur genaue fotografische Karten angelegt, sondern war auch bei den praktischen Übungen im Simulator auf dem Boden eben desselben Agathodaemons gelandet, wo er sich jetzt befand, unter der Sauerstoffglocke des Projekts, vor dem Regal mit den musealen Errungenschaften aus zwei Jahrhunderten der Astronomie. Versteht sich, daß er all das wußte, aber dieses Wissen steckte irgendwo völlig abgesondert in seinem Kopf, es war keiner Verifizierung unterworfen, so als wäre diese ein einziger großer Betrug und als existierte weiterhin ein anderer, unerreichbarer, von einem geometrischen Netz überzogener, geheimnisvoller Mars.

Während des Fluges auf der Linie Terra-Ares gab es einen Zeitabschnitt, eine Art Zone, von der aus man mit bloßem Auge — und zwar mehrere Stunden lang — tatsächlich das sehen konnte, was Schiaparelli, Lowell und Pickering nur in den seltenen Augenblicken atmosphärischer Ruhe beobachtet hatten. Durch die Bullaugen konnte man verfolgen, wie sich manchmal an einem, manchmal an zwei Tagen Kanäle mit kaum angedeuteten Umrissen im Boden der schmutziggrauen, feindseligen Scheibe bildeten. Später, wenn man dem Globus näher kam, begannen sie zu schwinden, sich aufzulösen; einer nach dem anderen verschwamm im Nichts, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, und die aller scharfen Konturen bare Scheibe des Planeten schien mit ihrer Öde, mit ihrer langweiligen grauen Indifferenz all die Hoffnungen zu verspotten, die sie selbst geweckt hatte. Gewiß, nach weiteren Flugwochen tauchte wirklich etwas Definitives auf, das nicht wieder verschwand, aber das waren dann einfach die schartigen Ränder der größten Krater, die wild übereinandergetürmten verwitterten Felsen, die häßlichen Geröllhalden unter dicken Schichten grauen Staubs, die in nichts jener sauberen Präzision der geometrischen Zeichnung ähnelten. Aus der Nähe betrachtet, bot der Planet dieses Chaos schon gefügig und endgültig dar, unfähig, die Erosionsspuren aus Jahrmilliarden zu vertuschen. Dieses Chaos ließ sich mit jener unvergeßlichen, klaren Zeichnung einfach nicht in Einklang bringen, mit jenem Entwurf von etwas, das so intensiv überzeugt und solche Erregung geweckt hatte, denn es war die Rede gewesen von logischer Ordnung, von einem unverständlichen, aber gegenwärtigen Sinn, den in den Griff zu bekommen es eben ein bißchen mehr Anstrengung brauchte. Aber wo war dieser Sinn, und worauf beruhte diese Täuschung? Auf einer Projektion der Netzhaut, ihrer optischen Mechanismen, des Sehzentrums in der Hirnrinde? Niemand unternahm den Versuch, diese Frage zu beantworten, denn das verstaubte Problem teilte das Los aller überholten, vom Fortschritt über Bord geworfenen Hypothesen: Es war auf dem Kehrichthaufen gelandet. Da es keine Kanäle gab — nicht einmal etwas Besonderes im Relief des Planeten, was den Eindruck dieser Erscheinung hervorrufen konnte —, gab es auch nichts, worüber man sprechen oder nachdenken konnte. Nur gut, daß kein „Kanalist“ und ebensowenig einer der „Antikanalisten“ diese ernüchternde Enthüllung erlebt hatte, denn das Rätsel war überhaupt nicht gelöst worden, sondern einfach untergegangen. Es gab doch andere Planeten mit unerforschter Oberfläche: Kanäle waren auf keinem entdeckt worden — nie. Kein Mensch hatte sie gesehen, keiner gezeichnet. Warum? Man wußte es beim besten Willen nicht.

Sicher bot das Thema genug Stoff für Hypothesen. Es bedurfte einer besonderen Mischung aus Distanz und optischer Vergrößerung, aus objektivem Chaos und subjektivem Drang nach Ordnung, aus den letzten Spuren dessen, was sich in einem trüben Fleck auf dem Okular gezeigt hatte, was jenseits der Erkennbarkeitsgrenze geblieben und ihr dennoch für Sekunden fast greifbar nahe gekommen war, oder aus einer noch so winzigen Stütze und aus Phantasievorstellungen, die sich ihrer unbewußt bedienten — damit dieses schon abgeschlossene Kapitel der Astronomie neu geschrieben werden konnte. Mit der Forderung an den Planeten, sich für eine der beiden Seiten zu erklären, im Beharren auf den Positionen eines absolut ehrlichen Spiels waren ganze Generationen von Areologen ins Grab gesunken, im festen Glauben, daß die Angelegenheit schließlich vor das entsprechende Tribunal gelangen und gerecht und richtig entschieden würde. Pirx konnte sich vorstellen, daß sich jeder von ihnen auf seine Weise genasführt und betrogen gefühlt hätte, wäre er Zeuge der endgültigen Aufklärung geworden. Dieses Gegeneinander von Fragen und Antworten, diese im Hinblick auf das rätselhafte Objekt absolut falschen Begriffe waren eine bittere, aber wahrhaftige, grausame, aber bereichernde Lektion, die — so kam es ihm plötzlich in den Sinn — im Zusammenhang stand mit dem, wohinein er jetzt geraten war und worüber er sich den Kopf zerbrach.

Ein Zusammenhang zwischen der alten Areographie und Ariels Havarie? Aber welcher? Und was konnte man mit dieser unklaren, aber dennoch so intensiven Vorstellung anfangen?

Er wußte es nicht. Aber er war völlig sicher, daß er die Verbindung dieser beiden einander so unähnlichen und voneinander so weit entfernten Dinge weder heute nacht durchschauen noch vergessen konnte. Er mußte erst einmal darüber schlafen. Als er das Licht löschte, dachte er noch, daß Romanis geistiger Horizont bedeutend weiter war, als es auf den ersten Blick schien. Die Bücher waren sein Privateigentum, und man mußte um jedes Kilo persönlichen Besitzes kämpfen, das man auf den Mars mitnehmen wollte. Im Kosmodrom auf der Erde hingen überall Instruktionen, die an die Loyalität der Mitarbeiter appellierten und darauf hinwiesen, daß überflüssiger Ballast auf den Raketen der Sache schade. Es wurde um Einsicht gebeten, und ausgerechnet Romani, immerhin der Chef des Agathodaemons, hatte gegen die Vorschriften und Grundsätze gehandelt, indem er mehrere Dutzend Kilo rundum überflüssiger Bücher hergebracht hatte. Wozu eigentlich? Doch wohl nicht, um sie zu lesen. Schon im Dunkeln, schläfrig, lächelte er über den Gedanken, der die Anwesenheit dieser bibliophilen Altertümer unter der Glocke des Marsprojekts rechtfertigte. Ganz gewiß lag hier niemandem an Evangelien und widerlegten Prophezeiungen. Aber es erschien angemessen, mehr noch: notwendig, daß die Gedanken der Menschen, die ihr Bestes dem Rätsel des roten Planeten geopfert hatten, nun schon unter Aussöhnung der erbittertsten Gegner auf dem Mars weilten. Das kam ihnen zu, und wenn Romani das begriffen hatte, war er ein vertrauenswürdiger Mensch.

Um fünf fuhr er aus bleischwerem Schlaf hoch, sofort hellwach wie nach einer kalten Dusche, und da er noch ein bißchen Zeit hatte — er gönnte sich fünf Minuten, wie schon des öfteren —, dachte er über den Kommandanten des zerschellten Raumschiffs nach. Er wußte nicht, ob Klyne die Rakete mit der dreißig Mann starken Besatzung hätte retten können, ebensowenig wußte er, ob er es versucht hatte. Das war eine Generation von Verstandesmenschen, die sich den zuverlässig-logischen Gefährten, den Computern, unterordneten, denn es wurden immer größere Anforderungen gestellt — wann wurden sie schon einmal kontrolliert? Einfacher war es, sich blind auf sie zu verlassen. Er hingegen brachte dies nicht fertig, und wenn er es hundertmal gewollt hätte.

Dieses Mißtrauen steckte ihm einfach in den Knochen. Er schaltete das Radio ein.

Der Sturm war losgebrochen. Er hatte ihn erwartet, aber die Ausmaße der Hysterie überraschten ihn dann doch.

In den Spitzenmeldungen dominierten drei Themen: der Verdacht auf Sabotage, die Ungewißheit des Geschicks der noch auf Marskurs befindlichen Raumschiffe und natürlich die politischen Konsequenzen der ganzen Angelegenheit. Die großen Tageszeitungen hielten sich beim Thema Sabotage sehr zurück, die Boulevardpresse war gerade hier in ihrem Element. Es wurde auch reichlich Kritik an den Hunderttausendern geübt: Sie seien nicht genügend erprobt, sie könnten bekanntlich nicht von der Erde starten und, was noch schlimmer sei, nicht zurückdirigiert werden, denn sie hätten ja nicht genügend Brennstoffreserven an Bord, und schließlich sei es nicht möglich, sie auf den Orbitalstationen des Mars zu entladen. Das stimmte; sie mußten auf dem Mars landen, aber vor drei Jahren war ein Testprototyp, wenn auch mit einem anderen Computermodell, mehrmals erfolgreich auf dem Mars gelandet. Die Experten daheim schienen davon keine Ahnung zu haben. Es war auch eine Kampagne gestartet worden, die darauf zielte, die politischen Verfechter des Marsprojekts mundtot zu machen; man nannte es rundheraus Wahnsinn. Irgendwo mußten auch schon komplette Listen sämtlicher Fehlleistungen in bezug auf die Sicherung der Arbeiten an den Stützpunkten vorliegen, in bezug auf die Bestätigung der Projekte und auf die Erprobung der Prototypen. An den Hauptakteuren der Marsverwaltung wurde kein gutes Haar gelassen — es war ein einziger Kassandraruf.

Als er um sechs das Chefbüro betrat, stellte es sich heraus, daß gar keine Kommission mehr existierte, denn die Erde hatte es inzwischen geschafft, dieses illegale Gremium aufzulösen. Sie konnten sich drehen und wenden, wie sie wollten, aber erst nach Herstellung des Kontakts mit der Gruppe von der Erde hatte alles offiziell und legal von vorn zu beginnen. Das demissionierte Gremium befand sich aber offensichtlich in einer günstigeren Lage als am Tag zuvor, denn da es nun über nichts mehr zu entscheiden hatte, konnte es um so ungehemmter Forderungen und Anträge an die höhere, das heißt irdische Instanz stellen. In der Großen Syrte war die Materialsituation ziemlich kompliziert, wenn auch nicht kritisch, für den Stützpunkt Agathodaemon dagegen bedeutete ein Ausfall der Versorgung spätestens in einem Monat das Ende. Von einer effektiven Unterstützung durch die Syrte konnte keine Rede sein. Es fehlte nicht nur an Baumaterial, sondern sogar an Wasser.

Die Lage erforderte ein Regime strengster Sparsamkeit auf Dauer. Pirx hörte nur mit halbem Ohr hin, denn inzwischen war der Registrierapparat aus der Steuerkabine des „Ariel“ eingetroffen. Die sterblichen Überreste der Besatzung waren bereits geborgen; ob man sie auf dem Mars bestatten würde, war noch nicht entschieden.

Die Aufzeichnungen konnten nicht gleich überprüft werden, dazu waren einige Vorbereitungen nötig; deshalb wurden Dinge besprochen, die nicht unmittelbar mit den Ursachen und dem Verlauf der Katastrophe zusammenhingen: Konnte man durch die Mobilisierung möglichst vieler kleinerer Raumschiffe den drohenden Untergang des Projekts abwenden, konnte man auf diese Weise in möglichst kurzer Zeit die für ein Existenzminimum erforderliche Versorgung sichern? Pirx erkannte die Berechtigung solcher Überlegungen an, mußte aber zugleich an die beiden Hunderttausender denken, die auf Marskurs waren und die hier überhaupt nicht erwähnt wurden, als stünde von vornherein fest, daß von einer Fortsetzung ihres Fluges keine Rede sein konnte. Aber was sollte mit ihnen geschehen, da sie ja landen mußten?

Alle Anwesenden waren bereits über die Reaktion der amerikanischen Presse informiert, und laufend trafen Funksprüche mit den kurzgefaßten Reden der Politiker ein — es sah nicht gut aus: Noch kein Vertreter des Projekts hatte eine Erklärung abgeben können, und schon befand es sich im Kreuzfeuer konzentrierter Beschuldigungen, schon wurde von „Nachlässigkeit“, „verbrecherischem Leichtsinn“ und ähnlichen Dingen gesprochen. Pirx, der sich von diesen voreiligen Schlüssen distanzierte, wollte mit alledem nichts zu tun haben, also verdrückte er sich gegen zehn aus dem rauchgeschwängerten Saal, und die freundlichen Service-Mechaniker des Kosmodroms ermöglichten es ihm, sich mit einem kleinen Geländewagen zum Ort der Katastrophe zu begeben.

Für den Mars war der Tag ziemlich warm und fast heiter. Der Himmel hatte eine lichte, weniger rostrote als rosige Färbung angenommen; in solchen Augenblicken schien auch der Mars auf eigenartige Weise schön zu sein. Es war eine rauhe Schönheit, die sich von der irdischen stark unterschied, eine verschleierte, gleichsam ungeläuterte Schönheit, die in kräftigerem Sonnenlicht urplötzlich unter den Staubwehen und schmutziggrauen Streifen zutage treten wollte, aber derartige Erwartungen wurden nicht erfüllt; das war keine Verheißung, sondern schon das Beste, was der Planet an Landschaft aufzuweisen hatte. Als sie von dem gedrungenen, bunkerähnlichen Gebäude der Flugkontrolle aus ungefähr eineinhalb Meilen zurückgelegt hatten, erreichten sie das Ende der Startrampen, und gleich dahinter wäre der Geländewagen hoffnungslos eingesunken. Pirx trug ebenso wie die anderen einen leichten Halbskaphander, er war lichtblau und viel bequemer als die mit Hochvakuum ausgestatteten. Auch der Tornister war leichter durch das offene Sauerstoffsystem, was sich zwar einerseits auf die Klimatisierung auswirkte, denn wenn man bei schnelleren Bewegungen in Schweiß geriet — man mußte sich durch Flugsanddünen wühlen —, beschlug sofort die Helmscheibe, andererseits war das hier kein Unglück, denn zwischen dem Ring des Helms und dem Oberteil des Skaphanders hingen lose Säckchen, die den Halslappen eines Truthahns ähnelten. In diese Beutel konnte man die Hand stecken und das Glas von innen abwischen — auf eine zwar primitive, aber wirksame Weise.

Der Boden des riesigen Trichters war mit Raupenfahrzeugen vollgestopft; der Graben, den man ausgehoben hatte, um die Steuerkabine zu erreichen, glich der Öffnung eines Grubenschachts; er war sogar an drei Seiten mit Aluminiumwellblech gegen den herabrieselnden Sand abgestützt. Die Hälfte des Trichters nahm der Mittelteil des Rumpfes ein, der wie ein vom Sturm an Land getriebener und zwischen Klippen zerschellter Ozeandampfer wirkte; darunter machten sich etwa fünfzig Menschen zu schaffen — sie und ihre Bagger sahen aus wie Ameisen am Leichnam eines Riesen. Die Spitze der Rakete, die allein achtzehn Meter lang war, konnte von hier aus nicht gesehen werden, sie war ein paar hundert Meter weiter geschleudert worden. Die zermalmende Kraft des Aufpralls mußte schrecklich gewesen sein, denn man hatte Klümpchen geschmolzenen Quarzes gefunden — die Bewegungsenergie hatte sich augenblicklich in Wärmeenergie verwandelt und einen thermischen Sprung verursacht wie ein Meteoreinschlag, obwohl die Geschwindigkeit nicht allzuhoch gewesen war: noch diesseits der Schallgrenze. Pirx gewann den Eindruck, daß die Disproportion zwischen den Mitteln, die dem Agathodaemon zur Verfügung standen, und den Ausmaßen der Zerstörung die laxe Art und Weise der Untersuchungen nicht genügend rechtfertigte; man improvisierte natürlich, aber diese Improvisation hatte etwas Chaotisches, hervorgerufen wahrscheinlich durch die Gewißheit, daß der Schaden so unvorstellbar groß war. Nicht einmal das Wasser war gerettet worden, denn alle Zisternen waren gesprungen und der Sand hatte Tausende Hektoliter verschluckt, bevor der Rest zu Eis erstarrt war. Dieses Eis wirkte besonders makaber, weil es sich in grauen, glänzenden, seltsam geformten Kaskaden von dem über vierzig Meter langen Riß im Rumpf bis zu den Dünen ergoß, so als hätte die explodierende Rakete einen ganzen gefrorenen Niagarafall ausgespieen. Es herrschte ja Frost, achtzehn Grad unter Null, und nachts fiel die Temperatur auf minus sechzig.

Durch das Eis, das die Flanke des „Ariel“ verglaste, wirkte das Wrack seltsam alt, man hätte annehmen können, daß es seit undenkbaren Zeiten hier lag. Um ins Innere des Rumpfs zu gelangen, mußte man ihn zertrümmern und aufschweißen oder vom Schacht aus eindringen. Von dort aus wurden die unversehrten Behälter geborgen und an den Trichterwänden aufgestapelt, aber all das geschah recht unbeholfen. Der Zugang zum Heckteil war abgesperrt; hier flatterten rote Wimpel als Warnung vor radioaktiver Verseuchung.

Pirx umging den Schauplatz der Katastrophe am oberen Rand, längs der Absperrung, und er zählte zweitausend Schritt, ehe er sich bei den verrußten Düsentrichtern befand. Er ärgerte sich, als er sah, wie sie vergebens versuchten, die einzige erhalten gebliebene Zisterne mit Antriebsöl herauszuhieven, denn ständig entglitten ihnen die Ketten. Seiner Meinung nach hielt er sich noch nicht allzulange draußen auf, aber da berührte jemand seinen Arm und zeigte auf das Manometer der Sauerstoffflasche. Der Druck war gefallen, und er mußte umkehren, denn er hatte keinen Ersatz mitgenommen. Ein Blick auf den Chronometer sagte ihm, daß er fast zwei Stunden bei dem Wrack verbracht hatte.

Im Beratungssaal hatte sich inzwischen einiges verändert: Die hiesigen Teilnehmer nahmen eine Seite des langen Tisches ein, und ihnen gegenüber hatten die Techniker sechs große, flache Fernsehschirme montiert. Da dennoch — wie üblich — etwas mit der Verbindung nicht klappte, waren die Beratungen auf ein Uhr vertagt worden.

Haroun, ein Funktechniker, den Pirx flüchtig von der Großen Syrte kannte und der ihn aus unerfindlichen Gründen sehr schätzte, gab ihm die ersten vervielfältigten Abzüge der Bänder aus der sogenannten unsterblichen Kammer des „Ariel“, auf denen die Entscheidungen des Kraftreglers festgehalten waren. Da Haroun nicht das Recht hatte, solche Dokumente inoffiziell aus der Hand zu geben, erkannte Pirx diese Geste besonders an. Er schloß sich in seinem Zimmer ein und begann im Licht der starken Lampe die noch feuchten Plastbänder zu sichten. Das Bild war ebenso scharf wie unverständlich. In der 217. Sekunde des Landemanövers, das bis dahin tadellos sauber verlaufen war, erschienen in den Kontrollschaltkreisen Störströme, die sich in den darauffolgenden Sekunden in einem Rauschen bemerkbar machten. Die nach dem Übergang auf Parallelbelastung doppelt stillgelegten Reserveteile des Gatters waren in gesteigerte Aktion getreten, und danach war das Arbeitstempo der „Wächter“ auf das Dreifache der Norm angestiegen. Was er in der Hand hielt, war nicht die Aufzeichnung der Arbeit des Computers selbst, sondern der seines „Rückenmarks“, das unter der Regie des übergeordneten Automaten die erhaltenen Befehle mit dem Zustand der Antriebsaggregate abstimmte.

Dieses System wurde bisweilen „Kleinhirn“ genannt, weil es ähnlich dem menschlichen Kleinhirn, als Kontrollstation zwischen Rinde und Körper, die Korrelation der Bewegungen regelte. Mit gespannter 74 Aufmerksamkeit untersuchte er die Aufzeichnungen der vom „Kleinhirn“ geleisteten Arbeit. Es sah so aus, als hätte es der Computer eilig gehabt, als hätte er — ohne den Vorgang im geringsten zu stören — pro Zeiteinheit immer mehr Daten über die Untergruppen angefordert. Das hatte zu einem Informationsstau und zum Auftreten der Stör- oder Echoströme geführt; bei einem Tier hätte das zu einem übermäßig gesteigerten Tonus geführt beziehungsweise zu einer Störung im motorischen System, der sogenannten Spasmophilie. Er begriff nichts von alledem. Freilich hatte er nicht die wichtigsten Bänder, die die Entscheidungen des Computers enthielten, in den Händen; Haroun hatte ihm nur das gegeben, was ihm selbst zur Verfügung stand. Es klopfte an der Tür. Pirx versteckte die Bänder in seinem Necessaire und ging öffnen. Vor ihm stand Romani.

„Auch die neuen Chefs wünschen, daß Sie in der Kommission mitarbeiten“, sagte er. Er war nicht mehr so erschöpft wie am Vortag, sah schon ganz gut aus, wohl unter dem Einfluß der Antagonismen, die in der auf so seltsame Weise organisierten Kommission zutage getreten waren. Pirx hielt es für ein Gebot der Logik, daß sich selbst die untereinander verfeindeten „Marsmenschen“ vom Agathodaemon und von der Syrte verbündeten, sobald die „neuen Chefs“ ihnen eine eigene Konzeption aufdrängen wollten.

Die neugebildete Kommission bestand aus elf Personen. Vorsitzender war weiterhin Hoyster, aber nur deshalb, weil niemand auf der Erde diesem Amt gewachsen war; die Teilnehmer waren achtzig Millionen Kilometer voneinander getrennt, und die Beratung konnte sonst nicht richtig ablaufen. Wenn man sich zu einer so riskanten Lösung durchgerungen hatte, dann sicherlich nur unter dem starken Druck, der auf der Erde schon herrschen mußte. Die Katastrophe hatte die widersprüchlichsten auch politischen — Meinungen aktiviert, in deren Brennpunkt das ganze Projekt schon seit langem arbeitete.

Zuerst wurden nur die bisherigen Untersuchungsergebnisse rekapituliert — für die Leute auf der Erde. Von ihnen kannte Pirx nur den Generaldirektor der Werft, einen gewissen van der Voyt. Bei aller getreuen Wiedergabe schien ihm das Farbfernsehbild monumentale Züge zu verleihen; es zeigte die Büste eines sehr großen Mannes mit schlaffem und zugleich straffem Gesicht voll herrischer Energie, umschwebt von Zigarrenrauch aus unsichtbarer Quelle, denn van der Voyts Hände waren verdeckt. Was im Saal gesagt wurde, hörte er mit vierminütiger Verspätung, und erst nach weiteren vier Minuten konnte seine Stimme hier vernommen werden.

Pirx fand ihn sofort unsympathisch, denn der Generaldirektor schien allein unter ihnen zu weilen, so als wären die anderen irdischen Experten, die auf den übrigen Bildschirmen zu sehen waren, nur Statisten.

Auf Hoysters Bericht folgten die acht Minuten Wartezeit, aber die Leute von der Erde wollten vorerst nicht das Wort ergreifen: Van der Voyt wollte die Bänder aus der Rakete sehen, die schon vor Hoysters Mikrofon bereitlagen. Jedes Mitglied der Kommission hatte sie vollzählig bei der Hand. Es waren nicht viel, wenn man bedachte, daß die Aufzeichnungen nur die letzten fünf Arbeitsminuten des Steuerkomplexes enthielten. Die Kameraleute nahmen die für die Erde bestimmten Bänder aufs Korn, und Pirx beschäftigte sich mit den seinen, wobei er zuerst diejenigen beiseite legte, die er dank Haroun bereits kannte.

In der 239. Sekunde hatte der Computer beschlossen, das Landemanöver abzubrechen und auf Start zu gehen. Es war kein gewöhnlicher Start, sondern eher ein Ausweichen nach oben, wie vor Meteoren oder vor Gott weiß was, denn es sah aus wie eine verzweifelte Improvisation. Was dann folgte, diese verrückten Kurvensprünge auf den Bändern, hielt Pirx für völlig unwesentlich, denn dort ging es nur noch um die Art und Weise, in der der Computer erstickt war, weil er die Suppe, die er sich selbst eingebrockt hatte, nicht mehr auslöffeln konnte. Wesentlich war jetzt nicht die Analyse der Einzelheiten dieser makabren Agonie, sondern die Ursache der Entscheidungen, die im Endeffekt einem selbstmörderischen Akt gleichkamen. Diese Ursache war und blieb unklar. Von der 170. Sekunde an hatte der Computer unter gewaltigem „Streß“ gearbeitet, er war völlig überlastet gewesen, aber das wußte man jetzt, da man die letzten Ergebnisse seiner Arbeit vor Augen hatte: Seinen Steuerraum, das heißt die Leute des „Ariel“, hatte er erst in der 201. Sekunde des Manövers darüber informiert, daß er überlastet war. Schon da erstickte er an Daten — und forderte ständig neue an. Statt Erklärungen hatten sie also neue Rätsel in die Hände bekommen. Hoyster setzte zehn Minuten für das Studium der Bänder an und bat dann um Wortmeldungen. Pirx hob die Hand wie auf der Schulbank, doch ehe er den Mund öffnen konnte, bemerkte Ingenieur Stotik, ein Vertreter der Werft, der die Entladung der Hunderttausender überwachen sollte, daß man doch warten möge, ob vielleicht jemand von der Erde als erster sprechen wollte. Hoyster zögerte. Es war ein unangenehmer Zwischenfall, zumal er gleich zu Beginn passierte. Romani bat in einer protokollarischen Angelegenheit ums Wort und erklärte, daß weder er noch ein anderer vom Agathodaemon weiter an den Beratungen teilzunehmen beabsichtigte, falls eine formale Beachtung der Gleichberechtigung aller Mitglieder ihrem Verlauf zu schaden drohe. Stotik gab nach, und Pirx konnte endlich sprechen. „Wir haben es offenbar mit einer verbesserten Version des AIBM 09 zu tun“, sagte er.

„Da ich fast tausend Stunden mit dem AIBM 09 geflogen bin, habe ich gewisse praktische Erfahrungen in bezug auf seine Arbeitsweise. In der Theorie kenne ich mich nicht aus. Ich weiß nur das unbedingt Nötige. Es handelt sich um einen Computer, der in realen Zeitgrenzen arbeitet und immer die Bearbeitung der Daten schaffen muß.

Ich habe gehört, daß dieses neue Modell eine um 36 Prozent höhere Speicherkapazität hat als der AIBM 09. Das ist viel. Auf Grund des mir vorliegenden Materials kann ich sagen, daß es folgendermaßen zugegangen ist: Der Computer hat den normalen Landevorgang eingeleitet, und dann hat er angefangen, sich selbst die Arbeit zu komplizieren, indem er von den Untergruppen immer mehr Daten pro Zeiteinheit anforderte.

Das ist etwa dasselbe, als wenn ein Kompaniechef immer mehr Leute aus dem Kampf abzöge, um Melder, Informatoren aus ihnen zu machen — dann wäre er gegen Ende der Schlacht vollendet informiert, nur daß er niemand mehr hätte, mit dessen Hilfe er kämpfen könnte. Der Computer ist nicht erstickt worden, sondern er hat sich selbst erstickt. Durch diese Eskalation hat er sich selbst blockiert, und das wäre auch bei einer zehnmal höheren Speicherkapazität geschehen, sofern er nicht aufhörte, die Anforderungen zu erhöhen. Mehr mathematisch ausgedrückt: Er hat seine Speicherkapazität in potenziertem Tempo reduziert, und infolgedessen hat das „Kleinhirn“ als engerer Kanal zuerst versagt. Die Verzögerungen traten im Kleinhirn auf und gingen dann auf den Computer selbst über. Als er sich in dem Zustand befand, in dem er keine Informationen mehr liefern konnte beziehungsweise aufgehört hatte, eine Maschine mit realen Zeitgrenzen zu sein, betäubte sich der Computer gewissermaßen selbst und mußte eine radikale Entscheidung treffen. Er traf also die Entscheidung zum Start, das heißt, er interpretierte die Störung als Folge einer drohenden Kollision.“

„Er hat Meteoritenalarm gegeben. Wie erklären Sie sich das?“ fragte Seyn.

„Wie er von dem Hauptprozeß auf einen Nebenprozeß umschalten konnte, weiß ich nicht. Ich kenne mich im Aufbau dieses Computers nicht aus, wenigstens nicht genügend. Warum er diesen Alarm gab? Ich weiß es nicht.

Jedenfalls steht für mich fest, daß er allein schuld war.“ Nun mußte man wieder auf die Erde warten. Pirx war sicher, daß van der Voyt ihn angreifen würde, und er irrte sich nicht. Das schwere, fleischige Gesicht schaute ihn durch eine Rauchwolke an, weit weg und zugleich sehr nahe. Als van der Voyt zu sprechen begann, war sein Baß freundlich, und die Augen lächelten wohlwollend, mit der allwissenden Gutmütigkeit eines Lehrers, der sich an einen wacker parierenden Schüler wendet. „Also der Kommandant Pirx schließt Sabotage aus? Welche Anhaltspunkte hat er dafür? Was bedeuten die Worte „er ist schuld“? Wer — „er“? Der Computer? Der Kommandant Pirx hat doch selbst festgestellt, daß der Computer bis zum Schluß funktioniert hat. Und das Programm? Es unterscheidet sich in nichts von den Programmen, mit deren Hilfe der Kommandant Pirx mehr als hundertmal gelandet ist. Haben Sie in Erwägung gezogen, daß das Programm manipuliert worden sein könnte?“

„Ich habe nicht die Absicht, mich zum Thema Sabotage zu äußern“, sagte Pirx. „Das interessiert mich vorläufig nicht. Wären der Computer und das Programm in Ordnung gewesen, dann stünde „Ariel“ jetzt unversehrt hier, und wir brauchten uns nicht zu unterhalten. Ich behaupte, gestützt auf die Bandaufzeichnungen, daß der Computer exakt und im Rahmen des richtigen Manövers gearbeitet hat, aber mit einer übertriebenen Perfektion, so als genügte ihm keine der erreichten Leistungen. Er hat mit wachsendem Tempo Daten über den Zustand der Rakete angefordert, ohne die Grenzen der eigenen Möglichkeiten und die Kapazität der äußeren Kanäle zu beachten. Warum er das machte, weiß ich nicht. Aber er hat es gemacht. Mehr habe ich nicht zu sagen.“

Keiner der „Marsmenschen“ entgegnete etwas. Pirx nahm mit steinerner Miene die Genugtuung zur Kenntnis, die in Seyns Augen aufblitzte, und auch die stumme Befriedigung, mit der Romani sich im Sessel aufrichtete.

Acht Minuten später sprach wieder van der Voyt. Diesmal wandte er sich weder an Pirx noch an irgendein anderes Kommissionsmitglied. In einem einzigen Redeschwall schilderte er den Weg, den jeder Computer vom Montageband bis zur Steuerkabine eines Raumschiffs zurücklegte.

Die Aggregate wurden von acht verschiedenen Firmen aus Japan, Frankreich und Amerika gebaut. Dann reisten die durch und durch leeren, wie Säuglinge „unwissenden“ Elektronengehirne nach Boston, wo sie in der Syntronics Corporation programmiert wurden. Daraufhin unterzog man jeden Computer einer Prozedur, die in etwa einem aus der Vermittlung von „Erfahrungen“ und der Abnahme von „Examina“ bestehenden Schulunterricht entsprach. Auf diese Weise wurde jedoch nur die allgemeine Leistungsfähigkeit erprobt;

„Spezialstudien“ nahm der Computer erst in der anschließenden Phase auf. Nun erst wurden aus den Universalautomaten die Steuerwerke für die Raketen vom Typ „Ariel“. Und schließlich kamen sie in einen Simulator, der unzählige Folgen von Vorkommnissen imitierte, wie sie bei einer Raumfahrt möglich waren: unvorhergesehene Havarien, Defekte in den Maschinensätzen, schwierige Manöversituationen auch bei nicht funktionierendem Antriebssystem, Begegnungen mit anderen Raketen auf kurzer Distanz, mit fremden Körpern, wobei jeder Fall in unzähligen Varianten durchgespielt wurde. Einmal wurde ein beladenes Raumschiff zugrunde gelegt, dann wieder ein leeres, mal ging es um Bewegung im Hochvakuum, mal um Eintritt in eine Atmosphäre, und all diese vorgetäuschten Situationen wurden Stufe um Stufe komplizierter, bis es sich um schwierigste Probleme bei gleichzeitiger Anwesenheit vieler Körper in einem Gravitationsfeld handelte, deren Bewegungen die Maschine vorausberechnen mußte, um den Kurs des eigenen Raumschiffs sicher zu steuern.

Der Simulator, ebenfalls ein Computer, spielte die Rolle eines „Examinators“, und zwar eines perfiden, der das eingangs fixierte Programm des „Schülers“ sozusagen weiterbearbeitete, das heißt auf Ausdauer und Leistungsfähigkeit prüfte. Obwohl also ein solcher elektronischer Steuermann niemals wirklich ein Raumschiff gelenkt hatte, besaß er, wenn er schließlich an Bord einer Rakete montiert wurde, mehr Erfahrung und Fertigkeiten als alle Menschen zusammengenommen, die sich jemals mit der Navigation im Weltraum beschäftigt hatten. Der Computer hatte auf dem Simulatorstand so schwierige Aufgaben zu lösen, wie sie in Wirklichkeit niemals vorkamen, und um hundertprozentig jede Möglichkeit auszuschließen, daß ein unvollkommenes Exemplar durch dieses letzte Netz schlüpfte, wurde die Arbeit des Pärchens „Steuermann — Simulator“ von einem Menschen beaufsichtigt, einem erfahrenen Programmierer, der darüber hinaus langjährige Flugpraxis haben mußte, wobei Syntronics sich nicht damit begnügte, einfache Piloten für diesen verantwortungsvollen Posten zu engagieren: Es arbeiteten dort ausschließlich Kosmonauten vom Navigator an beziehungsweise solche, die mehr als tausend Stunden bei der Durchführung der wichtigsten Manöver nachweisen konnten. In letzter Instanz hing es also von diesen Leuten ab, welchen Tests aus dem unerschöpflichen Katalog der einzelne Computer unterworfen wurde; der Fachmann bestimmte die Ausmaße der zu meisternden Schwierigkeiten, und während er den Simulator überwachte, fügte er den „Examina“ zusätzliche Komplikationen hinzu, täuschte er im Verlauf der Aufgabenlösung plötzliche und schlimme Überraschungen vor: Kraftausfall, Dekonzentration der Schübe, Kollisionen, Schäden am Außenpanzer, Unterbrechung des Funkkontakts mit der Bodenkontrolle während der Landung, und er hörte damit nicht auf, bevor hundert Stunden Standardtests absolviert waren. Ein Exemplar, das die geringfügigste Unzuverlässigkeit aufwies, wurde in die Werkstatt zurückgeschickt wie ein schlechter Schüler, der eine Klasse wiederholen muß.

Nachdem van der Voyt die Arbeit der Werft dergestalt über jeden Zweifel erhoben hatte, bat er, um den Eindruck einer Verteidigung zu verwischen, die Kommission in schön formulierten Sätzen um eine kompromißlose Untersuchung der Katastrophe und ihrer Ursachen. Nun meldeten sich die Spezialisten von der Erde zu Wort, und sofort versank die Angelegenheit in einem Schwall gelehrter Terminologie. Auf dem Bildschirm erschienen Ideenskizzen, Blockdiagramme, Formeln, numerische Aufstellungen, und Pirx sah mit Bestürzung, daß sie sich auf dem besten Weg befanden, aus dem Vorfall einen verworrenen theoretischen Casus zu machen. Nach dem Chefinformationstheoretiker sprach der Experte für Datenverschlüsselung vom Projekt — Pirx hörte schon nicht mehr hin. Ihm lag nichts daran, sich durch Wachsamkeit einen milden Ausgang des nächsten Zusammenstoßes mit van der Voyt zu erkaufen, falls es überhaupt dazu kam. Es war immer weniger wahrscheinlich; denn niemand ging auf seine Darlegungen ein, als habe er sich einen Fauxpas geleistet, den man möglichst schnell vergessen wollte. Die nächsten Sprecher erklommen bereits die oberen Etagen der allgemeinen Steuerungstheorie. Pirx unterstellte ihnen keineswegs böse Absichten: Sie blieben einfach wohlweislich auf dem Terrain, auf dem sie sich stark fühlten, und van der Voyt lauschte ihnen mit vertrauensseliger Hingabe, denn er hatte sein Ziel erreicht: Die Erde hatte in den Beratungen den Vorrang an sich gerissen, und die „Marsmenschen“ spielten nur mehr die Rolle passiver Zuhörer. Übrigens hatten sie auch keine großartigen Neuigkeiten anzubieten. Der Computer des „Ariel“ war elektronischer Schrott; es lohnte sich nicht, ihn zu untersuchen. Die Aufzeichnungen gaben in groben Zügen wieder, was geschehen war, aber nicht, warum es geschehen war. Sie registrierten nicht alles, was im Computer vor sich ging, dazu wäre ein anderer, größerer Computer vonnöten gewesen, und um festzustellen, daß auch dieser defektanfällig war, hätte man den nächsten Überwacher haben müssen, und so konnte es ad infinitum weitergehen. Man bewegte sich also in den weiten Gefilden der abstrakten Analyse. Die Stabilisierung eines solchen Riesen beim Anflug auf einen Planeten war schon vor so langer Zeit von den Menschen an die Automaten übergegangen, daß dies als das Fundament, als die unerschütterliche Grundlage allen Handelns galt — eine Grundlage, die nun plötzlich unter den Füßen weggerutscht war. Keiner der weniger abgesicherten und einfacheren Modelle hatte je versagt, wie also konnte dies einem so vervollkommnten und mit allen Sicherheitsvorkehrungen versehenen Exemplar passieren? Wenn das möglich war, dann war alles möglich. War erst einmal ein Zweifel an der Zuverlässigkeit der Anlage aufgekommen, so ließ sich das Mißtrauen nicht mehr eindämmen, und alles ging im Ungewissen unter.

Inzwischen näherten sich „Ares“ und „Anabis“ dem Mars. Pirx saß da, als wäre er völlig allein, er war der Verzweiflung nahe. Gerade war ein klassischer Streit zwischen den Theoretikern entbrannt, der sie immer weiter von dem eigentlichen Geschehnis mit „Ariel“ wegführte. Als Pirx in das fette und massige Gesicht van der Voyts schaute, der gutmütig die Beratungen leitete, entdeckte er in seinem Ausdruck gewisse Ähnlichkeiten mit der Physiognomie des alten Churchill: die gleiche scheinbare Zerstreutheit, die aber Lügen gestraft wurde durch das Zucken der Lippen. Sie verrieten ein inneres Lächeln, das einem unter den schweren Lidern verborgenen Gedanken galt. Was gestern noch undenkbar war, wurde jetzt wahrscheinlich — nämlich der Versuch, die Beratungen auf ein Verdikt hinzulenken, das alle Verantwortung einer höheren Gewalt zuschob, vielleicht gewissen bisher unbekannten Phänomenen, vielleicht einer Lücke in der Theorie, mit der Schlußfolgerung, daß in großem Maßstab auf Jahre geplante Untersuchungen in Angriff genommen werden müßten. Er kannte ähnliche Fälle, jedoch von kleineren Ausmaßen, und ihm war klar, welche Kräfte die Katastrophe mobilisiert haben mußte. Hinter den Kulissen waren schon hartnäckige Bemühungen um einen Kompromiß im Gange, zumal das im ganzen so bedrohte Projekt zu mehr als einem Zugeständnis bereit war um den Preis, Unterstützung zu erhalten. Und die konnte eben einzig und allein von den vereinigten Werften geleistet werden, sei es auch nur durch die Bereitstellung einer Flottille kleinerer Raumschiffe zu günstigen Bedingungen, damit die laufende Versorgung gesichert blieb. Verglichen mit der Höhe des Einsatzes — denn es ging bereits um die Existenz des ganzen Projekts —, wurde die Katastrophe zu einem nichtigen Hindernis, falls es nicht möglich war, sie unverzüglich aufzuklären. Andere Affären waren schon des öfteren einfach vom Tisch gewischt worden. Er, Pirx, hatte jedoch einen Trumpf in der Hand. Die Leute von der Erde hatten ihn akzeptiert, sie hatten ihr Einverständnis zu seiner Mitarbeit in der Kommission geben müssen, denn er war hier der einzige, der engere Beziehungen zu den Raketenbesatzungen hatte als irgendein anderer Anwesender. Er machte sich nichts vor. Das verdankte er weder seinem guten Namen noch seiner Kompetenz. In der Kommission wurde einfach unbedingt ein aktiver Kosmonaut gebraucht, ein Fachmann, der eben von Bord gegangen war. Van der Voyt rauchte seine Zigarre. Er wirkte allwissend, denn er schwieg wohlweislich. Sicherlich hätte er lieber jemand anderen an Pirx’ Stelle gesehen, aber den hatte der Teufel hergeführt, und es gab keinen Vorwand, ihn loszuwerden. Hätte er also bei einem nicht eindeutigen Verdikt sein Votum separatum abgegeben, würde er Aufsehen erregt haben. Die Presse witterte Skandale und lauerte nur auf eine solche Gelegenheit. Der Pilotenverband und der Klub der Transporter stellten zwar keine Macht dar, aber vieles hing von ihnen ab — die Leute hatten doch Verstand. Also wunderte sich Pirx keineswegs, als er in der Pause erfuhr, daß van der Voyt mit ihm sprechen wollte. Der Freund mächtiger Politiker eröffnete das Gespräch mit der launigen Bemerkung, dies sei ein Gipfeltreffen zweier Planeten. Pirx hatte zuweilen Einfälle, über die er sich hinterher selbst wunderte. Während van der Voyt seine Zigarre rauchte und sich die Kehle mit Bier befeuchtete, bat er um ein paar belegte Brote aus dem Büfett.

Er hörte also dem Generaldirektor essend im Funkraum zu. Nichts war besser geeignet, sie einander gleichzustellen.

Van der Voyt wußte nichts mehr davon, daß sie kurz zuvor aneinandergeraten waren. So etwas war einfach nicht passiert. Er teilte seine Sorge um die Besatzungen von „Anabis“ und „Ares“; er vertraute ihm seinen Ärger an.

Die Verantwortungslosigkeit der Presse, ihr hysterischer Ton regten ihn auf. Er bat Pirx, eventuell ein kleines Memorial in Sachen künftiger Landungen auszuarbeiten: Was konnte man für die Erhöhung ihrer Sicherheit tun?

Er gab sich so vertrauensvoll, daß Pirx um einen Moment Entschuldigung bat und den Kopf aus der Kabinentür steckte, um sich Heringssalat zu bestellen. Van der Voyt war wie ein liebender Vater zu ihm, bis Pirx plötzlich sagte:

„Sie haben vorhin die Fachleute erwähnt, die die Arbeit der Simulatoren überwachen. Können Sie mir die Namen nennen?“

Van der Voyt staunte mit acht Minuten Verspätung, aber das dauerte nur einen Augenblick. „Unsere „Examinatoren“?“ Er lächelte breit. „Lauter Herren Kollegen, Kommandant. Mint, Stoernheim und Cornelius.

Die alte Garde… Für Syntronics haben wir die besten ausgewählt, die wir finden konnten. Sie kennen sie sicherlich.“

Sie konnten sich nicht weiter unterhalten, denn die Beratungen wurden fortgesetzt. Pirx schrieb einen Zettel und reichte ihn Hoyster mit den Worten: Sehr dringend und sehr wichtig. Der Vorsitzende verlas also zuerst folgenden, für die Werftleitung bestimmten Text: 1. In welchem Schichtsystem arbeiten die Chefkontrolleure Cornelius, Stoernheim und Mint? 2. Inwieweit tragen die Kontrolleure die Verantwortung, falls sie Funktionsfehler oder andere Mängel in der Arbeit des überprüften Computers übersehen? 3. Wer hat beim Testen der Computer von „Ariel“, „Anabis“ und „Ares“ die Aufsicht geführt? Das rief Bewegung im Saal hervor: Pirx wagte sich ausgerechnet an Männer heran, die ihm näherstanden als irgendein anderer, an ehrenwerte, verdiente Veteranen der Weltraumfahrt! Durch den Mund des Generaldirektors bestätigte die Erde den Empfang der Fragen; die Antworten sollten in zehn bis zwanzig Minuten gegeben werden. Während er darauf wartete, überkamen ihn Gewissensbisse. Es war nicht gut, daß er diese Informationen auf so offiziellem Weg angefordert hatte. Damit konnte er sich nicht nur die Feindschaft der Kollegen zuziehen, sondern auch die eigenen Positionen im Endkampf schwächen, falls es zu einem Votum separatum kam. Konnte das Experiment, die Untersuchungen über die rein technischen Belange hinaus auf diese Männer auszudehnen, nicht so ausgelegt werden, als gäbe er dem Druck van der Voyts nach? Wenn er darin ein Interesse der Werft sah, würde der Generaldirektor ihn unverzüglich vernichten, er brauchte nur der Presse entsprechende Hinweise zu geben. Er würde ihr Pirx als ungeschickten Bundesgenossen zum Fraß vorwerfen… aber er hatte keine andere Chance gehabt als diesen blind abgefeuerten Schuß. Es war zuwenig Zeit, sich auf privaten Umwegen zu informieren. Freilich hegte er keinen bestimmten Verdacht. Wovon hatte er sich also leiten lassen? Von ziemlich trüben Ahnungen gewisser Gefahren, die weder nur von den Menschen noch nur von den Automaten ausgingen, sondern von ihrem Berührungspunkt — von dort, wo sie miteinander Kontakt hatten, denn die Art der Verständigung zwischen Menschen und Computern war so unvorstellbar mannigfaltig. Und dann war noch das, was er vor dem Regal mit den alten Büchern empfunden hatte und was er nicht in Worte zu kleiden vermochte. Die Antwort kam schnell: Jeder Kontrolleur betreute seine Computer vom Beginn der Tests bis zu ihrem Ende, und wenn er seine Unterschrift auf den Akt setzte, der „Reifezeugnis“ genannt wurde, übernahm er die volle Verantwortung für übersehene Funktionsmängel. Den Computer von „Ares“ hatte Stoernheim überprüft, die anderen beiden Cornelius. Pirx hätte am liebsten sofort den Saal verlassen, doch das konnte er sich nicht erlauben. Er spürte ohnehin schon die wachsende Spannung.

Um elf Uhr waren die Beratungen beendet. Pirx tat, als bemerkte er die Zeichen nicht, die Romani ihm machte, und rannte aus dem Saal, als nähme er Reißaus. Nachdem er sich in seinem Kämmerchen eingeschlossen hatte, sank er aufs Bett und hob den Blick zur Decke. Mint und Stoernheim kamen nicht in Betracht. Blieb also Cornelius. Ein rationell und wissenschaftlich denkender Kopf hätte bei der Frage begonnen, was ein Kontrolleur eigentlich übersehen konnte. Die sofortige Antwort, die da lautete: absolut nichts, hätte auch diese Linie der Nachforschungen abgeschnitten. Pirx jedoch war kein wissenschaftlich denkender Kopf, und eine solche Frage kam ihm gar nicht erst in den Sinn. Er versuchte auch nicht, über den Testvorgang selbst nachzudenken, als spürte er, daß auch das mit einer Niederlage für ihn enden würde. Er dachte einfach an Cornelius, so, wie er ihn kannte, und er kannte ihn recht gut, obwohl sich ihre Wege vor vielen Jahren getrennt hatten. Sie hatten ein schlechtes Verhältnis zueinander gehabt, was gar nicht erstaunlich war, wenn man bedenkt, daß Cornelius der Kommandant des „Gulliver“ war, er dagegen nur der Konavigator. Dennoch war ihr Verhältnis noch schlechter gewesen, als es bei einer solchen Konstellation üblich war, denn Cornelius war ein Monstrum an Akribie. Er wurde Quälgeist, Kleinigkeitskrämer, Graupenzähler, Fliegenfänger genannt, denn er bekam es fertig, die halbe Besatzung zu mobilisieren, um eine Fliege an Bord zu fangen. Pirx lächelte bei dem Gedanken an seine achtzehn Monate unter dem Kleinigkeitskrämer Cornelius; jetzt konnte er sich das erlauben, aber damals war er aus der Haut gefahren. Was für eine Nervensäge war er gewesen! Trotzdem war sein Name im Zusammenhang mit der Erforschung der äußeren Planeten, vor allem des Neptun, in die Enzyklopädie eingegangen. Klein, fahlgesichtig, ewig sauer, verdächtigte er jeden, ihn hintergehen zu wollen.

Seinen Behauptungen — daß er seine Leute einer Leibesvisitation unterzog, weil sie ihm Fliegen an Bord schmuggelten — glaubte keiner, aber Pirx wußte sehr wohl, daß das keine Erfindung war. Es war ihnen natürlich nicht um die Fliegen gegangen, sondern darum, den Alten zu ärgern. Er hatte eine Schachtel DDT in seiner Schublade und bekam es fertig, mitten im Gespräch mit erhobenem Zeigefinger zu verstummen (wehe dem, der auf dieses Zeichen hin nicht erstarrte!) und einem Geräusch zu lauschen, das ihm wie ein Summen vorkam. Stets trug er ein Senkblei und ein Stahlmeßband mit sich herum; eine von ihm durchgeführte Ladekontrolle glich einem Lokaltermin am Ort einer Katastrophe, die zwar noch nicht passiert, aber im Anzug war. Er hatte noch den Schrei „Der Rechenschieber kommt, Deckung!“ im Ohr, auf den hin die Messe verwaiste; er erinnerte sich an den sonderbaren Ausdruck in Cornelius’ Augen, die nicht an dem teilzuhaben schienen, was er gerade tat oder sagte, sondern die Umgebung auf unordentliche Stellen absuchten. Alle Menschen, die seit Jahrzehnten flogen, wurden nach und nach sonderlich, aber Cornelius hielt in dieser Beziehung den Rekord. Er konnte es nicht ertragen, jemanden in seinem Rücken zu haben, und wenn er zufällig an einen Stuhl geriet, der noch die Wärme des vorherigen Benutzers ausstrahlte, sprang er auf wie von der Tarantel gestochen. Er gehörte zu den Menschen, von denen man sich nicht vorstellen konnte, daß sie einmal jung gewesen waren. Der Ausdruck der Indignation angesichts all der Unzulänglichkeit in seiner Umgebung verließ ihn nie; er litt, weil er keinen zu seiner Pedanterie bekehren konnte. Mit dem Rotstift in der Hand kontrollierte er zwanzigmal hintereinander…

Pirx erstarrte. Dann richtete er sich so vorsichtig auf, als wäre sein Körper aus Glas. Seine Gedanken, die inmitten wirrer Erinnerungen umherirrten, waren gegen ein unsichtbares Hindernis gestoßen, und das war wie ein Alarmsignal. Was eigentlich? Daß Cornelius niemand hinter sich ertragen konnte? Nein. Daß er seine Untergebenen piesackte? Was besagte das schon! Nichts. Aber irgendwo in dieser Richtung… Er war wie ein kleiner Junge, der blitzschnell die Hand geschlossen hat, um einen Käfer zu fangen, und der jetzt die geballte Faust vor der Nase hält, voller Bangen, sie zu öffnen. Langsam.

Allerdings war Cornelius für seine Kulthandlungen berühmt. (War es das…? Er hielt sich probeweise bei dem Gedanken auf.) Wenn irgendwelche Vorschriften, ganz gleich welche, verändert wurden, dann schloß er sich mit dem amtlichen Schreiben in seiner Kajüte ein und verließ sie nicht, ehe er sich alle Neuerungen ins Gedächtnis gehämmert hatte. (Das war jetzt wie das Kinderspiel „heiß — kalt“. Er spürte, daß er sich vom Ziel entfernte…) Vor neun, nein, vor zehn Jahren hatte er ihn zum letztenmal gesehen. Er war irgendwie untergetaucht, seltsam plötzlich, auf dem Gipfel des Ruhmes, den er der Erforschung des Neptun verdankte. Es hieß, er würde nur vorübergehend als Dozent für Navigation arbeiten und dann an Bord zurückkehren, aber er war nicht zurückgekehrt. Ganz natürliche Sache, er war fast fünfzig. (Wieder nicht das Richtige.) Der anonyme Brief (dieses Wort war wer weiß woher aufgetaucht)… Was für ein anonymer Brief? Daß er krank war und dies zu verheimlichen suchte? Daß ihm die Entlassung drohte? Woher denn! Dieser anonyme Brief war eine völlig andere Geschichte, die eines anderen Menschen — nämlich Cornelius Craigs —, hier war es der Vor-, dort der Familienname. (Habe ich sie verwechselt? Ja. Aber der anonyme Brief wollte nicht verschwinden. Seltsam, er konnte sich nicht von diesem Begriff befreien. Je energischer er ihn fortschob, desto hartnäckiger kam er wieder.) Er saß zusammengesunken, im Kopf ein einziger Brei. Der anonyme Brief… Jetzt war er schon fast sicher, daß dieser Begriff einen anderen verdeckte. So etwas kam vor. Ein falsches Signal drängte sich vor ein richtiges, und es war nicht möglich, es wegzuschieben. Der anonyme Brief.

Er stand auf. Ihm war eingefallen, daß zwischen den Marsbüchern auf dem Regal ein Lexikon stand. Er schlug es auf gut Glück bei „AN“ auf. Ana… Anakantik. Anaklastik. Anakonda. Anakreontiker. Anakrusis. Analekten (wie viele Wörter man doch nicht kannte). Analyse. Ananas. Ananke (grch.): Schicksalsgöttin. Das…? Aber was hatte eine Göttin…? Übertr.: Zwang. Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er sah ein weißes Sprechzimmer vor sich, den Rücken des telefonierenden Arztes, ein offenes Fenster und Papiere auf dem Tisch, die von der Zugluft durcheinandergeweht wurden. Eine gewöhnliche ärztliche Untersuchung. Er versuchte nicht einmal, den maschinengeschriebenen Text zu lesen, aber seine Augen fingen die Buchstaben von selbst auf; schon als kleiner Junge hatte er eifrig gelernt, Spiegelschrift zu lesen. „Warren Cornelius. Diagnose: ANANKASTISCHES SYNDROM.“ Der Arzt bemerkte die Unordnung auf dem Tisch und verstaute die Papiere in seiner Aktenmappe. War er nicht neugierig gewesen, was diese Diagnose bedeutete? Das wohl, aber er hatte gespürt, daß es sich nicht gehörte, danach zu fragen — und dann hatte er es vergessen. Wie lange war das her?

Mindestens sechs Jahre.

Er legte das Lexikon beiseite, erregt, innerlich angeheizt, aber zugleich enttäuscht. Ananke — Zwang, also vermutlich so etwas wie Zwangsneurose.

Zwangsneurose! Schon als Junge hatte er darüber gelesen, was er nur auftreiben konnte, es gab da so einen Fall in der Familie… er wollte wissen, was das bedeutete, und sein Gedächtnis lieferte schließlich die Erklärungen, wenn auch nicht ohne Widerstand. Man konnte sagen, was man wollte, aber sein Gedächtnis war noch in Ordnung. In kurzen Aufblendungen kamen die Sätze aus der medizinischen Enzyklopädie wieder und beleuchteten schlagartig Cornelius’ Persönlichkeit. Jetzt sah er ihn völlig anders als bisher. Es war ein beschämender und zugleich kläglicher Anblick. Deshalb also wusch er sich zwanzigmal am Tag die Hände und mußte den Fliegen nachjagen, deshalb bekam er einen Wutanfall, wenn ihm ein Lesezeichen abhanden kam, und deshalb hielt er sein Handtuch unter Verschluß und konnte auf keinem fremden Stuhl sitzen… Eine Zwangshandlung gebar die nächste, so daß er ganz von der zahlreichen Nachkommenschaft umwimmelt war und sich zum Gespött machte. Das war am Ende auch den Ärzten nicht entgangen. Sie hatten ihn von Bord genommen. Als Pirx sein Gedächtnis anstrengte, glaubte er, am unteren Rand der Seite ein gesperrt geschriebenes Wort gelesen zu haben: fluguntauglich. Und weil der Psychiater nichts von Computern verstand, hatte er zugelassen, daß Cornelius bei Syntronics arbeitete. Sicher hatte er angenommen, daß das genau der richtige Posten für so einen Kleinigkeitskrämer war. Was für ein Betätigungsfeld für Pedanterie! Das mußte Cornelius wieder Mut gemacht haben. Eine nützliche Arbeit, und was am wichtigsten war — sie stand in engstem Zusammenhang mit der Weltraumfahrt… Er lag da und starrte an die Decke und brauchte keine sonderliche Mühe aufzuwenden, um sich Cornelius bei Syntronics vorzustellen. Was machte er dort? Er kontrollierte die Simulatoren, die die Belastungsproben mit den Raumschiffcomputern durchführten. Das heißt, er machte ihnen die Arbeit schwer, und er war in seinem Element, wenn er jemanden Mores lehren konnte. Auf nichts verstand er sich besser. Dieser Mann mußte in ständiger Verzweiflung gelebt haben, weil man ihn vielleicht für verrückt hielt, was er nicht war. In wirklich kritischen Situationen verlor er nie den Kopf. Er war mutig, aber sein Mut für den Alltag war allmählich von den Zwangsvorstellungen aufgefressen worden. Zwischen der Besatzung und seinem verdrehten Innenleben mußte er sich gefühlt haben wie zwischen Hammer und Amboß. Er sah leidend aus, nicht weil er diesen Zwangsvorstellungen erlag, nicht weil er verrückt war, sondern weil er dagegen ankämpfte und unablässig nach Vorwänden und Rechtfertigungen suchte, er brauchte diese Regulative als Entschuldigung, daß das gar nicht er war, daß dieser ewige Drill nicht seine Schuld war. Er hatte nicht die Mentalität eines Feldwebels — hätte er sonst Poe gelesen, diese makabren und unglaublichen Erzählungen? Vielleicht hatte er darin seine Hölle gesucht? So ein Drahtgeflecht aus Zwängen in sich zu haben, solche Stangen, Hebel, und ständig gegen sie zu kämpfen, sie zu zerbrechen, immer wieder von vorn… Unter alldem lauerte in ihm die Angst, daß etwas Unvorhergesehenes passieren könnte, und dagegen rüstete er sich ständig auf, deswegen exerzierte und trainierte er, deshalb seine Probealarme, Visitationen, Kontrollen, das ruhelose Herumkriechen auf dem ganzen Raumschiff, großer Gott, er wußte, daß sie sich heimlich über ihn ins Fäustchen lachten, vielleicht war ihm auch klar, wie nutzlos das alles war. Konnte es sein, daß er sich jetzt an den Computern rächte? Daß er sie Mores lehrte? Wenn es so war, gab er sich wohl keine Rechenschaft darüber. Sekundäre Rationalisation nannte man das. Er entschuldigte sich damit, daß er verpflichtet war, so vorzugehen.

Die Kombination der medizinischen Terminologie mit dem, was er schon vorher wußte, was ihm in Form einer Reihe Anekdoten in ganz anderer Sprache bekannt war, gab den Ereignissen einen erstaunlich neuen Sinn. Er konnte in die Tiefe blicken, und dazu benützte er den Dietrich, den ihm die Psychiatrie geliefert hatte. Der Mechanismus einer anderen Persönlichkeit trat nackt zutage, komprimiert, reduziert auf eine Handvoll unglücklicher Reflexe, vor denen es kein Entfliehen gab. Der Gedanke, daß man Arzt sein und Menschen so behandeln konnte, selbst zu dem Zweck, ihnen zu helfen, kam ihm unheimlich abstoßend vor. Zugleich verschwand die durchsichti ge Aureole der Narrheit, die die Erinnerung an Cornelius wie ein schmaler Ring umgab. In dieser neuen, überraschenden Sicht war kein Platz für den hinterhältigen, boshaften Humor, der aus der Schule, den Kasernen und von Bord stammte. An Cornelius gab es nichts zu belächeln. Die Arbeit bei der Syntronics Corporation?

Man hätte meinen können — ideal für diesen Mann: belasten, fordern, komplizieren bis zur Grenze des Erträglichen. Endlich konnte er die in sich gefesselten Zwänge befreien. Für einen Uneingeweihten sah es vortrefflich aus: ein alter Praktiker, ein erfahrener Navigator gab sein bestes Wissen an die Automaten weiter, nichts besser als das. Er aber hatte Sklaven vor sich und brauchte sich nicht zu mäßigen, da sie keine Menschen waren. Der vom Fließband kommende Computer war wie ein Neugeborenes: zu allem fähig, aber unwissend.

Die Aufnahme des Lernstoffs bedeutete ein Anwachsen der Spezialisierung und zugleich den Verlust der ursprünglichen Undifferenziertheit. Auf dem Prüfstand spielte der Computer die Rolle des Gehirns, während der Simulator den Körper imitierte. Ein dem Körper unterworfenes Hirn, das war die Analogie.

Das Hirn muß den Zustand und die Reaktionsfähigkeit jedes Muskels kennen. Ähnlich der Computer — er mußte über den Zustand der Einzelteile eines Raumschiffs informiert sein. Er sandte auf elektrischem Weg Schwärme von Fragen aus, als schleuderte er Tausende von Bällchen auf einmal in alle Winkel des metallenen Giganten, und machte sich aus den Echogeräuschen ein Bild der Rakete und ihrer Umgebung. In diese Unfehlbarkeit hatte ein Mensch eingegriffen, der an Furcht vor dem Unerwarteten litt und sie mit zwanghaften Kulthandlungen bekämpfte. Der Simulator wurde zu einem Werkzeug des Zwangs, zur Verkörperung seiner Angstdrohungen.

Cornelius hatte in Übereinstimmung mit dem Hauptprinzip Sicherheit gehandelt. Sah das nicht aus wie lobenswerter Eifer? Wie mußte er sich abgemüht haben! Einen normalen Arbeitsablauf hielt er wahrscheinlich für nicht sicher genug. Je schwieriger die Situation des Raumschiffs war, desto schneller mußten die Informationen darüber eintreffen. Er hatte vor Augen, daß das Tempo der Kontrolle über die Aggregate mit der Wichtigkeit des Manövers in Einklang stehen mußte. Und da das Landemanöver das wichtigste war… Hatte er das Programm geändert? Genausowenig, wie jemand die Vorschriften für Autofahrer ändert, der seinen Motor jede Stunde überprüft statt einmal am Tag. Das Programm konnte ihm keinen Widerstand leisten. Er strebte in eine Richtung, in der das Programm keine Absicherung hatte, weil so etwas keinem Programmierer in den Sinn kam. Wenn ein derart überforderter Computer versagte, schickte Cornelius ihn in die technische Abteilung zurück. Gab er sich Rechenschaft darüber, daß er sie mit seinen Zwangsvorstellungen ansteckte? Wohl nicht, denn er war ein Praktiker und kannte sich in der Theorie nicht aus. Ein Sicherheitsfanatiker war er, und genauso erzog er auch die Maschinen. Er überforderte die Computer, na und…? Sie konnten sich ja nicht beklagen. Es waren neue Modelle, deren Verhalten dem von Schauspielern glich. Ein solcher Computer-Schachspieler konnte jeden Menschen besiegen unter der Bedingung, daß sein Ausbilder nicht Cornelius war. Der Computer sah zwei bis drei Züge seines Gegners voraus; sobald er aber versuchte, zehn vorauszusehen, erstickte er an einem Übermaß möglicher Varianten, denn sie vervielfachten sich in potenzierter Form. Um die Möglichkeiten für zehn aufeinanderfolgende Schachzüge vorauszuberechnen, genügte nicht einmal eine Trillion Operationen. Ein Schachspieler, der sich solcherart selbst lahmlegte, würde bei der ersten Partie eine Niederlage erleiden. An Bord der Rakete war das nicht sofort zu erkennen, man konnte nur das Ein- und Ausgabewerk beobachten, nicht aber das, was sich im Innern tat. Innen kam es zu einem Stau, außen lief alles normal — eine Zeitlang. So hatte er sie eingerichtet, und die entsprechende — Reaktion auf diesen Geist, der mit realen Aufgaben nicht fertig wurde, weil er sich fiktive schuf, erfolgte am Steuer der Hunderttausender. Jeder dieser Computer litt an einem anankastischen Syndrom, das heißt an zwanghafter Wiederholung der Operationen, an der Komplikation einfachster Vorgänge, an Manierismus und Ritualität, an dem Komplex, „alles auf einmal“ berücksichtigen zu müssen. Natürlich simulierten sie nicht die Angst, sondern nur die Struktur der ihr eigenen Reaktionen. Die Tatsache, daß es neue, verbesserte Modelle mit erhöhter Kapazität waren, stürzte sie paradoxerweise ins Verderben, denn sie konnten trotz der allmählichen Erstickung der Kreise durch Signalstau weiterarbeiten. Im Zenit über dem Agathodaemon hatte jedoch ein letzter Tropfen den Becher zum Überlaufen gebracht: Vielleicht waren es die ersten Windstöße gewesen, die blitzschnelle Reaktionen nötig machten, der Computer jedoch, verstopft durch die Lawine, die er in sich selbst entfesselt hatte, besaß nichts mehr, womit er steuern konnte. Er hörte auf, eine Maschine realer Zeit zu sein, er konnte keine wirklichen Vorgänge mehr modellieren — er versank in Trugbildern… Er sah sich einer riesigen Masse gegenüber: Der Planetenscheibe, und sein Programm erlaubte es ihm nicht, auf die Fortsetzung des einmal eingeleiteten Vorgangs zu verzichten, obwohl er zugleich nicht imstande war, ihn fortzusetzen. Er nahm also den Planeten als einen Meteor, der auf Kollisionskurs lag, denn das war das letzte offene Türchen, diese winzige Eventualität ließ das Programm zu. Das konnte er der Besatzung in der Steuerkabine nicht sagen, denn er war ja kein vernunftbegabter Mensch. Er rechnete bis zu Ende, kalkulierte die Chancen: Ein Zusammenstoß war der sichere Untergang, eine Flucht nur zu neunzig Prozent, also wählte er die Flucht: Havariestart.

All das fügte sich logisch zusammen, nur gab es dafür nicht den geringsten Beweis. Niemand hatte bisher von so einem Vorfall gehört. Wer hätte die Vermutung bestä- tigen können? Bestimmt der Psychiater, der Cornelius behandelt und ihm geholfen oder vielleicht nur erlaubt hatte, diese Arbeit zu übernehmen. Aber er würde mit Rücksicht auf die ärztliche Schweigepflicht nichts sagen.

Um sie brechen zu können, brauchte man ein Gerichtsurteil. Aber in sechs Tagen mußte „Anabis“… Blieb also Cornelius selbst. Ahnte er es? Hatte er jetzt begriffen, nach alledem, was geschehen war? Pirx konnte sich nicht in die Situation seines ehemaligen Chefs versetzen. Er war unantastbar wie hinter einer Glaswand… Selbst wenn gewisse Zweifel in ihm aufgekommen waren, würde er sie sich nicht eingestehen. Er würde sich gegen solche Schlußfolgerungen wehren, das war wohl klar…

Dennoch würde es herauskommen — nach der nächsten Katastrophe. Wenn dazu noch „Ares“ unversehrt landete — mußte die rein statistische Berechnung, daß die Computer versagt hatten, für die Cornelius verantwortlich war, den Verdacht auf ihn lenken. Man würde jede Einzelheit unter die Lupe nehmen und den Spuren folgen, bis man zur Quelle gelangte. Aber er, Pirx, konnte nicht einfach die Hände in den Schoß legen und warten. Was tun? Er wußte es genau: Man mußte den ganzen Maschinenverstand des „Anabis“ lahmlegen, über Funk das Originalprogramm übermitteln, und der Informatiker des Raumschiffs würde damit innerhalb weniger Stunden zurechtkommen.

Um mit so etwas auftreten zu können, benötigte Pirx Beweise. Und wenn es nur einer war, nur eine einzige Spur.

Aber er hatte nichts. Einzig die Erinnerung an eine Krankheitsgeschichte, vor Jahren flüchtig in Spiegelschrift gelesen… Spitznamen und Klatsch… Anekdoten, die über Cornelius erzählt wurden… den Katalog seiner Schrullen. So etwas konnte er der Kommission als Beweis für die Krankheit und als Ursache der Katastrophe nicht vorlegen. Selbst wenn er ohne Rücksicht auf den alten Mann eine solche Anklage aussprach, blieb im-

’ mer noch „Anabis“. Setzten die Operationen ein, würde das Raumschiff binnen einer Stunde wie blind und taub sein, so als hätte es keinen Computer mehr. Die Hauptsache war „Anabis“. Pirx erwog schon die verrücktesten Möglichkeiten: Da er offiziell nichts tun konnte — warum sollte er nicht starten und „Anabis“ von Bord aus das Resultat dieser Überlegungen und die Warnung übermitteln? Die Konsequenzen interessierten ihn nicht, aber es war zu riskant. Er kannte den Piloten des „Anabis“ nicht. Hätte er denn selbst den Rat eines Fremden befolgt, der sich auf solche Hypothesen stützte? Wohl kaum… Blieb also einzig Cornelius selbst. Er kannte seine Adresse: Boston, Syntronics. Aber wie konnte er einen so mißtrauischen, pedantischen und übertrieben gewissenhaften Menschen zu dem Eingeständnis bewegen, ausgerechnet das getan zu haben, was er sein Leben lang zu vermeiden versucht hatte? Vielleicht würde er in einem Gespräch unter vier Augen, wenn man ihn auf die Gefahr aufmerksam gemacht hätte, in der „Anabis“ schwebte, Einsicht zeigen und die Warnung unterstützen, denn immerhin war er ein redlicher Mann. Aber in einem Gespräch zwischen Mars und Erde, mit achtminütigen Pausen, konfrontiert mit einem Fernsehschirm statt mit einem lebendigen Menschen — sollte er so einem Wehrlosen eine solche Anklage ins Gesicht schleudern, verlangen, daß er sich zu dem — wenn auch unbeabsichtigten — Mord an dreißig Leuten bekannte? Unmöglich. Er saß auf dem Bett mit gefalteten Händen, als betete er. Es kam ihm unglaublich vor, daß so etwas möglich war: Alles zu wissen und nichts unternehmen zu können. Er ließ den Blick über die Bücher auf dem Regal wandern. Sie hatten ihm geholfen, durch die eigene Niederlage. Sie alle hatten verloren, weil sie sich um die Kanäle gestritten hatten beziehungsweise um das, was auf einem fernen Fleckchen in den Linsen der Teleskope so aussah, aber nicht um das, was in ihnen selbst war.

Sie hatten um den Mars gestritten, den keiner von ihnen je gesehen hatte. Gesehen hatten sie auf den Grund der eigenen Seele, die heroische und fatale Bilder ausbrütete. Sie hatten ihre Phantasiegebilde in einen Raum von zweihundert Millionen Kilometern projiziert, statt über sich selbst nachzudenken. Und auch jetzt und hier hatte sich ein jeder vom Kern der Sache entfernt, der sich in das Dickicht der Computertheorien begab, um dort nach den Ursachen der Katastrophe zu suchen. Die Computer waren unschuldig und neutral, genauso wie der Mars, an den er selbst gewisse unsinnige Ansprüche gestellt hatte, als wäre die Welt verantwortlich für die Trugbilder, die der Mensch ihr aufzudrängen versucht. Aber diese alten Bücher hatten schon alles getan, was sie vermochten. Er sah keinen Ausweg.

Auf dem untersten Bord des Regals gab es auch Belletristik. Zwischen den bunten Rücken ragte ein blauer Band mit Erzählungen von Poe heraus. Also auch Romani las ihn? Er selbst mochte Poe nicht, wegen der manierierten Sprache, wegen der Gewähltheit der Visionen, die so taten, als wären sie nicht aus Träumen geboren. Aber für Cornelius war Poe so etwas wie eine Bibel. Gedankenlos griff er das Buch heraus, es öffnete sich auf der Seite mit dem Inhaltsverzeichnis. Er las einen Titel, der ihn betroffen machte. Cornelius hatte ihm das einmal nach der Wache gegeben und ihm diese Erzählung empfohlen, in der ein Mörder auf phantastische, unglaubliche Weise entlarvt wurde. Nach der Lektüre hatte er ein verlogenes Lob aussprechen müssen, natürlich, der Chef hat immer recht…

Zuerst spielte er nur mit dem Gedanken, der ihm gekommen war, dann begann er ihn auszuspannen. Er ähnelte ein bißchen einem Schülerstreich, aber zugleich auch einem heimtückischen Stoß in den Rücken. Roh, unerhört grausam, doch wer weiß, vielleicht gerade in dieser Situation wirksam: diese vier Worte zu telegrafieren.

Vielleicht waren all diese Verdächtigungen barer Unsinn, vielleicht bezog sich die Krankheitsgeschichte auf einen anderen Cornelius, während jener die Computer genau nach Vorschrift getestet hatte und sich keiner Schuld bewußt war.

Wenn er dann ein solches Telegramm erhielt, würde er die Schultern heben mit dem Gedanken, sein früherer Untergebener habe sich einen idiotischen, höchst abstoßenden Scherz erlaubt, aber mehr würde er nicht denken oder tun.

Wenn die Nachricht von der Katastrophe jedoch Unruhe, unklare Zweifel in ihm geweckt hatte, wenn er schon ein wenig über den eigenen Anteil an dem Unglück nachdachte und sich gegen diese Gedanken wehrte, dann würden die vier telegrafierten Worte wie ein Blitz einschlagen. Er würde sich augenblicklich in einer Sache, die er selbst nicht konsequent zu formulieren wagte, durchschaut und zugleich schuldig fühlen: Dann konnte er dem Gedanken an „Anabis“ und an das, was ihn erwartete, nicht mehr entfliehen; und selbst wenn er sich dagegen sperrte, das Telegramm würde ihm keine Ruhe lassen. Er würde es nicht fertigbringen, die Hände in den Schoß zu legen und in Passivität zu verharren; das Telegramm würde ihm unter die Haut gehen, sich in sein Gewissen einschleichen — und was dann? Pirx kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß sich der Alte nicht bei der vorgesetzten Dienststelle melden würde, um ein Geständnis abzulegen, ebensowenig aber würde er versuchen, sich zu verteidigen und der Verantwortung zu entfliehen. Wenn er einmal eingesehen hatte, daß ihn die Verantwortung traf, dann würde er ohne ein Wort das tun, was er für richtig hielt.

Aber trotzdem — so konnte man nicht vorgehen. Noch einmal spielte er alle Varianten durch — bereit, sich in die Höhle des Löwen zu begeben, ein Gespräch mit van der Voyt zu verlangen, wenn das irgend etwas nützte…

aber kein Mensch konnte ihm helfen. Niemand. Alles hätte anders ausgesehen, wären nicht „Anabis“ und diese sechs Tage Frist gewesen. Den Psychiater zur Aussage zu bewegen, die Art und Weise zu überprüfen, in der Cornelius die Computer testete, den Computer des „Anabis“ umzuprogrammieren — all das erforderte Wochen.

Also? Den Alten erst einmal vorbereiten, durch irgendeine Nachricht, die ihm sagte, daß…? Aber dann würde alles fehlschlagen. Cornelius würde in seinem anomalen Geisteszustand Ausflüchte finden, Gegenargumente, schließlich hat auch der redlichste Mensch der Welt so etwas wie einen Selbsterhaltungstrieb. Er würde beginnen, sich zu verteidigen, oder, was ihm ähnlicher sah, verächtlich schweigen, während „Anabis“…

Pirx hatte das Gefühl, zu versinken, von allem zurückgestoßen, wie in jener anderen Erzählung von Poe, Grube und Pendel, wo die leblose Umwelt den Wehrlosen Millimeter für Millimeter einzwängt und auf den Abgrund zuschiebt. Konnte es eine größere Wehrlosigkeit geben als die eines Leidens, das einen betroffen hat und für das man nun bestraft werden soll? Konnte es eine größere Niedertracht geben? Es bleibenlassen? Das wäre sicher das einfachste gewesen. Niemand würde je erfahren, daß er alle Fäden in der Hand gehalten hatte. Nach der nächsten Katastrophe würden sie der Sache von selbst auf die Spur kommen. Einmal in Gang gesetzt, würde die Untersuchung schließlich bei Cornelius landen, und… Aber wenn es so war, wenn er seinen alten Chef nicht einmal retten konnte, indem er den Mund hielt, dann hatte er dazu kein Recht. Er hörte auf zu grübeln und begann zu handeln, als wären alle Zweifel von ihm genommen.

Im Erdgeschoß war es leer. In der Laserfunkkabine saß nur der diensthabende Techniker: Haroun. Er gab folgendes Telegramm auf:

Erde, USA, Boston, Syntronics Corporation, Warren Cornelius.

THOU ART THE MAN.

Und er setzte seinen Namen darunter mit dem Zusatz

„Mitglied der Untersuchungskommission betr. Ariel-Katastrophe“.

Das war alles. Er kehrte in sein Kämmerchen zurück und schloß sich ein. Dann klopfte jemand an die Tür, Stimmen waren zu hören, aber er gab kein Lebenszeichen von sich. Er mußte allein sein, denn nun überfielen ihn die quälenden Gedanken, die er erwartet hatte.

Dagegen war nichts mehr zu machen. Spät in der Nacht las er Schiaparelli, um sich nicht in hundert Varianten vorstellen zu müssen, wie Cornelius, die struppigen grauen Brauen gewölbt, das Telegramm mit dem Absender vom Mars zur Hand nahm, das raschelnde Papier auseinanderfaltete und von den weitsichtigen Augen abhielt. Er las, ohne ein Wort zu begreifen, und als er die Seite umblätterte, stieg maßloses Staunen, gemischt mit fast kindlicher Reue in ihm auf: Was denn, also ich? Ich habe das fertiggebracht? Er hatte sich doch nicht geirrt: Cornelius steckte in der Falle wie eine Maus, er hatte keinen Spalt, keine Ritze zum Entrinnen, das ließ die Situation in der Gestalt nicht zu, die sie durch die Anhäufung der Ereignisse angenommen hatte; also warf er mit seiner spitzen, leserlichen Schrift ein paar Sätze aufs Papier, aus denen hervorging, daß er in gutem Glauben gehandelt habe, jedoch alle Schuld auf sich nehme; er unterschrieb und jagte sich um drei Uhr dreißig — vier Stunden nach Empfang des Telegramms — eine Kugel durch den Kopf. Das, was er geschrieben hatte, enthielt kein Wort über seine Krankheit, keinen Versuch der Rechtfertigung, nichts, so als billigte er Pirx’ Vorgehen nur, soweit es die Rettung von „Anabis“ betraf, zu der er selbst beizutragen bereit war. Mehr nicht. Als hätte er ihm Beifall in der Sache gezollt und zugleich abgrundtiefe Verachtung für den derart versetzten Todesstoß.

Vielleicht irrte sich Pirx übrigens. So unangemessen das erscheint, ihn störte an seiner Tat besonders der stelzig-theatralische Stil, der von Poe stammte. Er hatte Cornelius mit seinem Lieblingsschriftsteller und in dessen Stil zu Fall gebracht, der ihm falsch klang, der ihm auf die Nerven ging, denn er hatte nicht das Entsetzen über das Leben in der Leiche gesehen, die aus dem Grab aufstand, um mit blutigem Finger auf den Mörder zu zeigen.

Dieses Entsetzen war nach seiner Erfahrung mehr höhnisch als malerisch. Es begleitete seine Gedanken über die veränderte Rolle, die der Mars spielte, seit aus dem unerreichbaren rötlichen Fleck am nächtlichen Himmel, der undeutliche Spuren fremder Vernunft aufwies, ein Terrain normalen Lebens geworden war, also mühseligen Ringens, politischer Ränke und Intrigen, eine Welt voller lästiger Sturmwinde, Abfallhaufen, zerschellter Raketen, ein Ort, von dem aus man nicht nur das romantisch blaue Leuchten der Erde sehen, sondern auch einen Menschen tödlich treffen konnte. Der makellose, weil nur halb erforschte Mars der frühen Areographie war verschwunden und hatte lediglich die griechisch-lateinischen Runen hinterlassen, die wie alchimistische Formeln und Beschwörungen klangen, und auf deren materieller Gestalt trampelte man mit schweren Stiefeln herum. Die Epoche der hochtheoretischen Debatten war unwiderruflich hinter dem Horizont versunken und hatte erst im Untergehen ihr wahres Gesicht gezeigt — das eines Traums, der sich von der eigenen Unerfüllbarkeit nährte.

Geblieben war nur der Mars der mühsamen Arbeit, der ökonomischen Berechnungen, der Tagesanbrüche, die so schmutziggrau waren wie der, durch den er mit dem Beweis in der Hand zur Sitzung der Kommission ging.

Загрузка...