Elf

»Sie desertieren?«, fragte Lieutenant Colonel Safir an Gaiene gewandt.

»Das bezweifle ich.« Gaiene konnte nur hoffen, dass er damit und mit seiner Einschätzung von Kapitan Stein richtig lag. Wenn es darum ging, Frauen richtig zu beurteilen, hatte er dabei nicht immer richtig gelegen. Nicht, dass er Männer besser hätte einschätzen können.

Fünf Minuten und vier Sekunden später war der Schlachtkreuzer neben ihnen relativ zum Stillstand gekommen, wobei ihn nur gut fünfzig Meter vom Schlachtschiff trennten. Plötzlich bildeten sich Öffnungen in der Hülle des gegnerischen Schiffs, als alle vier Frachtluken auf der dem Schlachtschiff zugewandten Seite geöffnet wurden. Jede Luke war fünf Meter hoch und zehn Meter breit, aber schon nach Sekunden war von ihnen kaum noch etwas zu erkennen, da ein Gewirr aus Menschen in Schutzanzügen aus den Luken zum Vorschein kam, die alle zielstrebig auf die immer noch verschlossenen Zugänge des Schlachtschiffs zuhielten.

Gaiene und ein Teil seiner Brigade warteten geduldig hinter einem dieser Zugänge; zusammen mit den übrigen Gruppen an den anderen Frachtluken waren sie fast tausend Soldaten in kompletter Gefechtsrüstung, die ihre Waffen feuerbereit im Anschlag hielten. Er hätte lieber mehr Truppen mitgebracht, aber der Frachter war so schon an seine Grenzen gestoßen (die Lebenserhaltungssysteme an Bord hätten auch so auf dem Weg zum Gasriesen beinahe wegen Überlastung versagt), außerdem sollten tausend Soldaten genügen.

»Alle Späher starten«, befahl Gaiene.

Späher in Tarnanzügen, die vor einer halben Stunde das Schlachtschiff verlassen hatten, um sich an der Außenhülle festzuklammern, waren für die Angreifer unsichtbar. Auf Gaienes Befehl stießen sie sich von der Hülle ab und bahnten sich unbemerkt ihren Weg zwischen den Leuten des Ulindi-Enterteams hindurch, um sich den großen Frachtluken des Schlachtkreuzers zu nähern.

Objekte zu entdecken und zu zählen war eine Aufgabe, die von automatischen Sensoren sehr gut erledigt werden konnte. Innerhalb von Sekunden lieferten die Sensoren des Schlachtschiffs dann auch das Ergebnis. Siebenhundertzwanzig. »Fast die halbe Besatzung«, stellte Safir fest.

»Hervorragend«, erwiderte Gaiene.

Das Auftreffen von etwas mehr als siebenhundert Angreifern auf der Hülle des Schlachtschiffs konnte von den auf sie wartenden Soldaten in ihren Rüstungen nicht wahrgenommen werden, doch die Sensoren meldeten exakt die Positionen aller gegnerischen Einheiten und leiteten diese Informationen an die Gefechtssysteme in den Rüstungen der Verteidiger weiter. Gaiene beobachtete die Anzeigen und spürte, wie seine Begeisterung erwachte. Er genoss dieses Gefühl, lebendig zu sein, auch wenn es nur von kurzer Dauer sein würde.

Einige Angreifer befestigten elektronische Geräte an den Kontrollen der Luken, um die Kontrolle über die Zugänge an sich zu reißen. Gleichzeitig hielten andere Sprengladungen bereit, die zum Einsatz kommen sollten, falls die Technik sich nicht überlisten ließ. Aber Gaiene wusste, dass die nicht nötig sein würden, da Kontos die Kontrollen für die Luken so hatte einstellen lassen, dass sie sich leicht überwinden ließen. Immerhin wollte der Mann nicht, dass sein neues Schlachtschiff mehr Kratzer abbekam als unbedingt nötig.

»Bereithalten«, sagte Gaiene und nahm dabei bewusster als zuvor jeden Herzschlag und jeden Atemzug wahr. Seine Hände hielten das Impulsgewehr fester umklammert, seine Finger ertasteten Metall, Legierungen und den Tod. »Folgen Sie dem Angriffsplan. Alle Einheiten: Waffen grün.«

Er kniete sich hin, um sicherer zielen zu können, und richtete seine Waffe auf die Luke. Die Frachtluken des Schlachtschiffs waren wegen der massiveren Panzerung erheblich schwerer als die eines Schlachtkreuzers, dementsprechend benötigten sie länger, um sich öffnen zu lassen. Doch auf gingen sie.

Die Angreifer drangen durch alle vier Luken gleichzeitig ein und rückten in einem geordneten Angriff vor, der auf die Zahl der Verteidiger abgestimmt war, die sie an Bord dieses Schiffs erwarteten. Zum Enterteam gehörten nur zwei Trupps Spezialeinsatzkräfte, die so wie Gaienes Leute gepanzerte Rüstung trugen und schwerbewaffnet und für den Nahkampf ausgebildet waren. Wie bei derartigen Einsätzen üblich bestand der Rest des Teams aus Crewmitgliedern des Schlachtkreuzers, die Schutzanzüge und Handfeuerwaffen aller Art trugen. Sämtliche Angreifer rechneten damit, auf nicht mehr als eine Hand voll Verteidiger zu treffen, die nur mäßig bewaffnet und ihnen praktisch schutzlos ausgeliefert waren. Beim Überwinden der Luke mussten sie zwangsläufig dicht an dicht vorrücken, wobei sie von oben, unten und von beiden Seiten kamen. Dabei waren sie vor dem Hintergrund des Weltalls als Silhouetten eindeutig zu erkennen, was sie zu perfekten Zielscheiben werden ließ.

Gaienes Visier richtete sich automatisch auf ein Ziel aus, eine einzelne Gestalt in Schutzanzug, die von seinem Gewehr klar und deutlich abgebildet wurde. Für einen Moment konnte er alles vergessen, die Vergangenheit ebenso wie den Schmerz, und er spürte nur die verderbliche Freude, über freies Schussfeld zu verfügen und eine leistungsfähige Waffe in seinen Händen zu halten. Sein Finger drückte den Abzug durch, die Waffe zuckte kurz, und gleich darauf erfolgte der Treffer, der den Schutzanzug zerfetzte und ein Loch in die Brust des glücklosen Soldaten riss, der von der Wucht des Aufpralls nach hinten geschleudert wurde.

Instinktiv suchte er nach dem nächsten Ziel, aber gleichzeitig mit ihm hatten auch alle seine Soldaten das Feuer eröffnet, sodass nur noch wenige Ziele verblieben waren. Von den siebenhundertzwanzig Angehörigen des Enterteams waren mehr als sechshundert der ersten Salve zum Opfer gefallen.

»Vorwärts!«, rief Gaiene.

Während die überlebenden Angreifer noch zu begreifen versuchten, was soeben passiert war, stießen sich Gaienes tausend Soldaten ab und nahmen Kurs auf den Schlachtkreuzer, wobei sie die restlichen Angreifer überrannten und ausschalteten, um dann ohne zu zögern durch das All auf das gegnerische Schiff zuzuhalten.

Fünfzig Meter sind keine weite Strecke, nicht einmal nach den Maßstäben einer Planetenoberfläche. Im Weltall sind fünfzig Meter überhaupt nicht erwähnenswert, es sei denn, sie waren die Entfernung zwischen einem selbst und der Sicherheit, zwischen einem selbst und dem Ziel, zwischen Leben und Tod. Männer und Frauen, die von dem einen Schiff zu einem Sprung zum anderen angesetzt hatten, überwanden diese fünfzig Meter innerhalb weniger Sekunden, die ihnen aber viel, viel länger vorkamen. Aufmerksame Wachposten in den Frachthangars hätten die Gegenattacke frühzeitig erkennen und die Luken in der wenigen verfügbaren Zeit schließen können, und vielleicht wäre der Schlachtkreuzer sogar noch in der Lage gewesen, mithilfe der Steuerdüsen auf Abstand zu Gaienes Einheiten zu gehen, bevor diese die Luken erreichen konnten.

Aber die wenigen Wachposten waren tot oder lagen im Sterben, getötet von Gaienes getarnten Spähern, deren Gegenwart sie erst bemerkt hatten, als alles längst zu spät war.

Gaiene verspürte eine schwindelerregende Kombination aus Erleichterung und Orientierungslosigkeit, als er auf halbem Weg zu seinem Ziel war: ringsum von der Unendlichkeit umgeben, hinter sich das Schlachtschiff, das eine gepanzerte Mauer bildete, vor sich den Schlachtkreuzer, der sich in alle Richtungen erstreckte, während er auf die Frachtluke zuhielt, die vor seinen Augen rasch größer wurde, so als würde er aus beträchtlicher Höhe in den Hangar hineinstürzen.

Ihm blieb kaum Zeit, die panische Reaktion seiner Instinkte niederzuringen und sich stattdessen auf seinen Orientierungssinn zu verlassen — die Luke befindet sich vor mir, nicht unter mir —, da jagte er auch schon in den Hangar hinein. Mit geübter Leichtigkeit landete er auf den Füßen, wahrte die Balance und hielt seine Waffe dabei feuerbereit in den Händen. Seine Soldaten verfügten über ein sehr unterschiedliches Maß an Erfahrung mit den Manövern, die erforderlich waren, wenn man aus dem einen künstlichen Schwerkraftfeld sprang, durch die Schwerelosigkeit flog und in ein anderes künstliches Schwerkraftfeld eintauchte. Einige konnten sich so wie Gaiene auf den Beinen halten, andere rutschten über das Deck, ehe sie in der Lage waren, sich zu fangen, und aufspringen konnten. Diejenigen mit der geringsten Erfahrung schlugen mit Armen und Beinen rudernd hart auf und waren desorientiert und verwirrt durch den abrupten Wechsel, offensichtlich nicht fähig, zu bestimmen, wo oben und wo unten war.

Bei einer entschiedenen Verteidigung der Hangars hätten Gaienes Leute vermutlich erhebliche Verluste hinnehmen müssen, da gerade die, die sich bei der Landung auf dem Deck als ungeschickt entpuppten, für jeden Schützen ein leichtes Ziel abgegeben hätten. Doch der Befehlshaber des Schlachtkreuzers hatte keine Notwendigkeit gesehen, die Luken zu bewachen, und stattdessen seine gesamte Streitmacht zum Schlachtschiff geschickt. Ehe die Crew des Schlachtkreuzers begriff, wie ihr geschah, waren über siebenhundert ihrer Kameraden tot, und fast tausend gepanzerte Soldaten hatten den Weg in ihr Schiff gefunden — ein Schiff, das von den Syndikatwelten gebaut worden war; auf dessen Deckpläne Gaiene zugreifen konnte, um die Vorgehensweise beim Gegenangriff im Detail zu planen; dessen Betriebssysteme, Hard- und Software den Soldaten von Midway genauso vertraut waren wie der Besatzung des Schlachtkreuzers selbst.

Gaiene ging zwischen den Leichen von zwei Wachposten hindurch, während sich die äußeren Luken endlich schlossen, diesmal auf Befehl seiner eigenen Soldaten. »Versuchen Sie zu vermeiden, dass die Atmosphäre des Schiffs ins All entweicht«, hatte Drakon frühzeitig befohlen. »Die mobilen Streitkräfte sagen zwar, dass ihre Schiffe mit einem Vakuum im Inneren zurechtkommen, aber das kann ein ziemliches Chaos anrichten, und wir wollen das Schiff so intakt wie möglich in unsere Gewalt bringen.«

Einige von Gaienes Leuten hatten die Komm-Terminals und die Sensoren der Hangars mit kleinen Chaoskästchen versehen, die einen ganzen Strom aus irreführenden und trügerischen Nachrichten, Warnungen und Entwarnungen auf die Sensoren und in das interne Komm-System entließen. Die Offiziere und die übrigen Besatzungsmitglieder versuchten unterdessen, diesem Durcheinander auf den Grund zu gehen, was sie wertvolle Zeit kosten würde, ehe sie herausfanden, was sich tatsächlich auf ihrem eigenen Schiff abspielte.

In dem Moment, als sich die äußeren Luken schlossen und die Sicherheitssperren grün aufleuchteten, öffneten seine Soldaten die inneren Luken und drängten in die Gänge des Schlachtkreuzers.

Dort, wo man noch rechtzeitig Notfallverriegelungen hatte aktivieren können, sorgten Sprengladungen für freie Bahn, was nur ein paar Sekunden Verzögerung kostete, ehe auch die restlichen von Gaienes Leuten auf ihre Ziele innerhalb des Schiffs zueilten. »Denkt an den Befehl des Generals«, gab er über Funk durch. »Wenn die Zeit reicht, gebt ihr den Besatzungsmitgliedern die Chance zur Kapitulation.«

Gaiene gehörte zu den Ersten, die den Hangar verließen und vor sich ein halbes Dutzend Crewmitglieder des Schlachtkreuzers sahen, die zur Luke gekommen waren. Ein einzelner Schuss prallte von Gaienes Gefechtsrüstung ab, dann eröffneten er und die Soldaten um ihn herum das Feuer. Die Matrosen in ihren dünnen Schutzanzügen wurden von Projektilen förmlich durchsiebt. »Hatte keine Zeit«, sagte der Sergeant gleich neben Gaiene kleinlaut.

»Richtig, aber es war auch deren Schuld«, gab Gaiene zurück, während seine Gruppe durch die Korridore vorrückte. Wer mit dem Innenleben eines Kriegsschiffs nicht vertraut war, dem konnte das Ganze wie ein Labyrinth erscheinen, aber das aufs Visier projizierte Display versorgte die Soldaten mit einer Karte, auf der die Route zu ihren jeweiligen Zielen eingezeichnet war, zudem gab es von Zeit zu Zeit hilfreiche Hinweise wie »jetzt rechts abbiegen und die nächste Leiter nach unten nehmen«.

Gaienes Einheit schrumpfte allmählich zusammen, da sich immer wieder Trupps lösten und eine andere Richtung einschlugen. Er hatte aber weiterhin genügend Soldaten an seiner Seite, denn sein Ziel war die Brücke des Schlachtkreuzers, die sich tief im Inneren des Schiffs befand. Sirenen hatten zu heulen begonnen, wurden aber immer wieder von hektischen Befehlen über die Lautsprecheranlage unterbrochen.

»Der größte Teil der an Bord verbliebenen Besatzung hält sich an den entsprechenden Stationen auf«, meldete Lieutenant Colonel Safir. »Wir kassieren sie einen nach dem anderen ein.«

»Ein paar von ihnen sind im Schiff unterwegs«, warnte Gaiene, gerade als seine Einheit auf eine weitere Gruppe Matrosen traf, die eben im Begriff waren, ihre Schutzanzüge anzuziehen. Beide Gruppen starrten sich sekundenlang gegenseitig an, dann hoben die Matrosen die Arme und legten die Handflächen auf den Kopf, während sie nach hinten gingen, bis sie mit dem Rücken gegen ein Schott gedrückt dastanden. »Gut so«, sagte Gaiene. »Lasst ein paar Leute hier, um diese Truppe zu bewachen.«

Die nächste Gruppe Crewmitglieder, auf die sie trafen, war entweder motivierter oder einfach nur unvernünftiger als die erste. Die Waffen, die sie bei sich trugen, wurden sofort gezückt, doch bevor sie auch nur einen Schuss abfeuern konnten, hatten Gaienes Soldaten dieses Widerstandsnest so schnell eliminiert, dass sie kaum langsamer werden mussten und schon weiterstürmten, während die letzten tödlich getroffenen Widersacher gerade noch zu Boden sanken.

Gaiene behielt mit einem Auge auf sein Display die Marschrichtung im Blick, mit dem anderen überwachte er das Vorankommen seiner Streitmacht insgesamt, während er mit dem nächsten Auge nach unmittelbaren Gefahren Ausschau hielt. »Das sind aber drei Augen«, hatte ein junger Conner Gaiene der erfahrenen Veteranin geantwortet, die ihm gesagt hatte, was für die Erstürmung eines beliebigen Objekts unbedingt zu beachten war. Mit einem betrübten Lächeln hatte die Veteranin daraufhin erklärt: »Wenn du erst mal so weit aufgestiegen bist, dass man dich eine Erstürmung befehligen lässt, und du wirklich etwas taugst, dann wirst du schon dahinterkommen, wie du zwei Augen die Arbeit von drei erledigen lässt. Andernfalls wirst du sterben.«

Gaiene war nicht gestorben, ganz im Gegensatz zu dieser Veteranin, die die Weitergabe ihrer Erkenntnisse und Weisheiten nicht lange überlebt hatte. Manchmal störte es Gaiene, dass er sich kaum noch daran erinnern konnte, wie die Frau ausgesehen hatte, bevor sie bei einem Bombardement der Allianz von einem Projektil in winzige Stück gerissen worden war.

»Sieht gut aus«, meldete Safir.

Die Brigade nahm immer mehr Bereiche des Schiffs ein, der Widerstand bröckelte an den meisten Fronten, da den Überlebenden zunehmend klar wurde, wie aussichtslos ihre Lage war. »Werden Sie nicht unvorsichtig«, warnte Gaiene alle Soldaten. »Mobile Streitkräfte können hervorragend kämpfen, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen, außerdem sollen sich an Bord sehr viele Schlangen befinden.«

»Ein paar von ihnen haben wir entdeckt«, meldete der Führer einer Einheit gleich darauf. »Schlangen!« Hellere Symbole tauchten auf dem Display in einem Bereich des Schiffs auf, der weit von Gaienes momentaner Position entfernt war. Dort hatten sich ISD-Agenten nahe der zentralen Waffenkontroll-Zitadelle verschanzt und lieferten sich ein heftiges Feuergefecht mit den vorrückenden Soldaten.

»Erledigen Sie das, Safir!«, wies Gaiene sie an. Die Waffenkontrolle war Safirs Ziel, deshalb befand sie sich ohnehin schon in der Nähe.

Schlachtkreuzer waren fast so groß wie Schlachtschiffe, allerdings länger und schlanker, und sie bestanden aus einer scheinbar endlosen Ansammlung von Korridoren, durch die man zu weiteren Korridoren gelangte, die sich in scheinbar endlosen Reihen durch das Schiff zogen.

Der Kommandostab in der Brückenzitadelle war mittlerweile auf die unmittelbare Bedrohung seiner Position aufmerksam geworden und schloss Isolations- und Brandschutzbarrieren, um die Wege durch das Schiff zu versperren. Doch Gaienes Soldaten waren auf so etwas gefasst gewesen und konnten sich den Weg entweder freisprengen oder einfach die Befehle widerrufen, sodass die Sperren wieder aufgehoben wurden.

Triumphrufe waren über den Kommandokanal zu hören. Verärgert über den Lärm überprüfte Gaiene sein Display und stellte fest, dass das Schlangennest ausgehoben worden war. Natürlich waren sie alle tot. General Drakon hatte den Befehl gegeben, dem Gegner die Gelegenheit einzuräumen, sich zu ergeben, aber Schlangen versuchten das nur selten, und selbst wenn, wurden sie anschließend von rachsüchtigen Soldaten umgebracht. Gegen diese Aktion hatte der General sicher nichts einzuwenden, schließlich wusste er so gut wie jeder andere, dass Schlangen nicht zu den normalen Streitkräften zu zählen waren.

Gaiene und seine Soldaten kamen an einer Gruppe Crewmitglieder vorbei, von denen sie begeistert begrüßt wurden. Vor ihnen auf dem Boden lagen zwei blutüberströmte Leichen, beide trugen die Standardanzüge des ISD. Ein paar von Gaienes Leuten blieben auch hier zurück, um die Leute zu bewachen, die bislang für Supreme CEO Haris gearbeitet und nun ihre Kündigung in Blut geschrieben hatten.

Der größte Teil des Schiffs war erobert worden, die überlebenden Crewmitglieder trieb man in den Quartieren zusammen, um sie dort besser überwachen zu können. Nur die drei Zitadellen waren mit aktivierten Verteidigungsanlagen abgeriegelt und versiegelt worden. Gaiene legte eine kurze Pause ein, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen, während seine Leute daran arbeiteten, eine weitere Brandschutztür zu öffnen.

Die Hauptantriebs-Zitadelle, die Waffenkontroll-Zitadelle, die Brückenzitadelle. Diese letzte Verteidigungslinie diente dazu, feindliche Enterteams ebenso abzuwehren wie meuternde Arbeiter, denen es an Loyalität gegenüber ihren Herren mangelte, nachdem sie das Joch aus Disziplin, Angst und den allgegenwärtigen Schlangen abgeschüttelt hatten. »Wie sieht es aus, Safir?«

Lieutenant Colonel Safir klang verärgert. »Nicht zu schlecht. Wir haben ein paar Leute verloren, als wir das Schlangennest ausgehoben haben. Der Hauptantrieb wurde von uns eingenommen, und alle Kabel haben wir bis auf Weiteres abgetrennt, damit weder die Schlangen noch andere Ulindis eine Überladung auslösen können. Ich glaube, die Hauptantriebs-Zitadelle wird sich ergeben, aber ich fürchte, die Waffenkontroll-Zitadelle werden wir sprengen müssen.«

»Dringen Sie in die Waffenzitadelle vor und sorgen Sie dafür, dass die dort drinnen nicht das Feuer auf das Schlachtschiff eröffnen. Auf diese Idee könnten sie nämlich kommen, wenn sie nur ein wenig Zeit zum Nachdenken haben. Ich nähere mich der Brückenzitadelle«, sagte Gaiene. Die Brandschutztür vor ihm glitt zischend zur Seite, und er ging weiter, umgeben von seinen Soldaten. Ihre Bewegungen in den mit Servomotoren ausgestatteten Rüstungen wirkten seltsam delikat, wenn sie diese gleitenden Schritte vollführten, die in der beengten Umgebung an Bord eines Kriegsschiffs am zweckmäßigsten waren. »Sobald ich in Position gegangen bin, werde ich der Brückencrew zunächst eine Chance geben.«

Gefahrensymbole flammten auf Gaienes Display auf, die ihn davor warnten, dass die Verteidigungsanlagen der Brückenzitadelle nicht mehr weit entfernt waren. Er verfügte über die Mittel, um diese Abwehrmechanismen zu überwinden und in die Zitadelle zu gelangen, doch das würde Zeit und Leben kosten, außerdem bedeutete es, auf diesem Schlachtkreuzer weitere Verwüstungen zu verursachen. Gaiene wies seine Soldaten an zu stoppen, solange sie noch nicht im Bereich der Verteidigungsanlagen waren, dann sah er sich nach einer Komm-Einheit um. »Wir sind hier. Brücke, bestätigen Sie das, Sie Dummköpfe.«

Die Komm-Einheit erwachte zum Leben, auf dem kleinen Monitor tauchte ein Offizier der mobilen Streitkräfte auf, der auf der Brücke den Kommandosessel innehatte. Gaiene kannte den Ausdruck in den Augen des Mannes, er hatte ihn schon etliche Male gesehen. Unglauben, Schock, Angst, Verwirrung. Dieser Blick bedeutete, dass Gaiene weiter auf den Mann einreden musste, damit der sich nicht von seinem Schock erholte und wieder klar zu denken begann. »Wir haben die Kontrolle über Ihre Einheit übernommen und werden in Kürze in Ihre Zitadelle vordringen. Um allzu große Schäden an diesem Schiff zu vermeiden, sind wir bereit, Ihnen die Chance zur Kapitulation zu geben, die Zitadelle zu öffnen und die Verteidigungsmechanismen zu deaktivieren. Sollten Sie sich ergeben, bleiben Sie am Leben, und wir entlassen Sie in die Freiheit. Wir halten Wort, wir sind keine Schlangen. Alle Schlangen in diesem Sternensystem sind tot. Sollten Sie sich allerdings nicht ergeben, dann sprengen wir uns den Weg zu Ihnen frei, werden keine Gnade walten lassen und werfen Ihre Leichen ins All. Aber vielleicht werden Sie noch gar nicht ganz tot sein, wenn wir Sie ins All befördern. In dem Fall werden wir auch Wort halten. Entscheiden Sie sich jetzt, ich bin kein geduldiger Mann.«

Rufe waren aus dem Hintergrund auf der Brücke zu hören, während der Commander des Schlachtkreuzers Gaiene anstarrte. Nach ein paar Sekunden legte Gaiene nach: »Jetzt. Kapitulation oder Tod. Ich werde Sie nicht ein drittes Mal fragen.«

Der Mann schaute auf etwas hinter ihm. Er schien dort gesehen zu haben, was er sehen musste, denn als er sich zu Gaiene umdrehte, nickte er ruckartig. »Ich bin einverstanden. Wir kapitulieren und übergeben Ihnen das Schiff.« Seine Hand zuckte wie aus eigenem Antrieb über die Kontrollen an seinem Kommandosessel. »Ich deaktiviere die Verteidigungsanlagen.«

»Sorgen Sie dafür, dass die anderen Zitadellen das Gleiche machen.«

»Über die Waffenzitadelle habe ich keine Kontrolle! Dort sitzen Haris’ Schlangen!«

»Lieutenant Colonel Safir, die Waffenzitadelle wird tatsächlich von den Schlangen kontrolliert. Da müssen Sie auf die harte Tour rein.«

»Dachte ich mir schon«, erwiderte Safir in einem finsteren, aber zufriedenen Tonfall. »Hier ist alles bereit, wir setzen die Erstürmung fort.«

Die Gefahrensymbole auf Gaienes Display erloschen, als rings um die Brückenzitadelle jeglicher Abwehrmechanismus abgeschaltet wurde. Er gab ein Zeichen, und sofort eilten einige Soldaten los und bogen um die Ecke in den Gang ein, an dessen Ende eine massiv gepanzerte Luke den Weg zur Brücke versperrte.

Es gab keine verborgenen Fallen, die auf die sich nähernden Soldaten reagiert hätten, also folgten Gaiene und die restlichen Soldaten. Gleichzeitig rückten von allen Seiten weitere Einheiten in Richtung Brücke vor. Wie es schien, hielt sich der Kommandant des Schiffs an sein Versprechen zu kapitulieren, da auch auf den Decks ober- und unterhalb der Brücke keine der üblichen Fallen auf Gaienes Leute ansprach.

Ein dumpfes Vibrieren war zu spüren, als die schweren Bolzen sich zurückzogen, und schließlich öffnete sich die Luke selbst.

Soldaten stürmten mit feuerbereiten Waffen nach drinnen, Gaiene folgte ihnen, während ein letzter Adrenalinschub die Erleichterung über den Sieg befeuerte.

Die Brückencrew stand größtenteils an den jeweiligen Stationen und hielt die Arme hoch, die Hände hatten sie alle auf den Kopf gelegt. Einige von ihnen standen bei einem Mann und einer Frau in der Standardkleidung des ISD, die beide mit unnatürlich angewinkelten Köpfen vor ihnen auf dem Deck lagen. Gaiene warf den beiden einen verächtlichen Blick zu, dann sagte er zu einem seiner Offiziere: »Vergewissern Sie sich, dass die zwei auch wirklich tot sind. Sorgen Sie dafür, dass alle entwaffnet werden, und dann bringen Sie sie runter in die Quartiere zu den anderen Crewmitgliedern. Lieutenant Bulgori, übernehmen Sie die Komm-Kontrollen und lassen Sie das Schlachtschiff wissen, dass wir die Brücke dieser Einheit eingenommen haben und uns der Rest in Kürze ebenfalls gehören wird.«

Eine Reihe schwacher Erschütterungen durchfuhr das Schiff. Gaiene konzentrierte sich auf sein Display und vergrößerte den Bereich, in dem sich Lieutenant Colonel Safir mit ihrem Teil der Brigade aufhielt. Die Verteidigungsanlagen rings um die Waffenkontrolle waren zerstört worden, sodass die Soldaten jetzt in der Lage waren, Sprengladungen anzubringen, die sogar die gepanzerten Luken rings um die Zitadelle überwinden konnten. Bei den Detonationen waren Löcher in die Panzerung gerissen worden, durch die nun Antipersonen- und elektromagnetische Impulsgranaten in die Zitadelle geschossen wurden. Gleich darauf folgten Gaienes Leute, die noch im Laufen das Feuer eröffneten.

Ein paar Schlangen hielten sich noch auf den Beinen, ihre Konturen waren inmitten der Rauchwolken kaum zu erkennen, die von den Sprengladungen und Granaten verursacht worden waren. Gaiene blieb kaum Zeit, sich auf die Bilder zu konzentrieren, da wurden die Leiber der Schlangen auch schon von Sperrfeuer zerfetzt und zu Boden geschleudert.

»Wir haben die Zitadellen für die Antriebs- und die Waffenkontrolle eingenommen«, meldete Safir. »Die Antriebskontrolle kapitulierte, kaum dass wir die Verteidigungsanlagen ausgeschaltet hatten.«

»Danke«, erwiderte Gaiene. »Ich fürchte, wir werden von unseren Werftarbeitern einiges zu hören bekommen, weil wir die Waffenkontrolle so verwüstet haben.«

»Wir haben versucht, die Schäden auf ein Minimum zu beschränken«, konterte Safir grinsend.

»Ja, aber die Leute, die das reparieren müssen, werden das nicht einsehen. Sie wissen, wie die sind. ›Sie haben das kaputt gemacht‹, heißt es dann. Es gehört zu unserem Job, dass Dinge kaputt gehen, aber das begreifen die einfach nicht. Apropos Job: Sie haben gute Arbeit als Stellvertreterin geleistet und alle Erwartungen Ihrer Vorgesetzten in Sie erfüllt und so weiter und so fort. So, jetzt müssen wir erst mal die internen Sensoren wieder in Betrieb nehmen, damit wir uns sicher sein können, dass sich nicht noch irgendwo ein paar Crewmitglieder versteckt halten.«

»Wir sind schon dabei, Colonel. Sieht so aus, als hätten wir zwischen vier- und fünfhundert Besatzungsmitglieder gefangen genommen. Das Schiff war ein wenig unterbesetzt.«

»Das ist es jetzt erst recht.«

»Wir haben Kontakt zur Midway«, berichtete Lieutenant Bulgori. »Eine Minute nach Beginn unserer Erstürmung haben die Gryphon und die Basilisk aus nächster Nähe das Feuer auf die vier Jäger eröffnet, die den Schlachtkreuzer begleiten. Drei wurden zerstört, der vierte ergab sich, nachdem sie ihm den Antrieb zerschossen hatten.«

Danke, Kapitan Stein. Zu schade, dass Sie keine Lust haben, diesen Sieg mit mir auf eine sehr unangemessene Weise zu feiern. Gaiene sah sich erschöpft um und spürte, wie schon jetzt die Farbe aus der Welt um ihn herum zu weichen begann. Sie hatten gewonnen. Es war nicht wichtig. Nichts war wirklich wichtig, aber wenigstens hatte diese Operation ihn für kurze Zeit wiederbeleben können. Und es war ein Sieg für Artur Drakon geworden, der ihn davor bewahrt hatte, in einem Arbeitslager oder irgendwo in der Gosse zu krepieren. Das alles war so gut, wie es nur sein konnte … in einem Universum, das für ihn keine Bedeutung mehr besaß.

Der Kommandantensessel des Schlachtkreuzers stand leer und verlassen da. Gaiene ging hin und setzte sich. Dabei befassten sich seine Gedanken zum einen damit, seine Soldaten im Auge zu behalten, während sie das soeben eroberte Kriegsschiff sicherten, zum anderen fragte er sich jedoch, wie lange er wohl noch würde warten müssen, ehe er sich endlich wieder betrinken konnte. Es galt, das Schiff zu sichern, es an die Leute von den mobilen Streitkräften zu übergeben, dann herauszufinden, wo die Werftarbeiter den Schnaps versteckt hatten.

Es war nie verkehrt, vorausschauend zu denken.

Mit Blick auf die Umstände, unter denen ihre letzte persönliche Unterhaltung geendet hatte, war Drakon umso erstaunter, von einer lächelnden Iceni begrüßt zu werden, als die sich über eine sichere Leitung bei ihm meldete.

»Ich wollte mich bei Ihnen für meinen reizenden neuen Schlachtkreuzer bedanken.«

»Für Ihren reizenden neuen Schlachtkreuzer?«, fragte er.

»Jetzt verderben Sie mir nicht mit irgendwelchen Haarspaltereien dieses Geschenk.« Sie lächelte ihn noch breiter an. »Ich mag ja manchmal eine Hexe sein, aber ich bin keine undankbare Hexe. Aber jetzt mal im Ernst: Ich weiß, ich verdanke das Ihren Soldaten und Ihrer Entscheidung, bei dieser Operation mitzumachen. Wenn wir den Schlachtkreuzer wieder auf Vordermann gebracht und das Schlachtschiff fertiggestellt haben, dann haben wir eine Verteidigung für dieses System, bei der es Boyens die Sprache verschlagen wird, wenn er noch mal herkommen sollte.«

»Colonel Gaiene sagte, am Schlachtkreuzer seien keine größeren Schäden entstanden«, bemerkte Drakon etwas verwundert.

Als sie daraufhin von Herzen lachte, musste er feststellen, dass er das nach der wochenlangen schwierigen Beziehung als sehr wohltuend empfand. »Das ist eine Einschätzung der Bodenstreitkräfte. Ihre Soldaten, von denen ich ja weiß, dass sie gar keine andere Wahl hatten, haben zum Teil wichtige Ausrüstungsgegenstände zertrümmert, dazu Luken heraus- und Löcher in Schotte gesprengt, die keine Löcher aufweisen sollten. Das muss alles behoben werden. Die meisten überlebenden Crewmitglieder scheinen sich uns anschließen zu wollen, aber es sind nicht so viele Überlebende, wenn man bedenkt, welche Crewstärke ein Schlachtkreuzer benötigt.«

»Wenn wir Glück haben, werden Colonel Rogero und Ihre Kommodor das Problem für uns lösen. Sie dürften genügend Veteranen mitbringen, mit denen wir die Midway und den neuen Schlachtkreuzer gleichermaßen bemannen können.«

»Ja. Wie sollen wir ihn nennen, Artur?« Sie sah ihn auf eine ausgelassene Weise fragend an. »Ich habe das Schlachtschiff getauft. Sie sollten dem neuen Schlachtkreuzer einen Namen geben.«

»Wirklich?« Gwen war ausgesprochen gut gelaunt. Aber natürlich konnte er nicht davon ausgehen, ihr immer dann einen neuen Schlachtkreuzer zu präsentieren, wenn sie unerklärliche schlechte Laune hatte. Andererseits war zu hoffen, dass es auch gar nicht so oft notwendig werden würde. »Wollen Sie Schlachtkreuzer auch nach Sternen benennen?«

»Ich finde, das wäre eine gute Idee. Aber …« Nachdenklich schürzte sie die Lippen. »Wenn wir das Schiff nach einem der umliegenden Sternensysteme benennen, könnte man dort glauben, uns schwebe eine Art Eigentumsrecht an diesem System vor, oder aber sie meinen fälschlicherweise, dass sie irgendwelche Rechte an unserem Schiff geltend machen können.«

»Das könnte allerdings ein Problem werden«, stimmte Drakon ihr zu. »Wie wäre es denn, wenn wir dem Schlachtkreuzer den Namen eines Systems geben, das von niemandem bewohnt wird? Pele.«

»Pele? Das System ist von den Enigmas besetzt!«

»Die Enigmas haben das Syndikat aus Pele vertrieben«, stellte Drakon klar, »aber nach dem zu urteilen, was Black Jacks Flotte dort vorgefunden hat, halten sich dort keine Enigmas auf.«

»Hmmm.« Iceni schaute nachdenklich zur Seite. »Wir stehen an vorderster Front zwischen Menschheit und Enigmas. Indem wir eine Verbindung zu Pele schaffen, unterstreichen wir diese Tatsache.«

»Könnte nur sein, dass es den Enigmas nicht gefällt«, warf Drakon ein.

»Wen kümmert, was den Enigmas gefällt? Wer weiß überhaupt, was den Enigmas gefällt und was nicht? Nicht mal Black Jack konnte darauf eine Antwort finden. Die Enigmas greifen uns einfach immer wieder an und wollen, dass wir ihnen den Planeten überlassen.« Iceni nickte. »Ich bin mit Pele einverstanden. Und ich gebe ohne Vorbehalte zu, dass Sie mit Ihrer Einschätzung von Colonel Gaiene richtig gelegen haben. Kapitan-Leytenant Kontos war sehr skeptisch, was Ihren Colonel anging, aber er war zutiefst beeindruckt, wie gut er und seine Einheit die Eroberung dieses Schlachtkreuzers ausgeführt haben.« Ihr Lächeln nahm einen zögerlichen Zug an. »Ich werde lernen müssen, Ihren … Einschätzungen … zu vertrauen.«

»Vertrauen?« Und das hatte sie nicht mal in einem spöttischen Unterton gesagt. »Sind Sie sich auch wirklich sicher?«

Mit einem Mal wurde sie völlig ernst. »Nein, und möglicherweise werde ich mir auch nie sicher sein. Können Sie damit leben?«

»Bislang bin ich damit zurechtgekommen.«

»Sie sind schon mit Schlimmerem zurechtgekommen, das von mir kam, General Drakon, selbst wenn Sie aus einem unerfindlichen Grund nicht in der Lage zu sein scheinen, solche Dinge zu bemerken. Aber Sie haben mich dazu gedrängt, einer Operation zuzustimmen, die mich in eine viel mächtigere Position gebracht hat. Entweder wollen Sie tatsächlich mit mir zusammenarbeiten, ohne mich zu verraten, oder Sie sind der größte Narr der Menschheitsgeschichte. Oder aber Sie sind noch viel verschlagener und listiger als Black Jack.«

Drakon reagierte mit einem sarkastischen Grinsen. »Ich glaube nicht, dass ich ein Narr bin. Jedenfalls nicht normalerweise. Und ich weiß, ich bin nicht Black Jack.«

»Ein Mann muss nicht Black Jack sein, um von Bedeutung zu sein für … für dieses Sternensystem«, führte Iceni ihren Satz zu Ende. »Nochmals danke, Artur.«

Erst als sie die Verbindung beendet hatte, wurde Drakon bewusst, dass Iceni in Sorge gewesen war. War das der Grund, warum sie sich bei der letzten Besprechung so aufgebracht verhalten hatte? Weil sie gewusst hatte, wenn die Attacke auf den Schlachtkreuzer erfolgreich verlaufen sollte, dann würden Drakons Soldaten die Kontrolle über das mächtigste Kriegsschiff im gesamten System erlangen? Sie war sich nicht sicher gewesen, ob er sich an ihre Vereinbarung, an ihre Partnerschaft halten und den Schlachtkreuzer tatsächlich ihren mobilen Streitkräfte übergeben würde, sobald das Schiff gesichert war.

Warum ist mir nie in den Sinn gekommen, dass ich sie hätte hintergehen können, indem ich die schlagkräftigsten mobilen Streitkräfte und die Bodenstreitkräfte gemeinsam meinem Kommando unterstellt hätte? Aber ich habe es nicht gemacht. Wir haben eine Abmachung getroffen, und ich breche keine Abmachungen. Selbst wenn jemand so unangenehm und kaltherzig ist wie …

Sie wird mich nicht hintergehen. Wenn Iceni mir einen Dolch in den Rücken hätte bohren wollen, dann wäre sie in den letzten Wochen und vor allem in der vergangenen Woche freundlich und zuvorkommend gewesen, um mich dazu zu überreden, dass ich tue, was sie will. Die typische CEO-Taktik. »Aber natürlich bin ich Ihre gute Freundin … Sie Schwachkopf.« Und wenn sie dann im Besitz des Schlachtkreuzers wäre, würde sie sich mir gegenüber frostig und abweisend verhalten. Aber sie hat genau das Gegenteil davon gemacht.

Warum ist Malin nicht auf die Idee gekommen, mich auf die Möglichkeit hinzuweisen, ich könnte doch nach getaner Arbeit den Schlachtkreuzer behalten? Vielleicht hatte er diese Idee ja sogar gehabt und war nur zu dem Schluss gekommen, ich müsste längst darüber nachgedacht und mich dagegen entschieden haben. Allerdings erklärt das nicht, wieso Morgan nicht ausgerastet ist, dass ich den Schlachtkreuzer an Iceni übergeben würde. Morgan hatte gegen diese gesamte Operation überhaupt nichts einzuwenden gehabt.

Weil Morgan gar nicht erst davon ausgegangen war, dass Iceni den Schlachtkreuzer bekommen würde, wie ihm in diesem Moment bewusst wurde. Sie hat angenommen, ich würde das Schiff behalten. Wenn sie herausfindet, dass ich das nicht getan habe …

Vielleicht wird Morgan ja endlich lernen, anderen Leuten wieder zu vertrauen und sie zu akzeptieren, wenn ich ihr zeige, dass jeder Einzelne von uns profitiert, weil diese Art von Strategie und Kooperation uns alle stärkt. Ich habe die letzten zehn Jahre lang versucht, sie zu der Einsicht zu bringen, dass Zynismus und Manipulation einen auf Dauer nicht ans Ziel bringen. Und ganz gleich, wohin es einen bringt, es ist letztlich nie den Preis wert, den man dafür bezahlt. Außerdem ist das eine Denkweise des Syndikats, und sie verabscheut noch viel mehr als ich alles, was mit den Syndiks zusammenhängt.

Aber während ich ihr das alles darlege, wird sie mir am liebsten den Kopf abreißen wollen.

»General?«, ertönte es aus dem Komm. »Colonel Morgan ist hier. Sie sagt, sie muss sofort mit Ihnen reden.«

Und es geht los. »Schicken Sie sie rein.«

Auf der Brücke des Schweren Kreuzers Manticore wartete Kommodor Marphissa auf die unmittelbar bevorstehende Ankunft ihrer Flotte im Indras-Sternensystem. Sie war soeben von einem Gespräch mit Captain Bradamont zurückgekehrt, die seit der Abreise aus Midway die meiste Zeit in ihrem Quartier verbracht hatte, damit sich die Crew möglichst wenig an ihrer Anwesenheit störte. Als Admiral Gearys Flotte vor Monaten auf dem Weg nach Midway Indras durchquert hat, war das Sternensystem noch fest in der Hand der Syndikatwelten, hatte Bradamont ihr berichtet. Sie haben nicht versucht, uns aufzuhalten, allerdings verfügten sie auch nicht über die Mittel, sich uns in den Weg zu stellen.

Was erwartete sie nun bei Indras? Hatte man sich dort mehr Kriegsschiffe angeeignet, um sich besser verteidigen zu können? Stand Indras immer noch loyal zum Syndikat, oder hatten die Menschen sich von der Zentralregierung losgesagt, um ihr Glück auf eigenen Beinen zu versuchen? Sie und der Rest der Heimkehrerflotte würden die Antworten auf diese Fragen in wenigen Minuten erfahren.

Auf ihrem Display war eine Reihe von grünen Lichtern zu sehen, die die volle Gefechtsbereitschaft der Manticore anzeigten. Die anderen Kriegsschiffe der Flotte sollten in diesem Moment ebenfalls auf alles gefasst sein, während die Frachter nicht mehr tun konnten als darauf zu hoffen, dass sie von den Kriegsschiffen beschützt wurden.

»Eine Minute«, verkündete der Senior-Wachspezialist an Kapitan Diaz gerichtet.

»Wir sind bereit«, sagte Diaz zu Marphissa.

»Wollen wir’s hoffen«, murmelte sie. Einen Moment lang fragte sie sich, wo sich der vormalige Kapitan Toirac jetzt wohl befand. Auf Befehl von Präsidentin Iceni hatte sie Toirac mitsamt Bewachung zur Primärwelt von Midway geschickt. Eigentlich war sie entschlossen gewesen, nicht noch einmal mit ihm zusammenzutreffen, doch ein seltsames Pflichtgefühl hatte Marphissa dazu getrieben, an der Luftschleuse zu stehen, als er von Bord gebracht wurde. Das Letzte, was sie von ihm sah, waren sein schlaffes, regloses Gesicht und ein vorwurfsvoller Ausdruck in seinen Augen.

Sie schüttelte flüchtig den Kopf, um dieses Bild zu vertreiben, da die Flotte in dieser Sekunde das Hypernet auf die gewohnt unspektakuläre Weise verließ. Eben noch waren die Schiffe in ihrer Blase aus irgendetwas im Nichts unterwegs gewesen, und jetzt war diese Blase verschwunden, die Sterne strahlten ihnen entgegen, und die Flotte entfernte sich kontinuierlich vom Portal bei Indras.

»Was verrät uns die Kommunikation?«, fragte sie die Komm-Spezialistin.

Die Frau schaute auf ihre Schirme und lauschte intensiv. »Sie gehören immer noch zum Syndikat, Kommodor. Aller Nachrichtenverkehr, den ich beobachten und belauschen kann, bestätigt das. Für einige Übermittlungen wird ein Code der Schlangen verwendet. Wir können sie nicht lesen, was bedeutet, dass die Codes, die wir bei Midway erbeutet hatten, inzwischen veraltet sind.«

Damit war diese Frage schon mal geklärt, da die aufgefangenen Nachrichten schon Stunden vor Eintreffen der Flotte gesendet worden waren und folglich nicht als Täuschungsmanöver gedacht sein konnten, um den soeben eingetroffenen Schiffen etwas vorzumachen. Marphissa zog ihren Anzug zurecht. So sehr sie auch die Uniformen des Syndikats verabscheute, war sie für diesen einen Auftritt ein unverzichtbares Utensil, obwohl der Anzug für einen deutlich höheren Dienstgrad bestimmt war als für den, den sie innehatte.

Sie setzte jene herablassende Miene auf, die sie schon so oft bei Syndikat-CEOs zu sehen bekommen hatte, dann betätigte sie ihre Komm-Kontrollen. »An die Behörden im Indras-System, hier spricht CEO Manetas, Befehlshaberin einer Flotte auf dem Weg zu einer ISD-Mission im Atalia-System. Ich benötige diesmal keine Unterstützung Ihrerseits«, brachte sie mit so viel Arroganz über die Lippen, wie sie nur konnte. Präsidentin Iceni hatte betont, wie wichtig ein solches Auftreten war. Syndikat-CEOs bitten nie um etwas, und Sie lassen nie auch nur einen Hauch von Demut oder Schwäche erkennen.

»Für das Volk. Manetas, Ende.« Es kostete sie besondere Mühe, diese Formel so schludrig auszusprechen, wie es im Syndikat üblich war, weil sie für die Führer der Syndikatwelten keine Bedeutung besaß.

Sie beendete die Übertragung und atmete tief durch. »Wir werden sehen, wie das ankommt.«

Diaz sah sie amüsiert an. »Ich möchte wetten, Sie haben nie erwartet, einen CEO-Anzug tragen zu müssen.«

»Nie erwartet und nie gewollt«, antwortete Marphissa. »Ich fühle mich in dem Ding regelrecht dreckig. Aber dieser Auftritt ist notwendig. Wir müssen die hiesigen Behörden davon überzeugen, dass wir eine echte Syndikat-Flotte auf dem Weg nach Atalia sind, um dort für Ordnung zu sorgen. Wenn uns das gelingt, können sie anschließend sogar herausfinden, wer wir wirklich sind, trotzdem werden sie bei unserer Rückkehr nicht genug Zeit haben, um diese Hypernet-Blockade zu aktivieren, ganz gleich, wie die auch funktionieren mag.«

»Sie könnten in der Lage sein, das von hier aus zu erledigen«, wandte Diaz ein.

»Aber das werden sie nicht ohne die Erlaubnis von Prime machen«, beharrte Marphissa. »Glauben Sie, Prime wird irgendjemandem die Macht in die Hand legen, das Hypernet abzuschalten und jeden Handels- und Militärverkehr zu unterbinden? Indras wird sich erst eine Erlaubnis einholen müssen, und wenn die vorliegt, sind wir längst zurück in Midway.«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, räumte Diaz ein. »Aber was ist, wenn sie uns durchschauen, noch bevor wir nach Atalia weiterfliegen können?«

»Dann fliegen wir einfach weiter und hoffen darauf, dass das Portal noch offen ist, wenn wir zurückkommen.« Marphissa deutete auf ihr Display. »In Sachen mobile Streitkräfte haben die hier zwei Leichte Kreuzer und zwei Jäger, die alle im Abstand von dreißig Lichtminuten um den Stern kreisen. Das reicht zweifellos aus, um die Bevölkerung hier im System in Schach zu halten, es ist aber bei Weitem nicht genug, um uns den Weg zu versperren, und sie sind auch sonst in keiner Position, aus der heraus sie uns drohen könnten.«

Diaz fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, während der Blick auf seinem Display ruhte. »Sollen wir sie zerstören? Sollen wir die Leichten Kreuzer und die Jäger zu uns locken und dann vernichten, damit die Bürger eine Chance bekommen, sich gegen das Syndikat zu erheben?«

Marphissa zögerte und spürte die übermächtige Versuchung zuzustimmen. Es kostete sie große Anstrengung, sich dagegen zu wehren. »Das geht nicht. Wir haben eine Mission, eine vorrangige Verantwortung.«

»Aber …«, begann Diaz und sah sie enttäuscht an.

»Nein. Hören Sie zu. Sie befehligen jetzt ein Kriegsschiff, Sie müssen in größeren Dimensionen denken. Dazu gehört auch, sich Gedanken darüber zu machen, wie wir nach Hause kommen sollen, wenn uns hier etwas bei dem Versuch zustößt, die mobilen Streitkräfte unschädlich zu machen. Oder für den Fall, dass unser Angriff genügend Aufmerksamkeit erregt, dass die Syndikatsregierung das Hypernet erneut blockiert? Wer holt dann die Überlebenden der Reserveflotte ab? Wir sind ihre einzige Hoffnung auf Rettung aus den Lagern der Allianz, in denen sie festgehalten werden.«

»Das stimmt, Kommodor, aber …«

»Und selbst wenn wir es schaffen und zerstören alle vier Kriegsschiffe des Syndikats — können die Bürger hier im System daraufhin eine Revolte anzetteln? Was ist mit den Bodenstreitkräften? Und mit den Schlangen? Sie wissen, dass die Schlangen als letzte Verteidigungslinie Massenvernichtungswaffen in den Großstädten versteckt haben, um jede Rebellion niederzuschlagen.«

»Davon habe ich gehört«, gab Diaz zu.

»Und es stimmt. Präsidentin Iceni ist in vollem Umfang von General Drakon darüber informiert worden, was seine Soldaten gefunden haben, als sie das Hauptquartier der Schlangen einnahmen. Die Schlangen hatten in jeder Stadt auf der Primärwelt von Midway Atombomben versteckt, und sie waren bereits im Begriff sie zu zünden, als sie von General Drakon und seinen Bodenstreitkräften noch so eben daran gehindert werden konnten.«

»Das könnte hier auch passieren«, sagte Diaz nachdenklich. »Wenn die Bürger nicht bereit sind und sie die Bodenstreitkräfte nicht auf ihrer Seite haben …«

»Und wenn wir den Stein ins Rollen bringen, dann könnte es sein, dass ihre Städte von Kernexplosionen in Schutt und Asche verwandelt werden«, führte Marphissa seinen Satz zu Ende. »Präsidentin Iceni und General Drakon hatten ihre Rebellion gründlich geplant und abgestimmt, deshalb hat auch alles geklappt. Wir können hier nicht einfach so eine Rebellion vom Zaun brechen.«

Diaz betrachtete sie voller Bewunderung. »Sie haben in kurzer Zeit sehr viel dazugelernt. Es kommt mir vor, als wären Sie erst gestern noch eine Executive gewesen.«

»In gewisser Weise war das auch erst gestern«, sagte Marphissa. »Und jetzt sehen Sie mich an, wie ich einen CEO-Anzug trage! Ich kann es nicht erwarten, dieses Ding endlich wieder loszuwerden, aber ich muss abwarten, bis eine Antwort eingeht. Wollen Sie wissen, von wem ich diese Dinge lerne?«

»Aber sicher.«

»Von der Allianz-Offizierin.« Marphissa ignorierte Diaz’ entsetzte Miene. »Captain Bradamont ist schon länger dabei als wir beide, und sie ist auch viel länger eine Senior-Offizierin. Sie musste sich lange vor mir mit all diesen Dingen beschäftigen, und sie erzählt mir jetzt davon.«

»Wenn sie Ihnen sagt, was Sie tun sollen …«, begann Diaz.

»Nein! Sie zeigt mir, über welche Dinge ich mir Gedanken machen sollte. Das Gesamtbild. Das, was geschehen wird, im Gegensatz zu dem, was ich mir vorstelle, was geschehen soll. Die Folgen meines Handelns. Ich wusste schon einiges davon, auch wenn ich nicht in diesen Dimensionen gedacht habe, aber sie hilft mir es zu verstehen. Sie will, dass wir siegen, Kapitan Diaz. Nicht etwa, weil die Allianz irgendwelche Pläne für Midway hat, sondern weil … na, weil es für sie persönliche Gründe gibt, weshalb wir frei und stark sein sollen.«

Diaz sah sich um, setzte versuchsweise zum Reden an und drehte sich wieder zu Marphissa um. »Und weil so das Syndikat geschwächt wird?«

»Das sicher auch. Sehen Sie, Chintan, sie hasst das Syndikat, wir hassen das Syndikat. Sie hat in einem Arbeitslager des Syndikats gesessen. Wir müssen uns nicht mögen, aber wir können uns gegenseitig helfen.«

»Stimmt.« Diaz lächelte flüchtig. »Aber Sie mögen sie.«

Marphissa hob sie die Hände in einer hilflosen Geste. »Wir kommen miteinander aus.«

»Wird sie sich mit mir unterhalten?«

»Selbstverständlich wird sie das. Darum hat Black Jack sie zu uns geschickt.«

Diaz nickte bedächtig, sein Blick ruhte dabei wieder auf dem Display.

Die Antwort der Behörden von Indras traf exakt eine Stunde und eine Minute später ein, als eine umgehende Reaktion für die lange Strecke durch den interstellaren Raum benötigt hätte. Diese Verzögerung ließ sofort Arroganz erkennen, was sich dann auch bestätigte, als Marphissa die Nachricht abspielte, die ihr CEO Yamada übermittelt hatte, ein schon etwas älterer Mann, der sich offensichtlich viele Jahre lang ein zu gutes Leben gegönnt hatte. »CEO Manetas«, begann er. »Ich habe noch nie von Ihnen gehört.«

»Er hat Ihr Täuschungsmanöver durchschaut!«, rief Diaz.

»Nein, hat er nicht«, widersprach sie ihm. »Von Präsidentin Iceni wusste ich, dass ich etwas in dieser Art zu hören bekommen würde. Das ist ein Versuch, mich runterzuputzen und kleinzureden. Er will damit sagen, wenn er noch nie von mir gehört hat, kann ich auch nicht so wichtig sein. Und das bedeutet, sie glauben mir.«

Yamada redete im gleichen Tonfall weiter. »Ich benötige Ihre Unterstützung nicht. Sie können Ihrem Auftrag entsprechend weiterfliegen. Wenn Sie hierher zurückkehren, erwarte ich, dass Sie Ihre beiden Schweren Kreuzer im System lassen, da ich Verwendung für sie habe. Genießen Sie Ihren Flug durch Kalixa. Für das Volk. Yamada, Ende.«

Diaz und Marphissa begannen beide zu lachen. »Er hat es Ihnen abgenommen«, sagte Diaz.

»Auf ihn wartet eine große Enttäuschung, wenn wir wieder herkommen«, erwiderte Marphissa, »und ihm und allen anderen CEOs in diesem System erzählen, was sie mit ihren Erwartungen an uns machen können.« Sie stand von ihrem Platz auf. »Ich muss jetzt erst mal diesen Anzug loswerden und diejenige Uniform anziehen, die ich mit Stolz trage«, verkündete sie an die diensthabenden Spezialisten auf der Brücke gewandt. »Halten Sie mich über alles auf dem Laufenden, was sich da draußen tut, Kapitan Diaz.«

»Jawohl, Kommodor Marphissa«, antwortete der grinsend.

Auf dem Weg zu ihrem Quartier legte sie einen Zwischenstopp bei Bradamont ein. »Unser Trick hat funktioniert. Können Sie sich vorstellen, dass die mich für eine echte CEO der Syndikatwelten gehalten haben?«

Bradamont nickte anerkennend. »Gute Arbeit. Ich habe mir eben mein Display angesehen und an das letzte Mal zurückdenken müssen, als ich dieses System durchquert habe. Da hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich ausgerechnet an Bord eines ehemaligen Syndik-Kreuzers noch mal herkommen würde.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf ihr Display. »Indras ist weit genug von der Grenze zur Allianz entfernt, dass das System während des Krieges nicht oft das Ziel von Angriffen gewesen ist. Nur schade, dass ein so gut erhaltenes Sternensystem immer noch zu den Syndikatwelten gehört.«

Marphissa stand gegen den Türrahmen gelehnt da. »Das ist alles gelogen, müssen Sie wissen. Alles, was Sie da sehen, ist frei erfunden. Diese riesigen Fabrikationszentren und Transportrouten — das ist alles von Ineffizienz durchsetzt. Da wird schludrig gearbeitet, da wird geklaut und Ware auf den Schwarzmarkt umgeleitet. Diese Arbeiter wissen, dass das System zu ihrem Nachteil funktioniert, und darum ist ihnen alles egal. Das ist auch den Supervisoren zuzuschreiben, die ihre Beförderung irgendwelchen Vorgesetzten verdanken, für die nur wichtig ist, dass die Supervisoren ihnen genau das erzählen, was sie hören wollen. Die Schulen und Universitäten vermitteln technisches Wissen einigermaßen gut, aber ansonsten lehren sie nichts als Lügen. Die Einfamilienhäuser und die Apartmentkomplexe sehen sauber und sicher aus, klar, aber in ihnen leben Menschen in der ständigen Angst, der ISD könnte anklopfen, weil die Schlangen einen Verdacht haben oder weil man den Leuten etwas vorwirft oder einfach nur, weil irgendein Supervisor der Schlangen eine Verhaftungsquote erfüllen muss. So sieht das wahre System der Syndikatwelten aus.«

»Das tut mir leid«, sagte Bradamont. »Niemand sollte so leben müssen.«

»Mit ›leben müssen‹ hat das nichts zu tun. Das ist einfach die Realität. Es ist die Realität gewesen, aber nicht länger in Midway. Wir werden stark genug werden, um anderen Sternensystemen zu helfen, so wie wir es bei Taroa gemacht haben. Eines Tages wird das Syndikat nur noch eine düstere Erinnerung sein.«

»Bis jemand eine neue Version ins Leben ruft«, merkte Bradamont finster an. »In der Allianz wurde oft darüber spekuliert, dass die Syndik-Führer den Krieg nicht beendeten, weil er ihnen dabei half, die Syndikatwelten zusammenzuhalten und die Unterdrückung der Bevölkerung zu rechtfertigen.«

»Um die Unterdrückung zu rechtfertigen, hatten sie den Krieg nicht nötig«, erwiderte Marphissa mit einem verächt lichen Schnauben. »Sie hatten schon vor sehr langer Zeit damit aufgehört, irgendetwas zu rechtfertigen. Aber es stimmt, dass wir nicht rebellieren würden, wenn die Menschen sich fragten, was die Allianz ihnen dann antun würde. Warum sollte man die einen Tyrannen durch andere Tyrannen ersetzen?«

»Die Allianz wird nicht von Tyrannen geführt«, widersprach Bradamont erschrocken. »Die momentan herrschende instabile Lage wird ja gerade dadurch verursacht, dass wir unsere Führer abwählen können. Das machen die Leute im Augenblick; leider nicht immer aus den richtigen Gründen.«

»Sie reden darüber, wie es in der Allianz zugeht«, machte Marphissa deutlich. »Ich rede von dem, was man uns über die Allianz erzählt hat. Wir wussten, dass man uns sehr wahrscheinlich Lügen auftischte, aber wie die Wahrheit aussah, war uns noch weniger bekannt. Wir wussten nur, dass Leute mit Macht korrupt waren und sich nicht um diejenigen kümmerten, die ihnen unterstanden. Warum sollten wir annehmen, dass Ihre Führer anders sein könnten als unsere.«

Bradamont schüttelte den Kopf. »Wie sind Sie zu dem Menschen geworden, der Sie heute sind, Asima? Sie sind kein schlechter Mensch, nicht mal ein ganz klein wenig.«

»Ich wusste, dass ich entweder so sein konnte wie die Leute, die ich verabscheute, oder eben nicht. Also beschloss ich anders zu sein.« Marphissa hielt kurz inne. »Der CEO hier hat eine spöttische Bemerkung gemacht: Wir sollen unseren Flug durch Kalixa genießen. Ich weiß, dass da das Hypernet-Portal kollabiert ist und viel Schaden angerichtet hat. Wie schlimm sieht es da aus?«

»Schlimm«, antwortete Bradamont. »Sehr schlimm.«

Sie waren noch zwölf Stunden vom Sprungpunkt entfernt, als Marphissa in ihrem Quartier von einem dringenden Ruf aus dem Schlaf gerissen wurde. »Wir haben eine Nachricht von den Schlangen erhalten«, meldete Diaz. »Wir können sie nicht lesen, aber sie ist von höchster Priorität und an die gefälschte Hüllenidentifikation gerichtet, die wir aussenden.«

Marphissa starrte ihn an, und langsam wich ihre Verwunderung blankem Entsetzen. »Die wollen, dass die Schlangen auf unseren Schiffen mit ihnen Kontakt aufnehmen! Unsere Schiffe haben keine Statusberichte der Schlangen gesendet!«

»Verdammt, daran hätte ich …«

»Daran hätten wir alle denken sollen. Schnell. Bauen Sie eine Mitteilung aus Bestandteilen der Nachrichten zusammen, auf die wir gestoßen sind, nachdem wir sie getötet hatten. Benutzen Sie die Schlangen-Verschlüsselungen, die wir aus Midway mitgebracht haben. Die sind zwar veraltet, aber etwas Besseres können wir ihnen nicht bieten. Sagen Sie … sagen Sie den Schlangen hier bei Indras, dass es neue Abläufe und Vorschriften gibt. ISD-Agenten auf Schiffen sollen nach Möglichkeit Funkstille wahren, damit Rebellen nicht herausfinden können, welche Schiffe nach wie vor loyal sind.«

»Kommodor, das ist eine schwache Ausrede«, sagte Diaz, »aber sie ist immer noch viel stärker als alles, was mir in den Sinn hätte kommen können. Ich bereite die Nachricht vor und schicke sie Ihnen zur Abnahme.«

Marphissa saß auf der Bettkante und starrte in die Schwärze ihres Quartiers. So dicht davor. Wir haben Indras so gut wie verlassen, ohne enttarnt zu werden. Aber jetzt sieht es so aus, dass sie uns noch in letzter Sekunde durchschauen. Das könnte unsere Rückreise zu einem wahren Albtraum werden lassen.

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