Drei

Iceni schaute Togo an. Ihr Blick musste eine Botschaft an ihn enthalten haben, da er einmal nickte und dann den Raum verließ.

»Suchen Sie nach Morgan«, sagte Drakon zu Malin, da er nicht bereit war, darauf zu vertrauen, dass Icenis Lakai seine Aufgabe tatsächlich erledigen würde — ganz gleich, wie diese Aufgabe überhaupt lautete. »Richten Sie ihr von mir aus, dass sich im Kommandozentrum womöglich ein Agent der Schlangen aufhält. Ich will, dass sie diese Person ausfindig macht.«

Malin zögerte. »Sir, Morgans Methoden …«

»Sie kann so unauffällig und listig wie ein Dämon sein, wenn sie das will, und das wissen Sie auch. Ich will sie nach dieser Person suchen lassen. Unsere Chancen stehen schon schlecht genug, und ich will nicht, dass eine Schlange oder irgendwer sonst Boyens mit Informationen über das versorgt, was wir beabsichtigen.«

»Jawohl, Sir.«

»Und sagen Sie ihr, ich will, dass der Agent identifiziert wird. Sie soll sich dann bei mir melden, damit darüber entschieden werden kann, was zu tun ist.«

»Sir«, gab Malin sehr förmlich zurück. »Ich fühle mich veranlasst, Sie darauf hinzuweisen, dass es passieren kann, dass sie sich eben nicht zurückhält, wenn Sie Morgan auf jemanden ansetzen. Ich sehe mich auch gezwungen, noch auf etwas anderes aufmerksam zu machen. Die eng gebündelte Übertragung war auf CEO Boyens’ Flotte gerichtet, aber das bedeutet nicht, dass die Nachricht für CEO Boyens bestimmt war.«

Iceni reagierte sofort: »Die Syndikat-Flotte hat sicherlich ISD-Vertreter an Bord. Oder wollen Sie damit andeuten, dass es noch andere Parteien geben könnte?«

»Ich will damit sagen, dass es auch noch andere Möglichkeiten gibt, Madam Präsidentin.«

Malins Bemerkung war eindeutig auch an Drakon gerichtet. Er musterte Malin eindringlich und fragte sich, warum er unbedingt in Icenis Gegenwart auf diese Dinge zu sprechen kommen musste. Wenn sie es nun gewesen war, die mit den Schlangen an Bord von Boyens’ Schiffen Kontakt aufgenommen hatte …

Aber warum sollte sie das tun? Iceni war nicht dumm. Sie wusste, dass die Schlangen es auf ihr Blut abgesehen hatten. Iceni, die Senior-CEO in diesem Sternensystem, hatte sich nicht nur gegen die Syndikatwelten aufgelehnt, sondern zusammen mit Drakon dafür gesorgt, dass alle Schlangen in Midway niedergemetzelt wurden. Die Angehörigen hatten sie nach Prime zurückgeschickt, doch der ISD würde an Iceni ganz sicher ein Exempel statuieren wollen, um den Tod der Kameraden zu rächen und um jeden, der sich auch gegen die Schlangen erheben wollte, zum Umdenken zu veranlassen.

Niemand will meinen Tod so sehr, wie man ihren Tod will. Sie weiß das. Und wahrscheinlich hat sie diesen Togo losgeschickt, um sich Gewissheit zu verschaffen, dass die Nachricht nicht von mir gesendet worden ist.

Vielleicht wollte Malin noch mehr sagen, doch in diesem Moment wurde die Unterhaltung durch einen Ausruf aus dem Hauptraum des Kommandozentrums unterbrochen. »Die Enigmas bewegen sich!«

Zügig verließ Iceni das Büro, doch als Malin ihr nach draußen folgen wollte, hob Drakon eine Hand und hielt den Mann zurück. Es kam ihm ein wenig albern vor, in Eile zu verfallen wegen etwas, das sich schon vor mehr als vier Stunden abgespielt hatte — erst recht, wenn sich dadurch eine günstige Gelegenheit zu einem Gespräch mit Malin ergab, ohne dass jeder davon gleich Notiz nahm. »Es gibt da noch eine Möglichkeit, die Sie nicht erwähnt haben«, sagte er zu Malin. »Nämlich die, dass die Präsidentin selbst diese Nachricht abgeschickt hat, eine Nachricht, die vorab aufgezeichnet wurde und die eine Geheimabmachung enthält, mit der ich in jeder Hinsicht kaltgestellt werde.«

Äußerst bedächtig antwortete Malin: »General, ich habe keinerlei Informationen darüber, dass Präsidentin Iceni einen solchen Zug unternommen haben könnte. Außerdem würde so etwas keinen Sinn ergeben.«

»Ich weiß, und ich habe auch zu viel Respekt vor Iceni, als dass ich glauben könnte, sie wüsste das nicht ebenfalls. Aber schlechte Angewohnheiten legt man nur schwer ab. Wie gut sind Ihre Informationen über das, was sie jetzt macht?«

»Ich bin davon überzeugt, dass ich es wüsste, wenn sie Schritte gegen Sie unternehmen würde, Sir.«

»Hmm.« Drakon blickte versonnen auf die ins Kommandozentrum führende Tür. »Ist das Ihre Einschätzung, oder haben Sie zuverlässige Informationen?«

»Sowohl als auch, Sir.« Malin klang so überzeugt, als wisse er absolut alles.

Genau genommen wirkte er in diesem Moment genau so, wie Morgan es manchmal machte. Auch wenn sie sich gegenseitig nicht ausstehen konnten und auch wenn sie in vieler Hinsicht nicht unterschiedlicher hätten sein können, waren Morgan und Malin sich von Zeit zu Zeit erschreckend ähnlich. »Halten Sie trotzdem die Augen offen, und achten Sie darauf, dass Sie alles infrage stellen, was Sie eigentlich sicher zu glauben wissen.«

»Jawohl, Sir«, sagte Malin lächelnd. »Das haben Sie mir beigebracht. Es ist eine gute Regel, die man bei der Planung jeder Operation beachten muss.«

»Ich habe das noch auf die harte Tour gelernt, Bran. Und jetzt los mit Ihnen.«

Nachdem Malin gegangen war, begab sich Drakon zu Iceni, die das Display nicht aus den Augen ließ. Selbst ein Soldat der Bodenstreitkräfte, wie er einer war, konnte auf den ersten Blick erkennen, was sich dort abspielte. »Die Enigmas gehen auf Abfangkurs zu Black Jack.«

Die beiden Streitkräfte — die der Allianz und die der Enigmas — rasten mit Geschwindigkeiten aufeinander zu, bei denen ein Offizier der Bodenstreitkräfte Mühe hatte sich vorzustellen, welche Entfernungen da innerhalb von Minuten zurückgelegt wurden. Über 0,2 Licht. Drakon begann zu rechnen. Rund sechzigtausend Kilometer pro Sekunde. Wie kann der Verstand irgendeines Menschen eine solche Geschwindigkeit begreifen? Ich bin Umgebungen auf einer Planetenoberfläche gewöhnt, bei denen ein Kilometer eine fassbare Strecke ist.

Außerdem rasten Bodentruppen nicht mit den Geschwindigkeiten aufeinander los, die diese Kriegsschiffe flogen. Sehen konnte man das andere Schiff nur aus weiter Ferne, die Waffen jedoch besaßen im Verhältnis zu den gewaltigen Distanzen des Weltalls eine so geringe Reichweite, dass sich die Schiffe nur aus nächster Nähe unter Beschuss nehmen konnten. Sie konnten bis in alle Ewigkeit umeinander herumtänzeln, ohne einander jemals nahe genug für eine Attacke zu kommen. Wenn eine Seite nicht kämpfen wollte und nicht gerade ein bestimmtes Ziel, wie zum Beispiel ein Hypernet-Portal, vor Augen hatte, gab es keinen Anlass, der Gegenseite zu nahe zu kommen. »Bis in alle Ewigkeit« war natürlich nur relativ gemeint, denn die wahren Grenzen wurden durch den Vorrat an Brennstoffen und Verpflegung für die Besatzung gesetzt.

Ich mag das nicht. Drakon presste die Lippen zusammen, während er zusah, wie sich die beiden Flotten einander näherten. Krieg im All ist einfach zu mechanisch. Man sieht den Feind nie als Person, sondern nur als Kriegsschiff. Sie fliegen quer durchs All, sie legen Strecken zurück, für die sogar das Licht Stunden benötigt, aber am Ende müssen sie einfach gegenseitig aufeinander eindreschen. Wie soll man ernsthaft eine Taktik anwenden, wenn die andere Seite jedes Manöver mitverfolgen kann, ganz gleich, wie weit sie von einem entfernt ist? Wenn es nichts gibt, wohinter man sich verstecken kann? Wenn es keine Möglichkeit der Tarnung gibt?

Andererseits … wie hat es Black Jack dann geschafft, in einer Schlacht nach der anderen die mobilen Streitkräfte der Syndikatwelten immer weiter zu dezimieren? Hier muss es noch irgendetwas geben, irgendetwas, das sich von dem unterscheidet, was ich kenne.

Er sah sich auf dem Display den Rest des Sternensystems an. Die Planeten folgten gemächlich ihren fast kreisrunden Orbits, Kometen und Asteroiden folgten ihnen auf eigenen Umlaufbahnen, deren Verlauf von kreisrund bis hin zu Ellipsen reichte, die sie fast in die kalte Schwärze am äußersten Rand des Systems brachten. Auf einer Seite des Systems war das Hypernet-Portal zu sehen. Vereinzelte Gruppen von Kriegsschiffen und eine erfreuliche Anzahl an Handelsschiffen umkreisten es. Bei letzteren handelte es sich größtenteils um Transporter, die auf der Durchreise zu anderen Zielen waren und die sich momentan alle Mühe gaben, auf ihre träge, plumpe Art einen Bogen um die Kriegsschiffe zu schlagen. Das alles sorgte für ein völlig anderes Schlachtfeld, als er es gewohnt war.

Aber was Schlachtfelder anging, unterschied sich Midway ohnehin von den typischen Sternensystemen. Drakon wusste, dass die Sprungpunkte auf Raumschlachten in etwa den gleichen Einfluss hatten wie Gebirgsketten oder Brücken über breite Flüsse bei einem Gefecht auf einer Planetenoberfläche. Jeder, der ins System gelangen oder es verlassen wollte, musste einen Sprungpunkt benutzen. Aber während das typische Sternensystem über zwei oder drei Sprungpunkte verfügte und ein außergewöhnlicher Stern es auch auf fünf bis sechs Sprungpunkte brachte, konnte Midway bemerkenswerte acht Sprungpunkte vorweisen, die auch zu acht verschiedenen Sternen führten: Kahiki, Lono, Kane, Taroa, Laka, Maui, Pele und Iwa. Diese reichhaltige Auswahl hatte dem System den Namen Midway eingebracht.

Dann, vor gut vierzig Jahren hatten die Syndikatwelten hier auch noch das Hypernet-Portal gebaut, eine riesige Konstruktion, die in einer Entfernung von fünf Lichtstunden langsam um den Stern kreiste. Das Portal erlaubte es einem, in jedes System zu reisen, in dem ebenfalls ein solches Portal vorhanden war. Das alles machte Midway zu einem Knotenpunkt für Schiffe aller Art, die Fracht oder Passagiere von einer Welt zur anderen transportierten, zudem war die Verteidigung der gesamten Region ebenfalls über Midway gelaufen. Aber dadurch war Midway natürlich auch zu einer Zielscheibe für potenzielle Angreifer geworden, auch wenn es auf der von der Grenze zur Allianz abgewandten Seite offiziell keinen Feind gab.

Die riesige Reserveflotte, die diesen Bereich des Syndikat-Territoriums bewachen musste, hatte demnach eigentlich gar keinen Zweck erfüllt. Nur wenige, sehr hochrangige Vertreter der Syndikatwelten wussten etwas von der Existenz einer intelligenten nichtmenschlichen Spezies jenseits von Midway. So wenig war über diese Rasse bekannt, dass man ihr den Namen Enigma gegeben hatte. Man wusste nur, dass sie die sich immer weiter ausdehnenden Syndikatwelten bis nach Midway zurückgetrieben hatten. Hin und wieder waren Schiffe des Syndikats spurlos verschwunden, die sich im Grenzgebiet aufgehalten hatten, während man Enigma-Schiffe nie zu sehen bekam — nicht mal während der Langstreckenverhandlungen mit ihnen, die in erster Linie darin bestanden, dass die Enigmas Forderungen aufstellten.

Dann war die Reserveflotte angefordert worden, versehen mit dem Befehl der Regierung auf Prime, sich der Allianz zu stellen, die unter Black Jack Geary die anderen mobilen Streitkräfte der Syndikatwelten aufgerieben hatte. Die Reserveflotte war aufgebrochen, hatte sich Geary in den Weg gestellt und war nicht mehr zurückgekehrt. Viele Monate später, als die Enigmas den Versuch unternahmen, auch noch dieses System zu übernehmen, war Black Jack in Midway aufgetaucht, unendlich weit von der Allianz entfernt, und hatte die Nachricht vom Ende des Krieges überbracht. Nachdem unzählige Menschen ihr Leben verloren hatten und unvorstellbare Mengen an unterschiedlichsten Ressourcen vergeudet worden waren, hatten die Syndikatwelten den von ihnen angezettelten Krieg schließlich verloren.

Der Preis für die Menschenleben und das Material hatte die Syndikatwelten bereits ins Wanken gebracht, und so begann mit Kriegsende der Zerfall dieses Bundes. Drakon und Iceni hatten vor Ort die Revolte angeführt und den verhassten Inneren Sicherheitsdienst in diesem Sternensystem ausgelöscht. Der Zerfall der Syndikatwelten blieb auch nicht ohne Folgen für die benachbarten Sterne. Kane war in Anarchie versunken, da die Herrscher des Syndikats die Flucht angetreten hatten und seitdem unterschiedliche Arbeiterkomitees einander bekriegten. Taroa war Zeuge eines Bürgerkriegs mit drei Fronten geworden, der nur durch ein militärisches Eingreifen unter der Führung von Drakon zugunsten der Gruppierung der Freien Taroaner hatte beendet werden können.

Und nun waren die Syndikatwelten mit einer Flotte hergekommen, um sich Midway wieder einzuverleiben, während die Enigmas den gleichen Zeitpunkt ausgesucht hatten, um erneut zu versuchen, das System unter ihre Kontrolle zu bringen. Und Black Jack war ebenfalls zurückgekehrt. Seine Flotte machte einen stark in Mitleidenschaft gezogenen Eindruck, aber sie kämpfte noch immer gegen die Enigmas und möglicherweise sogar gegen die Flotte des Syndikats. Die Midway-Flotte würde Black Jack beistehen, solange der nicht irgendwelche Aktionen in die Wege leitete, die die Flotte nicht mitmachen wollte. Rätselhaft war nach wie vor die Absicht der sechs neuen Schiffe.

In mancher Hinsicht konnte eine Raumschlacht eine ziemlich komplizierte Angelegenheit sein.

»Und wieder sitzen wir in der ersten Reihe und sehen zu, wie Black Jack seine Streitkräfte befehligt«, merkte Drakon an.

»Das ist keine Kleinigkeit«, erwiderte Iceni.

Es fiel ihm jedoch schwer, sich länger auf die Darstellung zu konzentrieren, die zeigte, wie zwei Streitmächte aufeinander »zurasten«; was wegen der Entfernungen auf diesem speziellen Schlachtfeld so wirkte, als würden sich beide Seiten nur im Schneckentempo von der Stelle bewegen. Das galt umso mehr angesichts der Tatsache, dass alles, was dort dargestellt wurde, schon vor Stunden geschehen war. Irgendwann, viel später, würde dann endlich das Licht des tatsächlichen Zusammentreffens beider Flotten hier eintreffen.

Drakons Gedanken schweiften ab zu dem Problem, denjenigen ausfindig zu machen, der von diesem Kommandozentrum eine Nachricht an die Syndikat-Flotte geschickt hatte. Die Software, die hier die zahlreichen Funktionen der verschiedenen Systeme regelte, war durchsetzt von Unterprogrammen, Würmern, Wächtern, viele davon eingeschleust durch offizielle Mitarbeiter unter dem Deckmantel, Funktionen, Sicherheit und Zuverlässigkeit zu gewährleisten. Oder um eine erfolgreiche Sündenbocksuche zu garantieren, wie es die Arbeiter hinter vorgehaltener Hand bezeichnen. Sie wissen genau, wenn irgendetwas verkehrt läuft, dann will die Obrigkeit genügend Daten und Fakten zur Hand haben, um die Schuld demjenigen unterzuschieben, den sie zum Sündenbock auserkoren hat.

Drakon wusste allerdings auch, dass es in der Software von nichtgenehmigten, inoffiziellen und komplett illegalen Unterprogrammen, Würmern und Trojanern nur so wimmelte. Installationen, die alle so mit dem eigentlichen Programm verflochten waren, dass eine Säuberung längst eine viel zu komplexe Angelegenheit geworden war. Er selbst hatte diese Unterprogramme auch schon genutzt, um Dinge in Erfahrung zu bringen, die er eigentlich nicht wissen sollte, oder um Sachverhalte zu kontrollieren, die ihn nichts angingen. Ein CEO hatte ihm gegenüber einmal spekuliert, dass die Hälfte aller Vorgänge innerhalb der Syndikatwelten nur erledigt werden konnten, weil diejenigen, die sie erledigten, wussten, wie man das System umgeht, um die Vorgänge zu den Akten legen zu können. Und ich habe ihm gesagt, dass die Hälfte eine untertriebene Schätzung ist. So was nennt man Ironie. Auch wenn wir das System des Syndikats zum Teil regelrecht gehasst haben, waren wir doch diejenigen, die es am Laufen hielten, indem wir nach Wegen suchten, um eine Arbeit zu erledigen, während das System genau das mit allen Mitteln zu verhindern versuchte.

In diesem Moment bedienten sich Malin und Morgan ihrer eigenen Methoden, um sich durch den Sumpf der Software zu kämpfen und dabei nach den Spuren zu suchen, die ihre Beute hinterlassen haben mochte. Wenn jemand das Komm-System dieses Kommandozentrums benutzt hatte, um die Nachricht an die Syndikat-Flotte zu senden, dann sollte es irgendwo einen Hinweis auf dieses Ereignis geben. So wie Jäger im Unterholz nach abgebrochenen Zweigen und plattgetrampelten Blumen Ausschau hielten, so würden Malin und Morgan nach verdächtigen Anzeichen in den Rechnern suchen. Hatten sie erst einmal einen Hinweis auf ihre Beute, würden sie diese Information nutzen, um nach weiteren Spuren zu suchen. Die Spuren würden dann wiederum eine Fährte bilden, und früher oder später würde die Flucht ihrer Beute ein Ende finden. Die einzigen Unbekannten waren dabei in der Regel die Fragen, wie viel Zeit das in Anspruch nehmen würde und ob sie beide gemeinsam die Beute zur Strecke bringen würden oder ob einer von ihnen einen Vorsprung haben würde.

Icenis rechte Hand Togo war zurückgekehrt. Der Mann beugte sich vor und flüsterte ihr irgendeinen Bericht ins Ohr. Es musste etwas Heikles sein, das er ihr nicht mal über eine gesicherte Komm-Leitung mitteilen wollte aus Angst, die Meldung könnte abgefangen oder mitgehört werden. Dennoch war Drakon sich sicher, dass Togo die Quelle der Übertragung noch nicht gefunden hatte.

Ich habe keinen Zweifel daran, dass Togo weiß, was er tut. Wäre er nicht ein außerordentlich fähiger Mann, würde Iceni ihn nicht so weit in ihre Nähe lassen. Aber Togo wird nicht von dieser ausgeprägten Rivalität angetrieben, wie sie zwischen Malin und Morgan herrscht. Diese Rivalität ist manchmal schwer zu ertragen, aber in den meisten Fällen ist sie von unschätzbarem Wert.

Ich frage mich, was Togo zu seinem Eifer anspornt. Es könnte wichtig sein, das zu wissen.

»General«, sagte Malin auf eine Weise, die Drakon sofort aus seinen Überlegungen über das Verhältnis zwischen Togo und Iceni holte.

Hatte Malin den Wettlauf bereits gewonnen?

Doch als Drakon Malin anblickte, stellte er fest, dass der Colonel nicht triumphierend dastand. Vielmehr schaute er mit ernster Miene in Richtung des Eingangs zum Kommandozentrum.

Morgan war soeben hereingeschlendert. Sie schien es nicht eilig zu haben, sondern bewegte sich mit der Gelassenheit eines Panthers, der genau wusste, dass seine Beute in der Falle saß. Eine Hand bewegte sich nach unten und fasste im Gehen nach der Waffe, die sie an der Hüfte in einem Halfter trug.

Dabei steuerte Morgan geradewegs auf Präsidentin Iceni zu.

Drakon machte einen Schritt nach vorn, war aber nicht so schnell wie Togo Icenis Leibwächter/Assistent. Der drehte sich beängstigend schnell um und stellte sich zwischen Morgan und Iceni. Eine Serie von Reaktionen und Gegenreaktionen folgte, bis Morgan und Togo sich gegenüberstanden und jeder seine Waffe auf das Gesicht des Kontrahenten gerichtet hielt, während sie mit der jeweils freien Hand versuchten, sich gegenseitig aus dem Weg zu drängen und einen Vorteil gegenüber dem anderen zu erlangen.

»Schluss jetzt!«, sagte Drakon mit zwar leiser, aber so bedrohlich klingender Stimme, dass jeder in Hörweite mitten in der Bewegung erstarrte, auch Morgan und Togo. Unter anderen Umständen wäre es wohl amüsant gewesen zu beobachten, wie jeder Arbeiter reglos an seiner Konsole saß und nicht einmal zu atmen wagte. Aber in diesem Augenblick konnte Drakon über die Situation nicht lachen. »Waffe runter, Colonel Morgan.«

Sie atmete einmal tief durch, ohne dabei den Blick von Togos Gesicht zu nehmen, dann erst ging Morgan einen Schritt nach hinten, was mit solcher Eleganz geschah, als würde sie eine Figur aus einem Ballett beschreiben. Die Waffe nahm sie in einer fließenden Bewegung herunter, bis der Lauf zu Boden gerichtet war.

Präsidentin Icenis Miene zeigte keine Regung, während ihre Augen Erstaunen, Sorge und Verärgerung ausstrahlten. Sie sprach im gleichen Tonfall und mit der gleichen Lautstärke wie Drakon: »Aus dem Weg.«

Togo, dem äußerlich nichts anzumerken war, ging einen Schritt zurück und ließ seine Waffe in einem Versteck in seiner Kleidung verschwinden.

»Was zum Teufel ist hier los?«, fragte Drakon an Morgan gewandt.

Sie sah ihn an und schätzte erkennbar sein Maß an Verärgerung ein. Morgan versuchte nie, etwas auf die Spitze zu treiben, wenn sie wusste, dass er dafür nicht in der Stimmung war. In sachlichem Tonfall und mit einem Gesichtsausdruck frei von allen Emotionen antwortete sie: »Sir, Sie haben mich gebeten, den Absender der Nachricht an die Schlangen ausfindig zu machen. Ich habe ihn ausfindig gemacht.«

»Und dann sollten Sie mich von Ihren Resultaten in Kenntnis setzen.«

»Der Absender ist genau hier, General. Benachrichtigung und Verhaftung müssen gleichzeitig erfolgen.«

Iceni hatte sich vom ersten Schreck erholt und bekam vor Wut einen roten Kopf. »Will diese Offizierin etwa andeuten, dass ich …«

Bevor sie ausreden konnte, war Morgan schon wieder unterwegs, diesmal aber ging sie nicht auf Iceni zu, sondern sie hatte eine der Konsolen ganz in ihrer Nähe ins Auge gefasst. Togo, der Morgan unablässig beobachtete, stellte sich so neben Iceni, dass er schützend zwischen ihr und Morgan stand.

Morgan blieb neben einer Controllerin stehen, die über ihre Konsole gebeugt saß, als sei sie völlig in die Anzeigen vertieft, die die Instrumente ihr lieferten. Doch Drakon entging die dünne Schweißschicht im Genick der Frau nicht, als Morgan ihre Handfeuerwaffe wieder hob und diesmal den Lauf gegen den Kopf der Controllerin drückte. »Keine Angst«, sprach Morgan in einem nur scheinbar mitfühlenden, in Wahrheit aber spöttischen Unterton. »Ich werde Ihr Gehirn nicht auf der gesamten Konsole verteilen, solange Sie nicht versuchen, irgendjemandem wehzutun. Keine Bomben in der Nähe? Keine Bomben am Körper? Oder im Körper?« Die Controllerin gab einen verneinenden Laut von sich. »Sehr gut. Dann werden Sie vielleicht weiterleben dürfen. Aber ich glaube, da wollen sich erst noch ein paar Leute mit Ihnen unterhalten, bevor sie darüber entscheiden.«

»Bi-bitte«, stammelte die Controllerin, die vor Angst zu zittern begonnen hatte. »Ich musste es tun. M-Meine F-Familie …«

Während zwei Wachleute herbeigeeilt kamen, um sich zu der glücklosen Arbeiterin zu stellen, warf Iceni der Frau einen vernichtenden Blick zu. »Togo, begleiten Sie die Wachen und diese Gefangene zu einer Arrestzelle mit vollem Sicherheitsspektrum. Ich will alles erfahren, was sie weiß. Vor allem ihre Kontakte.« Als Togo sich in Bewegung setzte, fügte Iceni eine Ergänzung an: »Ich will die Fakten, wie auch immer die aussehen mögen. Nur die Fakten, weiter nichts.«

Die anderen Arbeiter lösten sich nach und nach aus ihrer Starre und betrachteten ihre Kollegin, wobei sie keinen Hehl aus ihrem Zorn und Hass auf die Frau machten. »Schlange.« Das Wort war kaum zu hören gewesen, als es diejenigen flüsterten, die sich in unmittelbarer Nähe der gefassten Agentin befanden. Aber dann wurde es von den anderen wiederholt, bis überall im Kommandozentrum der anklagende Begriff zu hören war.

Drakon sah der Agentin die Verzweiflung an, als sie das hörte. Sie mochte zwar noch atmen und denken, doch für diejenigen, die bis gerade eben ihre Freunde gewesen waren, war sie schon jetzt tot.

Mit zufriedener Miene salutierte Morgan vor Drakon. »Sie wollten die Schlange, Sie haben die Schlange bekommen.«

»Konnten Sie feststellen, ob sie allein gearbeitet hat?«

»Nein, Sir. Ich bin nicht über die Schnittstellen hinausgekommen, die ihre Kontakte benutzt haben. Aber es gibt jede Menge Spuren.«

»Wir konnten nicht erwarten, wirklich alle Schlangen auszuschalten, wenn wir nur die zu fassen bekommen, die offensichtlich waren«, warf Malin ein. »Wären die Dateien über die Schlangen nicht zum Teil zerstört worden, hätten wir vielleicht auch noch jeden Maulwurf ausfindig machen können, auf den die Schlangen in diesem Sternensystem zurückgreifen können.«

»Wollen Sie mir daran die Schuld geben, Colonel?«, fragte Morgan.

»Natürlich nicht, Colonel

Drakon gab ein Zeichen, um dem Streit ein Ende zu setzen. »Sie haben beide gute Arbeit geleistet. Colonel Malin konnte das Signal orten, und Colonel Morgan hat den Absender dingfest gemacht. Aber beim nächsten Mal möchte ich, dass das nicht wieder so dramatisch inszeniert wird, Colonel Morgan. Nicht mal annähernd so dramatisch. Sie mussten wissen, dass der Leibwächter der Präsidentin Sie als Bedrohung ansehen würde.«

Sie grinste breit. »Ich bin ja auch eine Bedrohung.«

»Nur dann, wenn ich Ihnen sage, dass Sie auf jemanden losgehen sollen. Ist das klar?«

»Ja, Sir. Jawohl, Sir.« Morgan drehte sich zu Malin um und warf ihm einen listigen Blick zu. »Sie werden wohl alt. Ich hätte das halbe Kommandozentrum ausschalten können, so lange, wie Sie gezögert haben.«

Malin erwiderte ihr Lächeln. »Ich mag ja biologisch nur ein Jahr älter sein, aber in Sachen Reife gebe ich unumwunden zu, dass ich Ihnen um ein Vielfaches voraus bin.«

»Schluss damit«, ging Drakon dazwischen. »Morgan, eine solche Aktion wie gerade eben will ich von Ihnen nie wieder erleben. Und jetzt nehmen Sie sich die Konsole der Controllerin vor und sehen Sie, was Sie da finden können. Malin, Sie scannen planetenweit die Systeme nach Hinweisen darauf, ob von dieser Konsole noch irgendetwas ausgelöst worden ist.«

Während die beiden sich an die Arbeit machten, ging Drakon zu Iceni, die nicht in guter Stimmung zu sein schien, obwohl der Verursacher der Nachricht an die Syndikat-Flotte verhaftet worden war.

»Falls diese Frau«, begann Iceni in dem frostigen Tonfall, in dem ein CEO üblicherweise einem Untergebenen ein Todesurteil verkündete, »in meiner Gegenwart noch einmal so auftritt, werde ich sie als eine unmittelbare Bedrohung ansehen und entsprechend behandeln.«

Drakon hielt inne, da er wusste, wie das gemeint war. Seine Loyalität gegenüber Morgan brachte ihn in einen Konflikt mit seiner sich entwickelnden Beziehung zu Iceni. Zähneknirschend musste er zugeben, dass Iceni allen Grund hatte, wütend zu sein. »Ich dachte, wir sind uns einig. Keine Hinrichtungen und Attentate, wenn wir nicht der gleichen Meinung sind.«

»Diese Vereinbarung hat für Leibwächter keine Gültigkeit, General Drakon. Fangen Sie mit mir keine Haarspaltereien an. Wenn sie so etwas noch mal macht, ist sie tot.«

Wut und Starrköpfigkeit regten sich in ihm, und er hatte Mühe, beide Empfindungen unter Kontrolle zu halten. »Es wird nicht wieder vorkommen. Aber falls Ihr Assistent sich Morgan vornimmt, könnte es passieren, dass Sie eher ihn verlieren als ich Morgan.«

War das Enttäuschung, die da für einen Moment in ihren Augen aufblitzte? Was immer es war, sie überspielte es rasch mit unbändigem Zorn. »Sie drohen mir? Sie drohen meinen engsten Mitarbeitern? Jetzt und hier?«

»Nein.« Sein eigener Widerwille steigerte sich mit jedem ihrer Worte und sorgte dafür, dass seine nächste Äußerung nicht so überlegt über seine Lippen kam, wie es eigentlich der Fall hätte sein sollen. »Die Angelegenheit wurde ungeschickt gehandhabt, aber niemand hatte die Absicht, Sie zur Zielscheibe zu machen. Das muss Ihnen wohl auch klar sein.«

»Verwenden Sie nicht das Wort ›muss‹, wenn Sie mit mir reden, General. Ich bin nicht dazu verpflichtet, so zu handeln oder zu denken, wie ein anderer das von mir erwartet.«

Sie wurde immer wütender, das Gleiche galt für ihn. Gib endlich auf, du Idiot. Wenn du weiter gegen diese Wand anrennst, holst du dir bloß noch einen Schädelbruch. »Vielleicht sollten wir darüber später diskutieren.«

»Ja, vielleicht.« Iceni ließ ihren Blick über das Kommandozentrum schweifen. »Ich werde mich in mein Büro zurückziehen und von dort aus alles Weitere mitverfolgen.«

Sie stürmte nach draußen, während Drakon vor Wut kochend dastand und sich vorkam, als hätte er dieses Gefecht verloren, auch wenn sie es war, die das winzige Schlachtfeld verlassen hatte. Mit finsterer Miene betrachtete er das Kommandozentrum und suchte nach etwas, worauf er seine Verärgerung richten konnte, doch jeder gab zumindest vor, völlig in seine Arbeit vertieft zu sein. Verdammt, Morgan, kannst du nicht wenigstens ab und zu deinen Verstand gebrauchen? Und warum will Iceni nicht begreifen, dass alles nur ein Missverständnis war?

Morgan muss doch klar gewesen sein, dass ein solcher Auftritt Iceni wütend machen würde, und zwar wütend auf sie und auf mich …

Natürlich hat sie es gewusst. Verflucht! Wir beide werden ein langes Gespräch führen müssen, Colonel Morgan.

Es kostete sie all ihre Willenskraft, nicht die Tür hinter sich zuzuschmeißen, als sie in ihr Büro zurückkehrte. Es gelang ihr nur mit Mühe, die Tür ohne jenen Kraftaufwand zu schließen, der andere zu unpassenden Spekulationen über ihren Gemütszustand veranlasst hätte.

Dieser Idiot! Ihm muss doch klar sein, wie das ausgesehen hat! Diese Frau hat mich bedroht! Jeder andere an ihrer Stelle wäre jetzt schon tot.

Ich dachte, sie ist klug. Malin hat immer betont, wie klug sie ist. Warum sollte jemand mit so viel Verstand sich so unglaublich dumm verhalten …?

Weil dieser Jemand das mit voller Absicht macht?

Iceni zwang sich zur Ruhe, setzte sich an den Schreibtisch und starrte vor sich hin, während sie ihre Gedanken zu ordnen versuchte. Über dem Tisch zeigte das Display, wie sich die Enigmas und Black Jacks Flotte allmählich näher kamen, auch wenn das tatsächliche Zusammentreffen noch eine ganze Weile auf sich warten lassen würde. Um die Zeit bis dahin sinnvoll zu nutzen, beschloss Iceni, sich doch weiter mit dem Fall Morgan zu befassen.

Was, wenn das Ganze Absicht gewesen ist? Die enttarnte Agentin war ein willkommener Deckmantel für Morgans Auftritt. Ein solches Verhalten könnte mit dem Vorsatz demonstriert worden sein, mich zu einem Angriff auf sie zu provozieren.

Morgan kennt Drakon. Er ist loyal bis zum Äußersten. Er wurde nach Midway ins Exil geschickt, nachdem er einer seiner Untergebenen in dem Moment zur Flucht verhalf, als die Schlangen einen Verdacht gegen sie hegten. Nachweisen konnten die Schlangen ihm das zwar nicht, aber das hat sie nicht davon abgehalten, ihn hierher zu verbannen.

Sie wusste mithin genau: Wenn ich einen von Drakons Untergebenen angreife, wird er diesen Untergebenen reflexartig verteidigen. Aber warum sollte Morgan das wollen? Um einen Keil zwischen Drakon und mich zu treiben. Sie sieht, wie gut wir zusammenarbeiten. Vielleicht hat dieser Mann Morgan tatsächlich erzählt, dass wir eine Beziehung haben. Eine Arbeitsbeziehung, meine ich.

Morgan hat mir eine Falle gestellt, und ich als erfahrene CEO bin auch prompt hineingetappt. Zumindest in einem Punkt hatte Malin recht: Ich darf Morgan nicht unterschätzen.

Malin … Er hatte etwas gesagt, das sie hatte aufhorchen lassen. Was war es nur? Etwas über … über sein Alter! »Ich mag ja biologisch ein Jahr älter sein.«

Das war es! Welchen Grund sollte es für Malin geben, auf sein biologisches Alter in Relation zu Morgans Alter einzugehen, außer natürlich, er war mit ihrer Vorgeschichte vertraut? Malin musste wissen, dass Morgan in Wahrheit rund zwanzig Jahre älter war, als ihr Aussehen es vermuten ließ. Während einer selbstmörderischen Mission gegen die Enigmas hatte sie diese Zeitspanne im Kälteschlaf verbracht, und nachdem die Mission schließlich abgebrochen worden war, hatte man lediglich sie und eine weitere Freiwillige lebend bergen können. Aber die Mission und Morgans vorgesehene Rolle galten nach wie vor als Verschlusssache, und das auf einer Ebene, auf die Malin gar nicht hätte zugreifen dürfen. Drakon selbst gehörte auch nicht zu jener Sorte von Vorgesetzten, die dem einen Untergebenen vertrauliche Informationen über einen anderen Untergebenen weitererzählten.

Und dennoch wusste Malin darüber Bescheid. Vielleicht hatte er die ärztliche Unbedenklichkeitsbescheinigung gesehen, mit der es Morgan ermöglicht worden war, in den aktiven Dienst zurückzukehren, auch wenn sie aufgrund der Nachwirkungen dieser Mission zeitweilig eine grenzwertige Labilität zeigte. War es ihm gelungen, den Grund für diese Bescheinigung von demjenigen zu erfahren, der sie ausgestellt hatte? Es war eine Frage, die durchaus gestellt werden sollte. Malins Mutter war im medizinischen Dienst. Über sie könnte er an die richtigen Leute herangekommen sein, die ihm diese Antworten geliefert haben mochten. Und womöglich hatte er auf diesem Weg erfahren, wieso jemandem wie Morgan überhaupt erst eine solche Bescheinigung ausgestellt worden war.

Fragen über Fragen. Und Togo war damit beschäftigt, die Agentin der Schlangen zu befragen. Irgendetwas hatte sie daran gestört, aber was nur? Die Agentin? Die Nachricht?

Nein, Togo selbst.

Iceni setzte sich und stützte die Ellbogen auf dem Schreibtisch auf. Sekundenlang ließ sie ihr Gewicht auf den Armen ruhen, um ihren Körper zu entspannen und um nachzudenken.

Das Shuttle. Das war zu praktisch gewesen, einfach zu bequem.

Iceni blickte abermals auf das Display. Black Jack und die Enigmas würden noch immer einige Zeit benötigen, ehe sie aufeinandertrafen. Sie tippte auf die Komm-Fläche, um eine Verbindung aufzubauen. »Togo.«

»Ja, Madam Präsidentin.« Seine Reaktion erfolgte fast sofort. Togos Augen, das Gesicht, die Stimme — ihm war wie üblich nichts anzusehen und nichts anzumerken. Sein Tonfall hatte jenen respektvollen Unterton, den sie von ihm kannte.

»Wie konnten Sie so schnell herausfinden, wer sich an Bord dieses Shuttles befand, das von dem Planeten entkommen wollte?«, fragte sie geradeheraus.

»Es war nichts weiter erforderlich, als die Standortanzeige nach wichtigen Individuen zu durchsuchen, Madam Präsidentin.«

»Und weder Gouverneur Beadal noch Executive Fillis haben versucht, die Standort-Überwachungssysteme in die Irre zu führen?« Iceni beobachtete Togo sehr wachsam, ob er irgendeine verräterische Reaktion erkennen ließ, doch er wahrte beharrlich sein Pokerface, während er nickte.

»Das haben sie durchaus, aber beide Versuche waren mühelos zu entdecken. Gouverneur Beadal benutzte eine veraltete Version einer Täuschungssoftware, und Executive Fillis bediente sich eines Umleitungsmechanismusses, der leicht auffindbar ist, wenn man nur nach den richtigen Parametern sucht.«

Es klang stimmig. Eine schlüssige Erklärung. Bin ich etwa bloß paranoid?

Dabei kam ihr ein alter Witz in den Sinn: Was ist der Unterschied zwischen einem geistig gesunden CEO und einem paranoiden CEO? Der paranoide CEO lebt immer noch.

»Was haben Sie von der Agentin der Schlangen in Erfahrung bringen können?«, wollte Iceni wissen.

»Bislang nichts, Madam Präsidentin. Sie hatte nie direkten Kontakt mit ihren Befehlshabern. Es wurden Schnittstellen eingerichtet, die nur ein einziges Mal in Gebrauch waren, wenn der Kontakt zustande kam. Nachdem die Anweisungen weitergeleitet worden waren, verschwand die Schnittstelle wieder. Sie weiß nichts über ihre Auftraggeber, ausgenommen die Codewörter, die benutzt wurden, um die Echtheit des Befehls zu bestätigen.«

»Haben Sie in den Archivdateien nach Nachrichten gesucht, die diese Codewörter enthalten?«, wollte sie wissen.

»Ja, Madam Präsidentin. Es gibt keinerlei Treffer, und die Sensoren im Verhörraum haben keinen Hinweis darauf finden können, dass die Agentin uns zu täuschen versucht. Diese Nachrichten könnten verschlüsselte Befehle enthalten haben, damit sie sich kurz nach Empfang selbst zerstören. Die Dateinamen existieren womöglich noch, aber ohne Inhalt tauchen sie bei unserer Suche nicht auf.«

Noch eine Sackgasse. Zum Teufel mit den Schlangen, zum Teufel mit Colonel Morgan, zum Teufel mit diesem starrsinnigen General Drakon und den Enigmas und …

»Sehr wahrscheinlich haben wir von dieser Agentin alles erfahren, was sie uns sagen kann«, redete Togo gelassen weiter. »Wünschen Sie, dass sie weiterhin festgehalten wird, um sie später noch einmal befragen zu können, oder sollen wir uns ihrer entledigen?«

Iceni, die in diesem Augenblick auf das ganze Universum wütend war, hätte beinahe reflexartig befohlen, die Agentin zu eliminieren, aber sie konnte sich gerade noch zurückhalten. Ich weiß, was er will. Sie ist eine Agentin der Schlangen. Ihr Leben ist schon jetzt verwirkt. Selbst wenn wir so verrückt sein sollten, sie wieder freizulassen, werden ihre ehemaligen Kollegen sie umbringen.

Und trotzdem …

»Lassen Sie sie in Haft. Ich will, dass sie vorerst noch am Leben bleibt. Stellen Sie sicher, dass sie von niemandem misshandelt werden kann.« Ihr Instinkt sagte ihr, dass dies die einzig richtige Antwort war. Warum, vermochte sie allerdings nicht zu sagen. Ein Grund mehr, nur so und nicht anders zu antworten. Sie brauchte Zeit, um dahinterzukommen, warum ihre innere Stimme sie aufforderte, die Agentin leben zu lassen. »Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie noch irgendetwas herausfinden.«

Nachdem Togos Bild verschwunden war, starrte Iceni wütend auf die Tischplatte. Nach kurzer Zeit hob sie den Kopf und betrachtete abermals das Display. Das Licht vom ersten Zusammentreffen der Allianz mit den Enigma-Kriegsschiffen würde sie bald erreichen. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und verließ ihr Büro, wobei sie versuchte, all ihr Selbstbewusstsein aufzubringen, um die Befehlshaberin zu verkörpern, die sie war. Spielen Sie ruhig Ihre Spielchen mit mir, Colonel Morgan. Mag sein, dass es momentan nicht zur Debatte steht, Sie zu töten, aber das soll mich nicht daran hindern, Pläne zu schmieden. Und wenn Sie das nächste Mal versuchen, Drakons Loyalität gegenüber seinen Untergebenen zu missbrauchen, werde ich bereit sein.

Vorausgesetzt, es war tatsächlich Drakons Loyalität, die ihn dazu veranlasste, Morgan zu verteidigen, und nicht irgendwelche Gefühle, die er für die Frau hegte.

Warum diese Vorstellung ihre Wut gleich wieder hochkochen ließ, konnte sich Iceni nicht erklären. Aber der Zorn bestärkte sie nur in ihrem Vorsatz, in diesem Moment ihre Gefühle nicht zu erkennen zu geben und so zu tun, als wären sie und Drakon die gemeinsam agierenden Führer von Midway, zwischen denen es keinerlei Reibereien gab. Sie ging auf Drakon zu und lächelte ihn höflich an, wobei sie die Haltung zur Schau stellte, die die Regeln des Syndikats beim Umgang mit Gleichberechtigten vorgaben. »Nicht mehr lange, dann werden wir sehen, wie Black Jack und die Enigmas aufeinandertreffen.«

Drakon, der starr dagestanden und mit finsterer Miene das Kommandozentrum betrachtet hatte, sah sie verdutzt an. Sein Erstaunen verwandelte sich schnell in Erleichterung, gleich darauf gefolgt von Argwohn. »Ja.«

Immerhin ist er klug genug, so wenig wie möglich zu erwidern und damit das Risiko zu mindern, etwas Falsches zu sagen. »Die Agentin kann keinen von den Leuten identifizieren, von denen sie Befehle erhalten hat.«

»Das wundert mich gar nicht«, entgegnete Drakon. »Die Schlangen haben ihr Geschäft verstanden. Vielleicht sollte jemand anders sie befragen.« Er ließ den Vorschlag im Raum stehen und wartete ab, wie sie reagieren würde. Immerhin konnte es ja sein, dass sie sich dieser Agentin bereits entledigt hatte und sie nicht mehr zur Verfügung stand, um Fragen zu beantworten.

»Wenn Sie möchten«, antwortete Iceni.

»Gerne.«

»Gut.«

»Okay.«

Der sinnlose Dialog nahm ein jähes Ende, als die Anspannung im Kommandozentrum sich so steigerte, dass sie fast greifbar wurde. Iceni sah zum Display und richtete ihren Blick auf die weit entfernten Kriegsschiffe. »Dann wollen wir mal sehen, was Black Jack machen wird. Oder besser gesagt: Was er längst gemacht hat.«

Vor Stunden war Black Jacks massiv geschrumpfte Flotte auf die Enigmas getroffen und … »Hm?«, sagte Iceni ohne nachzudenken.

»Warum fliegt er einen so weiten Bogen?«, wunderte sich Drakon. »Er weicht den Enigmas aus.«

»Ich weiß nicht, was das soll«, murmelte Iceni und betrachtete irritiert das Display, das zeigte, wie beide Flotten einen weiten Bogen flogen, um zu wenden und erneut aufeinander zuzuhalten. Black Jack war dafür bekannt, dass er in der letzten Sekunde die Vektoren änderte, um Teile der gegnerischen Flotte zu treffen, mit denen der Feind nicht rechnete. Aber diesmal hatte der Vektorwechsel dazu geführt, dass sich beide Seiten gar nicht begegnet waren. Sie konnte sich an keine Aufzeichnung eines Gefechts erinnern, bei dem Black Jack einen Abfangkurs so völlig verkehrt berechnet hatte.

»General!«, rief Colonel Malin. »Diese sechs Schiffe!«

Alle hatten auf Black Jack und die Enigmas geachtet, die sechs mysteriösen Schiffe waren dabei in Vergessenheit geraten. Auf Malins Ausruf hin konzentrierten sich alle auf deren Position.

Einer der Wachhabenden begriff als Erster, was sich da abspielte. »Die Enigmas wenden nicht, um die Allianz-Schiffe erneut anzugreifen, sondern sie befinden sich auf einem Abfangkurs zu den sechs unbekannten Schiffen.«

Als Reaktion darauf stiegen die rätselhaften Schiffe schnurstracks auf, auch wenn es im All auf keinen nach oben oder unten führenden Kurs geben konnte, weil solche Richtungsangaben bedeutungslos waren. Um sich orientieren zu können, legten Menschen in jedem Sternensystem eine Ebene fest, damit alle den gleichen Bezugsrahmen benutzten. Iceni schnappte unwillkürlich nach Luft, als sie sah, wie diese sechs Schiffe manövrierten. »Wie wundervoll.«

Drakon schaute sie forschend an. »Sie scheinen sich sehr … anmutig zu bewegen.«

»Ja, anmutig, kontrolliert. Sie gleiten mehr als, dass sie …« Iceni schüttelte den Kopf. »Wer immer die auch sein mögen, auf jeden Fall wissen sie, wie man ein Schiff fliegt.«

Weit vom Kommandozentrum entfernt war Black Jacks Flotte vor Stunden über den unteren Teil der Enigma-Flotte hinweggeflogen und hatte etliche Schiffe der feindlichen Armada in Trümmer geschossen, da die ganz darauf konzentriert gewesen waren, die sechs fremden Schiffe zu verfolgen. »Gut gemacht«, sagte Iceni leise. Ihr fiel auf, dass Drakon sehr aufmerksam das Geschehen auf dem Display verfolgte, da er darauf aus war, die zum Einsatz kommenden Taktiken zu durchschauen. Es gefiel ihr, dass dieser Mann klug genug war, eine ihm fremde Kampftechnik nicht einfach abzulehnen.

Ein Alarmsignal begann zu blinken und lenkte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf den nach Pele führenden Sprungpunkt. Iceni betrachtete die dort angezeigten Daten, die von den vollautomatischen Systemen auf der Basis dessen erstellt wurden, was sie sehen konnten. Allianz-Schlachtschiffe, Schwere Kreuzer, Zerstörer, Hilfsschiffe, Sturmtransporter. »Das ist der Rest von Black Jacks Flotte«, rief sie, als ihr klar wurde, was sie da sah. »Er ist mit seinen schnellsten Schiffen zuerst gekommen, um die Enigmas zu jagen.«

»Ja, okay«, stimmte Drakon ihr zu. »Das kann ich mir noch vorstellen. Man hat ihm gar nicht so zugesetzt, wie wir es gedacht haben. Aber was um alles in der Welt ist das da?«

Das war ein verdammt großes Schiff, dessen Identität die automatisierten Systeme um den Verstand brachte. War das überhaupt ein Schiff? »Madam Präsidentin, es sieht nach etwas Gigantischem aus, an dem vier Allianz-Schlachtschiffe festgemacht worden sind.«

»So groß ist das?« Sie konnte kaum die Daten fassen, die ihr angezeigt wurden. »Die Schlachtschiffe dienen dem Ding als Schlepper.«

»Es sieht schon nach einer Art Schiff aus«, meldete sich ein Spezialist zu Wort. »Aber es passt zu nichts, was wir in unseren Datenbeständen haben.«

»Jedenfalls nichts, was jemals von Menschen gebaut wurde«, warf Malin ein.

»Es ist aber auch kein Enigma-Schiff«, widersprach Iceni ihm.

»Das habe ich auch nicht gesagt, Madam Präsidentin. Aber wo es auch herkommen mag, es sieht nicht nach etwas aus, das von Menschen konstruiert wurde.«

Sie konzentrierte sich wieder auf den Kampf und sah, wie Vektoren hastig neu ausgerichtet wurden, während Black Jacks Flotte und die der Enigmas wieder auf Kurs zueinander gingen.

»Die Enigmas nehmen Kurs auf den Sprungpunkt!«, rief ein anderer Spezialist, was die Arbeiter in lauten Jubel ausbrechen ließ.

Aber Iceni schüttelte den Kopf und versetzte der allgemeinen Freude einen Dämpfer. »Sehen Sie sich den Vektor an. Sie fliegen zwar in die Richtung, aber ihr Ziel ist es, die zweite Allianz-Formation abzufangen.«

Die Minuten zogen sich träge hin, und die automatischen Systeme bestätigten nach kurzer Zeit ihre Einschätzung der Situation. Black Jacks Schlachtkreuzer wendeten und setzten zur Jagd auf die Enigmas an, während die sechs fremden Schiffe noch ein Stückt weit nach oben flogen und dann mit hoher Geschwindigkeit Kurs auf den Stern nahmen, wodurch sie sich von allen am Kampf Beteiligten entfernten. Es war nach wie vor unklar, wer sie waren und was sie wollten; auf jeden Fall schienen sie aber kein Interesse an einem Gefecht zu haben. Ihre Vektoren führten sie zielstrebig zu dem Planeten, auf dem sich Iceni aufhielt, aber sie waren noch immer sehr weit entfernt, sodass Iceni sie nicht als Bedrohung betrachtete.

Drakon kam einen Schritt näher und sagte leise: »Was wird jetzt passieren? Wird die zweite Allianz-Flotte ihnen genauso ausweichen, wie Black Jack es beim ersten Mal gemacht hat?«

»Das können sie gar nicht«, erwiderte sie. »Diese Schlachtschiffe sind hinsichtlich ihrer Manövrierfähigkeit den Enigma-Schiffen unterlegen, und außerdem müssen sie die Begleitschiffe und dieses riesige … Dings beschützen.«

»Und was wird stattdessen passieren?«

»Sehen Sie hin. Die Allianz-Formation rückt enger zusammen. Die Stärke von Schlachtschiffen besteht nicht in ihrer Beweglichkeit, sondern in Panzerung, Schilden und Feuerkraft.«

Er nickte einmal knapp. »Eine Mauer des Todes. Wer immer den Befehl über diese Formation hat, wird versuchen, alles in Stücke zu schießen, was sich ihnen nähert. Und was werden die Enigmas machen?«

Sie redeten wieder völlig normal miteinander. Das Unbehagen nach dem Zwischenfall hatte sich gelegt, was vor allem den aktuellen Ereignissen zu verdanken war. Iceni schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was sie machen werden … was sie gemacht haben, immerhin sehen wir ja nur Vergangenes. Wir wissen einfach nicht genug über die Enigmas, um ihre Reaktionen einzuschätzen.«

»Hoffen wir, dass Black Jack genug weiß.«

Es dauerte eine Zeit lang, bis die Enigma-Armada die zweite Allianz-Formation erreichte, und diesmal wandte niemand den Blick vom Display ab. Diesmal spürte jeder, dass die Kollision sich nicht im letzten Augenblick noch abwenden lassen würde. Es war ein Gefühl der Ohnmacht, da man nichts anderes tun konnte als zusehen, wie zwei Objekte jeden Moment zusammenstoßen und vermutlich komplett ausgelöscht werden würden.

»Madam Präsidentin«, sagte der Senior-Supervisor. »Ich habe mir die Flugbahn der Enigmas genauer angesehen. Ihr Kurs führt sie genau ins Zentrum der Allianz-Formation.«

»Und das heißt?«

»Sie verfügen über Schiffe, die sich sehr gut manövrieren lassen, Madam Präsidentin. So viel wissen wir immerhin über sie. Aber sie greifen auf eine Weise an, die diesen Vorteil nicht zu nutzen scheint. Außerdem haben sie ihre Attacke gegen die schnellere Allianz-Formation abgebrochen, um sich die langsameren Schiffe vorzunehmen.«

»Geben Sie mir Ihre Einschätzung«, forderte sie ihn auf, wobei sie wusste, dass ihre Stimme schroffer klang als üblich. »Daten kann ich so gut lesen wie jeder andere auch. Aber ich will wissen, was sie bedeuten.«

Der Supervisor schluckte nervös, ehe er weiterredete. »Madam Präsidentin, man kann aus dem Verhalten folgern, dass sich etwas in der neuen Allianz-Formation befindet, das die Enigmas unbedingt zerstören wollen. Dieses Etwas befindet sich genau im Zentrum der Formation.«

Drakon zeigte auf das Display. »Die Versorgungsschiffe sind allesamt rund um das Zentrum der Formation angeordnet, und genau da befindet sich auch dieses riesige Dings.«

»Dahin wollen sie«, sagte Iceni. »Sie haben recht, das ist ihr Ziel. Was immer das Objekt da auch sein mag, sie wollen es um jeden Preis zerstören. Darüber vergessen sie alle anderen Ziele.«

»Die Enigma-Formation zieht sich ebenfalls zusammen«, merkte Malin an.

»Jawohl, Sir«, entgegnete der Supervisor. »Sie wollen die Formation der Allianz rammen.«

»Das wird hässlich werden«, sagte Drakon. »Ich hasse solche Frontalattacken.«

Tatsächlich rasten beide Formationen aufeinander zu, sodass die Flotten einander rammen würden. Auf dem Display flammte ein richtiger Farbwirbel aus blitzenden Lichtern, Alarmsignalen und Warnzeichen auf, der auf einen ahnungslosen Betrachter sicherlich nur farbenprächtig gewirkt hätte. In Wahrheit jedoch standen diese Symbole für gewaltige Zerstörungen, die sich zudem auf engstem Raum abspielten. Schweigen machte sich im Kommandozentrum breit, da jeder das Geschehen auf dem Display verfolgte.

»Man sollte nie in der Absicht auf ein Schlachtschiff zufliegen, es zu rammen«, sagte Iceni schließlich, während die Systeme des Kommandozentrums noch damit beschäftigt waren zu analysieren, was sie an Daten geliefert bekamen. »Es sei denn, man schickt selbst auch ein Schlachtschiff los, auf das man notfalls auch verzichten kann.« Die Allianz-Streitmacht hatte einige Schäden hinnehmen müssen, doch die Enigma-Armada war regelrecht ausgeweidet worden, da von den dicht an dicht angeordneten Schiffen im Kern der Formation keines überlebt hatte.

Drakon nickte bedächtig. »Das werde ich mir auf jeden Fall merken.«

»General, wenn wir jemals in eine Situation geraten sollten, in der Sie mobile Streitkräfte befehligen, dann werden wir alle ernsthaft in Schwierigkeiten stecken«, erwiderte Iceni, die vor Erleichterung fast übermütig wurde. Die meisten Enigma-Schiffe waren zerstört worden, und die restlichen würden bestimmt …

»Die Enigma-Formation hat sich in kleinere Gruppen aufgeteilt«, meldete ein Wach-Spezialist besorgt. »Sie machen kehrt und nehmen Kurs auf … auf …«

Iceni starrte auf das Display und spürte, wie die Anspannung im Raum wieder anstieg. Eine Gruppe Enigma-Schiffe machte den Eindruck, als wolle sie zum Hypernet-Portal gelangen, wo der von den Kampfhandlungen bisher völlig unbehelligte CEO Boyens immer noch mit seiner Syndikat-Flotte wartete. Was mit Boyens geschah, war ihr herzlich egal. Aber wenn die Enigmas das Portal angriffen …

»Wir haben Abfangvektoren für die Schiffsgruppen der Enigmas ausgemacht. Eine Gruppe hat Kurs auf das Hypernet-Portal genommen, eine andere fliegt den Gasriesen an, und die letzte hat … diesen Planeten zum Ziel!«, brachte der Spezialist endlich heraus.

Alle drehten sich zu Iceni um, die nicht wusste, was sie tun oder sagen sollte, sich aber alle Mühe gab, nicht so beunruhigt dreinzublicken, wie sie sich in Wahrheit fühlte. Kommodor Marphissa und ihre Flotte mochten in der Lage sein, die Einrichtung der mobilen Streitkräfte im Orbit um den Gasriesen zu beschützen, denn die Einrichtung und das Schlachtschiff mussten das Ziel der Enigma-Schiffe sein, die Kurs auf den Gasriesen genommen hatten. Es gab keine Möglichkeit, die Gruppe aufzuhalten, die auf dem Weg zum Hypernet-Portal war. Ihre einzige Hoffnung war, dass Boyens etwas mehr Einsatz als Befehlshaber der mobilen Streitkräfte zeigte als bisher.

Aber sie konnte überhaupt nichts gegen die Enigma-Schiffe unternehmen, die sich dem Planeten näherten. Marphissas Flotte war zu weit entfernt, um sie noch abzufangen. Die Kriegsschiffe der Allianz — die Schlachtkreuzer, Leichten Kreuzer und Zerstörer — hatten ihre Formation aufgelöst und verfolgten die Enigmas, aber das war schon jetzt eine aussichtslose Verfolgungsjagd. Wenn die Enigmas der Planetenoberfläche nahe genug waren, konnte die planetengebundene Verteidigung sie unter Beschuss nehmen, dennoch sagte ihr ein ungutes Gefühl, dass die Enigmas für die Ausführung ihres mutmaßlichen Vorhabens gar nicht erst bis in Reichweite der Verteidigungsanlagen kommen mussten.

Ein grelles Alarmsignal flammte rot auf dem Display auf und drängte alles andere in den Hintergrund.

Drakon ballte eine Faust und sah Iceni an. »Ich kenne diesen Alarm.«

»Ja«, erwiderte sie und wunderte sich darüber, wie fest ihre Stimme klang. Das Display war etwas Mechanisches, das ohne Gefühlsregung alle Details des Todesurteils auflistete, von dem Iceni gehofft hatte, dass sie davon wie durch ein Wunder verschont bleiben würden. »Die Enigmas haben Projektile auf diesen Planeten abgeworfen. Insgesamt zweiundsiebzig, und jedes Einzelne mit einer erheblichen Masse. Eine Masse, die genügt, um die geringe Landfläche auf dieser Welt zu verwüsten und die menschliche Bevölkerung auszulöschen.«

»Was sollen wir unternehmen?«

»Wir können nichts unternehmen, General Drakon. Absolut gar nichts.«

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