Wuckl

Das Geschnatter einiger Vögel flog zwischen den Bäumen hin und her, manchmal auch, wenngleich selten, zwischen der Hex-Grenze und dem Wald. Es war etwas in der Luft von Ecundo, das den Tschangs nicht gefiel, und sie hatten bald gelernt, ihm auszuweichen, wo es ging.

Das Dickicht knackte, als etwas Übergroßes sich durch diese Welt von Vögeln und Laub bewegte. Was immer es sein mochte, es hatte keine Eile. Es ging gleichmäßig und beharrlich auf den elektrischen Zaun zu.

Das Wesen, das den Zaun erreichte, war ein großer Zweibeiner. Sein Körper, ein fast vollkommenes Oval, bedeckt mit dichten, drahtigen schwarzen Haaren, stand auf riesigen Vogelfüßen mit langen Klauenzehen. Die Beine sahen aus wie lange Spiralen, so daß das Wesen auf Federn zu stehen schien; die dicken, meterlangen Beine konnten sich in jede Richtung biegen.

Der Wuckl blieb stehen und betrachtete den Zaun und die beiden bewußtlosen Geschöpfe mit neugierigen Augen. Dann ging er zum Zaun und berührte ihn beinahe. Sein Kopf drehte sich auf dem langen, goldberingten Hals hin und her.

Der Wuckl war von dem Anblick der Bewußtlosen offenbar verwirrt. Aus der Ferne hatten sie ausgesehen wie Bundas, aber in der Nähe unterschieden sie sich von allem, was er kannte — eine gewisse Ähnlichkeit mit Bundas war gegeben, aber nicht mehr.

Er beschloß endlich, sich die Verwunderung für später aufzusparen. Der Zaun war nicht so stark geladen, daß er einen Bunda, Ecundaner, Wuckl oder sonst irgendein großes Geschöpf töten konnte. Er sollte Eindringlinge vertreiben, nicht sie umbringen — aber ein Wesen hatte versucht, unten durchzuschlüpfen, war hängengeblieben und hatte eine Reihe von Schlägen erdulden müssen. Das zweite hatte das erste gepackt und war ebenfalls von den Stromstößen durchzuckt worden. Inzwischen hatte die sich steigernde Wirkung beiden das Bewußtsein geraubt.

Obwohl der Wuckl keine erkennbare Kleidung trug, griff eine lange, dünne Hand seitlich in den Körper und zog aus einer unsichtbaren Tasche Isolierhandschuhe. Die rechte Hand tauchte wieder hinein und zog heraus, was nach einer langen Drahtschere aussah. Das Wesen streifte die Handschuhe über und zertrennte die Drahtstränge um die beiden bewußtlosen Wesen.

Das erste ließ sich dann leicht auf die Wuckl-Seite der Grenze hinüberziehen. Beim zweiten wurde es jedoch schwieriger, weil der Wuckl nicht den ganzen Zaun zerschneiden wollte. Er überlegte einige Zeit, ob er das zweite Wesen zurücklassen sollte. Unter der bundaähnlichen Bekleidung waren die beiden aber offensichtlich von derselben Art und sollten also nicht getrennt werden — jedenfalls so lange nicht, bis das Rätsel ihrer Herkunft geklärt war.

Dem Wuckl gelang es schließlich doch, den bewußtlosen Joshi heraus- und zu sich hinüberzuziehen. Er streifte die Handschuhe ab, steckte sie zusammen mit der Drahtschere in die unsichtbaren Taschen und hob mit je einer Hand die beiden Wesen auf, als hätten sie überhaupt kein Gewicht. Er ging mit ihnen den Weg zurück.

Toug war Waldhüter; verletzte Tiere waren nicht sein Aufgabengebiet, und so ging er zum Haus des Wildhüters, der Tierkunde studiert hatte. In den zehn Minuten, die Toug brauchte, um zum Haus zu gelangen, regten die beiden Geschöpfe sich nicht.

Der Wildhüter klickte ein paarmal gereizt mit dem Schnabel und beklagte sich über die Störung beim Mittagessen, bezeugte jedoch Interesse, als er Tougs Bürde sah. Er bat den Forstaufseher, die beiden in den Operationssaal zu bringen.

Darin gab es einen über drei Meter langen Operationstisch, den man in jeder Richtung verstellen konnte, einige Bottiche, Kästen und Kühlgeräte. Er schaltete Spezialbeleuchtung ein, Joshi wurde auf den Boden gelegt und Mavra auf den Tisch gehoben, damit der Wildhüter sich mit ihr befassen konnte. Er war kleiner als Toug und offenkundig etwas älter, sah ihm aber sonst sehr ähnlich.

»Wo haben Sie die beiden gefunden?«fragte er.

»Beim Zaun, so, wie Sie sie sehen«, erwiderte Toug. »Ich bekam ein Alarmzeichen von Posten 43 und ging hin.«

»Haben sie denn versucht, nach Ecundo zu gelangen?«fragte der Wildhüter verwirrt.

»Nein, Senior, allem Anschein nach wollten sie nach Wuckl.«

Der Wildhüter betastete den Körper Mavras.

»Kehren Sie auf Ihren Posten zurück«, sagte er schließlich. »Das erfordert einiges Nachdenken.«

»Sie sind also nicht tot?«fragte Toug.

Der andere bewegte den Kopf im Kreis.

»Nein, nicht tot, aber die Stromstöße waren zu heftig für sie. Gehen Sie, während ich versuche, dieses Rätsel zu lösen.«

Als Toug fort war, befaßte er sich gründlich mit Mavra und Joshi. Er konnte einfach nicht begreifen, was er vor sich hatte. Als Tiere ergaben sie keinen Sinn.

Das Gehirn erschien ungewöhnlich groß und komplex, aber es hatte wenig zu leisten. Bei derart beschränkter Beweglichkeit und dem Fehlen jeder Greiffähigkeit konnten diese Wesen einfach nicht von einer so hohen Ordnung sein. Unübersehbar handelte es sich um Huftiere. Sie hatten Ähnlichkeit mit Bundas, aber ihre innere Zusammensetzung paßte nicht dazu, und die Gesichter waren nach unten gewandt. Beine, Muskelspannung und dergleichen waren zu offensichtlich korrekt, um Konstruktionen zu sein, also mußte er Mutationen vor sich haben. Aber Mutationen wovon?

Sie waren fremdartig, soviel stand fest. Der Wuckl griff nach seinem Sechseck-Welt-Katalog und blätterte ihn durch, aber nichts paßte. Zentauroiden gab es, gewiß, aber diese Wesen hatten nichts mit ihnen zu tun. In mancher Beziehung hatten sie Ähnlichkeit mit den Bewohnern Glathriels, waren aber doch so verschieden davon, daß der Wuckl diese Möglichkeit ausschloß. Alles andere kam noch weniger in Frage.

Er stellte die Bücher zurück, überzeugt davon, daß er Tiere vor sich hatte, keine intelligenten Wesen, ungeachtet der Gehirnstruktur.

Aber was mit ihnen tun? Ihre Nervensysteme hatten stark gelitten. Die Wesen brauchten Hilfe, oder sie würden sterben, und obwohl er nicht genau wußte, was er vor sich hatte, war der Wuckl doch nicht so viele Jahre bestrebt gewesen, sich in sein Fachgebiet einzuarbeiten, um Tiere sterben zu lassen, wenn es in seiner Macht stand, sie zu retten.

Mavras Fortpflanzungssystem machte den Wuckl stutzig. Jemand mit Fachkenntnissen hatte hier Eingriffe vorgenommen, primitive, aber wirksame. Es waren also keine wilden Geschöpfe.

Er dachte nach und kam zu dem einzigen Schluß, der zu den Fakten zu passen schien. Er erinnerte sich, daß fünf seiner Mitstudenten relegiert und ausgestoßen worden waren. Was er vor sich hatte, erinnerte den Wuckl an ihr Experiment. Sie hatten ein Tier hergenommen und nach Belieben daran herummanipuliert, Gliedmaßen umgestaltet, Organe von anderen Tieren eingesetzt. Sie hatten Ungeheuer erschaffen.

Wenn nun neue Studenten etwas Ähnliches unternommen hatten? Und, Entdeckung fürchtend, die armen Wesen in Ecundo ausgesetzt hatten, damit sie gefressen oder auf andere Weise den Wuckl-Behörden entzogen wurden?

Kein Wuckl konnte bewußt töten, so daß diese Lösung des vermeintlichen Dilemmas dem Wuckl gar nicht in den Sinn kam.

Das mußten diese Tiere also sein. Grauenhafte Schöpfungen irregeleiteter Studenten. Das erklärte vieles, aber die Konsequenzen waren noch furchtbarer. Die Gehirne mochten von Wesen hoher Ordnung stammen, vielleicht in der fötalen Phase eingepflanzt, mit den Wesen gewachsen — wie lange?

Der Tod mag eine Gnade für solche Geschöpfe sein, dachte der Wuckl bedrückt; die beiden würden nie wissen, was sie waren, und sollten und brauchten nicht für das Entsetzliche zu leiden, das anderen in den Sinn gekommen war.

Aber er gedachte diese Ungeheuerlichkeit zu melden; die Täter würden gefaßt und zur Handarbeit verdammt werden. Selbst das war noch zu gut für sie, aber ganz Wuckl wurde von Barmherzigkeit beherrscht.

Und was sollte mit diesen beiden hier geschehen?

Sie so zu lassen, wie sie waren, kam nicht in Frage; sie erschienen nicht im Katalog, sie konnten sich der ausgeglichenen Umwelt nicht anpassen. Sie auszustoßen, wie man es offensichtlich versucht hatte, schied ebenfalls aus.

Die einzige Lösung bestand darin, sie dem Katalog anzupassen. Das Problem war, daß die Lebensformen von Wuckl sich im wesentlichen von denen in anderen Hexagons unterschieden, mit Ausnahme der Vögel und Insekten. Bundas aus ihnen zu machen, wäre am einfachsten gewesen, aber man hatte viel Zeit und Mühe aufgewendet, diese Tiere aus Wuckl fernzuhalten; es empfahl sich nicht, zwei von ihnen neu einzuführen.

Wieder befaßte er sich mit seinen Nachschlagewerken. In einem Reservat würden einige Ausnahmen geduldet werden können. Wenn eine Form aus dem Katalog ausgewählt wurde, ließ sich das rechtfertigen. Im Grunde würden die Veränderungen natürlich rein kosmetischer Art sein. Ein Tier war ein komplizierter Organismus, nicht leicht von Grund auf neu zu bauen. Manche Bedürfnisse würden jedoch befriedigt werden müssen; besondere Nahrung kam nicht in Frage, so daß eine Veränderung des Verdauungstraktes angebracht schien. Und natürlich Akklimatisierung, was bei derart komplexen Gehirnen nicht einfach war.

Dann hatte der Wildhüter plötzlich einen Einfall: Ein Bewohner mehrerer Hexagons, biologisch anpassungsfähig, erforderte weniger Arbeit als bei der Erschaffung einer anderen Form.

Joshi, der weniger starke Stromstöße hatte hinnehmen müssen als Mavra, stöhnte plötzlich und bewegte sich. Der Wuckl, darauf nicht vorbereitet, griff hastig nach einem kleinen Gerät, prüfte es und legte es an den Hals des Tschangs. Joshi erschlaffte plötzlich. Zur Sicherheit bekam auch Mavra eine Dosis davon, dann bestellte der Wuckl einige Gehilfen und begann mit der Vorbereitung des Eingriffs.


* * *

Drei Stunden später standen vier Wuckl im Operationssaal. Drei waren sehr jung, Volontäre, die sich letzte Kenntnisse aneignen wollten. Der Wildhüter erläuterte kurz seine Theorien, Entscheidungen und Pläne, und sie stimmten seiner Diagnose zu. Elektrobäder, Instrumente und andere Geräte wurden bereitgestellt, und man machte sich an die Arbeit.

Die eigentlichen Operationen sollte der Wildhüter durchführen, die anderen hatten ihm zu assistieren. Mavra lag ausgestreckt auf dem Tisch. Die Wuckl hatten lange Hände mit dünnen, sensiblen Fingern. Sie kneteten und walkten die Haut wie bei einer Massage.

Dann waren die Hände des Wildhüters plötzlich in ihr, unfaßbar, ohne erkennbaren Einschnitt, ohne Blut. Die rechte Hand zog ein blutiges Organ heraus und glitt sofort wieder hinein. Dann kam die Linke, ergriff kleine Klammern und Stücke von Haut und Fleisch aus mit Flüssigkeit gefüllten Behältern, und griff wieder hinein. Die Geschwindigkeit war unglaublich hoch; die Studenten verfolgten die Eingriffe fasziniert.

Die Operation dauerte geraume Zeit, dann flogen Hände, und kleine Plastikklammern mit blutigen Klümpchen wurden aus dem Körper gezogen. Der Wildhüter rieb sich die Hände.

»Die inneren Veränderungen sind abgeschlossen«, sagte er zu den anderen. »Nun zum Kosmetischen.«

Eine Reihe von Ersatzstücken trat an die Stelle des für überflüssig Erachteten. An Mavras Körper war nichts von Schnitten oder Wunden zu sehen, kein Blut, keine Narben.

»Vieles wird mit synthetischen Stoffen bewältigt«, sagte der Senior zu den Volontären. »Sie sind natürlich organisch, aber künstlich hergestellt. Ich bin Tuog für die Besorgung ausreichender Vorräte dankbar. Da wir das Blut nur auf natürlichem Weg ersetzen können und die beiden von verschiedener Blutgruppe sind, kommt es besonders auf Schnelligkeit an. Nun zur zweiten Phase.«

Wieder wurden Teile entfernt, Teile aus den Schalen mit übelriechender Flüssigkeit eingebaut, alles mit immenser Geschwindigkeit. Als der Kopf fertig war, befaßte der Senior sich mit dem Körper, formte, knetete, veränderte, stets bemüht, die Nervenverbindungen aufrechtzuerhalten. Mit den Möglichkeiten einer Universität und der Unterstützung eines Computers wäre eine vollständige Umgestaltung möglich gewesen, aber der Wuckl im Reservat verfügte darüber nicht. Hier ging es mehr darum, die Form der Funktion anzupassen, und in gewisser Weise war das befriedigender.

Endlich war er fertig. Sie bewunderten die Leistung. Teile, die aus dem Tier entfernt worden waren, hob man auf, um sie später untersuchen zu können.

»Elektrobad!«befahl der Senior, und Mavra wurde hochgehoben und in einen Behälter voll stinkender Flüssigkeit gelegt.

Man schloß eine Gesichtsmaske an einen Luftschlauch an, damit sie ganz eingetaucht werden konnte. Man schaltete den Strom ein, und die Flüssigkeit wurde unter Energie gesetzt, um zu besiegeln, was geschehen war, und die genetische Information in den Zellen umzubilden, damit sie die neue Form bewahrten, ohne Narbengewebe hervorzubringen oder abzustoßen, was hinzugefügt worden war. Ein kleiner Computer gab die Instruktionen durch die Flüssigkeit ein und sorgte auch für den Beginn der abschließenden Entwicklung.

»Und nun das männliche Wesen!«befahl der Senior, und man legte Joshi auf den Tisch.

»Sehen Sie die Narben. Vor langer Zeit ist das Geschöpf stark verbrannt, vielleicht gefoltert worden.«Erschrockenes Gemurmel wurde laut. »Wir befassen uns später damit.«

Die Arbeit begann und wurde nach mehreren Pausen abgeschlossen. Man legte Joshi in ein zweites Elektrobad.

Ein letzter Schritt blieb noch zu tun.

»Sie haben das hochentwickelte Gehirn gesehen«, dozierte der Wuckl. »Mein erster Gedanke war, es auf das erforderliche Maß zu trimmen, aber es ist zu komplex. Die Gefahr tiefgreifender Schäden ist zu groß. Es ist jedoch erforderlich, daß sie sich an ihre neue Lage gewöhnen. Tiere sind Wesen von Gewohnheit und Instinkt, und da die beiden die falschen Gewohnheiten und nicht die richtigen Instinkte für ihr neues Dasein besitzen, müssen sie damit ausgestattet werden. Sie sind mit den Grundzügen der Hypno-Programmierung vertraut. Ich bin der Ansicht, daß die beiden genug entwickelt sind, um sie in ihrer Anfangsstufe zu vertragen.«

»Aber, Senior«, widersprach einer der jungen Wuckl, »diese Wesen sind keine Lebensform der Insel, geschweige denn von Wuckl. Wie wollen Sie das machen?«

»Das Wesen ist aber häufig zu finden und steht im Katalog«, erwiderte der Wildhüter. »Ich habe mir die Katalogbeschreibungen im einzelnen telefonisch von der Universität durchgeben lassen. Ich habe dort noch ein paar alte Freunde, und später werde ich einiges zu erklären haben, vor allem jenen gegenüber, die diese beiden Moduln so schnell montiert haben. Wir werden die Behandlung vornehmen, während sie im Elektrobad liegen. Ich halte sie im Schlaf, bis ich davon überzeugt bin, daß alles seinen guten Fortgang nimmt.«

»Und dann?«fragte ein anderer. »Was werden Sie mit ihnen machen?«

Der Schnabel des Seniors öffnete sich weit, was bei den Wuckl als Lächeln galt. »Sie werden in ihrer neuen Heimat glücklich erwachen. Dafür sorge ich. Keine Angst. Was wir getan haben, war ethisch richtig.«


* * *

Mavra Tschang erwachte wie aus dem Nichts. Es war beinahe so, als würde sie geboren werden; es war der Beginn des Bewußtseins. Ihr Gemüt war völlig leer; es bildeten sich keine Wörter. Dann brachten ihre Sinne plötzlich Empfindungen. Sie öffnete die Augen und schaute sich um. Es war dunkel, und sie konnte kaum etwas sehen. Sie stand auf und ging ziellos herum. Es war eine Einfriedung, in der sich Stroh befand; auf einer Seite lag ein großes Männchen.

Sie spürte, daß er männlich war und sie weiblich; die Begriffe kamen ganz natürlich, wie Gehen, Schlafen, Essen — keine verbalen Entsprechungen, einfach die Vorstellung als solche. Das Männchen schlief noch.

Sie fand eine Öffnung und schnupperte, dann ging sie hindurch. Am anderen Ende lag das Freie.

Sie schaute sich mit derselben nicht-intellektuellen Neugier um, sah einen geschorenen Grasbuckel, der gut roch, entdeckte in der Nähe einen Trog mit aromatischem Inhalt und ringsum einen Wassergraben, der bis zum künstlichen Boden hinab klar und vielleicht vier oder fünf Meter tief war. An einem Ende des Geländes, hinter dem Graben, erhob sich eine Steinmauer ungefähr einen Meter höher als der Buckel; aber vom Wasser waren es drei Meter nach oben, eine Flucht war unmöglich.

Obwohl die Mauer nur fünfzehn Meter entfernt war, hatte Mavra Schwierigkeiten, darüber hinaus etwas zu sehen. Die nahen Dinge erschienen scharf und klar, aber dann begann alles zu verschwimmen. Hinter der Wand sah sie undeutliche Umrisse, doch keine erkennbaren Formen. Aus irgendeinem Grund erschien ihr das falsch, aber sie befaßte sich nicht lange damit.

Sie war sehr durstig, ging zum Wasser hinunter und ließ sich mühelos hineingleiten. Sie öffnete den Mund und trank, bis sie genug hatte, dann stieg sie wieder hinauf. Der Geruch aus dem Trog lockte sie an. Sie ging hin und begann zu essen.

Sie hörte ein Geräusch hinter sich, sah das Männchen schläfrig herauskommen und all das tun, was sie vorher getan hatte. Sie aß weiter. Er kam bald danach zu ihr und begann ebenfalls hungrig zu essen. Eine riesige Menge Nahrung lag im Trog, aber sie hörten nicht auf, bis sie alles verschlungen hatten.

Dann suchten sie beide den Trog ab und schlangen hinunter, was sie in ihrer Hast übersehen hatten, gingen wieder zum Wasser, tranken, schwammen ein wenig herum, stiegen den Hügel hinauf und legten sich ins Gras, um die warme Sonne zu genießen und den Geräuschen ringsum zu lauschen.

In den folgenden Tagen änderte sich nichts. Das Männchen markierte die Insel, die Hütte, den Trog und das Wasser mit seinem Duft. Er bezeichnete die Grenzen ihres Territoriums.

Das Essen wurde von einem sonderbar aussehenden und fremdartig riechenden Wesen gebracht, das über eine von der Wand herabzulassende Rampe zu ihnen kam; es schüttete Nahrung in den Trog, zog sich wieder zurück und klappte die Rampe hoch. Zuerst hatten sie das Wesen angegriffen, aber die Verlockung der Nahrung war zu groß, und sie ließen es in Ruhe.

Stets hungrig, ließen sie nie etwas übrig. Wenn es nichts zu essen gab, rasteten sie, jagten einander spielerisch oder schwammen im Wassergraben. Zu keiner Zeit hatten sie einen verbalen Gedanken, zu keiner Zeit eine Erinnerung; sie fragten sich nicht einmal, wo sie waren.

Aber die Eingriffe des Wuckls hatten die Gehirne nicht entscheidend berührt; ihre Intelligenz war noch vollständig vorhanden, und mit der Zeit kehrten die Erinnerungen langsam zurück, zuerst als seltsame Träume, als merkwürdige Bilder von fremden Wesen, die eigenartige Geräusche von sich gaben, dann als ganze Ereignisabläufe. Zuerst war es zuviel, als daß sie es begreifen konnten, aber die Zeit, die Untätigkeit und das völlige Fehlen jeglicher Angst wirkten heilend.

Gedanken bekamen Zusammenhang. Seltsame Erscheinungen in ihrem Gedächtnis nahmen Namen an, bedeutungslose, aber unverwechselbare. Dann kam die große Hürde: Selbst-Erkenntnis. Er. Sie. Ich.

Mavra Tschang hatte Visionen einer kalten und gebirgigen Gegend, wo riesige zweibeinige Wesen mit weißem Pelz und hundeartigen Köpfen herumliefen, Wesen, die sie kannte, denen sie bekannt war, Wesen, die vielleicht alles wußten, die ihr helfen konnten, auch wenn sie sich noch nicht erinnern konnte, warum sie Hilfe brauchte.

Sie wußte nur, daß sie zu ihnen mußte. Es war ein Gebot, wie Essen und Schlafen. Es war etwas, das sein mußte.

Für Joshi gab es eine andere Empfindung; er wußte, daß es seine Aufgabe als männliches Wesen war, das Weibchen zu begatten und zu beschützen. Er hatte keine Visionen von fremdartigen Wesen in weißem Pelz, mit gütigen Augen, aber auch er spürte, daß er seiner Gefährtin folgen mußte, wohin sie auch ging.

Flucht wurde für Mavra zur Besessenheit. Sie suchte die ganze kleine Insel nach einem Fluchtweg ab, fand aber keine Möglichkeit, über die Mauer zu gelangen.

Als schließlich das Wesen mit der Nahrung kam, fiel ihr etwas ein. Das Wesen war sicher, daß der Geruch der Nahrung sie von der Rampe fernhalten würde — und bei den ersten Gelegenheiten war der Duft auch unwiderstehlich. Aber während das Wesen die Nahrung brachte, war die Rampe heruntergelassen, und dort konnte man über die Mauer gelangen.

Sie war auf undeutliche Weise sicher, daß sie sich in einem Zoo befanden, auch wenn der Begriff nur ein verschwommener war. Es fiel schwer, zu denken, Pläne zu entwerfen. Sie versuchte zu laufen, so schnell sie konnte, und entdeckte, daß sie, obwohl dick und niedrig gebaut, kurze Zeit sehr schnell rennen konnte. Sie war überzeugt davon, daß sie dem Geruch der Nahrung widerstehen konnte, wenn es darauf ankam. Sie wünschte sich, das dem Männchen begreiflich machen zu können, aber obwohl sie sich bemühte, brachte sie, wie er auch, nur Grunzlaute hervor. Aber er folgte ihr überallhin, lief, wenn sie es tat, blieb mit ihr stehen, und das mußte genügen. Wenn er ihr nicht folgte, war das nicht zu ändern, aber sie wußte, daß sie den Ort erreichen mußte, der ihre Träume beherrschte.

Der Wuckl, ein sehr junger Wärter, kam kurz vor dem Dunkelwerden, wie gewohnt. Er arbeitete schon einige Monate im Reservat und beherrschte alle Handgriffe im Schlaf. Als er zu den Neuen kam und nach den schweren Eimern griff, die ihre Nahrung enthielten, warteten sie auf ihn, und das Weibchen grunzte aufgeregter als sonst, aber das war normal.

Der Wärter starrte sie kurze Zeit neugierig an. Aus einem Hex weit im Nordosten der Insel, füllten sie eine Lücke im Zoo, obschon der Wuckl sich darüber gewundert hatte, daß ein so großes Gehege für die beiden allein vorgesehen war.

Sie waren seltsame Wesen. Sehr dick, fraßen sie, wann und was sie konnten — auch den organischen Abfall der Stadt, ihre Hauptnahrung. Sie standen auf vier komischen, kleinen Beinen, die am Körper weit zurückgesetzt waren und in kleine, gespaltene Hufe ausliefen. Sie konnten ihre eigenen Beine nicht sehen, weil ihre Köpfe den ganzen Vorderteil des Körpers einnahmen und der Hals wenig beweglich war.

Die Vierbeiner waren fast nackt gewesen, als sie im Zoo eingetroffen waren, hatten aber in der Zeit danach einen braunen Bewuchs bekommen — steif, scharf, nadelartig, und wenn man sie streicheln wollte, konnte man sich ordentlich stechen.

Sie sahen tatsächlich aus wie große Schweine, bedeckt mit Igelstacheln, obwohl der Wuckl, der nie ein Schwein gesehen hatte, den Vergleich nicht verstanden hätte. Es gab einige Unterschiede. Sie waren schwanzlos, ihre Ohren waren lang und spitz. Das Männchen war im Gesicht und an den Beinen rosarot, das Weibchen orangerot.

Ein Stoß mit seinem Klauenbein, und die Rampe klappte hinüber. Der Wuckl ging hinüber. Hinter dem Graben, aber noch auf der Brücke, stellte er einen der Eimer ab und verankerte die Brücke mit einem Haken an einer Öse im Boden.

Mavra sah ihren Gefährten an und gab einen lauten Grunzton von sich, der ihn vorübergehend von der Nahrung ablenkte. Als der Wuckl zum Trog ging, rannte sie zur Brücke und trappelte mit ihren kleinen Hufen hinüber. Joshi schaute sich einen Augenblick verwirrt um, dann lief er ihr nach.

Der Wuckl schaute sich verblüfft um.

»He!«schrie er und lief ihnen nach. Er war so durcheinander, daß er an der Brücke stolperte und in den Wassergraben fiel.

In der kostbaren Zeit, die dieses Mißgeschick brachte, war Mavra auf und davon. Sie konnte nicht sehr weit sehen, aber sie roch vieles, und wo der Geruch stärker wurde, folgte sie ihm.

Das Reservat war geschlossen; das Personal ging seiner Arbeit nach oder war beim Essen, so daß sie unbehindert weiterlaufen konnten. Sie hatte richtig geraten; je stärker der Geruch, desto mehr Wuckl waren hier vorbeigekommen, und auf diesem Weg würde sie den Ausgang finden. Er war durch eine Kette versperrt, aber sie war zu hoch, um sie behindern zu können, und so befanden sie sich bald auf einem freien Platz. Sie liefen nach links, auf Bäume zu, die in der zunehmenden Dunkelheit nur undeutlich erkennbar waren. Der Geruch war stark, und es schien ein logisches Ziel zu sein. Hinter ihnen hatte der Wärter sich aus dem Graben befreit und Alarm geschlagen, aber die Flüchtlinge waren schon weit gekommen.

Obwohl sie sich für ein Schwein hielt und im Grunde auch ein Schwein war, obwohl sie immer noch nicht klar denken oder sich erinnern konnte, warum, war Mavra Tschang auf dem Weg nach Gedemondas.

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