Renard hatte das System erprobt, nachdem die Tür sich geschlossen hatte, Wooly einen Schuß abgegeben, aber alles umsonst.
Der Agitar brauchte nur ein paar Schritte vorzutreten, um festzustellen, daß die Brücke unter Strom stand.
»Renard! Kommen Sie zurück!«rief Wooly. »Vielleicht hat er gelogen, was die Schußwaffen angeht, vielleicht auch nicht. Allein bekommen Sie die Tür nie auf! Warum das Risiko eingehen? Der Schweinehund hat uns hereingelegt, und wir müssen überlegen.«
Der Agitar gab ihr widerstrebend recht, drehte sich um und ging zurück. Die Stromstöße durchzuckten ihn mehrmals, bevor er die Mitte der Brücke erreichte, aber ohne Wirkung — abgesehen davon, daß er zum erstenmal seit vielen Jahren voll aufgeladen war. Es war ein beschwingendes Gefühl, über achttausend Volt zu speichern. Trotzdem ging er zurück.
»Rührt mich ja nicht an«, sagte er. »Ich muß davon etwas loswerden, sonst bringe ich jemanden um.«Er fand endlich ein Stück Metallgeländer, das isoliert zu sein schien, versuchte es mit einem kurzen Stoß und gab ungefähr zweitausend Volt ab.
»Was nun?«fragte er.
Der Ghiskind verschmolz mit dem Bozog.
»Ich werde sehen, ob ich hinein kann«, sagte er. »Strom und Geschosse können mir nichts anhaben, selbst wenn ich entdeckt werde, und falls ich hineinkomme, kann ich ihn übernehmen.«
Sie waren damit einverstanden. Der Yugash schwebte über die Brücke und war bald nicht mehr zu sehen. Sie warteten einige Minuten, dann sahen sie ihn zurückkommen.
»Zwecklos«, sagte er, wieder über den Bozog. »Es gibt nicht die kleinste Ritze. Die Tür ist vollkommen abgedichtet. Und wenn der Computer nur halb so gut ist, wie er sagt, kann er da fast ewig bleiben.«
»Wir sitzen in der Klemme, nicht?«meinte Vistaru. »Was sollen wir machen?«
»Ich schlage vor, daß wir wieder an die Oberfläche zurückkehren, bis uns etwas eingefallen ist«, erklärte der Agitar. »Belden ist tot, wir haben nichts zu befürchten. Außerdem gibt es da oben Wasser und Nahrung. Und drittens muß ich ganz dringend auf die Toilette.«
Es blieb ihnen kaum etwas anderes übrig. Niedergeschlagen kehrten sie um.
Um sich gegen Yulin und seine Tricks zu schützen, und weil sie immer noch nicht ganz davon überzeugt waren, daß es hier oben keine Gefahren gab, schliefen sie schichtweise im Freien.
Mavra schlummerte tief und fest und fühlte sich, als sie wach wurde, viel besser. Ihr Kopf war klarer, ihr Körper schmerzte sie nicht mehr so arg.
Ein letzter Auftrag, dachte sie entschlossen, einen, den ich selbst ausführen muß. Sonst ist diesmal niemand beteiligt. Nur ich, jedenfalls, was das Denken betrifft. Wenn ich jetzt versage…
Aber nein, ein Scheitern war undenkbar. Es war ihr im Grunde gleichgültig, was Yulin mit Obie machte oder vorhatte. Ihr war diese letzte Gelegenheit, diese eine Chance wichtig, sich vor sich selbst und den anderen zu beweisen.
Hier Erfolg zu haben, würde ihr Leben endgültig prägen, den Beweis liefern, daß Mavra Tschang als einzigartiges Wesen existierte, besser als alle anderen. Mit diesem Wissen würde sie glücklich sterben können. Ohne es war sie schon tot. Sie hatte sofort, als sie den Fuß auf Neu-Pompeii gesetzt hatte, gewußt, daß sie es nie wieder verlassen würde. Sie würde nicht auf die Sechseck-Welt zurückkehren, um wahllos in irgend etwas Absurdes verwandelt zu werden, in eine tanzende Blume von Kromm etwa oder in einen Makiem-Frosch — vielleicht in Schlimmeres. Und wenn sie Erfolg hatte und sie alle am Leben blieben, zurückkehren? Als was? Als ein Pferd? In der Kom-Welt würde das großartig ankommen.
Nein. Triumph oder Katastrophe, hier würde alles ein Ende finden.
Die Baupläne von Neu-Pompeii geisterten durch ihren Kopf. Irgend etwas mußte es geben, irgendeinen Schlüssel, einen Weg, Sand ins Getriebe zu streuen. Sie war überzeugt davon.
Scheinbar unwichtige Einzelheiten schwirrten durch ihr Gehirn, und sie versuchte sie zusammenzufügen wie ein Riesenpuzzle.
Obie. Der Schlüssel war Obie. Irgend etwas mit Obie. Denk nach, Mavra, denk nach. Nein, Gewalt ist nicht der richtige Weg. Ganz langsam. Entspann dich. Laß dir Zeit. Laß es kommen.
Und sie hatte es — jedenfalls zum Teil.
»Renard!«sagte sie scharf.
Er hatte gedöst und hob schläfrig den Kopf.
»Hm?«
»Erinnern Sie sich an unsere Flucht von hier? Wir haben das Schiff gestohlen und flogen zur Sechseck-Welt! Wissen Sie noch?«
»Ja, sicher«, murmelte er.
»Obie hat mit uns über Funk gesprochen.«
Er wurde plötzlich wach.
»Ja, das hat er«, nickte er.
»Wir gehen zum Schiff«, sagte sie.
Es war peinigend, nicht mit den Konsolen umgehen zu können. Wenigstens gab es einen Haupt-Transceiver, nicht die Kopfhörer, die sie früher verwendet hatten. Sie weihte ihn schnell ein, wie er das Gerät einstellen mußte. Endlich war sie zufrieden.
»Mavra Tschang ruft Obie«, sagte sie. »Obie, kannst du mich hören?«
»Ich habe mich schon gefragt, wann Sie darauf kommen würden«, erwiderte die angenehme, menschlich klingende Stimme des Computers sofort.
»Laß das jetzt. Wir sind keine Computer«, gab sie zurück. »Obie, wie sieht es jetzt unten aus?«
»Schlecht«, sagte der Computer. »Ben hat totale Kontrolle. Sicher, ich kann so etwas tun wie jetzt, aber außer auf seinen Befehl kann ich nichts Wesentliches tun — und ich kann ihn nicht aufhalten. Schlimmer noch, Nikki Zinder und ihre Tochter sind nicht gegangen, als ich sie dazu aufforderte, und sie waren noch hier, als Ben hereinkam. Er hat sie gefangengenommen.«
»Was?«riefen sie gemeinsam und plapperten wild durcheinander.
Obie wartete, bis sie verstummt waren.
»Ich habe fast die ganze Zeit dazu verwendet, mit dem Schacht in Verbindung zu treten«, sagte er. »Ich habe früh herausgefunden, daß der Schacht-Computer antwortete, wenn ich eine ganz bestimmte, eng begrenzte Frage stellte. Inzwischen waren Trelig, Yulin und Dr. Zinder — auf den es mir eigentlich ankam — schon hindurchgegangen. Ich fühlte sie und versuchte Daten über Dr. Zinder zu erhalten, aber ich kam zu spät. Ich konnte nur noch vorschlagen, daß er in ein hoch-technisches Hex kam. Das war einfach genug, ich kam zurecht damit. Als Renard und Nikki einige Tage später hindurchgeschleust wurden, war ich schon bereit. Renard machte ich zu einem Agitar, vor allem, weil ich wußte, daß Trelig ein Makiem war und die beiden Nachbarn sein würden. Ich dachte, Sie könnten ihn im Zaum halten, Renard.«
Der Agitar nickte. Das erklärte viel und löschte das allzu Zufällige aus, an das er hatte glauben müssen.
»Nikki war aber nicht vorbereitet«, fuhr Obie fort. »Auf sich allein gestellt, wäre sie fast überall auf der Sechseck-Welt verloren gewesen, und ich hatte keine Möglichkeit, sie wie ihren Vater zu einem Oolakash zu machen. Es geht da nach sehr komplizierten Regeln, und sie wurde den Anforderungen für die Oolakash einfach nicht gerecht. Ich kam also zu dem Schluß, daß es nur eines gab. Ich ergriff sie, praktisch im Übergang, sozusagen. Sie kam vom Schacht-Tor in ein mathematisches Zwischenstadium, dann holte ich sie mit der großen Schüssel an der Unterseite zu mir und brachte sie mit der kleinen Schüssel im Kontrollzentrum heraus. Ich heilte sie vom Schwamm und von ihrem Übergewicht. Sie ist wirklich sehr hübsch. Das einzige, was mich eigentlich überraschte, war ihre Schwangerschaft.«
Wieder schrien beide gleichzeitig: »Was?«
»Ihr Kind, Renard«, sagte Obie. »In Teliagin, als Sie beide dem Schwamm zu erliegen drohten und glaubten, sterben zu müssen. Erinnern sie sich?«
Renard hatte es völlig vergessen gehabt.
»Ich brauchte Hände und brauchte Leute«, erklärte Obie. »Deshalb ließ ich zu, daß sie das Kind bekam. Ein Mädchen, das sie Mavra nannte, nach Ihnen, Mavra Tschang. Sie haben großen Eindruck auf sie gemacht.«
»Sie hat zweiundzwanzig Jahre hier bei dir gelebt?«fragte Mavra ungläubig. »Und ihre Tochter ist auch fast so alt?«
»O nein«, sagte Obie. »Nicht ganz. Einige Jahre, ja. Das Kind ist ungefähr fünfzehn und sehr hübsch — ich habe sie ein bißchen umgestaltet. Nikki ist ungefähr fünfundzwanzig. Es hatte keinen Sinn, daß sie hier ein streng lineares Leben führten. Ich konnte das Parallel-Wachstum und einen Teil der Erziehung so regulieren, wie ich die Pläne in Ihren Kopf gesetzt habe, Mavra. Sie haben von und in mir gelebt.«
»Ich denke, du bist die Gottmaschine«, sagte Renard betroffen. »Wozu hast du Leute gebraucht?«
»Ich konnte Ableger von mir erzeugen, gewiß«, entgegnete Obie, »aber kein neues Leben. Die Mathematik dafür ist nicht brauchbar. Selbst die Markovier mußten ihre eigenen neuen Geschöpfe werden. Und dann natürlich die Einsamkeit. Ich brauchte Gesellschaft. Sie haben sie mir gegeben. Und sie haben mir noch mehr genützt, seit Dr. Zinder seinen Sender vor vielen Jahren baute und sich mit mir in Verbindung setzte.«
Das immerwährende»Was?«begann monoton zu werden.
»Es ist fast wie in alten Zeiten gewesen«, sagte der Computer. »Dr. Zinder war in Sicherheit, es ging ihm gut, und er konnte mit mir arbeiten. Wir hielten mit Ortega Verbindung, um möglichst viel darüber zu erfahren, wie es euch da unten erging. Es hat gut geklappt, und wir konnten Ortega und einigen anderen bei der Lösung von Problemen helfen. Die Hauptaufgabe war das Studium des Schachts, was ein endloses Projekt ist und mich weit überfordert — und natürlich, wie ich mich vom Schacht freimachen konnte. Das erwies sich als relativ einfach.«
»Du meinst, du bist unabhängig von ihm?«fragte Mavra.
»O nein. Ich meine, ich weiß, wie es geht. Der Haken bei der Sache ist, daß nur die Hälfte von mir durch willkürliche Schaltungen gesteuert wird — ähnlich wie beim menschlichen Gehirn. Um die andere Hälfte zu befreien, muß man in mir hinuntersteigen und eine Reihe von Schaltungen kurzschließen. Harmlose Sache, aber auf andere Weise können der Schacht und ich nicht richtig miteinander in Verbindung treten.«
»Warum hast du es dann nicht getan?«fragte Renard. »Unwillkürliche Schaltung?«
»Gewissermaßen«, sagte Obie. »Ich war im Abwehr-Status, und das ist ein Zustand, den ich nicht beeinflussen kann. In dieser Verfassung, in der ich mich noch befinde, kann ich übrigens die Tür nicht öffnen. Ich könnte Nikki und Mavra zu dem machen, was ich brauche, und ihnen die Fähigkeiten verleihen, oder ich könnte einen Roboter herstellen und es selbst machen — aber ich kann nicht hinaus.«
Mavras Gehirn arbeitete fieberhaft.
»Obie?«sagte sie. »Warum hast du gerade mich ausgesucht, um mir die Pläne zu übermitteln?«
»So war es nicht. Ich habe es jedem gesagt, von dem ich glaubte, daß er fähig sei, es zu schaffen«, erwiderte der Computer. »Sie waren die einzige, die es fertigbrachte.«
Das war nicht die Antwort, die sie hören wollte, und sie mußte sich neu konzentrieren.
»Obie — Ben Yulin wird früher oder später dahinterkommen«, sagte Renard. »Und dann wird er dich aus dem Griff des Schachts befreien, dich aber trotzdem unter Kontrolle haben. Was geschieht dann?«
»Sobald der Kontakt unterbrochen ist, kann er das Feld umkehren«, gab der Computer zurück. »Neu-Pompeii würde wieder in den normalen, vertrauten Weltraum zurückkehren — und meine große Anlage wäre betriebsbereit. Mit meinem Wissen vom Schacht und der großen Schüssel hätte er die Macht, einen ganzen Planeten in das zu verwandeln, was ihm gerade einfällt.«
»Und wie lange wird das dauern?«fragte Mavra.
»Nicht lange«, antwortete Obie. »Er hat Nikki und Mavra Zinder, und von ihnen hat er erfahren, daß Gil Zinder über Funk erreichbar ist. Dr. Zinder hat mich wegen Treligs Drohungen, Nikki Zinder etwas anzutun, in Neu-Pompeii eingebaut. Glaubt ihr, er wird weniger tun, um seine Tochter und seine Enkelin zu retten? Ihr wißt es besser. Binnen Stunden wird Yulin alles wissen. Er wird bald danach die Verbindung mit dem Schacht unterbrechen — und er ist sehr vorsichtig und trickreich. Ich schätze, daß Yulin innerhalb dieses Zeitraums auch dahinterkommen wird, auf welche Weise wir uns unterhalten, und dann wird er damit Schluß machen.«
Pläne und Schemazeichnungen zuckten durch Mavras Gehirn. Irgendwo steckte der Schlüssel zu allem, das wußte sie. Aber wie sah er aus? Ich habe zu viele Daten, dachte sie verzweifelt. Ich bekomme die Sache nicht in den Griff.
»Dann läuft für uns alle die Zeit ab«, sagte Renard hilflos.
»Nur für Ben Yulin nicht«, fügte Obie hinzu.