Es dauerte vier Tage, bis das Raumschiff gehoben und in Position gebracht war, und weitere zwei, bis Yulin alle Systeme überprüft hatte. Im Lauf der Jahre hatten sich einige wichtige Energiesysteme entladen, aber sie wurden mit Hilfe von Bozog-Technikern wieder auf den alten Stand gebracht. Das Raumfahrzeug war verbeult, aber nicht in einem so starken Maße, wie der Ingenieur es befürchtet hatte. Im Inneren mußte manches repariert werden, aber Antrieb und Steuerungscomputer bedurften nur der Energiezufuhr, um wieder zu arbeiten. Die Atmosphäre von Uchjin hatte alles in gutem Zustand erhalten.
Das Schiff war für Menschen gebaut. Für Yulin und Renard warf das kaum Probleme auf, und auch der Yugash und der Bozog fanden sich zurecht. Aber Größe und Form von Mavra und Wooly führten zu Schwierigkeiten, und auch Vistarus Flügel konnten nicht lange in einen Sitz gepreßt werden, ohne Schaden zu erleiden. Man riß ein paar Sitze im Passagierabteil heraus und ersetzte sie durch dicke Polster mit breiten Gurten.
Yulin brachte, unterstützt von Mavra, die wieder Interesse an ihrer Umwelt zu nehmen schien, einen weiteren Tag damit zu, den Computer zu überprüfen. Beide hatten ein wenig Schwierigkeiten damit.
»Eigentlich hätten wir jemanden nötig, der nicht eine so lange Pause eingelegt hat wie wir«, sagte Yulin. »Nach zweiundzwanzig Jahren wollen wir das Schiff auf eine Reihe von Manövern programmieren, die jeden zweiten Piloten überfordern würden. Ich weiß jedenfalls, daß ich keinem Piloten trauen würde, der so lange nicht geflogen ist.«
»Wollen Sie es sich anders überlegen?«höhnte sie. »Ich kann immer noch Renard mit meinen Anweisungen einsetzen.«
Er lachte.
»Nein, ich habe einen zu weiten Weg hinter mir und habe zu lange darauf gewartet. Ich fliege oder sterbe.«
»Oder beides«, sagte sie trocken.
In zwei Tagen würde sich Neu-Pompeii in richtiger Position befinden, und die passenden Codewörter, die Mavra Tschang kannte, würden wieder an der Reihe sein. Dem Start stand nichts mehr im Wege.
»Probelauf, zwei Prozent Schub«, sagte Ben Yulin über die Bordsprechanlage und zur Bodenkontrolle.
Er betätigte einen Hebel. Ein zufriedenstellendes Heulen und Vibrieren war die Antwort. Er ließ den Antrieb vier Sekunden laufen und schaltete zurück.
»Probelauf gelungen«, sagte er. »Bitte Startdaten.«
Eine Bozog-Stimme tönte aus dem Lautsprecher.
»Bei unserem Countdown auf Innensteuerung schalten. Bremsen bei Zehn lösen. Voller Schub automatisch eine Sekunde vor Start. Beginn bei einhundert.«
»Auf mein Zeichen… einhundert«, sagte Yulin.
»Verbindung hergestellt. Einhundert.«
Yulin drückte auf eine Taste.
»Innensteuerung. Schub zehn bei neunzig.«Er kippte eine Reihe von Hebeln. »Einundfünfzig bei fünfzig, go«, sagte er.
»Startrampe geräumt, alle Bremsen gelöst, dreißig«, erwiderte der Bozog.
»Zweiundsiebzig bei dreißig«, sagte Yulin. »Achtung.«
»Neunzig bei zehn.«
»Neunzig bei zehn kommt. Achtung!«
»Zehn… neun… acht… sieben… sechs… fünf… vier… drei… zwei… eins… voller Schub!«
Yulin zog einen langen Hebel zurück. Er hatte keine Zeit nachzudenken, und das war nur gut.
Er hatte Todesangst.
Sie spürten einen plötzlichen Ruck, als wäre etwas Gigantisches gegen das Raumschiff geprallt, und fühlten eine ungeheure, zerquetschende Schwere.
Mavra lag auf dem Boden, um die Schockwirkung abzuschwächen. Da sie für das Liegen nicht gebaut war, verlor sie binnen Sekunden das Bewußtsein; bei Wooly dauerte es nicht viel länger. Die anderen blieben bei Bewußtsein, obwohl alle, auch der Ghiskind, sich außerordentlich unbehaglich fühlten.
Yulin, so hart in seinen Sitz gepreßt, daß er die fünfzig Zentimeter entfernte Metallstütze fühlte, starrte auf die Instrumente. Nun kam es nicht mehr auf ihn an, nur noch auf den Computer.
Eine Ewigkeit verging, und der Druck wurde unerträglich. Er kämpfte gegen die Ohnmacht an, während sein Blick starr auf die Anzeigen gerichtet blieb. Die Startfolge-Uhr schien zu kriechen, die Sekunden verrannen scheinbar in Zeitlupe. Sechsundvierzig… siebenundvierzig…
Er wußte, daß er sterben würde. Er würde die Ewigkeit, bis die Uhr bei einundsechzig anlangte, nicht überstehen.
Und dann war sie bei sechzig und schien unendlich lange zu zögern. Sie drehte sich weiter, und der Schub ließ nach. Obwohl Yulin darauf vorbereitet war, kam es ihm vor, als stürze er in einen Abgrund. Die Gurte hielten ihn fest.
Er seufzte und blickte auf die Bildschirme. Das Schiff war unterwegs in den Weltraum, bereits über hundert Kilometer hoch.
Sie hatten es geschafft.
Die Bildschirme schalteten sich ein. Noch hatten sie nicht alle Gefahren hinter sich. Er mußte das Schiff in eine hohe Umlaufbahn bringen, eine Schleife ziehen und Neu-Pompeii ansteuern, ohne jemals näher als achtzig Kilometer an die Oberfläche heranzukommen. Das Schiff drehte sich. Der Konsolenschirm zeigte die Sechseck-Welt, die projizierten Bahnen und die derzeitige Position des Schiffes. Daneben liefen Zahlenreihen ab.
Er drückte auf die Sprechtaste.
»Alles in Ordnung?«
»Ein paar Blutergüsse. Mavra und Wooly sind noch ohne Bewußtsein, aber ich glaube, wir sind alle durchgekommen«, erwiderte Renard.
Yulin beugte sich über die Steuerung. Sie waren in eine Orbitalbahn eingetreten und nur wenige Kilometer in der Stunde vom Optimum entfernt. Auch waren sie nicht einmal ein fünftel Grad von der berechneten Bahn abgewichen. Leicht zu korrigieren. Er wies den Computer entsprechend an.
Der große Bildschirm wurde hell und zeigte ein bemerkenswert detailliertes Bild. Die Sechseck-Welt dehnte sich unter ihnen, Neu-Pompeii stieg empor.
Auf dem Schirm liefen Zahlenkolonnen so schnell ab, daß man sie kaum lesen konnte, Diagramme zeigten Winkel, Beschleunigung und Ziel. Der Computer stellte sich auf Phase Zwei ein.
Das kritische menschliche Element war jedoch ausgeschaltet. Es war die Aufgabe des Computers, sich an das Programm zu halten und die ganze Arbeit zu leisten.
»Wie geht es hinten?«fragte Yulin über die Sprechanlage.
»Alles in Ordnung«, sagte Vistaru. »Wir haben Wooly wieder bei uns, und Mavra ist von den Gurten befreit und auf die Beine gestellt.«
»Gut. Es wird jetzt leichter werden. Wir bremsen über Zone Nord, und den Monitoren zufolge läuft alles glatt. Wir können nur zusehen und warten.«
»Eingerastet«, sagte Yulin. »Bahn korrekt. Also, Leute, festhalten. Es geht los.«
Der große Schirm zeigte Sechseck-Welt, Raumschiff und Neu-Pompeii scharf und deutlich. Kleine, gestrichelte Linien zeichneten den Bahnverlauf nach. Die vielfarbigen Diagramme nützten Yulins farbenblinden Augen nichts, aber er wußte, welche Kurve die richtige war. Er spürte kleine Rucke, als der Computer Richtung und Beschleunigung anpaßte.
»Den Code, bitte«, tönte es plötzlich aus dem Lautsprecher. »Den richtigen Code binnen sechzig Sekunden, sonst wird das Schiff zerstört.«
Yulin erschrak. Er hatte sich so auf den Start konzentriert, daß er keinen Gedanken an die Roboterstationen verschwendet hatte. Er konnte sie auf dem Bildschirm sehen, kleine Punkte, die auf die Bahnprojektion zusteuerten. Er schluckte.
Sein Gehirn war eine einzige Leere.
»Fünfzig Sekunden«, sagte die mechanische Stimme freundlich.
Er drückte auf die Taste.
»Ist Tschang schon wach?«schrie er.
»Noch immer betäubt«, erwiderte Renard. »Warum?«
»Ich brauche den verdammten Code!«brüllte er.
»Vierzig Sekunden«, war die Stimme zu vernehmen.
»Ich dachte, Sie wüßten ihn«, sagte Wooly anklagend.
»Ich kann mich nicht erinnern, verdammt noch mal! Fragt sie sofort nach dem Code!«
»Dreißig Sekunden«, sagte die Stimme.
Plötzlich meldete sich auf demselben Kanal eine neue Stimme. Es war eine Männerstimme, ruhig und angenehm.
»Er lautet: ›Edward Gibbon, Band Eins‹, Ben«, sagte die Stimme.
Er war verblüfft, fackelte aber nicht lange.
»Zwanzig Sekunden«, sägte der Roboter.
»Edward Gibbon, Band Eins!«kreischte Yulin.
Es blieb still, und er starrte auf die LED-Uhr. Zehn Sekunden vergingen, und es gab keine neue Warnung. Die letzten zehn Sekunden liefen ab. Er hob den Kopf und sah die kleinen Punkte ausschwärmen und zu ihren alten Positionen zurückkehren.
Ben Yulin wurde beinahe ohnmächtig.
»Edward Gibbon, Band Eins, Ben«, sagte Vistaru plötzlich.
»Ich weiß, ich weiß«, stöhnte er. »Wenn ich mich auf euch verlassen hätte, wären wir seit dreißig Sekunden alle tot.«
Aber wer hatte ihm den Code gegeben? Nicht die Bozog. Eine vertraute Stimme aus der fernen Vergangenheit. Aber das ist auch eine Reise in die Vergangenheit, nicht nur eine in die Zukunft, dachte er.
Er schaltete das Interspace-Funkgerät ein.
»Obie? Bist du das?«
»Ja, Ben«, kam die Antwort. »Wie ist es Ihnen ergangen?«
»Obie — bist du allein da oben?«
»O ja, ganz allein«, erwiderte der Computer. »Eine lange Zeit, Ben? Für mich viel länger als für Sie. Ich habe aber so manches durch den Schacht verfolgen lassen. Wer ist außer Ihnen dabei? Das kann ich von hier aus nicht feststellen.«
Yulin sagte es ihm und fragte:»Wie sieht es an der Oberfläche aus?«
»Sie wissen, daß ich oben keinen direkten Zugriff habe«, erinnerte ihn der Computer. »Atmosphäre, Druck und Temperatur sind beibehalten worden, das elektrische System funktioniert normal. Darüber hinaus kann ich nichts sagen. Ich habe keine Überwachungsfunktion.«
Yulin überlegte.
Das Schiff näherte sich dem Raumflughafen.
»Obie — bist du die ganze Zeit unerreichbar gewesen? Ich meine, wenn du mit mir sprechen kannst, redest du auch mit anderen?«
Es blieb still.
»Obie? Hörst du mich?«
»Ich höre Sie, Ben. Wir unterhalten uns, wenn Sie hier sind«, sagte der Computer.
Yulin versuchte noch ein paarmal, mit Obie in Kontakt zu treten, aber alles blieb still. Er lehnte sich zurück und dachte nach. Der Computer war der Täuschung durchaus fähig; er war in vieler Beziehung so menschlich wie er. Die Tatsache, daß er sich geweigert hatte, seine Frage zu beantworten, war für sich schon Antwort genug. Der Computer hatte die ganzen Jahre hindurch mit jemandem in Verbindung gestanden — und es gab nur eine Person, die in der Lage war, die richtigen Empfangsanlagen zu bauen.
Dr. Gilgam Zinder, der Entdecker der markovischen Mathematik und Schöpfer Obies, war auf der Sechseck-Welt durchaus noch lebendig und munter.
Aber eben dort, dachte Yulin zuversichtlich. Er kannte alle aus dem Süden, die an Bord waren, und in den Norden konnte Zinder nicht gelangt sein. Zinder vermochte mit Obie zu sprechen, die gigantische Maschine vielleicht sogar zu befragen, aber er konnte sie nicht bedienen, nicht die Programmierung verändern. Nur jemand an einer der Konsolen im Inneren Obies konnte das, und selbst wenn Zinder dort gewesen wäre, von Ben Yulins neuen Zusatzschaltungen wußte er nichts. Yulin hatte Zinder vorher mit einer Betäubungspistole außer Gefecht gesetzt.
Gleichgültig, welche Überraschungen Zinder und Obie für mich geplant haben mögen, sie werden ihr blaues Wunder erleben, dachte Yulin.
Er beobachtete die Konsole. Das Schiff glitt langsam auf eine der Schleusen zu. Die andere war beschädigt.
Ein plötzliches Scharren am Bug, ein heftiger Ruck, und das Raumschiff schob sich in das Landedock und richtete sich auf.
Sie waren wieder auf Neu-Pompeii.
Er schaltete auf Außensteuerung und schloß das Schiff an die Energiequellen des Planetoiden an. Die Instrumente flackerten kurz. Es war geschehen. Der letzte Schritt.
Er löste die Gurte und stand auf, spürte zum erstenmal die Auswirkungen des Startvorgangs.
Hinkend begab sich der Minotaurus nach hinten, um nachzusehen, wie es seinen Passagieren ging.