Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung


Aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffé

WALTER VERLAG ZÜRICH UND DÜSSELDORF

Inhalt

Einleitung von Aniela Jaffé................................... 1 Prolog................................................................. 10 Kindheit .............................................................. 13 Schuljahre........................................................... 31 Studienjahre......................................................... 89 Psychiatrische Tätigkeit ........................................ 121 Sigmund Freud..................................................... 151 Die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten....... 174 Zur Entstehung des Werkes................................... 204 Der Turm............................................................. 227 Reisen

Nord-Afrika .................................................... 246


Die Pueblo-Indianer ......................................... 250


Kenya und Uganda ........................................... 257


Indien ............................................................. 277


Ravenna und Rom ........................................... 288

Visionen.............................................................. 293


Über das Leben nach dem Tode ............................. 302


Späte Gedanken ................................................... 330


Rückblick ........................................................... 357


Bildtafeln ............................................................ C. G. Jung, Küsnacht I960


Emilie Jung-Preiswerk


Johann Paul Achilles Jung


C. G. Jung und Emma Rauschenbach, 1902 CG. Jung, 1930


EmmaJung-Rauschenbach, 1954


Bollingen, «der Turm», endgültige Gestalt 1955

Bollingen, der Stein


CG. Jung, Bollingen 1958


C.G. Jung, Küsnacht I960


Appendix............................................................. 363

Aus Briefen Jungs an seine Frau aus den USA (1909) Aus Briefen von Freud an Jung (1909 bis 1911) Brief an seine Frau aus Sousse, Tunis (1920)


Aus einem Brief an einen jungen Gelehrten (1952) Aus einem Brief an einen Kollegen (1959)


Theodore Flournoy. Richard Wilhelm. Heinrich Zimmer. Nachtrag zum «Roten Buch» (1959)


Septem Sermones ad Mortuos (1916)


Einiges über C. G. Jungs Familie von AnielaJaffe

Glossar................................................................ 408

Einleitung von Aniela Jaffé

He looked at his own Soul woth a Telescope. What seemed all irregular he saw and shewed to be beautiful constellations and he added to the consciousness hidden words within words. Coleridge, Note books

Im Sommer 1956 - es war während der Eranos-Tagung in Ascona - sprach der Verleger Kurt Wolff zum erstenmal mit Zürcher Freunden über seinen Wunsch, eine Biographie von Carl Gustav Jung im Pantheon-Verlag, New York, herauszugeben. Dr. Jolande Jacobi, eine der Mitarbeiterinnen C. G. Jungs, schlug vor, das Amt der Biographin mir zu übertragen.

Alle waren sich darüber klar, daß es sich um kein leichtes Unternehmen handeln würde, denn Jungs Abneigung, sich und sein Leben vor den Augen der Welt darzustellen, war bekannt. So sagte er auch nur nach langem Zögern zu, räumte mir dann jedoch wöchentlich einen Nachmittag zur gemeinsamen Arbeit ein. Das war in Anbetracht seines gedrängten Arbeitsprogramms und seiner altersbedingten Ermüdbarkeit sehr viel.

Wir begannen im Frühjahr 1957. Kurt Wolff hatte mir seinen Plan vorgelegt, das Buch nicht als «Biographie», sondern in Form einer «Autobiographie» zu gestalten - Jung selber solle sprechen. Das entschied über die Form des Buches, und meine erste Aufgabe bestand lediglich darin, Fragen zu stellen und Jungs Antworten zu notieren. War er im Anfang eher zurückhaltend und zögernd, so erzählte er doch bald mit wachsendem Interesse von sich, seinem Werden, seinen Träumen und seinen Gedanken.

Jungs positive Einstellung zu der gemeinsamen Arbeit führte Ende 1957 zu einem entscheidenden Schritt. Nach einer Zeit innerer Unruhe tauchten längst versunkene Bilder aus der Kindheit auf. Jung ahnte ihren Zusammenhang mit Gedanken seiner Alterswerke, konnte ihn jedoch noch nicht deutlich fassen. Eines Morgens empfing er mich mit der Mitteilung, er wolle selber über seine Kindheit schreiben, von der er mir bereits vieles, aber doch nicht alles berichtet hatte.

Der Entschluß war ebenso erfreulich wie unerwartet, wußte ich doch, wie sehr das Schreiben Jung anstrengte, und daß er nichts Derartiges unternehmen würde, ohne es als «Auftrag» von innen her zu empfinden. So schien mir sein Vorhaben die innere Berechtigung der «Autobiographie» zu bestätigen.

Einige Zeit nach dieser Wendung notierte ich mir seine Worte: «Ein Buch von mir ist immer ein Schicksal. Es liegt etwas Unabsehbares darin, und ich kann mir nichts vorschreiben oder vornehmen. So nimmt auch die Autobiographie schon jetzt einen anderen Weg, als ich mir zu Beginn vorgestellt hatte. Daß ich meine frühen Erinnerungen niederschreibe, ist eine Notwendigkeit. Unterlasse ich es auch nur einen Tag, so stellen sich sogleich unangenehme körperliche Symptome ein. Sobald ich daran arbeite, verlieren sie sich, und ich bekomme einen ganz klaren Kopf.»

Im April 1958 beendete Jung die drei Kapitel über Kindheit, Schulzeit und Studienjahre. Er nannte sie «Von den anfänglichen Ereignissen meines Lebens». Sie schließen mit der Vollendung des Medizinstudiums im Jahre 1900.

Dies war aber nicht der einzige Beitrag, den Jung zu dem Buch lieferte. Im Januar 1959 war er in seinem Landsitz in Bollingen. Alle Vormittage widmete er der Lektüre der inzwischen entstandenen Kapitel unseres Buches. Als er mir das Kapitel «Über das Leben nach dem Tode» zurückgab, sagte er: «Etwas in mir ist angerührt worden. Es hat sich ein Gefälle gebildet, und ich muß schreiben.» So entstand das Kapitel «Späte Gedanken», in welchem sich seine tiefsten, wenn auch vielleicht fernsten Gedanken ausgesprochen finden.

Im Sommer desselben Jahres 1959 schrieb Jung, ebenfalls in Bollingen, das Kapitel über «Kenya und Uganda». Der Abschnitt über die PuebloIndianer entstammt einem unveröffentlichten, Fragment geblichenen Manuskript aus dem Jahr 1926, das sich mit allgemeinen Fragen der Primitivenpsychologie befaßt.

Zur Ergänzung der Kapitel «Sigmund Freud» und «Die Ausein andersetzung mit dem Unbewußten» übernahm ich verschiedene Stellen aus einem 1925 gehaltenen Seminar. Damals hatte Jung zum erstenmal einiges über seine innere Entwicklung berichtet.

Das Kapitel «Psychiatrische Tätigkeit» entstand auf Grund von Gesprächen Jungs mit den jungen Assistenzärzten der Zürcher Heil- und Pflegeanstalt Burghölzli im Jahre 1956. Zu jener Zeit arbeitete einer seiner Enkel dort als Psychiater. Die Gespräche hatten in Jungs Haus in Küsnacht stattgefunden.

Jung hat das Manuskript durchgelesen und genehmigt. Gelegentlich hat er Stellen korrigiert und Ergänzungen vorgeschlagen oder selber angebracht. Umgekehrt habe ich die von ihm geschriebenen Kapitel aus den Protokollen unserer Gespräche ergänzt, seine oft nur stichwortartigen Andeutungen ausgearbeitet und Wiederholungen ausgemerzt. Je weiter das Buch fortschritt, desto stärker wurde die Amalgamierung zwischen seiner und meiner Arbeit.

Die Entstehungsweise des Buches formte in gewisser Beziehung auch den Inhalt. Das Gespräch oder die spontane Erzählung tragen den Charakter des Improvisierten, und diesen Charakter trägt auch die «Autobiographie». Die Kapitel sind Streiflichter, die das äußere Leben Jungs und sein Werk nur flüchtig erhellen. Dafür vermitteln sie die Atmosphäre seiner geistigen Welt und das Erleben eines Menschen, dem die Seele echteste Wirklichkeit bedeutete. Nach äußeren Dingen habe ich Jung oft vergeblich gefragt; nur die geistige Essenz des Gelebten war ihm unvergeßlich und der Mühe des Erzählens wert.

Wesentlicher als die formalen Schwierigkeiten der Gestaltung waren andere, mehr persönlicher Natur. Jung äußerte sich darüber in einem Brief an einen Freund aus seiner Studentenzeit. Dieser hatte ihn gebeten, seine Jugenderinnerungen aufzuzeichnen. Der Briefwechsel fand Ende 1957 statt.

«.. .Du hast ganz recht! Wenn man alt ist, wird man in Ju genderinnerungep zurückgeholt von Innen und von Außen. Schon vor dreißig Jahren wurde ich einmal von meinen Schülern veranlaßt, eine Darstellung davon zu geben, wie ich zu meiner Auffassung des Unbewußten gelangt sei. Ich habe dies damals in Form eines Seminars getan. In letzter Zeit wurde ich verschiedentlich angeregt, etwas wie eine .Autobiographie' von mir zu geben. So etwas konnte ich mir schon gar nicht vorstellen. Ich kenne zu viele Autobiographien und deren Selbsttäuschungen und Zwecklügen und weiß zuviel von der Unmöglichkeit einer Selbstbeschreibung, als daß ich es wagen könnte, selbst Versuche in dieser Hinsicht anzustellen.

Neuerdings bin ich nun nach autobiographischen Informationen ausgefragt worden und habe bei dieser Gelegenheit entdeckt, daß in meinem Erinnerungsmaterial gewisse objektive Probleme stecken,


die einer genaueren Betrachtung wohl würdig wären. Demgemäß habe ich über die Möglichkeit nachgedacht und bin zum Schluß gekommen, mir meine anderen Obliegenheiten soweit vom Halse zu halten, daß es mir gelingen möge, wenigstens die allerersten Anfänge meines Lebens einer objektiven Betrachtung zu unterwerfen. Diese Aufgabe ist so schwierig und ungewöhnlich, daß ich mir zunächst versprechen mußte, die Resultate zu meinen Lebzeiten nicht zu veröffentlichen. Diese Maßnahme schien mir nötig, um mir die Ruhe und Distanz zu sichern. Ich habe nämlich gesehen, daß alle jene Erinnerungen, die mir lebendig geblieben sind, emotionale Erlebnisse betreffen, welche den Geist in Unruhe und Leidenschaft versetzen; eine sehr ungünstige Vorbedingung für eine objektive Darstellung! Dein Brief kam .natürlich' in dem Moment, wo ich mich sozusagen entschlossen hatte, die Sache in Angriff zu nehmen.

Das Schicksal will es nun - wie es immer gewollt hat - daß in mein em Leben alles Äußere akzidentell ist, und nur das Innere als substanzhaft und bestimmend gilt. Infolgedessen ist auch alle Erinnerung an äußere Geschehnisse blaß geworden, und vielleicht waren die ,äußeren' Erlebnisse auch nie ganz das Eigentliche oder waren es nur insofern, als sie mit inneren Entwicklungsphasen zusammenfielen. Von diesen .äußeren' Manifestationen meines Daseins ist mir unendlich vieles entschwunden, eben darum, weil ich, wie mir schien, mit allen Kräften daran teilgenommen hatte. Dies sind aber die Dinge, welche eine verständliche Biographie ausmachen: Personen, die einem begegnet sind, Reisen, Abenteuer, Verwicklungen, Schicksalsschläge und dergleichen mehr. Sie sind aber mit wenig Ausnahmen zu eben noch erinnerbaren Schemen geworden, die meine Phantasie zu keinen Anstrengungen mehr beflügeln können.

Umso lebhafter und farbiger ist meine Erinnerung an die .inneren' Erlebnisse. Hier aber stellt sich ein Problem der Darstellung, dem ich mich kaum gewachsen fühle, wenigstens vorderhand noch nicht. Leider kann ich aus diesen Gründen auch Deinen Wunsch nicht erfüllen, was ich sehr bedaure ...»

Dieser Brief charakterisiert Jungs Einstellung; obwohl er sich bereits «entschlossen hatte, die Sache in Angriff zu nehmen», endet der Brief mit einer Absage! Der Konflikt zwischen Bejahung und Ablehnung ist bis zu seinem Tode nie ganz zur Ruhe gekommen.


Immer blieb ein Rest Skepsis, und es blieb die Scheu vor der zukünftigen Leserschaft. Er betrachtete das Erinnerungsbuch nicht als ein wissenschaftliches Werk und auch nicht als ein Buch von ihm, sondern er sprach und schrieb von «Aniela Jaffés Unternehmung», zu der er Beiträge geliefert habe. Auf seinen Wunsch wird es nicht in die Reihe der «Gesammelten Werke» aufgenommen.

Besonders zurückhaltend war Jung in den Berichten über Begegnungen, sei es mit bekannten Persönlichkeiten, sei es mit nahestehenden Menschen, seinen Freunden. «Ich habe mit vielen berühmten Menschen meiner Zeit gesprochen, mit den Großen der Wissenschaft und Politik, mit Forschungsreisenden, Künstlern und Schriftstellern, Fürstlichkeiten und Finanzgrößen, aber wenn ich ehrlich bin, muß ich sagen, daß nur wenige solcher Begegnungen mir zum Erlebnis geworden sind. Wir waren wie Schiffe auf hoher See, die gegenseitig die Flagge senkten. Meist hatten diese Menschen auch ein Anliegen an mich, das ich nicht erwähnen kann oder darf. So blieben keine Erinnerungen, unbekümmert darum, was sie als Persönlichkeiten in den Augen der Welt darstellten. Die Begegnungen waren ereignislos; sie verblaßten bald und blieben ohne tiefere Folgen. Von den Beziehungen, die mir etwas bedeuteten, und die an mich kamen wie Erinnerungen an ferne Zeiten, kann ich nicht erzählen, denn sie waren nicht nur mein innerstes Leben, sondern auch das ihre. Es steht mir nicht zu, jene für immer geschlossenen Türen den Blicken der Welt zu öffnen.»

Der Mangel an äußeren Daten und an Vollständigkeit wird jedoch durch anderes reichlich aufgewogen - durch den Bericht über innere Erlebnisse Jungs und durch eine Fülle von Gedanken, welche, wie er selber sagte, als biographisch bezeichnet werden müssen. Sie sind in hohem Maße typisch für ihn und bildeten das Fundament seines Lebens. Das gilt in erster Linie von den religiösen Gedanken. Das Buch enthält Jungs religiöses Bekenntnis.

Es waren mannigfache Wege, auf denen Jung zur Auseinandersetzung mit den religiösen Fragen geführt wurde: eigene Erfahrungen, die ihn schon als Kind in die Wirklichkeit des religiösen Erlebens gestellt und ihn bis an sein Lebensende begleitet hatten;


ein unbändiger Erkenntnisdrang, der alles ergriff, was mit der Seele, ihren Inhalten und Manifestationen zusammenhing und ihn als Wissenschaftler kennzeichnete und - last but not least - sein ärztliches Gewissen. Jung fühlte sich in erster Linie als Arzt. Es


war ihm nicht entgangen, daß die religiöse Einstellung bei der Therapie des seelisch leidenden Menschen eine entscheidende Rolle spielt. Dies deckte sich mit seiner Erkenntnis, daß die Seele spontan Bilder religiösen Inhalts hervorbringe, daß sie mithin «von Natur aus religiös» sei. Ein Abweichen von dieser ihrer Grundnatur wurde von Jung als Ursache zahlreicher Neurosen, besonders in der zweiten Lebenshälfte, erkannt.

Jungs Begriff des Religiösen unterscheidet sich in manchem vom traditionellen Christentum. Vor allem in seiner Antwort auf die Frage nach dem Bösen und in der Vorstellung eines nicht nur guten oder «lieben» Gottes. Vom Gesichtspunkt des dogmatischen Christentums aus war Jung ein Outsider. Dies hat er in den Reaktionen auf sein Werk, bei allem Weltruhm, immer wieder zu spüren bekommen. Er hat darunter gelitten, und auch in die Zeilen dieses Buches mischt sich hie und da die Enttäuschung des Forschers, der sich in seinen religiösen Gedanken nicht restlos verstanden fühlte. Mehr als einmal ließ er sich mit grimmiger Betonung vernehmen:


«Im Mittelalter hätte man mich verbrannt!» Erst nach seinem Tode mehren sich die Stimmen der Theologen mit der Feststellung, Jung sei aus der Kirchengeschichte unseres Jahrhunderts nicht mehr wegzudenken.

Jung bekannte sich ausdrücklich zum Christentum, und die bedeutendsten seiner Werke handeln von den religiösen Fragen des christlichen Menschen, die er vom Gesichtspunkt der Psychologie und in bewußter Abgrenzung von der theologischen Fragestellung aus betrachtete. Indem er dies tat, stellte er der christlichen Forderung des Glaubens die Notwendigkeit des Verstehens und Nachdenkens gegenüber. Für ihn war das Selbstverständlichkeit und Lebensnotwendigkeit. «Ich finde, daß alle meine Gedanken um Gott kreisen wie die Planeten um die Sonne und wie diese von Ihm als der Sonne unwiderstehlich angezogen sind. Ich müßte es als gröbste Sünde empfinden, wenn ich dieser Gewalt Widerstand entgegensetzen sollte», schrieb er 1952 einem jungen Ordensgeistlichen.

In seinem Erinnerungsbuch spricht Jung zum ersten und einzigen Mal von Gott und von seiner persönlichen Erfahrung Gottes. In den Tagen, als er über seine jugendliche Auflehnung gegen die Kirche schrieb, sagte er einmal: «Damals wurde mir klar, daß Gott, für mich wenigstens, eine der allersichersten unmittelbaren Erfahrungen war.» In seinem wissenschaftlichen Werk spricht Jung nicht von Gott, sondern vom «Gottesbild in der menschlichen Seele». Das ist kein Widerspruch, sondern das eine Mal die subjektive, auf Erleben beruhende, und das andere Mal die objektiv-wissenschaftliche Aussage. Einmal spricht der Mensch, an dessen Gedanken auch ein leidenschaftliches Gefühl, Intuition und die inneren und äußeren Erfahrungen eines langen und reichen Lebens beteiligt sind. Das andere Mal redet der Forscher, dessen Aussagen die erkenntnistheoretische Grenze nicht überschreiten, sondern sich bewußt auf Fakten und auf das Beweisbare beschränken. Als Wissenschaftler war Jung Empiriker. Wenn er für sein Erinnerungsbuch von seinen persönlichen religiösen Gefühlen und Erfahrungen erzählte, so setzte er die Bereitwilligkeit der Leser voraus, ihm auf dem Wege seiner subjektiven Erlebnisse zu folgen. Aber nur derjenige kann und wird Jungs subjektive Aussage auch für sich als gültig anerkennen, der ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Anders ausgedrückt: dessen Bild von Gott in seiner Seele ähnliche oder gleiche Züge trägt.

So positiv und aktiv sich Jung an der Gestaltung der «Autobiographie» beteiligte, so kritisch und negativ stand er, begreiflicherweise, lange Zeit der Frage ihrer Publikation gegenüber. Er scheute die Reaktion des Publikums, nicht zuletzt wegen der Offenheit, mit der er seine religiösen Erlebnisse und Gedanken preis gegeben hatte. Die Anfeindungen, welche er auf sein Buch «Antwort auf Hiob» hin erfahren hatte, waren noch zu nahe, und das Unverständnis und Mißverstehen der Welt zu schmerzlich. «Ich habe dieses Material mein Leben lang gehütet und nie an die Welt kommen lassen wollen; denn wenn daran etwas passiert, ist man noch mehr getroffen als bei anderen Büchern. Ich weiß nicht, ob ich schon so weit weg von dieser Welt sein werde, daß die Pfeile mich nicht mehr erreichen und ich die negativen Reaktionen werde ertragen können. Ich habe genug am Unverstand gelitten_und_an der Isolierung, in die man kommt, wenn man Sachen sagt, die die Menschen nicht verstehen. Wenn schon das Hiob-Buch auf so viel Unverständnis gestoßen ist, so werden meine Erinnerungen noch viel negativer wirken. Die .Autobiographie" ist mein Leben, betrachtet im Lichte dessen, was ich erarbeitet habe. Das eine ist das andere, und damit ist die Lektüre dieses Buches schwierig für Menschen, die meine Gedanken nicht kennen oder nicht verstehen. Mein Leben ist in gewissem Sinne die Quintessenz dessen, was ich geschrieben habe und nicht umgekehrt. Wie ich bin, und wie


ich schreibe, ist Eines. Alle meine Gedanken und mein ganzes Streben, das bin ich. So ist die »Autobiographie' nur noch das Pünktchen auf dem i.»

Während der Jahre, in denen das Erinnerungsbuch Gestalt annahm, vollzog sich in Jung eine Art Wandlungs- und Objektivierungsprozeß. Mit jedem Kapitel distanzierte er sich sozusagen weiter von sich selber und sah sich, sowie die Bedeutung seines Lebens und Werkes, schließlich wie von ferne. «Wenn ich nach dem Werte meines Lebens frage, so kann ich mich nur messen an den Gedanken der Jahrhunderte, und da muß ich sagen: Ja, es bedeutet etwas. Gemessen an den Gedanken von heute bedeutet es nichts.» Das Unpersönliche dieser Aussage, sowie das Gefühl für historische Kontinuität, die aus diesen Worten sprechen, sind charakteristisch für Jung. Beides tritt im Verlaufe der einzelnen Kapitel noch stärker hervor.

In der Tat ist das Erinnerungsbuch Jungs mit seinen wissenschaftlichen Gedanken eng verwoben. Es gibt aber wohl kaum eine bessere Einführung in die Geisteswelt eines Forschers als die Erzählung, wie er zu seinen Gedanken gekommen ist, und den Bericht über das, was an subjektivem Erleben hinter seinen Erkenntnissen steht. Den Zweck einer gefühlsmäßigen Einführung erfüllt Jungs «Autobiographie» in hohem Maße.

Das Kapitel «Zur Entstehung des Werkes» ist ebenfalls Fragment. Wie könnte es anders sein bei einem mehr als zwanzig Bände umfassenden Gesamtwerk? Auch hätte sich Jung nie bereit gefunden, eine zusammenfassende Übersicht seiner Gedankenwelt zu geben - weder im Gespräch, noch als eine von ihm verfaßte Schrift. Als er einmal dazu aufgefordert wurde, schrieb er in seiner charakteristischen, etwas drastischen Art: «. . . ich muß schon sagen, daß etwas Derartiges gänzlich außerhalb meiner Reichweite liegt. Ich könnte es einfach nicht zustande bringen, das, was ich mit soviel Mühe ausführlich dargestellt habe, in einer kürzeren Form herauszubringen. Ich müßte ja das ganze Beweismaterial draußen lassen und könnte mich nur eines apodiktischen Stiles befleißigen, was die Schwerverständlichkeit meiner Resultate in keiner Weise erleichtern würde. Die für die Familie der Zweihufer charakteristische ruminative Tätigkeit, welche in der Regurgitation des schon Gefressenen besteht, ist für mich das Gegenteil von Appetit erregend . . .»

Der Leser möge also das Kapitel «Zur Entstehung des Werkes» lediglich als einen durch den Augenblick bestimmten Rückblick des alten Meisters auffassen und auf sich wirken lassen.

Das kurze Glossar, das ich auf Wunsch der Verleger dem Buche folgen lasse, vermittelt dem mit Jungs Werk und Terminologie nicht Vertrauten einige einführende Erklärungen. Wenn immer möglich habe ich die Begriffe der Jungschen Psychologie durch Zitate aus seinen Werken umschrieben. Die Zitate können jedoch nur als hinweisende Apercus aufgefaßt werden. Jung hat die von ihm gebrauchten Begriffe immer wieder neu und anders umschrieben und das Unerklärbare, das der psychischen Wirklichkeit anhaftet, als Rätsel oder Geheimnis belassen.

Es sind viele, die mir bei der ebenso schönen wie schwierigen Aufgabe geholfen haben. Sei es, daß sie das langsame Werden mit Interesse begleiteten, sei es, daß sie durch Anregung und Kritik die Arbeit förderten. Ihnen allen gilt mein Dank. Genannt seien an dieser Stelle nur Helene und Kurt Woiff, Locarno, welche der Idee des Buches zur Verwirklichung verhalfen, Marianne und Walther Niehus-Jung, Küsnacht ZH, die mir während der Jahre des Entstehens mit Rat und Tat zur Seite standen, sowie Richard F. C. Hüll, Palma de Mallorca, der mich mit nie erlahmender Geduld hilfreich beriet.

Dezember 1961 Amela Jaffe

Prolog

Mein Leben ist die Geschichte einer Selbstverwirklichung des Unbewußten. Alles, was im Unbewußten liegt, will Ereignis werden, und auch die Persönlichkeit will sich aus ihren unbewußten Bedingungen entfalten und sich als Ganzheit erleben. Um diesen Werdegang bei mir darzustellen, kann ich mich nicht der wis senschaftlichen Sprache bedienen; denn ich kann mich nicht als wissenschaftliches Problem erfahren.

Was man der inneren Anschauung nach ist, und was der Mensch sub specie aeternitatis zu sein scheint, kann man nur durch einen Mythus ausdrücken. Er ist individueller und drückt das Leben genauer aus als Wissenschaft. Sie arbeitet mit Durchschnittsbegriffen, die zu allgemein sind, als daß sie der subjektiven Vielfalt eines einzelnen Lebens gerecht werden könnten.

So habe ich es heute, in meinem dreiundachtzigsten Lebensjahr, unternommen, den Mythus meines Lebens zu erzählen. Ich kann jedoch nur unmittelbare Feststellungen machen, nur «Geschichten erzählen». Ob sie wahr sind, ist kein Problem. Die Frage ist nur, ist es mein Märchen, meine Wahrheit?

Das Schwierige an der Gestaltung einer Autobiographie liegt darin, daß man keinen Maßstab besitzt, keinen objektiven Boden, von dem aus man urteilen könnte. Es gibt keine richtigen Vergleichsmöglichkeiten. Ich weiß, daß ich in vielem nicht bin wie andere, ich weiß aber nicht, wie ich wirklich bin. Der Mensch kann sich mit nichts vergleichen: er ist kein Affe, keine Kuh, kein Baum. Ich bin ein Mensch. Aber was ist das? Wie jedes Wesen bin auch ich von der unendlichen Gottheit abgespalten, aber ich kann mich mit keinem Tier konfrontieren, mit keiner Pflanze und keinem Stein. Nur ein mythisches Wesen reicht über den Menschen hinaus. Wie kann man da über sich irgendwelche definitiven Meinungen haben?

Man ist ein psychischer Ablauf, den man nicht beherrscht, oder doch nur zum Teil. Infolgedessen hat man kein abgeschlossenes Urteil über sich oder über sein Leben. Sonst wüßte man alles dar


über, aber das bildet man sich höchstens ein. Im Grunde genommen weiß man nie, wie alles gekommen ist. Die Geschichte eines Lebens fängt irgendwo an, an irgendeinem Punkt, den man gerade eben erinnert, und schon da war es hochkompliziert. Was das Leben wird, weiß man nicht. Darum hat die Geschichte keinen Anfang, und das Ziel ist nur ungefähr anzugeben.

Das Leben des Menschen ist ein fragwürdiger Versuch. Es ist nur zahlenmäßig eine ungeheure Erscheinung. Es ist so flüchtig, so ungenügend, daß es geradezu ein Wunder ist, wenn etwas existieren und sich entfalten kann. Das hat mich als jungen Medizinstudenten schon beeindruckt, und es schien mir wie ein Wunder, wenn ich nicht vor der Zeit zerstört werden sollte.

Das Leben ist mir immer wie eine Pflanze vorgekommen, die aus ihrem Rhizom lebt. Ihr eigentliches Leben ist nicht sichtbar, es steckt im Rhizom. Das, was über dem Boden sichtbar wird, hält nur einen Sommer. Dann verwelkt es - eine ephemere Erscheinung. Wenn man an das endlose Werden und Vergehen des Lebens und der Kulturen denkt, erhält man den Eindruck absoluter Nichtigkeit;


aber ich habe nie das Gefühl verloren für etwas, das unter dem ewigen Wechsel lebt und dauert. Was man sieht, ist die Blüte, und die vergeht. Das Rhizom dauert.

Im Grunde genommen sind mir nur die Ereignisse meines Lebens erzählenswert, bei denen die unvergängliche Welt in die vergängliche einbrach. Darum spreche ich hauptsächlich von den inneren Erlebnissen. .Zu ihnen gehören meine Träume und Imaginationen. Sie bilden zugleich den Urstoff meiner wissenschaftlichen Arbeit. Sie waren wie feurig-flüssiger Basalt, aus welchem sich der zu bearbeitende Stein auskristallisiert.

Neben den inneren Ereignissen verblassen die anderen Erinnerungen, Reisen, Menschen und Umgebung. Zeitgeschichte haben viele erlebt und darüber geschrieben; man kann es besser bei ihnen nachlesen oder sich davon erzählen lassen. Die Erinnerung an die äußeren Fakten meines Lebens ist mir zum größten Teil verblaßt oder entschwunden. Aber die Begegnungen mit der anderen Wirklichkeit, der Zusammenprall mit dem Unbewußten haben sich meinem Gedächtnis unverlierbar eingegraben. Da war immer Fülle und Reichtum, und alles andere trat dahinter zurück.

So wurden mir auch Menschen zu unverlierbaren Erinnerungen nur vermöge des Umstandes, daß im Buche meines Schicksals ihr


Name schon seit jeher eingetragen stand und das Bekanntwerden mit ihnen auch zugleich etwas wie ein Wiedererinnern war.

Auch die Dinge, die in der Jugend oder später von außen an mich herankamen und mir bedeutsam wurden, standen im Zeichen des inneren Erlebnisses. Sehr früh war ich zu der Einsicht gekommen, daß wenn es auf die Verwicklungen des Lebens keine Antwort und keine Lösung von Innen her gibt, sie letzten Endes wenig besagen. Die äußeren Umstände können die inneren nicht ersetzen. Darum ist mein Leben arm an äußeren Ereignissen. Ich kann nicht viel davon erzählen; denn es käme mir leer oder wesenlos vor. Ich kann mich nur aus den inneren Geschehnissen verstehen. Sie machen das Besondere meines Lebens aus, und von ihnen handelt meine «Autobiographie».

Kindheit

Ein halbes Jahr nach meiner Geburt (1875) zogen meine Eltern von Keßwil (Kanton Thurgau) am Bodensee in die Pfarrei des Schlosses Laufen oberhalb des Rheinfalls.

Meine Erinnerungen beginnen etwa mit dem zweiten oder dritten Jahr. Ich erinnere mich an das Pfarrhaus, den Garten, das Buchihüsli, die Kirche, das Schloß, den Rheinfall, das Schlößchen Wörth und den Bauernhof des Meßmers. Es sind lauter Erinnerungsinseln, die in einem unbestimmten Meere schwimmen, anscheinend ohne Verbindung.

Da taucht eine Erinnerung auf, vielleicht die früheste meines Lebens und darum nur ein ziemlich vager Eindruck: Ich liege in einem Kinderwagen, im Schatten eines Baumes. Es ist ein schöner warmer Sommertag, blauer Himmel. Goldenes Sonnenlicht spielt durch grüne Blätter. Das Dach des Wagens ist aufgezogen. Ich bin eben erwacht in der herrlichen Schönheit und fühle unbeschreibliches Wohlbehagen. Ich sehe die Sonne durch die Blätter und Blüten der Bäume glitzern. Alles ist höchst wunderbar, farbig und herrlich.

Eine andere Erinnerung: Ich sitze in unserem Eßzimmer auf der Westseite des Hauses in einem hohen Kinderstuhl und löffle warme Milch mit Brotbröckchen drin. Die Milch hat einen Wohlgeschmack und einen charakteristischen Geruch. Es war das erste Mal, daß ich den Geruch bewußt wahrnahm. Das war der Augenblick, als ich mir sozusagen über das Riechen bewußt geworden bin. Diese Erinnerung geht auch sehr weit zurück.

Oder: ein schöner Sommerabend. Eine Tante sagt: «Jetzt will ich dir etwas zeigen.» Sie ging mit mir vors Haus, auf die Straße nach Dachsen. Weit unten am Horizont lag die Alpenkette in glühendem Abendrot. Man sah sie an jenem Abend ganz klar. «Lueg jetz dert, die Barg sind alli rot.» Da sah ich zum ersten Mal die Alpen! Dann hörte ich, daß die Kinder von Dachsen morgen einen Schulausflug nach Zürich auf den Uetliberg machen würden. Ich wollte durchaus mit. Zu meinem Schmerz wurde ich belehrt, daß so kleine Kinder nicht mit dürften, da sei halt


nichts zu machen. Von da an waren Zürich und der Uetliberg das unerreichbare Wunschland, nahe bei den glühenden Schneebergen.

Aus etwas späterer Zeit: meine Mutter fuhr mit mir in den Thurgau, um Freunde zu besuchen. Sie hatten ein Schloß am Bodensee. Da war ich vom Ufer nicht wegzubringen. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser. Die Wellen vom Dampfer kamen ans Ufer. Sie hatten den Sand auf dem Grunde zu kleinen Rippen geformt. Der See dehnte sich in unabsehbare Ferne, und diese Weite war ein unvorstellbarer Genuß, eine Herrlichkeit ohnegleichen. Damals setzte sich die Idee bei mir fest, ich müsse an einem See leben. Ohne Wasser, so dachte ich, könne man überhaupt nicht sein.

Noch eine andere Erinnerung: fremde Leute, Geschäftigkeit, Aufregung. Die Magd kam gerannt: «Die Fischer haben eine Leiche gelandet — über den Rheinfall hinunter — sie wollen sie ins Waschhaus bringen.» Mein Vater sagte: «Ja - ja.» Ich wollte die Leiche sofort sehen. Meine Mutter hielt mich zurück und verbot mir streng, in den Garten zu gehen. Als die Männer fortgegangen waren, eilte ich heimlich durch den Garten zum Waschhaus. Aber die Türe war verschlossen. Dann ging ich ums Haus herum. Auf der hinteren Seite befand sich ein offener Ablauf zum Hang hinunter. Da tröpfelte Wasser und Blut heraus. Das interessierte mich außerordentlich. Ich war damals noch nicht vier Jahre alt.

Ein anderes Bild taucht auf: Ich bin unruhig, fiebrig, schlaflos. Mein Vater trägt mich auf den Armen, geht im Zimmer auf und ab und singt dabei seine alten Studentenlieder. Ich erinnere mich namentlich an eines, das mir besonders gefiel und mich immer beruhigt hat. Es war das sogenannte Lied vom Landesvater: «Alles schweige, jeder neige . . .» so etwa lautete der Anfang. Ich erinnere mich heut noch an die Stimme meines Vaters, der in der Stille der Nacht über mir sang.

Ich litt, wie meine Mutter mir nachträglich erzählte, an einem allgemeinen Ekzem. Dunkle Andeutungen über Schwierigkeiten in der Ehe der Eltern umschwebten mich. Meine Krankheit muß wohl im Zusammenhang gestanden haben mit einer temporären Trennung meiner Eltern (1878). Meine Mutter war damals während mehrerer Monate im Spital in Basel, und vermutlich war ihr Leiden die Folge ihrer Enttäuschung in der Ehe. Damals betreute mich eine Tante, an die zwanzig Jahre älter als meine Mutter. Die lange Abwesenheit meiner Mutter hat mir schwer zu schaffen gemacht. Seit jener Zeit war ich immer mißtrauisch sobald das Wort «Liebe» fiel. Das Gefühl, das sich mir mit dem «Weiblichen» verband, war lange Zeit: natürliche Unzuverlässigkeit. «Vater» bedeutete für mich Zuverlässigkeit und — Ohnmacht. Dies ist das handicap, mit dem ich angetreten bin. Später wurde dieser frühe Eindruck revidiert. Ich habe geglaubt. Freunde zu haben, und bin von ihnen enttäuscht worden, und ich war mißtrauisch gegenüber Frauen und bin nicht enttäuscht worden.

Während meine Mutter fort war, hat sich auch unser Mädchen meiner angenommen. Ich weiß noch, wie sie mich auf den Arm hob und ich den Kopf an ihre Schulter legte. Sie hatte schwarze Haare und einen olivenfarbenen Teint und war ganz anders als meine Mutter. Ich erinnere mich an den Haaransatz, den Hals mit der stark pigmentierten Haut und das Ohr. Das kam mir so fremdartig vor und doch so merkwürdig bekannt. Es war, als gehörte sie nicht zu meiner Familie, sondern nur zu mir, und als hinge sie auf eine mir unbegreifliche Weise mit anderen geheimnisvollen Dingen zusammen, die ich nicht verstehen konnte. Der Typus des Mädchens wurde später zu einem Aspekt meiner Anima. Das Gefühl des Fremden und doch Urbekannten, das sie vermittelte, war das Charakteristikum jener Figur, die mir später den Inbegriff des Weiblichen darstellte.

In die Zeit der Trennung meiner Eltern fällt noch ein anderes Erinnerungsbild: Ein junges, sehr hübsches, liebenswürdiges Mädchen mit blauen Augen und blondem Haar führt mich an einem blauen Herbsttag unter goldenen Ahorn - und Kastanienbäumen spazieren. Wir gingen den Rhein entlang unterhalb des Wasserfalls beim Schlößchen Wörth. Die Sonne schien durch das Laub, und goldene Blätter lagen am Boden. Das junge Mädchen ist später meine Schwiegermutter geworden. Sie bewunderte meinen Vater. Erst mit einundzwanzig Jahren habe ich sie wieder gesehen.

Das sind meine «äußeren» Erinnerungen. Was jetzt folgt, sind stärkere, ja überwältigende Dinge, an die ich mich zum Teil nur dunkel erinnere: ein Sturz die Treppe hinunter, ein Fall gegen das kantige Ofenbein. Ich erinnere mich an Schmerzen und Blut, ein Arzt näht mir eine Kopfwunde, deren Narbe noch bis in meine späte Gymnasialzeit sichtbar war. Meine Mutter erzählte mir, daß ich einmal mit der Magd über die Rheinfallbrücke nach Neuhausen ging, plötzlich hinfiel und mit einem Bein unter das Geländer glitt. Das Mädchen konnte mich gerade noch erwischen und zurück


reißen. Diese Dinge weisen auf einen unbewußten Selbstmorddrang. beziehungsweise auf einen fatalen Widerstand gegen das Leben in dieser Welt.

Es bestanden damals unbestimmte Ängste in der Nacht. Es gingen Dinge um. Immer hörte man das dumpfe Tosen des Rheinfalls, und darum herum lag eine Gefahrenzone. Menschen ertranken, eine Leiche fiel über die Felsen. Auf dem nahen Gottesacker macht der Meßmer ein Loch; braun aufgeschüttete Erde. Schwarze feierliche Männer in Gehröcken, mit ungewohnten hohen Hüten und blankgewichsten schwarzen Schuhen bringen eine schwarze Kiste. Mein Vater ist auch dabei im Talar und spricht mit hallender Stimme. Frauen weinen. Es heißt, man begrabe jemanden in diese Grube hinunter. Man sah gewisse Leute plötzlich nicht mehr, die vorher da gewesen waren. Ich hörte, sie seien begraben oder der «her Jesus» habe sie zu sich genommen.

Meine Mutter hatte mich ein Gebet gelehrt, das ich jeden Abend beten mußte. Ich tat es auch gern, weil es mir ein gewisses komfortables Gefühl gab in Hinsicht auf die unbestimmten Unsicherheiten der Nacht:

Breit aus die Flügel beide,


0 Jesu meine Freude


Und nimm dein Küchlein ein .


Will Satan es verschlingen,


So laß die Englein singen:


Dies Kind soll unverletzet sein.

«Dr her Jesus» war komfortabel, ein netter wohlwollender «her» wie der «her» Wegenstein im Schloß — reich, mächtig, angesehen und achtsam in bezug auf Kinder in der Nacht. Warum er geflügelt sein sollte wie ein Vogel, war ein kleines Wunder, das mich aber nicht weiter störte. Viel bedeutsamer und Anlaß zu vielen Betrachtungen war aber die Tatsache, daß kleine Kinder mit «Chüechli»1 verglichen wurden, welche von dem «h er Jesus» offenbar nur widerwillig wie eine bittere Medizin «eingenommen» wurden. Das war mir schwer verständlich. Ich begriff aber ohne weiteres, daß Satan die Chüechli gern hatte und darum verhindert werden mußte, sie zu verschlingen. Obschon also der «h er Jesus» sie nicht mag, so ißt er sie dennoch dem Satan weg. Soweit war

* Schweizer Dialekt: kleine Kuchen.

mein Argument «komfortabel». Nun aber hieß es auch, daß der «her Jesus» überhaupt auch andere Leute «zu sich nähme», was mit Verlochung in der Erde gleichbedeutend war.

Der sinistre Analogieschluß hatte fatale Folgen. Ich fing an, dem «her Jesus» zu mißtrauen. Er verlor seinen Aspekt als großer, komfortabler und wohlwollender Vogel und wurde mit den finstern, schwarzen Männern im Gehrock, mit Zylinder und schwarzen blank gewichsten Schuhen, die mit der schwarzen Kiste zu tun hatten, assoziiert.

Diese meine Ruminationen führten zu meinem ersten bewußten Trauma. An einem heißen Sommertag saß ich, wie gewöhnlich, allein auf der Straße vor dem Haus und spielte im Sand. Die Straße lief vor dem Haus vorbei zu einem Hügel, an dem sie emporstieg und sich oben im Wald verlor. Man konnte daher vom Haus aus eine große Strecke des Weges überblicken. Auf dieser Straße sah ich nun eine Gestalt mit breitem Hut und langem schwarzem Gewand vom Wald herunter kommen. Sie sah aus wie ein Mann, der eine Art Frauengewand trug. Die Gestalt kam langsam näher, und ich konnte feststellen, daß es tatsächlich ein Mann war, der eine Art bis auf die Füße reichenden, schwarzen Rock trug. Bei seinem Anblick befiel mich Furcht, die rasch zu tötlichem Schrecken anwuchs, denn in mir formte sich die entsetzenerregende Erkenntnis: «Das ist ein Jesuit!» Kurz zuvor hatte ich nämlich einem Gespräch zugehört, das mein Vater mit einem Amtskollegen über die Umtriebe der «Jesuiten» führte. Aus dem halb ärgerlichen, halb ängstlichen Gefühlston seiner Bemerkungen erhielt ich den Eindruck, daß «Jesuiten» etwas besonders Gefährliches, sogar für meinen Vater, darstellten. Im Grunde wußte ich nicht, was «Jesuiten» bedeutete. Aber das Wort Jesus kannte ich aus meinem Gebetlein.

Der Mann, der die Straße herunterkam, war offenbar verkleidet, dachte ich. Darum trug er Frauenkleider. Wahrscheinlich hatte er böse Absichten. Mit Todesschrecken rannte ich spornstreichs ins Haus, die Treppe hinauf bis auf den Estrich, wo ich mich unter einem Balken in einem finstern Winkel verkroch. Ich weiß nicht, wie lange ich dort blieb. Es muß aber ziemlich lange gewesen sein, denn als ich vorsichtig wieder in den ersten Stock hinunterstieg und mit äußerster Behutsamkeit den Kopf zum Fenster hinausstreckte, war weit und breit keine Spur mehr von der schwarzen Gestalt zu sehen. Der Höllenschrecken lag mir aber noch tagelang


in den Gliedern und bewog mich, im Hause zu bleiben. Und wenn ich später wieder auf der Straße spielte, so war mir doch der Waldrand ein Gegenstand unruhiger Aufmerksamkeit. Später wurde es mir natürlich klar, daß die schwarze Figur ein sehr harmloser katholischer Priester gewesen war.

Ungefähr zur selben Zeit — ich könnte nicht einmal mit absoluter Sicherheit sagen, ob es nicht vor dem eben erwähnten Ereignis war — erlebte ich meinen ersten Traum, an den ich mich erinnern kann, und der mich sozusagen mein Leben lang beschäftigen sollte. Ich war damals drei oder vier Jahre alt.

Das Pfarrhaus steht allein beim Schloß Laufen, und hinter dem Hof des Meßmers liegt eine große Wiese. Im Traum stand ich auf dieser Wiese. Dort entdeckte ich plötzlich ein dunkles, rechteckiges, ausgemauertes Loch in der Erde. Ich hatte es noch nie zuvor gesehen. Neugierig trat ich näher und blickte hinunter. Da sah ich eine Steintreppe, die in die Tiefe führte. Zögernd und furchtsam stieg ich hinunter. Unten befand sich eine Türe mit Rundbogen, durch einen grünen Vorhang abgeschlossen. Der Vorhang war groß und schwer, wie aus gewirktem Stoff oder aus Brokat, und es fiel mir auf, daß er sehr reich aussah. Neugierig, was sich dahinter wohl verbergen möge, schob ich ihn beiseite und erblickte einen zirka zehn Meter langen rechteckigen Raum in dämmerigem Lichte. Die gewölbte Decke bestand aus Steinen, und auch der Boden war mit Steinfliesen bedeckt. In der Mitte lief ein roter Teppich vom Eingang bis zu einer niedrigen Estrade. Auf dieser stand ein wunderbar reicher goldener Thronsessel. Ich bin nicht sicher, aber vielleicht lag ein rotes Polster darauf. Der Sessel war prachtvoll, wie im Märchen, ein richtiger Königssessel! Darauf stand nun etwas. Es war ein riesiges Gebilde, das fast bis an die Decke reichte. Zuerst meinte ich, es sei ein hoher Baumstamm. Der Durchmesser betrug etwa fünfzig bis sechzig Zentimeter und die Höhe etwa vier bis fünf Meter. Das Gebilde war aber von merkwürdiger Beschaffenheit: es bestand aus Haut und lebendigem Fleisch, und obendrauf war eine Art rundkegelförmigen Kopfes ohne Gesicht und ohne Haare; nur ganz oben auf dem Scheitel befand sich ein einziges Auge, das unbewegt nach oben blickte.

Im Raum war es relativ hell, obschon er keine Fenster und kein Licht hatte. Es herrschte aber über dem Kopf eine gewisse Helligkeit. Das Ding bewegte sich nicht, jedoch hatte ich das Gefühl, als ob es jeden Augenblick wurmartig von seinem Throne herunter


kommen und auf mich zu kriechen könnte. Vor Angst war ich wie gelähmt. In diesem unerträglichen Augenblick hörte ich plötzlich meiner Mutter Stimme wie von außen und oben, welche rief: «Ja, schau ihn dir nur an. Das ist der Menschenfresser!» Da bekam ich einen Höllenschrecken und erwachte, schwitzend vor Angst. Von da an hatte ich viele Abende lang Angst einzuschlafen, weil ich fürchtete, ich könnte wieder einen ähnlichen Traum haben.

Dieser Traum hat mich Jahre hindurch beschäftigt. Erst sehr viel später entdeckte ich, daß das merkwürdige Gebilde ein Phallus war, und erst nach Jahrzehnten, daß es ein ritueller Phallus war. Ich konnte nie ausmachen, ob meine Mutter meinte «Das ist der Menschenfresser», oder «Das ist der Menschenfresser». In ersterem Fall hätte sie gemeint, daß nicht «Jesus» oder der «Jesuit» der Kinderfresser sei, sondern der Phallus; in letzterem, daß der Menschenfresser im allgemeinen durch den Phallus dargestellt sei, also daß der dunkle «her Jesus», der Jesuit und der Phallus identisch seien.

Die abstrakte Bedeutung des Phallus ist dadurch gekennzeichnet, daß das Glied für sich ithyphallisch (=aufrecht) inthronisiert ist. Das Loch in der Wiese stellte wohl ein Grab dar. Das Grab selber ist ein unterirdischer Tempel, dessen grüner Vorhang an die Wiese erinnert, hier also das Geheimnis der mit grüner Vegetation bedeckten Erde darstellt. Der Teppich war blutrot. Woher das Gewölbe? Bin ich damals schon auf dem Munot, dem Bergfried von Schaffhausen, gewesen? Nicht wahrscheinlich, man würde ein dreijähriges Kind kaum dorthin führen. Also kann es sich nicht um einen Erinnerungsrest handeln. Ebenso ist die Quelle für den anatomisch richtigen Ithyphallus unbekannt. Deutung des orificium ure thrae als Auge, und darüber anscheinend eine Lichtquelle, weist auf die Etymologie des Phallus hin ( = leuchtend, glänzend)1.

Der Phallus dieses Traumes scheint auf alle Fälle ein unterirdischer und nicht zu erwähnender Gott zu sein. Als solcher ist er mir durch meine ganze Jugend geblieben und hat jeweils angeklungen, wenn vom Herrn Jesus Christus etwas zu emphatisch die Rede war. Der «her Jesus» ist mir nie ganz wirklich, nie ganz akzeptabel, nie ganz liebenswert geworden, denn immer wieder dachte ich an seinen unterirdischen Gegenspieler als an eine von mir nicht gesuchte, schreckliche Offenbarung.

2 Ges. Werke V, 1973, pag. 279 f. 19

Die «Verkleidung» des Jesuiten warf ihren Schatten über die mir erteilte christliche Lehre. Sie erschien mir oft wie eine feierliche Maskerade, eine Art Leichenbegängnis. Dort konnten die Leute zwar eine ernsthafte oder traurige Miene aufsetzen, aber handkehrum schienen sie heimlich zu lachen und gar nicht traurig zu sein. Der «her Jesus» kam mir irgendwie als eine Art Totengott vor - zwar hilfreich, indem er nächtlichen Spuk wegschreckte, aber selber unheimlich, weil gekreuzigt und ein blutiger Leichnam. Seine mir stets gepriesene Liebe und Güte erschienen mir heimlich zweifelhaft, besonders auch darum, weil hauptsächlich Leute mit schwarzen Gehröcken und blank gewichsten Schuhen, die mich immer an Begräbnisse erinnerten, vom «lieben Herr Jesus» sprachen. Es waren die Amtskollegen meines Vaters und acht Onkel - alles Pfarrer. Sie flößten mir viele Jahre lang Angst ein - nicht zu reden von gelegentlichen katholischen Priestern, die mich an den gefürchteten «Jesuiten» erinnerten, und Jesuiten hatten sogar meinem Vater Furcht und Ärger verursacht. In den späteren Jahren bis zur Konfirmation gab ich mir zwar die größte Mühe, das geforderte positive Verhältnis zu Christus zu erzwingen. Aber es wollte mir nie gelingen, mein heimliches Mißtrauen zu überwinden.

Die Angst vor dem «schwarzen Mann» hat schließlich jedes Kind, und sie war keineswegs das Wesentliche an jenem Erlebnis, sondern es war die qualvoll in meinem kindlichen Gehirn sich durchringende Erkenntnisformulierung: «Das ist ein Jesuit.» So ist auch in dem Traum die merkwürdige symbolische Aufmachung und die erstaunliche Deutung als «Menschenfresser» das Wesentliche. Nicht das kindliche Gespenst des «Menschenfressers» ist es, sondern daß er auf unterirdischem, goldenem Throne sitzt. Für mein kindliches Bewußtsein von damals saß erstens einmal der König auf einem goldenen Thron, dann aber, auf einem viel schöneren und viel höheren und viel goldeneren Thron, weit im blauen Himmel oben, saßen der liebe Gott und der Herr Jesus mit goldenen Kronen und weißen Kleidern. Von diesem Herrn Jesus kam aber der «Jesuit», in schwarzem Weiberrock, mit einem schwarzen breiten Hut vom Bergwald herunter. Ich mußte noch oft dort hinauf sehen, ob nicht wieder Gefahr drohte.

Im Traum stieg ich hinunter in die Höhle und fand dort ein anderes Wesen auf dem goldenen Thron, unmenschlich und unterweltlich, und es blickte unverwandt nach oben und nährte sich von


Menschenfleisch. Erst volle fünfzig Jahre später brannte mir die Stelle aus einem Kommentar über religiöse Riten in die Augen, in welchem vom anthropophagischen Grundmotiv im Abendmahls symbolismus die Rede ist. Da erst wurde mir klar, wie überaus unkindlich, wie reif, ja sogar wie überreif der Gedanke ist, der sich in diesen beiden Erlebnissen zur Bewußtheit durchzuringen begann. Wer sprach damals in mir? Wessen Geist hat diese Erlebnisse ersonnen? Welche überlegene Einsicht war hier am Werk? Ich weiß, für jeden Flachkopf liegt die Versuchung nahe, vom «schwarzen Mann» und vom «Menschenfresser» und vom «Zufall» und «späterem Hineindeuten» zu faseln, um etwas schrecklich Unbequemes schnell wegzuwischen, damit ja keine familiäre Harmlosigkeit getrübt werde. Ach, diese braven, tüchtigen, gesunden Menschen, sie kommen mir immer vor wie jene optimistischen Kaulquappen, die in einer Regenwasserpfütze dichtgedrängt und freundlich schwänzelnd an der Sonne liegen, im seichtesten aller Gewässer, und nicht ahnen, daß schon morgen die Pfütze ausgetrocknet ist.

Was sprach damals in mir? Wer redete Worte überlegener Problematik? Wer stellte das Oben und das Unten zusammen und legte damit den Grund zu all dem, was die ganze zweite Hälfte meines Lebens mit Stürmen leidenschaftlichster Natur erfüllte? Wer störte ungetrübte, harmloseste Kindheit mit schwerer Ahnung reifsten Menschenlebens? Wer anders als der fremde Gast, der von Oben und von Unten kam?

Durch diesen Kindertraum wurde ich in die Geheimnisse der Erde eingeweiht. Es fand damals sozusagen ein Begräbnis in die Erde statt, und es vergingen Jahre, bis ich wieder hervorkam. Heute weiß ich, daß es geschah , um das größtmögliche Maß von Licht in die Dunkelheit zu bringen. Es war eine Art Initiation in das Reich des Dunkeln. Damals hat mein geistiges Leben seinen unbewußten Anfang genommen.

An unsere Übersiedlung nach Klein-Hüningen bei Basel 1879 erinnere ich mich nicht mehr, wohl aber an ein Ereignis, das einige Jahre später stattfand: Eines Abends nahm mich mein Vater aus dem Bett und trug mich auf seinem Arm auf unsere nach Westen gelegene Laube und zeigte mir den Abendhimmel, der im herrlichsten Grün schimmerte. Das war nach dem Ausbruch des Krakatau, 1883.

Ein andermal nahm mich mein Vater ins Freie und zeigte mir einen großen Kometen, der am östlichen Horizont stand.


Einmal gab es eine große Überschwemmung. Der Fluß Wiese, der durch das Dorf fließt, hatte die Dämme gebrochen. Im Oberlauf war eine Brücke eingestürzt. Vierzehn Leute waren ertrunken und wurden vom gelben Wasser zum Rhein hinuntergeschwemmt. Als das Wasser zurückging, hieß es, es lägen Leichen im Sande. Da gab es für mich kein Halten mehr. Ich fand die Leiche eines Mannes in mittlerem Alter, in einem schwarzen Gehrock offenbar gerade aus der Kirche gekommen! Halb von Sand zugedeckt lag er da, den Arm über den Augen. Zum Entsetzen meiner Mutter faszinierte es mich auch, zuzusehen, wie ein Schwein geschlachtet wurde. All diese Dinge waren für mich von größtem Interesse.

In jene Klein -Hüninger Jahre reichen auch meine frühesten Erinnerungen an die 'bildende Kunst. Im elterlichen Hause, dem Pfarrhaus aus dem 18. Jahrhundert, gab es ein feierliches dunkles Zimmer. Dort standen die guten Möbel, und an den Wänden hingen alte Gemälde. Ich erinnere mich vor allem an ein italienisches Bild, welches David und Goliath darstellte. Es war eine Spiegelkopie aus der Werkstatt des Guido Reni, das Original hängt im Louvre. Wie es in unsere Familie gekommen ist, weiß ich nicht. Noch ein anderes altes Gemälde hing dort, das sich jetzt im Hause meines Sohnes befindet; es war ein Basler Landschaftsbild aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts. Oft schlich ich heimlich in den abgelegenen dunkeln Raum und saß stundenlang vor den Bildern, um diese Schönheit anzusehen. Es war ja das einzige Schöne, das ich kannte.

Einmal hat mich damals — ich war noch sehr klein, etwa sechs Jahr alt eine Tante mit nach Basel genommen und mir die ausgestopften Tiere im Museum gezeigt. Wir verweilten uns lange dort, weil ich alles ganz genau ansehen wollte. Um vier Uhr ertönte das Glockensignal zum Zeichen, daß das Museum geschlossen würde. Meine Tante drängte, aber ich konnte mich nicht von den Schaukästen trennen. So war mittlerweile der Saal geschlossen worden, und wir mußten auf einem anderen Weg zur Treppe gelangen, nämlich durch die Antiken-Galerie. Plötzlich stand ich vor diesen herrlichen Gestalten! Ganz überwältigt riß ich die Augen auf, denn noch nie hatte ich etwas derart Schönes gesehen. Ich konnte nicht genug schauen. Meine Tante zerrte mich an der Hand zum Aus


gang - ich immer ein Stück hinter ihr - und rief: «Abscheulige Bueb, tue d'Auge zue, abscheulige Bueb, tue d'Auge zue!» Erst in dem Augenblick bemerkte ich, daß die Gestalten nackt waren und Feigenblätter trugen! Das hatte ich vorher gar nicht gesehen. So verlief mein erster Zusammenstoß mit der schönen Kunst. Meine Tante war in heller Entrüstung, wie wenn sie durch ein pornographisches Institut hindurchgeschleust worden wäre.

Als ich sechs Jahre alt war, machten meine Eltern mit mir einen Ausflug nach Ariesheim. Bei dieser Gelegenheit trug meine Mutter ein Kleid, das mir unvergeßlich geblieben ist und zugleich das einzige darstellt, das ich an ihr erinnere: es war ein schwarzer Stoff, bedruckt mit kleinen grünen Halbmonden. In diesem frühesten Erinnerungsbild erscheint meine Mutter als eine schlanke junge Frau. In meinen anderen Erinnerungen ist sie stets älter und korpulent.

Wir kamen zu einer Kirche, und meine Mutter sagte: «Das ist eine katholische Kirche.» - Meine Neugier, untermischt mit Angst, ließ mich der Mutter entlaufen, um durch die offene Tür ins Innere zu blicken. Ich sah gerade noch die großen Kerzen auf einem reichgeschmückten Altar (es war um die Osterzeit), als ich plötzlich über eine Stufe stolperte und mit dem Kinn auf ein Scharreisen aufschlug. Ich weiß nur, daß mich meine Eltern mit einer stark blutenden Wunde auflasen. Ich war in einem merkwürdigen Gemütszustand. Einerseits schämte ich mich, daß ich infolge meines Geschreis die Aufmerksamkeit der Kirchgänger auf mich gezogen hatte, andererseits hatte ich das Gefühl, etwas Verbotenes angestellt zu haben: Jesuiten - grüner Vorhang - Geheimnis des Menschenfressers . .. Das ist also die katholische Kirche, die mit Jesuiten zu tun hat. Die sind schuld daran, daß ich gestolpert bin und geschrien habe!

Jahrelang konnte ich keine katholische Kirche mehr betreten ohne geheime Angst vor Blut, Hinfallen und Jesuiten. Das war der Ton oder die Atmosphäre, von der sie umwittert war. Aber immer hat sie mich fasziniert. Die Nähe eines katholischen Priesters war womöglich noch unbehaglicher. Erst in meinen Dreißigerjahren, als ich den Stephansdom in Wien betrat, konnte ich die Mater Ecciesia ohne Beschwernis fühlen.

Mit sechs Jahren begannen meine Lateinstunden, die mir mein Vater erteilte. Ich ging nicht ungern zur Schule. Sie fiel mir leicht, da ich den ändern immer voraus war. Ich konnte auch schon lesen,


bevor ich in die Schule kam. Ich erinnere mich aber an die Zeit, als ich noch nicht lesen konnte, dafür aber meine Mutter plagte, mir vorzulesen, und zwar aus dem «Orbis pictus», einem alten Kinderbuch', in dem sich eine Darstellung exotischer Religionen fand, insbesondere der indischen. Es gab Abbildungen von Brahma, Vishnu und Shiva, die mich mit unerschöpflichem Interesse erfüllten. Meine Mutter erzählte mir später, daß ich immer wieder auf sie zurückgekommen sei. Ich hatte dabei das dunkle Gefühl von Verwandtschaft mit meiner «Uroffenbarung», über die ich nie zu jemandem gesprochen hatte. Sie war mir ein nicht zu verratendes Geheimnis. Ich wurde darin von meiner Mutter indirekt bestätigt, da mir der Ton leichter Verachtung, in dem sie von den «Heiden» sprach, nicht entging. Ich wußte, daß sie meine «Offenbarung» mit Entsetzen abgewiesen hätte. Einer solchen Verletzung wollte ich mich nicht aussetzen.

Dieses unkindliche Verhalten hing einerseits mit einer großen Sensitivität und Verletzlichkeit zusammen, andererseits - und dies in besonderem Maße — mit der großen Einsamkeit meiner frühen Jugend. (Meine Schwester war neun Jahre jünger als ich.) Ich spielte allein und auf meine Manier. Leider kann ich mich nicht an das erinnern, was ich spielte, sondern nur daran, daß ich nicht gestört sein wollte. Ich war mit Andacht in meine Spiele versunken und konnte es nicht ausstehen, dabei beobachtet oder beurteilt zu werden. Ich erinnere mich aber, daß ich in meinem siebenten bis achten Jahre leidenschaftlich gerne mit Bauklötzchen spielte und Türme baute, die ich mit Wonne durch «Erdbeben» zerstörte. Zwischen dem achten und elften Jahr zeichnete ich endlos Schlachtenbilder, Belagerungen, Beschießungen, auch Seeschlachten. Dann füllte ich ein ganzes Heft mit Klecksographien und ergötzte mich an deren phantastischer Ausdeutung. Die Schule war mir deshalb lieb, weil ich dort endlich die längst entbehrten Spielgefährten fand.

Ich fand aber noch etwas anderes, das zu einer merkwürdigen Reaktion in mir führte. Bevor ich davon erzähle, möchte ich erwähnen, daß die nächtliche Atmosphäre sich zu verdichten begann. Es ging allerhand vor, Ängstliches und Unverständliches. Meine Eltern schliefen getrennt. Ich schlief im Zimmer des Vaters. Aus der Tür zum Zimmer der Mutter kamen beängstigende Einflüsse. Nachts war die Mutter unheimlich und geheimnisvoll. Eines nachts

' Nicht zu verwechseln mit dem «Orbis pictus» von J. A. Comenius. sah ich aus ihrer Tür eine etwas luminose, unbestimmte Gestalt treten, deren Kopf sich nach vorn vom Hals abhob und in die Luft vorausschwebte, wie ein kleiner Mond. Sofort entstand ein neuer Kopf, der sich wieder abhob. Dieser Prozeß wiederholte sich sechs- bis siebenmal. Ich hatte Angstträume von Dingen, die bald groß, bald klein waren. So z. B. eine kleine Kugel in weiter Entfernung, die sich allmählich annäherte und dabei ins Ungeheure und Erdrückende wuchs, oder Telegraphendrähte, auf denen Vögel saßen. Die Drähte wurden immer dicker, und meine Angst wurde immer größer, bis ich daran erwachte.

Obschon diese Träume auf der physiologischen Vorbereitung der Adoleszenz beruhten, hatten sie doch ein Vorspiel, etwa im siebenten Jahr: Damals litt ich an Pseudocroup mit Erstickungsanfällen. Während dieser Anfälle stand ich auf dem Bett am Fußende hintenüber gebeugt, und mein Vater hielt mich unter den Armen. Über mir sah ich einen blauen leuchtenden Kreis von der Größe des Vollmondes, und darin bewegten sich goldene Gestalten, die ich für Engel hielt. Diese Vision beschwichtigte jeweils die Erstickungsangst. In den Träumen taucht sie jedoch wieder auf. Ein psychogenes Moment scheint mir dabei die entscheidende Rolle gespielt zu haben: die geistige Atmosphäre hatte angefangen, irrespirabel zu werden.

Ich ging höchst ungern in die Kirche. Der Weihnachtstag bildete die einzige Ausnahme. Der Weihnachtschoral: «Dies ist der Tag, den Gott gemacht» gefiel mir über die Maßen. Am Abend kam der Weihnachtsbaum. Das ist das einzige christliche Fest, das ich mit Inbrunst feierte. Alle anderen Feste ließen mich kalt. An zweiter Stelle kam der Silvesterabend. Die Adventszeit hatte etwas an sich, das mit der kommenden Weihnacht nicht recht übereinstimmen wollte. Es hatte mit Nacht, Wetter und Wind zu tun, auch mit der Dunkelheit des Hauses. Es raunte etwas — es ging etwas um.

In jene frühe Kinderzeit fiel eine Entdeckung, die ich im Umgang mit meinen ländlichen Schulkameraden machte: sie alienierten mich. Ich wurde anders mit ihnen, als wenn ich Zuhause allein war. Ich machte Streiche mit oder erfand selber solche, die mir zu-hause, wie es mir schien, nie eingefallen wären. Ich wußte zwar nur zu gut, daß ich auch, wenn ich allein Zuhause war, allerhand aushecken konnte. Es schien mir aber, daß ich meine Veränderung dem Einfluß meiner Kameraden verdankte, die mich irgendwie verführten oder anders zu sein zwangen, als ich zu sein meinte. Der


Einfluß der weiteren Welt, in der ich andere Leute als meine Eltern kennen lernte, erschien mir zweifelhaft, wenn nicht überhaupt verdächtig, und in dunkler Weise feindselig. In zunehmendem Maße nahm ich die Schönheit der hellen Tageswelt wahr, wo «goldenes Sonnenlicht durch grüne Blätter spielt». Gleich daneben aber ahnte ich eine unabweisbare Schattenwelt mit beängstigenden unbeantwortbaren Fragen, denen ich mich ausgeliefert fühlte. Mein Nachtgebet gab mir zwar einen rituellen Schutz, indem es den Tag richtig abschloß und ebenso richtig die Nacht und den Schlaf einleitete. Die neue Gefahr aber lauerte am Tage. Es war, wie wenn ich eine Entzweiung meiner selbst fühlte und befürchtete. Meine innere Sicherheit war bedroht.

Ich erinnere mich, daß ich in dieser Zeit (siebentes bis neuntes Jahr) gern mit Feuer spielte. In unserem Garten stand eine alte Mauer aus großen Steinblöcken, deren Zwischenräume interessante Höhlen bildeten. In diesen pflegte ich ein kleines Feuer zu unterhalten, wobei mir andere Kinder halfen — ein Feuer, das «immer» brennen und darum stets unterhalten werden mußte. Dazu bedurfte es unserer vereinten Anstrengungen, die im Sammeln des nötigen Holzes bestanden. Niemand anderer durfte dieses Feuer besorgen als ich. Die anderen konnten in anderen Höhlen andere Feuer anzünden, aber diese Feuer waren profan und gingen mich nichts an. Mein Feuer allein war lebendig und hatte einen unverkennbaren Beigeschmack von Heiligkeit. Das war damals für lange Zeit mein beliebtestes Spiel.

Vor dieser Mauer zog sich ein Abhang entlang, in welchem ein Stein eingebettet lag, der etwas hervorragte - mein Stein, öfters, wenn ich allein war, setzte ich mich auf ihn, und dann begann ein Gedankenspiel, das etwa so lautete: «Ich sitze auf diesem Stein. Ich bin oben und er ist unten.» — Der Stein könnte aber auch sagen: «Ich» und denken: «Ich liege hier, auf diesem Hang, und er sitzt auf mir.» — Dann erhebt sich die Frage: «Bin ich der, der auf dem Stein sitzt, oder bin ich der Stein, auf dem er sitzt?» — Diese Frage verwirrte mich jeweils, und ich erhob mich, zweifelnd an mir selber und darüber grübelnd, wer jetzt was sei. Das blieb unklar, und meine Unsicherheit war begleitet vom Gefühl einer merkwürdigen und faszinierenden Dunkelheit. Unzweifelhaft war aber die Tatsache, daß dieser Stein in geheimer Beziehung zu mir stand. Ich konnte stundenlang auf ihm sitzen und war gebannt von dem Rätsel, das er mir aufgab.

Dreißig Jahre später stand ich wieder auf jenem Abhang, war verheiratet, hatte Kinder, ein Haus, einen Platz in der Welt und einen Kopf voll von Ideen und Plänen, und plötzlich war ich wieder das Kind, das ein Feuer voll heimlicher Bedeutung entzündet und auf dem Stein sitzt, von dem man nicht weiß, ob er ich ist oder ich er. - Mein Leben in Zürich fiel mir plötzlich ein und erschien mir fremd, wie eine Kunde aus einer anderen Welt und Zeit. Es war verlockend und zugleich erschreckend. Die Welt meiner Kindheit, in die ich eben versunken war, war ewig, und ich war ihr entrissen und in eine weiter rollende, immer weiter sich entfernende Zeit hineingefallen. Ich mußte mich gewaltsam von diesem Ort abwenden, um meine Zukunft nicht zu verlieren.

Dieser Moment ist mir unvergeßlich, denn er hat mir blitzartig den Ewigkeitscharakter meiner Kindheitszeit erleuchtet. Was mit dieser «Ewigkeit» gemeint ist, zeigte sich bald darauf in meinem zehnten Lebensjahr. Meine Entzweiung und Unsicherheit in der großen Welt führte mich zu einer mir damals unverständlichen Maßnahme : ich benutzte in jener Zeit eine gelb lackierte Federschachtel, mit einem kleinen Schloß, wie sie die Primarschüler besitzen. Darin fand sich auch ein Lineal. An dessen Ende schnitzte ich nun ein kleines, etwa sechs Zentimeter großes Männchen mit «Gehrock, Zylinder und blankgewichsten Schuhen». Ich färbte es mit Tinte schwarz, sägte es vom Lineal ab und legte es in die Federschachtel, wo ich ihm ein Bettchen bereitete. Ich machte ihm aus einem Stück Wolle sogar ein Mäntelchen. Zu ihm legte ich einen glatten, länglichen, schwärzlichen Rheinkiesel, den ich mit bunten Wasserfarben so bemalt hatte, daß er in einen oberen und einen unteren Teil getrennt war. Er hatte mich lange in meiner Hosentasche begleitet. Das war sein Stein. Das Ganze war für mich ein gro ßes Geheimnis, von dem ich jedoch nichts verstand. Ich brachte die Schachtel mit dem Männchen heimlich auf den oberen, verbotenen Estrich (verboten, weil die Bodenbretter wurmstichig und morsch und daher gefährlich waren) und versteckte sie auf einem Stützbalken des Dachstuhls. Dabei empfand ich große Befriedigung; denn das würde niemand sehen. Ich wußte, daß dort kein Mensch es finden könnte. Niemand konnte mein Geheimnis entdecken und zerstören. Ich fühlte mich sicher, und das quälende Gefühl der Entzweiung mit mir selber war behoben.

In allen schwierigen Situationen, wenn ich etwas angestellt hatte oder meine Empfindlichkeit verletzt worden war, oder wenn die


Reizbarkeit meines Vaters oder die Kränklichkeit meiner Mutter mich bedrückten, dachte ich an mein sorgsam gebettetes und eingehülltes Männchen und seinen schöngefärbten glatten Stein. Von Zeit zu Zeit - oft mit wochenlangen Unterbrechungen - stieg ich heimlich, und nur, wenn ich sicher war, daß mich niemand sah, auf den oberen Estrich. Dort kletterte ich auf die Balken, öffnete die Schachtel und schaute mir das Männchen und den Stein an. Dabei legte ich auch jedesmal ein kleines Papierröllchen hinein, auf das ich vorher etwas geschrieben hatte. Das tat ich während der Schulstunden in einer von mir ersonnenen Geheimschrift. Es waren Papierstreifen, dicht beschrieben, die aufgerollt und dem Männchen Zur Verwahrung übergeben wurden. Ich erinnere mich, daß der Akt der Einverleibung eines neuen Röllchens stets den Charakter einer feierlichen Handlung trug. Leider kann ich mich nicht entsinnen, was ich dem Männchen mitteilen wollte. Ich weiß nur, daß meine «Briefe» für ihn eine Art Bibliothek bedeuteten. Ich habe die unsichere Vermutung, es könnten gewisse Sentenzen, die mir besonders genelen, gewesen sein.

Der Sinn dieses Tuns, oder wie ich mich darüber hätte erklären können, war mir damals kein Problem. Ich begnügte mich mit dem Gefühl neugewonnener Sicherheit und der Befriedigung, etwas zu besitzen, an das niemand herankam und um das niemand wußte. Für mich war es ein unverbrüchliches Geheimnis, das niemals verraten werden durfte, denn die Sicherheit meines Daseins hing daran. Wieso, fragte ich mich nicht. Es war einfach so.

Dieser Besitz an Geheimnis hat mich damals stark geprägt. Ich sehe es als das Wesentliche meiner frühen Jugend jähre an, als etwas, das für mich höchst bedeutend war. So habe ich auch den Traum vom Phallus in meiner Jugend nie jemandem erzählt, und auch der Jesuit gehörte zu dem unheimlichen Reich, über das man nicht reden durfte. Die kleine Holzfigur mit dem Stein war ein erster, noch unbewusst - kindlicher Versuch, das Geheimnis zu gestalten. Immer war ich absorbiert davon und hatte das Gefühl, man sollte es ergründen; und doch wußte ich nicht, was es war, dem ich Ausdruck geben wollte. Immer hoffte ich, man könnte etwas finden, vielleicht in der Natur, das Aufschluß gäbe, oder das einem zeigte, wo oder was das Geheimnis wäre. Damals wuchs das Interesse an Pflanzen, Tieren und Steinen. Ich war ständig auf der Suche nach etwas Geheimnisvollem. Im Bewußtsein war ich christlich religiös - wenn auch immer mit dem Abstrich: «Aber es ist


nicht so sicher!» oder mit der Frage: «Was ist mit dem, was unter dem Boden ist?» Und wenn mir religiöse Lehren eingeprägt wurden und mir gesagt wurde: «Das ist schön und das ist gut», dann dachte ich bei mir: «Ja, aber es gibt noch etwas sehr geheimes Anderes, und das wissen die Leute nicht.»

Die Episode mit dem geschnitzten Männchen bildete Höhepunkt und Abschluß meiner Kindheit. Sie dauerte etwa ein Jahr. Danach trat eine völlige Erinnerungslosigkeit für dies Ereignis ein, die bis zu meinem fünfunddreißigsten Jahre andauerte. Damals stieg aus dem Nebel der Kindheit dieses Erinnerungsstück in unmittelbarer Klarheit wieder auf, als ich, mit den Vorarbeiten zu meinem Buch «Wandlungen und Symbole der Libido» beschäftigt, über den Cache4 von Seelensteinen bei Ariesheim und die Churingas der Australier las. Ich entdeckte plötzlich, daß ich mir ein ganz b estimmtes Bild von einem solchen Stein machte, obschon ich nie eine Abbildung davon gesehen hatte. In meiner Vorstellung sah ich einen glatten Stein, der so bemalt war, daß er in einen oberen und einen unteren Teil getrennt war. Dieses Bild kam mir irgendwie bekannt vor, und es gesellte sich dazu die Erinnerung an eine gelbliche Federschachtel sowie an ein kleines Männchen. Das Männchen war ein kleiner verhüllter Gott der Antike, ein Telesphoros, der auf manchen alten Darstellungen bei Aesculap steht und ihm aus einer Buchrolle vorliest.

Mit dieser Wiedererinnerung kam mir zum ersten Mal die Überzeugung, daß es archaische seelische Bestandteile gibt, die aus keiner Tradition in die Individualseele eingedrungen sein können. Es gab nämlich in der Bibliothek meines Vaters, die ich - nota bene erst viel später - durchforschte, nicht ein einziges Buch, das dergleichen Informationen enthalten hätte. Nachgewiesenermaßen wußte auch mein Vater nichts von solchen Dingen.

Als ich 1920 in England war, habe ich zwei ähnliche Figuren aus einem dünnen Ast geschnitzt, ohne mich im geringsten an das Kindheitserlebnis zu erinnern. Eine davon ließ ich vergrößert in Stein hauen, und diese Figur steht in meinem Garten in Küsnacht. Erst damals hat mir das Unbewußte den Namen eingegeben. Es nannte die Figur «Atmavictu» - «breath of life». Sie ist eine Weiterentwicklung jenes quasi sexuellen Gegenstandes aus der Kindheit, der sich dann aber als der «breath of life» herausstellte, als

4 Eine Art Versteck.

ein Schaffensimpuls. Das Ganze ist im Grunde genommen ein Kabir', verhüllt mit dem Mäntelchen, verhüllt in der «kista», versehen mit einem Vorrat an Lebenskraft, dem länglichen, schwärzlichen Stein. Das sind aber Zusammenhänge, die sich mir erst viel später geklärt haben. Als ich Kind war, geschah es mir auf die gleiche Weise, wie ich es später bei den Eingeborenen in Afrika gesehen habe: sie tun es erst und wissen gar nicht, was sie tun. Erst sehr viel später wird darüber nachgedacht.

' Die Kabiren, auch «die großen Götter» genannt, und bald als Zwerge, bald als Riesen dargestellt, waren naturhafte Gottheiten, deren Kult meist mit dem der Göttin Demeter zusammenhing. Sie wurden mit dem Schöpferischen und mit der Entstehung des Lebens in Verbindung gebracht.

Schuljahre

Mein elftes Jahr war insofern bedeutungsvoll für mich, als ich damals nach Basel ins Gymnasium kam. Ich wurde dadurch von meinen ländlichen Spielgenossen losgerissen, kam wirklich in die «große Welt», wo mächtige Leute, viel mächtiger als mein Vater, in großen, prächtigen Häusern wohnten, in kostbaren Kaleschen mit wunderschönen Pferden fuhren und sich in distinguierter Sprache deutsch und französisch ausdrückten. Ihre Söhne, wohl gekleidet, mit feinen Manieren und reichlichem Taschengeld versehen, waren meine Klassengenossen. Mit Erstaunen und erschreckendem heimlichem Neid vernahm ich von ihnen, daß sie in den Ferien in den Alpen, jenen «glühenden Schneebergen» bei Zürich, gewesen seien, ja sogar am Meer, was dem Faß den Boden vollkommen ausschlug. Ich bestaunte sie wie Wesen aus einer anderen Welt, aus jener unerreichbaren Herrlichkeit der rotglühenden Schneeberge und aus jener unermeßlichen Ferne des unvorstellbaren Meeres. Ich erkannte damals, daß wir arm waren, daß mein Vater ein armer Landpfarrer und ich ein noch viel ärmeres Pfarrerssöhnchen war, das Löcher in den Schuhsohlen hatte und mit nassen Strümpfen sechs Schulstunden absitzen mußte. Ich begann meine Eltern mit anderen Augen anzusehen, und fing an, ihre Sorgen und Bekümmernisse zu verstehen. Für meinen Vater insbesondere empfand ich Mitleid, merkwürdigerweise weniger für die Mutter. Sie kam mir als die etwas Stärkere vor. Trotzdem fühlte ich mich auf ihrer Seite, wenn der Vater seine launische Gereiztheit nicht beherrschen konnte. Das war für meine Charakterbildung nicht gerade günstig. Um mich von diesen Konflikten zu befreien, geriet ich in die Rolle des überlegenen Schiedsrichters, der noiens volens seine Eltern beurteilen mußte. Das verursachte mir eine gewisse Inflation, die mein ohnehin unsicheres Selbstgefühl steigerte und zugleich verminderte.

Als ich neun Jahre alt war, gebar meine Mutter ein kleines Mädchen. Mein Vater war aufgeregt und erfreut. «Heute nacht hast du ein Schwesterchen bekommen», sagte er, und ich war vollkommen überrascht, denn ich hatte vorher nichts bemerkt. Daß meine Mutter


etwas öfter zu Bette lag, war mir nicht aufgefallen. Ich hielt dies sowieso für eine unentschuldbare Schwäche. Mein Vater brachte mich ans Bett der Mutter, und sie hielt ein kleines Wesen in den Armen, das äußerst enttäuschend aussah: ein rotes, verschrumpftes Gesicht, wie ein alter Mensch, die Augen geschlossen, wahrscheinlich blind wie junge Hunde. Das Ding hatte am Rücken einzelne lange rotblonde Haare, die man mir zeigte - hätte das ein Affe werden sollen ? Ich war schockiert und wußte nicht, wie mir zumute war. Sahen Neugeborene so aus? Man munkelte etwas vom Storch, der das Kind gebracht haben sollte. Wie war es aber dann bei einem Wurf von Hunden und Katzen? Wie viele Male mußte da der Storch hin - und herfliegen, bis der Wurf vollständig war ? Und wie war es bei den Kühen ? Ich konnte mir nicht vorstellen, wie der Storch ein ganzes Kalb im Schnabel tragen konnte. Auch sagten die Bauern einem, die Kuh habe gekalbert und nicht, der Storch habe das Kalb gebracht. Diese Geschichte war offenbar wieder einer jener Tricks, die mir angegeben wurden. Ich war sicher, daß meine Mutter da wieder etwas angestellt hatte, was ich nicht wis sen sollte.

Dieses plötzliche Erscheinen meiner Schwester hinterließ mir ein vages Gefühl von Mißtrauen, das meine Neugier und Beobachtung zuspitzten. Spätere verdächtige Reaktionen meiner Mutter bestätigten meine Vermutungen: irgend etwas Bedauerliches war mit dieser Geburt verknüpft. Im übrigen hat mich dieses Ereignis nicht weiter angefochten, wohl aber trug es bei zu der Verschärfung eines Erlebnisses, das in meinem zwölften Jahr stattfand.

Meine Mutter hatte die unangenehme Gewohnheit, mir alle möglichen guten Mahnungen nachzurufen, - wenn ich zu Besuch oder zu einer Einladung ging. Ich hatte dann nicht nur meine besseren Kleider an und gewichste Schuhe, sondern auch ein Gefühl der Dignität meines Vorhabens und öffentlichen Auftretens und empfand es als Erniedrigung, daß die Leute auf der Straße es hören sollten, was für ehrenrührige Dinge meine Mutter mir nachzurufen hatte: «Vergiß auch nicht, eine Empfehlung von Papa und Mama auszurichten und deine Nase zu putzen - hast du ein Nastuch ? Und die Hände gewaschen ?» usw. Ich fand es durchaus unangebracht, meine die Inflation begleitenden Minderwertigkeitsgefühle dermaßen der Welt preiszugeben, wo ich doch schon aus Eigenliebe und Eitelkeit längst dafür gesorgt hatte, möglichst tadellos in Erscheinung zu treten. Diese Gelegenheiten bedeuteten mir


nämlich sehr viel. Auf dem Wege zum Hause, wo die Einladung stattfand, fühlte ich mich wichtig und würdig, wie immer, wenn ich an einem Werktag meine Sonntagskleider trug. Das Bild änderte sich aber beträchtlich, sobald ich in Sichtweite des fremden Hauses kam. Da überschattete mich der Eindruck der Größe und Macht dieser Leute. Ich fürchtete mich vor ihnen und hätte in meiner Kleinheit vierzehn Klafter tief in die Erde versinken mögen, wenn ich die Glocke läutete. Das Geläute, das innen ertönte, klang in meinen Ohren wie ein Verhängnis. Ich fühlte mich so kleinmütig und so ängstlich wie ein zugelaufener Hund. Das war jeweils am schlimmsten, wenn meine Mutter mich vorher «richtig» präpariert hatte. «Meine Schuhe sind dreckig, auch meine Hände. Ich habe kein Taschentuch, mein Hals ist schwarz», tönte es in meinen Ohren. - Dann richtete ich aus Trotz keine Empfehlungen aus oder benahm mich unnötigerweise bockig und scheu. Wenn es gar zu schlimm wurde, dachte ich an den geheimen Schatz im Estrich, der mir dann half, meine Menschenwürde wiederzufinden: ich erinnerte mich nämlich in meiner Verlorenheit, daß ich ja auch der Andere war - der mit dem unverletzlichen Geheimnis, dem Stein und dem kleinen Mann mit Gehrock und Zylinder.

Ich kann mich nicht daran erinnern, daß ich in meiner Jugend je an die Möglichkeit eines Zusammenhanges des «her Jesus», beziehungsweise des Jesuiten mit dem schwarzen Rock, der Männer im Gehrock und Zylinder an einem Grab, des grabähnlichen Loches in der Wiese und des unterirdischen Phallustempels mit dem Männchen in der Federschachtel dachte. Der Traum vo6m ithyphallischen Gotte war mein erstes großes Geheimnis, das Männchen war das zweite. Heute scheint es mir aber, als ob ich ein vages Gefühl der Verwandtschaft zwischen dem «Seelenstein» mit dem Stein, der auch «Ich» war, empfunden hätte.

Es ist mir bis heute, wo ich in meinem dreiundachtzigsten Lebensjahre meine Erinnerungen aufschreibe, nie ganz klar geworden, welchen Zusammenhang meine frühesten Erinnerungen haben:


sie sind wie die einzelnen Schosse eines unterirdischen, zusammenhängenden Rhizoms. Sie sind wie die Stationen eines unbewußten Entwicklungsganges. Während es mir immer unmöglicher wurde, ein positives Verhältnis zu dem «her Jesus» zu finden, erinnere ich mich, daß etwa vom elften Jahr an die Gottesidee anfing, mich zu interessieren. Ich fing an, zu Gott zu beten, was mich irgendwie befriedigte, weil es mir widerspruchslos schien. Gott war nicht


durch mein Mißtrauen kompliziert. Zudem war er kein Mensch mit schwarzem Rock und kein «her Jesus», der auf den Bildern mit bunten Kleidern behängt war, und mit dem die Leute so familiär taten. Er (Gott) war vielmehr ein einzigartiges Wesen, von dem man sich, wie ich gehört hatte, keine richtigen Vorstellungen machen konnte. Er war zwar so etwas wie ein sehr mächtiger alter Mann;


aber es hieß ja, zu meiner großen Befriedigung: «Du sollst dir kein Bildnis, noch irgend ein Gleichnis machen.» Man konnte also nicht so familiär mit ihm tun, wie mit dem «her Jesus», der kein «Geheimnis» war. Eine gewisse Analogie mit meinem Geheimnis auf dem Estrich fing an zu dämmern ...

Die Schule ödete mich an. Sie nahm mir zu viel Zeit, die ich lieber mit Schlachtenzeichnen und Feuerspielen ausgefüllt hätte. Die Religionsstunden waren unaussprechlich langweilig, und vor der Mathematikstunde empfand ich positive Angst. Der Lehrer gab sich den Anschein, daß Algebra ganz selbstverständlich sei, während ich noch nicht einmal wußte, was Zahlen an und für sich sind. Sie waren keine Blumen, keine Tiere, keine Versteinerung, nichts, was man sich vorstellen konnte, bloß Anzahlen, die sich durch Zählen ergaben. Die Anzahlen wurden zu meiner Verwirrung durch Buchstaben, die Laute bedeuteten, ersetzt, so daß man sie sozusagen hören konnte. Merkwürdigerweise konnten meine Kameraden damit umgehen und fanden das selbstverständlich. Niemand konnte mir sagen, was Zahlen sind, und ich konnte die Frage nicht formulieren. Zu meinem Schrecken fand ich, daß es auch niemanden gab, der meine Schwierigkeit verstand. Der Lehrer gab sich zwar, wie ich anerkennen muß, alle Mühe, um mir den Zweck dieser merkwürdigen Operation, verständliche Anzahlen in Laute umzusetzen, zu erklären. Ich verstand schließlich, daß damit eine Art Abkürzungssystem bezweckt war, mit dessen Hilfe viele Anzahlen in einer abgekürzten Formel dargestellt werden konnten.

Das interessierte mich aber ganz und gar nicht. Ich dachte mir, es sei doch ganz willkürlich, Zahlen durch Laute auszudrücken, man könnte auch ebensogut a als Apfelbaum, b als Birnbaum und x als Fragezeichen ausdrücken, a, b, c, y und x waren unanschaulich und erklärten mir nichts vom Wesen der Zahl, ebenso wenig wie der Apfelbaum. Am meisten empörte mich der Grundsatz: wenn a=b und b=c, dann ist a=c, wo es doch per definitionem feststand, daß a etwas anderes bezeichnete als b und daher als etwas


anderes nicht mit b gleichzusetzen war, geschweige denn mit c. Wenn es sich um eine Gleichsetzung handelt, dann heißt sie a = a, b = b usw., während a = b mir direkt als Lüge oder Betrug vorkam. Dieselbe Empörung empfand ich, wenn der Lehrer gegen seine eigene Definition der Para llelen behauptete, sie schnitten sich in der Unendlichkeit. Das erschien mir als eine alberne Bauernfängerei, die ich nicht mitmachen konnte und wollte. Meine intellektuelle Moral sträubte sich gegen diese spielerischen Inkonsequenzen, die mir den Zugang zum Verständnis der Mathematik versperrten. Ich habe bis in mein hohes Alter hinein unkorrigierbar das Gefühl, wenn ich damals wie meine Schulkameraden konfliktlos hätte annehmen können, daß a = b sein könnte, resp. Sonne = Mond, Hund = Katze usw., die Mathematik mich endlos hineingelegt hätte; inwiefern, davon habe ich erst mit dreiundachtzig Jahren eine gewisse Ahnung bekommen. Mein ganzes Leben hindurch aber blieb es mir ein Rätsel, wieso es mir nie gelingen sollte, ein Verhältnis zur Mathematik zu finden, wo es mir doch außer allem Zweifel stand, dass man gültig rechnen konnte. Am unverständlichsten aber erschien mir mein moralischer Zweifel an der Mathematik.

Ich konnte mir Gleichungen nur dadurch verständlich machen, daß ich jeweils für die Buchstaben bestimmte Zahlenwerte einsetzte und mir durch konkretes Nachrechnen den Sinn der Operation bestätigte. Ich konnte im weiteren Verlauf in Mathematik nur dadurch einigermaßen bestehen, daß ich die mir inhaltlich unverständlichen algebraischen Formeln abzeichnete und mir einprägte, welche Buchstabenkombination an welcher Stelle der Wandtafel gestanden hatte. Mit dem Nachrechnen kam ich nicht mehr aus, denn von Zeit zu Zeit kam es vor, daß der Lehrer sagte: «Hier setzen wir nun den .Ausdruck' ein» und ein paar Buchstaben an die Tafel malte. Ich wußte nicht woher und wozu - offenbar um ein ihn befriedigendes Ende der Prozedur zu ermöglichen. Ich war von der Tatsache meines Nichtverstehenkönnens dermaßen eingeschüchtert, daß ich schon gar nicht zu fragen wagte.

Die Mathematikstunden waren für mich ein Schrecken und eine Qual. Da mir andere Fächer leicht fielen und ich mich auch in der Mathematik dank meines guten visuellen Gedächtnisses für lange Zeit durchbetrügen konnte, hatte ich meist gute Zeugnisse, aber die Angst vor meinem Versagen und die Kleinheit meiner Existenz vor der Größe der mich umgebenden Welt bewirkten in mir nicht


nur eine Unlust, sondern eine Art stiller Verzweiflung, die mir die Schule bis zum äußersten verleideten. Dazu kam noch, daß ich wegen gänzlicher Unfähigkeit aus dem Zeichnen entlassen wurde. Das war mir wegen des Zeitgewinns zwar willkommen, aber auch eine neue Niederlage, denn ich hatte ein gewisses Geschick im Zeichnen, von dem ich allerdings nicht wu ßte, daß es im wesentlichen von meinem Gefühl abhing. Ich konnte nämlich nur das zeichnen, was meine Phantasie beschäftigte. Ich mußte aber vorgedruckte Modelle von griechischen Gottheiten mit blinden Augen abzeichnen, und als das nicht recht gehen wollte, dachte mein Lehrer offenbar, ich brauchte etwas Naturalistisches und setzte mir die Abbildung eines Ziegenkopfes vor. An dieser Aufgabe versagte ich völlig, und das war das Ende meiner Zeichenstunden.

Das zwölfte Jahr wurde für mich zum eigentlichen Schicksals jahr. Einmal, im Frühsommer 1887, stand ich nach der Schule um zwölf Uhr auf dem Münsterplatz und wartete auf einen Kameraden, mit dem ich einen gemeinsamen Schulweg hatte. Plötzlich erhielt ich von einem der anderen Jungen einen Stoß, der mich umwarf. Ich fiel mit dem Kopf auf den Randstein des Trottoirs, und die Erschütterung benebelte mich. Während einer halben Stunde war ich ein bißchen benommen. Im Moment des Aufschlagens durchschoß mich blitzartig der Gedanke: Jetzt mußt du nicht mehr in die Schule gehen! - Ich war nur halb unbewußt, und blieb einige Augenblicke länger liegen, als nötig gewesen wäre -hauptsächlich aus Rachegefühl gegen meinen heimtückischen Angreifer. Dann lasen mich Leute auf und brachten mich in das nahe Haus zweier ledig er alter Tanten.

Von da an entwickelten sich bei mir Ohnmachtsanfälle, sobald ich wieder zur Schule hätte gehen sollen, und ebenso, wenn meine Eltern mich zur Erledigung von Schularbeiten veranlassen wollten. Mehr als ein halbes Jahr lang blieb ich der Schule fern, und das war für mich ein «gefundenes Fressen». Ich konnte frei sein, stundenlang träumen, irgendwo am Wasser oder in den Wäldern sein oder zeichnen. Ich malte wilde Kriegsszenen oder alte Burgen, die angegriffen wurden oder niederbrannten, oder ich füllte ganze Seiten mit Karikaturen. (Auch heute noch erscheinen mir gelegentlich solche Karikaturen vor dem Einschlafen: grinsende Fratzen, die sich dauernd verändern. Manchmal waren es Gesichter von Menschen, die ich kannte, und die dann bald darauf starben.) Vor


allem aber konnte ich ganz in die Welt des Geheimnisvollen eintauchen. Dazu gehörten Bäume, Wasser, Sumpf, Steine, Tiere und die Bibliothek meines Vaters. Alles das war wunderbar. Aber ich kam immer mehr von der Welt weg - mit einem leisen Gefühl von schlechtem Gewissen. Ich verdämmerte meine Zeit mit Herumstrolchen, Lesen, Sammeln und Spielen. Doch fühlte ich mich dabei nicht glücklicher, sondern es war mir dunkel bewußt, daß ich vor mir selber floh.

Ich vergaß vollständig, wie dies alles zustande gekommen war, bedauerte aber die Bekümmernisse meiner Eltern, die verschiedene Ärzte konsultierten. Die kratzten sich den Kopf und schickten mich in die Ferien zu Verwandten nach Winterthur. Dort war ein Bahnhof, der mir endloses Entzücken bereitete. Aber als ich wieder nach Hause kam, war alles wie zuvor. Ein Arzt riet auf Epilepsie. Ich wußte damals schon, was epileptische Anfälle waren, und lachte innerlich über den Unsinn. Meine Eltern dagegen waren besorgter denn zuvor. Da geschah es einmal, daß ein Freund meinen Vater besuchte. Die beiden saßen im Garten und ich in einem dichten Gebüsch hinter ihnen, denn ich war von unersättlicher Neugier. Ich hörte, wie der Besucher zu meinem Vater sagte: «Und wie geht es denn deinem Sohn?» Worauf der Vater antwortete: «Ach, das ist eine leidige Geschichte. Die Ärzte wissen nicht, was mit ihm los ist. Sie meinen, es sei Epilepsie. Es wäre schrecklich, wenn er unheilbar sein sollte. Ich habe mein bißchen Vermögen verloren, und was soll dann mit ihm geschehen, wenn er sein Leben nicht verdienen kann?»

Ich war wie vom Donner gerührt. Das war der Zusammenstoß mit der Wirklichkeit.—«Aha, da muß man arbeiten», schoß es mir durch den Kopf. Von da an wurde ich zu einem ernsthaften Kind. Ich drückte mich leise davon, ging in die Studierstube meines Vaters, nahm meine lateinische Grammatik hervor und fing an, konzentriert zu büffeln. Nach zehn Minuten hatte ich meinen Ohnmachtsanfall. Ich fiel fast vom Stuhl, fühlte mich aber nach wenigen Minuten wieder besser und arbeitete weiter. - «Zum Teufel nochmal, man hat keine Ohnmacht!», sagte ich mir und fuhr in meinem Vorsatz fort. Es dauerte etwa eine Viertelstunde, bis der zweite Anfall kam. Er ging vorüber wie der erste. - «Und jetzt gehst du erst recht an die Arbeit!»


- Ich harrte aus, und nach einer weiteren halben Stunde kam der dritte. Ich gab aber nicht nach und arbeitete eine weitere Stunde, bis ich das Gefühl hatte, daß


die Anfälle überwunden seien. Ich fühlte mich auf einmal besser als alle die Monate zuvor. Die Anfälle wiederholten sich in der Tat nicht mehr, und ich arbeitete von da an jeden Tag in meiner Grammatik und in meinen Schulheften. Nach einigen Wochen ging ich wieder zur Schule, und es kamen auch dort keine Anfälle mehr. Der ganze Zauber war weg. - Daran habe ich gelernt, was eine Neurose ist.

Allmählich dämmerten mir die Erinnerungen, wie alles gekommen war, und ich sah deutlich, daß ich es gewesen war, der diese ganze schmähliche Geschichte arrangiert hatte. Darum bin ich dem Kameraden, der mich umgestoßen hatte, nie ernstlich böse gewesen. Ich wußte: er war sozusagen «eingesetzt», und von meiner Seite war ein teuflisches Arrangement dabei. Das durfte mir nicht ein zweites Mal passieren! Ich hatte ein Gefühl von Ingrimm gegen mich selber und schämte mich zugleich vor mir. Denn ich wußte, daß ich selber vor mir unrecht hatte, so wie ich vor mir selber der Blamierte war. Niemand anderer war schuld. Ich selber war der verdammte Deserteur! - Von da an konnte ich es nicht mehr ausstehen, wenn die Eltern Besorgnis für mich zeigten oder in bedauerndem Tone zu mir sprachen.

Die Neurose war auch wieder mein Geheimnis, aber es war ein schmähliches Geheimnis und eine Niederlage. Sie hat mich aber schließlich zu einer betonten Genauigkeit geführt und zu besonderem Fleiß. Damals hat meine Gewissenhaftigkeit angefangen, nicht zum Schein, damit ich etwas gelte, sondern als Gewissenhaftigkeit vor mir selber. Regelmäßig stand ich um 5 Uhr auf, um zu arbeiten, und manchmal arbeitete ich schon von 3 Uhr morgens bis um 7 Uhr, bevor ich in die Schule ging.

Was mich auf den Abweg gebracht hatte, war meine Passion des Alleinseins, die Entzückung der Einsamkeit. Die Natur schien mir voll von Wundern, in die ich mich vertiefen wollte. Jeder Stein, jede Pflanze, alles schien belebt und unbeschreiblich. Damals bin ich in die Natur versunken, bin ich sozusagen in das Wesen der Natur hineingekrochen, fern aller Menschenwelt.

In jene Zeit fiel ein anderes wichtiges Erlebnis. Es war auf meinem langen Schulweg von Klein -Hüningen, wo wir wohnten, nach Basel. Da gab es einmal einen Augenblick, in dem ich plötzlich das überwältigende Gefühl hatte, soeben aus einem dichten Nebel herausgetreten zu sein, mit dem Bewußtsein, jetzt bin ich. In mei


nem Rücken war's wie eine Nebelwand, hinter der ich noch nicht war. Aber in jenem Augenblick geschah ich mir. Vorher war ich auch vorhanden, aber alles war nur geschehen. Jetzt wußte ich:


jetzt bin ich, jetzt bin ich vorhanden. Vorher hat es mit mir getan, jetzt aber wollte ich. Dieses Erlebnis schien mir ungeheuer bedeutsam und neu. Es war «Autorität» in mir. Merkwürdigerweise hatte ich zu dieser Zeit und auch während der Monate meiner Unfallneurose die Erinnerung an den Schatz im Estrich völlig verloren, sonst wäre mir wohl schon damals die Analogie meines Autoritätsgefühls mit jenem Wertgefühl, das der Schatz mir einflößte, aufgefallen. Das war aber nicht der Fall, sondern jede Erinnerung an die Federschachtel war verschwunden.

Damals war ich einmal von einer befreundeten Familie, die am Vierwaldstättersee ein Haus besaß, für die Ferien eingeladen worden. Zu meinem Entzücken lag das Haus am See und hatte ein Bootshaus und ein Ruderboot. Der Hausherr erlaubte seinem Sohn und mir, das Boot zu benützen, unter strenger Verwarnung, keine Unvorsichtigkeiten zu begehen. Unglücklicherweise wußte ich schon, wie man einen Weidling stachelt und rudert, nämlich stehend. Wir hatten zuhause ein kleines gebrechliches Ding dieser Art auf dem alten Festungsgraben der Hüninger Abatucci-Schanze am badischen Ufer. Darin hatten wir alle Unvorsichtigkeiten ausprobiert. Das erste, was ich also tat, war, daß ich auf das Heck des Bootes trat und es mit einem Ruder freihändig in den See stieß. Das war dem Hausherrn zuviel. Er pfiff uns zurück und verabreichte mir eine Strafpredigt, die sich gewaschen hatte. Ich war sehr kleinlaut und mußte zugeben, daß ich gerade das getan, was er verboten hatte, und daß mithin seine Strafpredigt ganz am Platze war. Gleichzeitig packte mich aber eine Wut, daß dieser dicke, ungebildete Klotz es wagen konnte, mich zu beleidigen. Dieses mich war nicht bloß erwachsen, sondern bedeutend, eine Autorität, eine Person in Amt und Würden, ein alter Mann, Gegenstand von Respekt und Ehrfurcht. - Der Gegensatz zur Wirklichkeit war dermaßen grotesk, daß ich plötzlich in meiner Wut innehielt, denn die Frage kam auf mich zu: «Ja, wer bist du denn? Du reagierst ja, wie wenn du der Teufel wer wärest! Und dabei weißt du doch, daß der andere ganz recht hatte! Du bist ja kaum zwölf Jahre alt, ein Schuljunge, und er ist doch ein Vater und dazu ein mächtiger und reicher Mann, der zwei Häuser und mehrere prachtvolle Pferde hat.»

Da fiel mir zu meiner größten Verwirrung ein, daß ich eigentlich und in Wirklichkeit zwei verschiedene Personen war. Die eine war der Schuljunge, der die Mathematik nicht begreifen konnte und nicht einmal seiner selbst sicher war, die andere war bedeutend, von großer Autorität, ein Mann, der nicht mit sich spassen ließ, mächtiger und einflußreicher als dieser Fabrikant. Er war ein alter Mann, der im 18. Jahrhundert lebt und Schnallenschuhe trägt und eine weiße Perücke und in einer Kalesche fährt mit hohen, konkaven Hinterrädern, zwischen denen der Kutschenkasten an Federn und Lederriemen aufgehängt ist.

Ich hatte nämlich ein merkwürdiges Erlebnis gehabt: als wir in Klein Hüningen bei Basel wohnten, kam eines Tages eine uralte grüne Kutsche aus dem Schwarzwald an unserem Haus vorbei. Eine urweltliche Kalesche, wie aus dem 18. Jahrhundert. Als ich sie sah, hatte ich das aufregende Gefühl: «Da haben wir es ja! Das ist ja aus meiner Zeit!» - Es war, wie wenn ich sie wiedererkannt hätte; denn sie war von derselben Art wie die, in der ich selber gefahren war! Und dann kam ein sentiment ecoeurant, wie wenn mir jemand etwas gestohlen hätte, oder wie wenn ich betrogen worden wäre, betrogen um meine geliebte Vorzeit. Die Kutsche war ein Rest aus jener Zeit! Ich kann nicht beschreiben, was damals in mir vorging, oder was es war, das mich so stark berührte: eine Sehnsucht, ein Heimwehgefühl, oder ein Wiedererkennen: «Ja, so war es doch! Das war's doch!»

Es gab noch ein anderes Erlebnis, das ins 18. Jahrhundert wies : ich hatte bei einer meiner Tanten eine Statuette aus dem 18. Jahrhundert gesehen, eine bemalte Terracotta, die aus zwei Figuren bestand. Sie stellte den alten Dr. Stückelberger dar, eine stadtbekannte Persönlichkeit aus dem Basler Leben Ende des 18. Jahrhunderts. Die andere Figur war eine seiner Patientinnen. Sie streckt die Zunge heraus und hat die Augen geschlossen. Dazu gab es eine Legende. Es wurde erzählt, daß der alte Stückelberger einmal über die Rheinbrücke ging, und da kam diese Patientin, die ihn so oft geärgert hatte, und jammerte ihm wieder etwas vor. Der alte Herr sagte: «Ja, ja, da muß etwas los sein mit Ihnen. Strecken Sie mal die Zunge raus und machen Sie die Augen zu!» Das tat sie auch, und in dem Augenblick lief er davon, und sie blieb stehen mit herausgestreckter Zunge - zum Gelächter der Leute.

Nun hatte die Figur des alten Doktors Schnallenschuhe an, die ich seltsamerweise als die meinen, oder ihnen ähnliche, erkannte.


Ich war überzeugt: «Das sind Schuhe, die ich getragen habe.» Diese Überzeugung hat mich damals ganz konfus gemacht. «Ja, das waren doch meine Schuhe!» Ich fühlte noch diese Schuhe an meinen Füßen, konnte mir aber nicht erklären, wie ich zu dieser wunderlichen Empfindung kam. Wieso gehörte ich ins 18. Jahrhundert? öfters passierte es mir damals, daß ich 1786 schrieb anstatt 1886, und das geschah immer mit einem unerklärlichen Heimwehgefühl.

Als ich damals, nach meiner Booteskapade am Vierwaldstättersee und der wohlverdienten Strafe, meinen Gedanken nachhing, rundeten sich diese bis dahin vereinzelten Eindrücke zu einem einheitlichen Bild: ich lebe in zwei Zeiten und bin zwei verschiedene Personen. Ich war von diesem Befund verwirrt und mit Nachdenklichkeiten bis zum Rande gefüllt. Schließlich kam ich aber zu der enttäuschenden Erkenntnis, daß ich jetzt wenigstens nichts als der kleine Schuljunge sei, der seine Strafe verdient und sich seinem Alter entsprechend zu benehmen habe. Das andere mußte Unsinn sein. Ich vermutete, daß es zusammenhing mit den vielen Erzählungen, die ich von meinen Eltern und Verwandten über meinen Großvater gehört hatte. Aber auch das wollte nicht recht stimmen, denn er war 1795 geboren, lebte also eigentlich im 19. Jahrhundert. Überdies war er gestorben, lang bevor ich zur Welt kam. Es konnte nicht sein, daß ich mit ihm identisch war. Diese Überlegungen waren damals allerdings nur wie vage Ahnungen und Träume. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich damals schon von der legendären Verwandtschaft mit Goethe wußte. Ich glaube nicht, denn ich weiß, daß ich zuerst von fremden Leuten diese Nachricht vernahm. Es besteht nämlich eine ärgerliche Überlieferung, daß mein Großvater ein natürlicher Sohn Goethes gewesen sei1.

Zu meinen Niederlagen in der Mathematik und im Zeichnen gesellte sich noch eine dritte: das Turnen war mir von Anfang an verhaßt. Niemand hatte mir vorzuschreiben, wie ich mich bewegen sollte. Ich ging in die Schule, um etwas zu lernen, und wollte keine unnütze und sinnlose Akrobatik treiben. Hinzu kam noch, als eine späte Folge meiner frühen Unfälle, eine gewisse physische Ängstlichkeit, die ich erst viel später einigermaßen überwinden konnte. Sie hing ihrerseits zusammen mit einem Mißtrauen gegenüber der Welt und ihren Möglichkeiten. Die Welt schien mir zwar


schön und begehrenswert, war aber voll von unbestimmten Gefährlichkeiten und Sinnlosigkeiten. Ich wollte daher immer zuerst wissen, was mir begegnete, und wem ich mich anvertraute. Ob das wieder mit meiner Mutter zusammenhing, die mich auf mehrere Monate verlassen hatte? Daß mir der Arzt anläßlich meines Traumas das Turnen verbot, geschah sehr zu meiner Befriedigung. Ich war diese Last los und hatte eine weitere Niederlage eingesteckt.

1 Vgl. Appendix pag. 399.

An einem schönen Sommertag desselben Jahres (1887) kam ich mittags aus der Schule und ging auf den Münsterplatz. Der Himmel war herrlich blau, und es war strahlender Sonnenschein. Das Dach des Münsters glitzerte im Licht, und die Sonne spiegelte sich in den neuen, buntglasierten Ziegeln. Ich war überwältigt von der Schönheit dieses Anblicks und dachte: «Die Welt ist schön und die Kirche ist schön, und Gott hat das alles geschaffen und sitzt darüber, weit oben im blauen Himmel, auf einem goldenen Thron und -» Hier kam ein Loch und ein erstickendes Gefühl. Ich war wie gelähmt und wußte nur: Jetzt nicht weiterdenken! Es kommt etwas Furchtbares, das ich nicht denken will, in dessen Nähe ich überhaupt nicht kommen darf. Warum nicht? Weil du die größte Sünde begehen würdest. Was ist die größte Sünde? Mord? Nein, das kann es nicht sein. Die größte Sünde ist die wider den Heiligen Geist, die wird nicht vergeben. Wer sie begeht, ist auf ewig in die Hölle verdammt. Das wäre doch für meine Eltern zu traurig, wenn ihr einziger Sohn, an dem sie so sehr hängen, der ewigen Verdammnis anheimfiele. Das kann ich meinen Eltern nicht antun. Ich darf auf keinen Falle weiter daran denken!

Das war nun leichter gedacht als getan. Auf meinem langen Weg nach Hause versuchte ich alle möglichen anderen Dinge zu denken, fand aber, daß meine Gedanken immer wieder zum schönen Münster, das ich so sehr liebte, und zum lieben Gott, der auf dem Throne saß, zurückkehrten, um wie von einem elektrischen Schlag getroffen, wieder davon wegzufliegen. Ich wiederholte mir immer: «Nur nicht daran denken, nur nicht daran denken!» Ich kam in einem ziemlich gestörten Zustand nach Hause. Meine Mutter merkte, daß etwas mit mir los war und fragte: «Was ist mit dir? Ist etwas in der Schule vorgefallen?» Ich konnte ihr, ohne zu lügen, versichern, daß nichts in der Schule passiert sei. Ich dachte zwar, es würde mir vielleicht helfen, wenn ich meiner Mutter den wirklichen Grund meiner Gestörtheit beichten könnte. Aber dann


müßte ich ja gerade das tun, was mir unmöglich schien, nämlich meine Gedanken zu Ende denken. Sie war ja ahnungslos, die Gute, und konnte unmöglich wissen, daß ich in der größten Gefahr stand, die unverzeihliche Sünde zu begehen und mich in die Hölle zu stürzen. Ich verwarf den Gedanken an ein Geständnis und versuchte mich so unauffällig wie möglich zu verhalten.

In der Nacht schlief ich schlecht; immer wieder versuchte sich der verbotene Gedanke, den ich nicht kannte, hervorzudrängen, und ich rang verzweifelt, ihn abzuwehren. Die nächsten zwei Tage waren qualvoll, und meine Mutter war überzeugt, daß ich krank sei. Ich widerstand der Versuchung zu beichten, wobei mir der Gedanke, daß ich durch Nachgeben meinen Eltern den größten Kummer bereiten würde, hilfreich war.

In der dritten Nacht aber wurde die Qual so groß, daß ich nicht mehr wußte, was tun. Ich war aus unruhigem Schlaf erwacht und ertappte mich gerade noch dabei, wieder ans Münster und an den lieben Gott zu denken. Beinahe hätte ich weitergedacht! Ich fühlte, daß meine Widerstandskräfte nachließen. Ich schwitzte vor Angst und setzte mich im Bett auf, um den Schlaf abzuschütteln: «Jetzt kommt es, jetzt gilt es ernst! Ich muß denken. Das muß zuvor ausgedacht werden. Warum soll ich das denken, was ich nicht weiß? Ich will es bei Gott nicht, das steht fest. Aber wer will es? Wer will mich zwingen, etwas zu denken, das ich nicht weiß und nicht will? Woher kommt dieser furchtbare Wille? Und warum sollte gerade ich ihm unterworfen sein? Ich habe mit Lob und Preis an den Schöpfer dieser schönen Welt gedacht, ich war ihm dankbar für dieses unermeßliche Geschenk, und warum sollte gerade ich etwas unvorstellbar Böses denken ? Ich weiß es wirklich nicht, denn ich kann und darf mich ja nicht einmal in die Nähe dieses Gedankens wagen, ohne zu riskieren, ihn sofort denken zu müssen. Das habe ich nicht gemacht und gewollt. Es ist an mich gekommen wie ein böser Traum. Woher kommen solche Dinge? Es ist mir passiert ohne mein Zutun. Wieso? Ich habe mich doch nicht selber geschaffen, sondern ich bin so auf die Welt gekommen, wie mich Gott gemacht hat, d. h. wie ich aus meinen Eltern zustandegekommen bin. Oder haben vielleicht meine Eltern solches gewollt? Meine guten Eltern hätten aber an so etwas überhaupt nie gedacht. So etwas Verruchtes wäre ihnen nie eingefallen.»

Ich fand diese Idee geradezu lächerlich. Dann dachte ich an meine Großeltern, die ich nur von ihren Po rtraits her kannte. Sie


sahen wohlwollend und würdig genug aus, um meine Idee von ihrer möglichen Schuld zu entmutigen. Ich durchflog die lange Reihe unbekannter Ahnen, um schließlich bei Adam und Eva anzulangen. Und damit kam der entscheidende Gedanke: Adam und Eva sind die ersten Menschen; sie hatten keine Eltern, sondern sind von Gott direkt und absichtlich so geschaffen worden, wie sie waren. Sie hatten keine Wahl, sondern mußten so sein, wie sie Gott geschaffen hatte. Sie wußten ja gar nicht, wie sie hätten anders sein können. Sie waren vollkommene Geschöpfe Gottes, denn Er schafft nur Vollkommenes, und doch haben sie die erste Sünde begangen, weil sie taten, was Gott nicht wollte. Wieso war das möglich? Sie hätten es gar nicht tun können, wenn Gott die Möglichkeit nicht in sie gelegt hätte. Das geht ja auch hervor aus der Schlange, die Gott schon vor ihnen geschaffen hatte, offenbar zu dem Zwecke, daß sie Adam und Eva überreden sollte. Gott in Seiner Allwissenheit hat alles so angeordnet, daß die ersten Eltern die Sünde begehen mußten. Es war also die Absicht Gottes, daß sie sündigen mußten.

Dieser Gedanke befreite mich auf der Stelle von meiner ärgsten Qual, denn ich wußte nun, daß Gott selber mich in diesen Zustand gebracht hatte. Ich wußte zunächst nicht, ob Er damit meinte, ich solle die Sünde begehen oder eben gerade nicht. Ich dachte nicht mehr ans Beten um Erleuchtung, denn Gott hatte mich ohne meinen Willen in diese Situation gebracht und mich ohne Beistand darin gelassen. Ich war sicher, daß ich nach Seiner Meinung selber und allein den Ausweg suchen mußte. Damit hob ein weiteres Argument an:

«Was will Gott? Das Tun oder das Nichttun? Ich muß herausfinden, was Gott will und zwar jetzt und mit mir.» Ich wußte zwar, daß es nach der hergebrachten Moral ganz selbstverständlich war, die Sünde zu vermeiden. Das hatte ich eben bis jetzt getan und wußte, daß ich es nicht weiter tun konnte. Mein gestörter Schlaf und meine seelische Not hatten mich so heruntergebracht, daß mein Nichtdenkenwollen zu einem unerträglichen Krampf wurde. Das konnte so nicht weitergehen. Ich konnte aber unmöglich nachgeben, bevor ich verstand, was Gottes Wille war und was Er bezweckte. Ich war nämlich dessen sicher, daß Er der Urheber dieser verzweifelten Schwierigkeit war. Merkwürdigerweise dachte ich nicht einen Moment, daß mir der Teufel einen Streich spielen könnte. Er spielte in meiner damaligen Geistesverfassung eine geringe Rolle und war


Gott gegenüber sowieso machtlos. Etwa vom Moment meines Aus-demNebel-Heraustretens und Ichwerdens an hatten die Einheit, Größe und Übermenschlichkeit Gottes begonnen, meine Phantasie zu beschäftigen. So stand es für mich außer Frage, daß es Gott war, der eine entscheidende Probe mit mir anstellte, und daß alles darauf ankam, Ihn richtig zu verstehen. Ich wußte zwar, daß mein schließliches Nachgeben erzwungen würde; es sollte aber nicht erfolgen ohne mein Verstehen, denn es ging um mein ewiges Seelenheil: «Gott weiß, daß ich nicht mehr lange widerstehen kann und hilft mir nicht, obwohl ich im Begriff stehe, zu der Sünde, die nicht vergeben wird, gezwungen zu werden. Vermöge Seiner Allmacht könnte Er leicht diesen Zwang von mir wegnehmen. Er tut es aber nicht. Sollte es sein, daß Er meinen Gehorsam prüfen will, indem Er mir die ungewöhnliche Aufgabe stellt, etwas zu tun, wogegen ich mich aus allen Kräften sträube, weil ich die ewige Verdammnis fürchte? Denn ich würde mich gegen mein eigenes moralisches Urteil und gegen die Lehren meiner Religion, ja gegen Sein eigenes Gebot vergehen. Könnte es sein, daß Gott sehen möchte, ob ich imstande sei, Seinem Willen zu gehorchen, obwohl mich mein Glaube und meine Einsicht mit Hölle und Verdammnis schrecken ? Das könnte es wahrhaftig sein! Aber das sind bloß meine Gedanken. Ich kann mich irren. Ich kann es nicht wagen, mich dermaßen meinen eigenen Überlegungen anzuvertrauen. Ich muß es nochmals durchdenken!»

Ich kam aber wieder zum selben Schluß. «Gott will offenbar auch meinen Mut», dachte ich. «Wenn dem so ist und ich tue es, dann wird Er mir Seine Gnade und Erleuchtung geben.»

Ich faßte allen Mut zusammen, wie wenn ich in das Höllenfeuer zu springen hätte und ließ den Gedanken kommen: Vor meinen Augen stand das schöne Münster, darüber der blaue Himmel, Gott sitzt auf goldenem Thron, hoch über der Welt, und unter dem Thron fällt ungeheures Exkrement auf das neue bunte Kirchen-dach, zerschmettert es und bricht die Kirchenwände auseinander

Das war es also. Ich spürte eine ungeheure Erleichterung und eine unbeschreibliche Erlösung. An Stelle der erwarteten Verdammnis war Gnade über mich gekommen und damit eine unaussprechliche Seligkeit, wie ich sie nie gekannt hatte. Ich weinte vor Glück und Dankbarkeit, daß sich mir Weisheit und Güte Gottes enthüllt hatten, nachdem ich Seiner unerbittlichen Strenge erlegen war. Das gab mir das Gefühl, eine Erleuchtung erlebt zu haben.


Vieles wurde mir klar, was ich zuvor nicht verstehen konnte. Ich hatte erfahren, was mein Vater nicht begriffen hatte - den Willen Gottes, dem er sich aus den besten Gründen und dem tiefsten Glauben widersetzte. Darum hatte er auch nie das Wunder der Gnade erlebt, die alles heilt und alles verständlich macht. Er hatte sich die Gebote der Bibel zur Richtschnur genommen, er glaubte an Gott, so wie es in der Bibel steht und wie seine Väter ihn gelehrt haben. Aber er kannte nicht den lebendigen unmittelbaren Gott, der allmächtig und frei über Bibel und Kirche steht, den Menschen zu seiner Freiheit aufruft und ihn zwingen kann, auf seine eigenen Ansichten und Überzeugungen zu verzichten, um Seine Forderung unbedingt zu erfüllen. Gott läßt sich in Seiner Erprobung des menschlichen Mutes nicht beeinflussen durch Traditionen und wären sie noch so heilig. Er wird in Seiner Allmacht schon dafür sorgen, daß bei solchen Mutproben nicht etwas wirklich Böses herauskommt. Wenn man den Willen Gottes erfüllt, kann man sicher sein, den richtigen Weg zu gehen.

Gott hatte auch Adam und Eva so geschaffen, daß sie denken mußten, was sie nicht denken wollten. Er tat das, um zu wissen, daß sie gehorsam sind. So kann Er auch von mir etwas verlangen, das ich aus religiöser Tradition heraus ablehnen möchte. Aber der Gehorsam ist es gewesen, der mir die Gnade gebracht hat, und seit jenem Erlebnis wußte ich, was göttliche Gnade ist. Ich hatte erfahren, daß ich Gott ausgeliefert bin, und daß es auf nichts anderes ankommt, als Seinen Willen zu erfüllen. Sonst bin ich dem Unsinn preisgegeben. - Damals hat meine eigentliche Verantwortlichkeit begonnen. Der Gedanke, den ich denken mußte, war mir schrecklich, und mit ihm erwachte die Ahnung, daß Gott etwas Furchtbares sein könnte. Es war ein furchtbares Geheimnis, das ich erlebt hatte, und es bedeutete für mich eine angstvolle und dunkle Angelegenheit. Sie überschattete mein Leben, und ich wurde sehr nachdenklich.

Ich habe das Erlebnis auch als meine Minderwertigkeit empfunden. Ich bin ein Teufel oder ein Schwein, dachte ich, irgend etwas Verworfenes. Aber dann begann ich im Geheimen die Bibel meines Vaters zu erforschen. Mit einer gewissen Genugtuung las ich im Evangelium vom Pharisäer und Zöllner und fand, daß gerade die Verworfenen die Auserwählten seien. Daß der ungetreue Haushalter gelobt wird, und daß Petrus, der Wanke lmütige, zum Fels ernannt wird, machte mir nachhaltigen Eindruck.

Je größer meine Minderwertigkeitsgefühle waren, desto unfaßlicher erschien mir die Gnade Gottes. Ich war ja nie sicher über mich selber. Als meine Mutter einmal sagte: «Du warst immer ein guter Junge», konnte ich das gar nicht fassen. - Ich ein guter Junge ? Das war eine Neuigkeit. Ich dachte immer, ich sei ein verdorbener oder minderwertiger Mensch.

Mit jenem Erlebnis vom Münster war endlich etwas Tatsächliches vorhanden, das zum großen Geheimnis gehörte - so als hätte ich immer von Steinen gesprochen, die vom Himmel fallen, und nun hielte ich einen in der Hand. Aber es war ein beschämendes Erlebnis. Ich war in etwas Übles hineingestoßen, in etwas Böses oder Finsteres, und es war doch zugleich wie eine Auszeichnung. Manchmal verspürte ich einen merkwürdigen Drang zu reden, ohne eigentlich zu wissen wovon. Ich wollte ausprobieren und anfragen, ob andere Leute auch solche Erfahrungen gemacht hätten, oder wollte andeuten, daß es merkwürdige Dinge gäbe, von denen man nichts wisse. Es ist mir nie gelungen, auch nur eine Spur davon bei anderen aufzufinden. So bekam ich das Gefühl, ausgestoßen oder auserwählt, verflucht oder gesegnet zu sein.

Es wäre mir jedoch nie in den Sinn gekommen, von meinem Erlebnis direkt zu reden, noch vom Traum mit dem Phallus im unterirdischen Tempel oder vom geschnitzten Männchen, solange letzteres noch erinnerbar war. Ich wußte, daß ich das nicht könnte. Vom Phallustraum habe ich erst gesprochen, als ich fünfundsechzig Jahre alt war. Die anderen Erlebnisse habe ich vielleicht meiner Frau mitgeteilt, aber auch erst in späteren Jahren. Jahrzehntelang lag von der Kindheit her ein strenges Tabu darauf.

Meine ganze Jugend kann unter dem Begriff des Geheimnisses verstanden werden. Ich kam dadurch in eine fast unerträgliche Einsamkeit, und ich sehe es heute als eine große Leistung an, daß ich der Versuchung widerstand, mit jemandem davon zu sprechen. So war damals schon meine Beziehung zur Welt vorgebildet, wie sie heute ist: auch heute bin ich einsam, weil ich Dinge weiß und andeuten muß, die die anderen nicht wissen und meistens auch gar nicht wissen wollen.

In der Familie meiner Mutter waren sechs Pfarrer, und nicht nur mein Vater war Pfarrer, sondern auch zwei seiner Brüder. So hörte ich viele religiöse Gespräche, theologische Diskussionen und Predigten. Dabei hatte ich immer das Gefühl: «Ja, ja, das ist ganz


schön. Aber wie verhält es sich mit dem Geheimnis? Es ist ja auch das Geheimnis der Gnade. Ihr wißt nichts davon. Ihr wißt nicht, daß Gott will, daß ich sogar das Unrecht tue, das Verfluchte denke, um Seine Gnade zu erleben.» Alles, was die anderen sagten, traf daneben. Ich dachte: «Um Gottes willen, irgend jemand muß doch etwas davon wissen. Irgendwo muß doch die Wahrheit stehen.» Ich stöberte in der Bibliothek meines Vaters und las, was ich nur finden konnte über Gott, Trinität, Geist, Bewußtsein. Ich habe die Bücher verschlungen und bin nicht klug daraus geworden. Immer wieder mußte ich denken: «Die wissen es auch nicht!» Ich las auch in der LutherBibel meines Vaters. Unglücklicherweise hatte mir die übliche «erbauliche» Deutung des Hiob-Buches jedes tiefere Interesse daran genommen. Sonst hätte ich einen Trost darin gefunden, nämlich IX, 30 sq. «Wenn ich mich gleich mit Schneewasser wüsche... so wirst du mich doch tuncken in den Koth.»

Meine Mutter erzählte mir später, ich sei in jener Zeit oft deprimiert gewesen. Das war ich nicht eigentlich; sondern ich war beschäftigt mit dem Geheimnis. Da war es eine merkwürdig selige Beruhigung, auf jenem Stein zu sitzen. Der hat mich von allen Zweifeln befreit. Wenn ich dachte, ich sei der Stein, hörten die Konflikte auf. «Der Stein hat keine Unsicherheit, hat keinen Drang, sich mitzuteilen und ist ewig, lebt für die Jahrtausende», dachte ich. «Ich selber hingegen bin nur ein vorübergehendes Phänomen, das in allen möglichen Emotionen aufgeht, wie eine Flamme, die rasch auflodert und dann verlischt.» Ich war die Summe meiner Emotionen und ein Anderes in mir war der zeitlose Stein.

II

Damals kamen auch profunde Zweifel an allem, was mein Vater sagte. Wenn ich ihn über die Gnade predigen hörte, dachte ich immer an mein Erlebnis. Was er sagte, klang schal und hohl, wie wenn einer eine Geschichte erzählte, die er selber nicht ganz glauben kann oder nur vom Hörensagen kennt. Ich wollte ihm helfen, doch wußte ich nicht wie. Auch hielt mich eine Scheu zurück, ihm mein Erlebnis mitzuteilen oder mich in seine persönliche Präokkupation einzumischen. Dazu fühlte ich mich einerseits zu klein, und andererseits fürchtete ich mich davor, jenes Gefühl von Autorität, das mir meine «zweite Persönlichkeit» einflößte, zur Geltung zu bringen.

Ich habe später, als ich achtzehn Jahre alt war, viele Diskussionen mit meinem Vater gehabt, immer mit der heimlichen Hoffnung, ihn etwas von der wunderwirkenden Gnade wissen zu lassen und ihm dadurch in seinen Gewissensnöten zu helfen. Ich war überzeugt, daß, wenn er den Willen Gottes erfüllte, sich alles zum Besten wenden würde. Unsere Diskussionen hatten aber immer ein unbefriedigendes Ende. Sie reizten und betrübten ihn. «Ach was», pflegte er zu sagen, «du willst immer denken. Man soll nicht denken, sondern glauben.» - Ich dachte: Nein, man muß erfahren und wissen - sagte aber: «Gib mir diesen Glauben», worauf er sich jeweils achselzuckend und resigniert abwandte.

Ich begann Freundschaften zu schließen, meistens mit scheuen Jungen einfacher Herkunft. Meine Schulzeugnisse verbesserten sich. In den folgenden Jahren brachte ich es sogar zum Klassenersten. Ich bemerkte aber, daß unter mir welche waren, die mich beneideten und mich bei jeder Gelegenheit überholen wollten. Das verdarb mir die Laune. Mir waren alle Wettbewerbe verhaßt, und wenn einer aus dem Spiel eine Konkurrenz machte, kehrte ich dem Spiel den Rücken. Ich blieb von da an Zweiter, was mir bedeutend angenehmer war. Die

Schularbeit war mir lästig genug, so daß ich sie mir nicht noch durch Konkurrenzstreberei erschweren wollte. Einige wenige Lehrer, derer ich mit Dankbarkeit gedenke, schenkten mir ein besonderes Zutrauen. Vor allem war es der Lateinlehrer, an den ich gern zurückdenke. Er war Universitätspro fessor und ein sehr gescheiter Mann. Nun kannte ich Latein schon seit meinem sechsten Lebensjahr, weil mein Vater mich darin unterrichtet hatte. So hat mich dieser Lehrer öfters auf die Universitätsbibliothek geschickt, um ihm während der Exerzitien Bücher zu holen, die ich dann auf dem möglichst verlängerten Rückweg mit Entzücken durchschnüffelte.

Den meisten Lehrern galt ich für dumm und verschlagen. Wenn irgend etwas in der Schule schief ging, so wurde in erster Linie ich verdächtigt. Gab es irgendwo eine Keilere i, so wurde vermutet, daß ich der Anstifter gewesen sei. In Wirklichkeit war ich nur einmal in eine Keilerei verwickelt, bei der ich entdeckte, daß ich eine Anzahl Kameraden hatte, die mir feindlich gesinnt waren. Sie legten mir einen Hinterhalt - es waren ihrer sieben - und fielen mich unvermutet an. Damals, mit fünfzehn Jahren, war ich schon stark und groß und war zu Jähzorn geneigt. Ich sah plötzlich Feuer, packte einen an beiden Armen, schwang ihn um mich und schlug


mit seinen Beinen ein paar andere zu Boden. Die Sache wurde den Lehrern bekannt, aber ich erinnere mich nur dunkel an ein Strafverfahren, das mir ungerecht erschien. Von da an aber hatte ich Ruhe. Keiner wagte sich mehr an mich.

Daß ich Feinde hatte und daß man mich meistens ungerechterweise verdächtigte, war mir zwar unerwartet, aber irgendwie nicht unverständlich. Alles, was mir vorgeworfen wurde, ärgerte mich, aber ich konnte es vor mir selber nicht abstreiten. Ich wußte von mir so wenig, und das Wenige war so widerspruchsvoll, daß ich keinen Tadel mit gutem Gewissen abweisen konnte. Ich hatte eigentlich immer ein schlechtes Gewissen und war mir aktueller sowie potentieller Schuld bewußt. Darum war ich für Vorwürfe besonders empfindlich, denn sie trafen alle mehr oder weniger ins Schwarze. Wenn ich es auch nicht in Wirklichkeit getan hatte, so hätte ich es doch wohl tun können. Manchmal machte ich mir sogar Alibi-Notizen für den Fall, daß ich angeklagt würde. Ich fühlte mich direkt erleichtert, wenn ich wirklich etwas angestellt hatte. Dann wußte ich wenigstens, wohin das schlechte Gewissen gehörte.

Natürlich kompensierte ich meine innere Unsicherheit durch äußerliche Sicherheit, oder - besser gesagt - der Defekt kompensierte sich selbst, ohne meinen Willen. Ich fand mich selber vor als einen, der schuldig ist und zugleich unschuldig sein wollte. Im Hintergrund wußte ich immer, daß ich Zwei war. Der eine war der Sohn seiner Eltern; der ging zur Schule und war weniger intelligent, aufmerksam, fleißig, anständig und sauber als viele andere;


der andere hingegen war erwachsen, ja alt, skeptisch, mißtrauisch, der Menschenwelt fern. Dafür stand er vor der Natur, der Erde, der Sonne, dem Mond, dem Wetter, der lebenden Kreatur und vor allem auch der Nacht, den Träumen und was immer «Gott» in mir unmittelbar bewirkte. Ich setze hier «Gott» in Anführungszeichen. Die Natur erschien mir nämlich, so wie ich selber, von Gott abgesetzt, als Nicht-Gott, obschon von Ihm als Ausdruck Seiner Selbst geschaffen. Es wollte mir nicht in den Kopf, daß die Ebenbildlichkeit sich nur auf den Menschen beziehen sollte. Ja, es schien mir, daß die hohen Berge, Flüsse, Seen, die schönen Bäume, Blumen und Tiere viel mehr das Wesen Gottes verdeutlichten als die Menschen in ihren lächerlichen Kleidern, in ihrer Gemeinheit, Dummheit, Eitelkeit, Lügenhaftigkeit und ihrer abscheulichen Eigenliebe. Alle diese Eigenschaften kannte ich nur zu gut aus mir selber, d. h. aus jener Persönlichkeit Nr. l, dem Schuljungen von 1890. Daneben gab es jedoch einen Bereich, wie einen Tempel, in dem jeder Eintretende gewandelt wurde. Von der Anschauung des Weltganzen überwältigt und seiner selbst vergessend konnte er nur noch wundern und bewundern. Hier lebte «der Andere», der Gott als ein heimliches, persönliches und zugleich überpersönliches Geheimnis kannte. Hier trennte nichts den Menschen von Gott. Ja, es war, wie wenn der menschliche Geist zugleich mit Gott auf die Schöpfung blickte.

Was ich heute in Sätze auseinandergefaltet ausdrücke , war mir damals allerdings nicht in artikulierter Form bewußt, wohl aber in überwältigender Ahnung und im tiefsten Gefühl. Sobald ich allein war, konnte ich in diesen Zustand hinübertreten. Hier wußte ich mich würdig und als eigentlichen Menschen. Ich suchte daher die Ungestörtheit und das Alleinsein des anderen, des Nr. 2.

Spiel und Gegenspiel zwischen den Persönlichkeiten Nr. l und Nr. 2, die sich durch mein ganzes Leben zogen, haben nichts mit einer «Spaltung» im üblichen medizinischen Sinne zu tun. Im Gegenteil, sie werden bei jedem Menschen gespielt. Vor allem sind es die Religionen, die seit jeher zu Nr. 2 des Menschen, zum «inneren Menschen», gesprochen haben. In meinem Leben hat Nr. 2 die Hauptrolle gespielt, und ich habe immer versucht, dem freien Lauf zu lassen, was von Innen her an mich heranwollte. Nr. 2 ist eine typische Figur; meist reicht aber das bewußte Verstehen nicht aus zu sehen, daß man das auch ist.

Die Kirche wurde mir allmählich zur Qual, denn dort wurde laut - ich möchte fast sagen: schamlos - von Gott gepredigt, was Er beabsichtigt, was Er tut. Die Leute wurden ermahnt, jene Gefühle zu haben, jenes Geheimnis zu glauben, von dem ich wußte, daß es die innerste, innigste, durch kein Wort zu verratende Gewißheit war. Ich konnte daraus nur schließen, daß anscheinend niemand um dieses Geheimnis wußte, nicht einmal der Pfarrer;


denn sonst hätten sie es nie wagen können, in aller Öffentlichkeit das Gottesgeheimnis preiszugeben und die unsäglichen Gefühle mit abgeschmackten Sentimentalitäten zu profanieren. Überdies war ich sicher, daß dies der verkehrte Weg war, um zu Gott zu gelangen, denn ich wußte ja aus Erfahrung, daß diese Gnade nur dem zuteil wird, der den Willen Gottes unbedingt erfüllt. Das wurde zwar auch gepredigt, aber immer mit der Voraussetzung, daß der Wille Gottes durch die Offenbarung bekannt sei. Mir hingegen


kam er als das Allerunbekannteste vor. Mir schien es, als ob man eigentlich täglich den Willen Gottes erforschen müsse. Ich tat es zwar nicht, aber es war mir sicher, daß ich es tun würde, sobald sich ein dringender Anlaß dazu präsentierte. Nr. l nahm mich zu oft und zu viel in Anspruch. Es schien mir oft, als ob man die religiösen Vorschriften sogar an Stelle des Gotteswillens, der ja so unerwartet und erschreckend sein konnte, setzte, und zwar zu dem Zweck, den Gotteswillen nicht verstehen zu müssen. Ich wurde immer skeptischer, und die Predigten meines Vaters und anderer Pfarrer wurden mir peinlich. Alle Menschen meiner Umgebung schienen den Jargon und die dichte Dunkelheit, die er ausstrahlte, als selbstverständlich zu empfinden und gedankenlos alle Wider-Sprüche zu schlucken, wie z. B. daß Gott allwissend sei und natürlich die Menschheitsgeschichte vorausgesehen habe. Er hat die Menschen so geschaffen, daß sie sündigen mußten, und trotzdem verbietet Er die Sünde und bestraft sie sogar mit ewiger Verdammnis in der Feuerhölle.

Der Teufel spielte lange Zeit keine Rolle in meinen Gedanken. Er erschien mir als der böse Hofhund eines mächtigen Mannes. Niemand hatte die Verantwortung für die Welt als Gott, und Er war, wie ich nur zu gut wußte, auch furchtbar. Es wurde mir zunehmend fragwürdiger und unheimlicher, wenn der «liebe Gott», die Liebe Gottes zum Menschen und die des Menschen zu Gott in den gefühlvollen Predigten meines Vaters angepriesen und anempfohlen wurden. Der Zweifel wurde wach in mir: Weiß er eigentlich, wovon er spricht? Könnte er mich, seinen Sohn, als Menschenopfer abstechen lassen wie Isaak oder einem ungerechten Gerichtshof ausliefern, der ihn kreuzigen ließe wie Jesum? Nein, das könnte er nicht. Also könnte er gegebenenfalls den Willen Gottes, der, wie die Bibel selber zeigt, schlechthin furchtbar sein kann, nicht erfüllen. - Es wurde mir klar, daß wenn unter anderm gemahnt wurde, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, das nur so obenhin und gedankenlos gesagt wurde. Man kannte offenbar den Willen Gottes ganz und gar nicht, denn sonst würde man dieses zentrale Problem mit heiliger Scheu behandeln, schon aus reiner Furcht vor dem Gott, der übermächtig Seinen erschreckenden Willen beim hilflosen Menschen durchsetzen kann, wie es mir geschehen war. Hätte jemand, der den Willen Gottes zu kennen vorgibt, voraussehen können, zu was Er mich veranlaßt hatte? Im Neuen Testament stand jedenfalls nichts dergleichen. Das Alte


Testament, vor allem das Buch Hiob, welches mich in dieser Hinsicht hätte erleuchten können, war mir damals noch zu unbekannt, und auch im Konfirmationsunterricht, in dem ich damals stand, hörte ich nichts Ähnliches. Die Gottesfurcht, die natürlich erwähnt wurde, galt als antiquiert, als «jüdisch» und war längst überholt durch die christliche Botschaft der Liebe und Güte Gottes.

Die Symbolik in meinen Kindheitserlebnissen und die Gewalttätigkeit der Bilder haben mich aufs äußerste gestört. Ich fragte mich: «Wer spricht eigentlich so? Wer hat die Unverschämtheit, einen Phallus so nackt und in einem Tempel darzustellen? Wer macht mich denken, daß Gott so abscheulich Seine Kirche zerstört? War es der Teufel, der das arrangiert hat?» Ich habe nie daran gezweifelt, daß es Gott oder der Teufel gewesen war, der so sprach und solches tat, denn ich fühlte genau, daß nicht ich es war, der die Gedanken und Bilder sich ersonnen hatte.

Das waren die entscheidenden Ereignisse meines Lebens. Damals ist es mir aufgegangen: ich bin verantwortlich, und es liegt an mir wie sich mein Schicksal gestaltet. Es ist mir ein Problem gestellte auf das ich antworten muß. Und wer stellt das Problem ? Das hat mir niemand beantwortet. Ich wußte, daß ich es selber aus eigenstem Innern zu beantworten hätte: ich war allein vor Gott, und Gott allein fragte mich diese schrecklichen Dinge. Von Anfang an war das Gefühl einer Schicksalsbestimmtheit sondergleichen in mir, so als sei ich hineingestellt in ein Leben, das zu erfüllen war. Es gab eine innere Sicherheit, die ich mir nie beweisen konnte. Aber sie war mir bewiesen. Ich hatte die Sicherheit nie, aber sie hatte mich, oft gegen alle Überzeugung vom Gegenteil. Niemand hat mir die Gewißheit nehmen können, daß ich gesetzt sei, das zu tun, was Gott will und nicht, was ich will. Das gab mir oft das Gefühl, in allen entscheidenden Dingen nicht mit den Menschen, sondern allein mit Gott zu sein. Immer, wenn ich «dort» war, wo ich nicht mehr allein war, befand ich mich außerhalb der Zeit. Ich war in den Jahrhunderten, und Der, der dann Antwort gab, war Der, welcher schon immer gewesen war und immer ist. Die Gespräche mit jenem «Anderen» waren meine tiefsten Erlebnisse:


einesteils blutiger Kampf, andererseits höchstes Entzücken.

Über diese Dinge konnte ich natürlich mit niemandem reden. Ich wußte von niemandem in meiner Umgebung, dem ich mich hätte mitteilen können, außer unter Umständen meiner Mutter. Sie


schien ähnlich zu denken wie ich. Aber bald merkte ich, daß sie mir im Gespräch nicht genügte. Sie hat mich vor allem bewundert, und das war nicht gut für mich. So blieb ich mit meinen Gedanken allein. Das war ich auch am liebsten. Ich habe allein für mich gespielt, bin allein gewandert, habe geträumt und hatte eine geheimnisvolle Welt für mich allein.

Meine Mutter war mir eine sehr gute Mutter. Sie hatte eine große animalische Wärme, war ungeheuer gemütlich und sehr korpulent. Sie hatte für alle Leute ein Ohr; auch plauderte sie gern, und das war wie ein munteres Geplätscher. Sie hatte eine ausgesprochene literarische Begabung, Geschmack und Tiefe. Aber das kam eigentlich nirgends recht zum Ausdruck; es blieb verborgen hinter einer wirklich lieben dicken alten Frau, die sehr gastfreundlich war, ausgezeichnet kochte und viel Sinn hatte für Humor. Sie hatte alle hergebrachten traditionellen Meinungen, die man haben kann, aber handkehrum trat bei ihr eine unbewußte Persönlichkeit in Erscheinung, die ungeahnt mächtig war - eine dunkle, große Gestalt, die unantastbare Autorität besaß - darüber gab's keinen Zweifel. Ich war sicher, daß auch sie aus zwei Personen bestand:


die eine war harmlos und menschlich, die andere dagegen schien mir unheimlich. Sie kam nur zeitweise zum Vorschein, aber immer unerwartet und erschreckend. Sie sprach dann wie zu sich selber, aber das Gesagte galt mir und traf mich gewöhnlich im Innersten, so daß ich in der Regel sprachlos war.

Der erste Fall, an den ich mich zu erinnern vermag, ereignete sich, als ich etwa sechs Jahre alt war, aber noch nicht zur Schule ging. Wir hatten damals Nachbarn, die leidlich situierte Leute waren. Sie hatten drei Kinder. Das älteste war ein Sohn, etwa von meinem Alter, und zwei jüngere Schwestern. Es waren eigentlich Stadtleute, die ihre Kinder namentlich sonntags in einer mir lächerlichen Weise herausputzten - Glanzschühchen, Spitzenhöschen, weiße Handschühchen, sauber gewaschen und gekämmt auch am Werktag. Die Kinderchen hielten sich ängstlich fern von dem großen Lausbuben mit zerrissenen Hosen, löcherigen Schuhen und schmutzigen Händen und hatten ein feines Benehmen. Meine Mutter ärgerte mich grenzenlos mit Vergleichen und Ermahnungen:


«Sieh dir diese netten Kinder an, die sind wohlerzogen und höflich, und du bist ein Flegel, mit dem man nichts anfangen kann.» Solche Ermahnungen taten es mir an, und ich beschloß, den Jungen durchzuhauen. Was dann auch geschah. Über dieses Malheur


wutentbrannt, eilte seine Mutter zu meiner Mutter und protestierte mit bewegten Worten gegen meine Gewalttat. Meine Mutter war dementsprechend entsetzt und hielt mir eine lange, mit Tränen gewürzte Strafrede, wie ich sie von ihr noch nie erlebt hatte. Ich war mir nämlich keiner Schuld bewußt, sondern blickte mit Befriedigung auf meine Tat zurück, denn es schien mir, als ob ich die Unzugehörigkeit dieses Fremdlings im Dorfe irgendwie wett gemacht hätte. Ich war von der Aufregung meiner Mutter tief beeindruckt und zerknirscht und zog mich hinter unser altes Spinett an mein Tischchen zurück, wo ich mit meinen Bauklötzchen zu spielen anfing. Es herrschte für geraume Zeit Stille. Meine Mutter hatte sich an ihren gewohnten Platz ans Fenster zurückgezogen und strickte. Da hörte ich sie murmeln und aus einzelnen Worten, die ich aufschnappte, konnte ich entnehmen, daß sie sich mit der vorgefallenen Geschichte beschäftigte, aber diesmal im entgegengesetzten Sinn. Irgendwie klang es, als ob sie mich rechtfertigte. Plötzlich sagte sie laut: «Man hätte natürlich einen solchen Wurf auch gar nie behalten sollen!» Ich wußte ebenso plötzlich, daß sie von den geputzten «Affenkindern» sprach. Ihr Lieblingsbruder war ein Jäger, der Hunde hielt und immer von Hundezucht, Bastarden, Rassen und Würfen sprach. Ich stellte zu meiner Erleichterung fest, daß auch sie diese odiosen Kinder als minderwertige Bastarde betrachtete, und daß ihre Strafpredigt daher nicht für baren Ernst genommen werden durfte. Ich wußte aber dazumal schon, daß ich mich mäuschenstill zu verhalten hatte und ja nicht etwa triumphierend ihr vorhalten durfte: «Siehst du, du bist auch meiner Ansicht.» - Denn sie hätte etwas dergleichen mit Entrüstung zurückgewiesen: «Abscheulicher Bub, wie kannst du deiner Mutter solche Roheiten andichten!» Ich schließe daraus, daß schon eine Reihe von früheren Erfahrungen ähnlicher Art, welche ich aber vergessen habe, vorgelegen haben müssen.

Ich erzähle diese Geschichte, weil sich in der Zeit meiner beginnenden Skepsis wieder ein anderer Fall ereignete, der auf die Zweiheit meiner Mutter ein Licht warf. Es war bei Tisch einmal die Rede davon, wie langweilig die Melodien gewisser Kirchenlieder seien. Man sprach von der Möglichkeit der Revision des Gesangbuches. Da murmelte meine Mutter: «O du Liebe meiner Liebe, du verwünschte Seligkeit.» Wie früher tat ich wieder, als ob ich nichts gehört hätte, und hütete mich, daraus ein Hailoh zu machen, trotz meines Triumphgefühls.

Es bestand ein beträchtlicher Unterschied zwischen den beiden Persönlichkeiten in meiner Mutter. So kam es, daß ich als Kind oft Angstträume von ihr hatte. Tags war sie eine liebende Mutter, aber nachts erschien sie mir unheimlich. Sie war dann wie eine Seherin, die zugleich ein seltsames Tier ist, wie eine Priesterin in einer Bärenhöhle. Archaisch und ruchlos. Ruchlos wie die Wahrheit und die Natur. Dann war sie die Verkörperung dessen, was ich als «natural mind» * bezeichnet habe.

Ich erkenne etwas von dieser archaischen Natur auch in mir. Sie hat mir die nicht immer angenehme Gabe verliehen, Menschen und Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich kann mich zwar täuschen lassen, indem ich mich selber hinters Licht führe, wenn ich etwas nicht wahr haben möchte. Aber im Grunde weiß ich genau, wie die Sachen liegen. Das «wirkliche Erkennen» beruht auf einem Instinkt, oder auf einer participation mystique mit anderen. Man könnte sagen, es seien die «Augen des Hintergrundes», welche in einem unpersönlichen Akt der Anschauung sehen.

Ich habe dies erst später besser begriffen, als mir seltsame Dinge passierten, 2. B. als ich einmal die Lebensgeschichte eines Mannes erzählte, ohne ihn zu kennen. Es war bei der Hochzeit einer Freundin meiner Frau. Die Braut und ihre Familie waren mir vollständig unbekannt. Beim Essen saß mir gegenüber ein Herr in mittlerem Alter mit einem schönen Vollbart, der mir als Anwalt vorgestellt worden war. Wir unterhielten uns angeregt über Kriminalpsychologie. Um ihm eine bestimmte Frage zu beantworten, dachte ich mir die Geschichte eines Falles aus, die ich mit vielen Details ausschmückte. Während ich noch sprach, merkte ich, daß der andere einen völlig veränderten Ausdruck bekam und eine merkwürdige Stille am Tisch entstand. Betreten hörte ich auf zu reden. Gott sei Dank waren wir schon beim Dessert, so stand ich bald auf und ging in die Halle des Hotels. Dort verzog ich mich in eine Ecke, zündete mir eine Zigarre an und versuchte, mir die Situation zu überlegen. In diesem Augenblick kam einer der Herren, die an meinem Tisch gesessen hatten und warf mir vor: «Wie kamen Sie bloß dazu, eine solche Indiskretion zu begehen?» - «Indiskretion?»

1 «Natural mind ist Geist, welcher der Natur entstammt und nichts mit Büchern zu tun hat. Er entspringt der Natur des Menschen wie ein Quell der Erde und spricht die eigentümliche Weisheit der Natur aus. Er sagt die Dinge unbekümmert und ruchlos.» (Aus einem unveröffentlichten Seminarbericht, 1940. Aus dem Englischen übersetzt von A. J.)

- «Ja, diese Geschichte, die Sie erzählt haben!» - «Die habe ich mir doch ersonnen!»

Zu meinem größten Schrecken stellte sich heraus, daß ich die Geschichte von meinem Gegenüber mit allen Einzelheiten erzählt hatte. Noch dazu entdeckte ich in diesem Augenblick, daß ich von der ganzen Erzählung kein Wort mehr erinnerte - bis auf den heutigen Tag ist sie mir unauffindbar geblieben. In seiner «Selbstschau» beschreibt Heinrich Zschokke 2 ein ähnliches Erlebnis: wie er in einer Wirtschaft einen unbekannten jungen Mann als Dieb entlarvt, weil er dessen Diebstahl vor seinem inneren Auge erblickte.

Es ist mir in meinem Leben öfters passiert, daß ich plötzlich etwas wußte, das ich doch gar nicht wissen konnte. Das Wissen kam mir so, wie wenn es mein eigener Einfall gewesen wäre. Ähnlich war es auch bei meiner Mutter. Sie hat nicht gewußt, was sie sagte, sondern es war wie eine Stimme von absoluter Autorität, welche genau das sagte, was zur Situation paßte.

Meine Mutter hat mich meist weit über mein Alter genommen und mit mir wie mit einem Erwachsenen gesprochen. Sie sagte mir offenbar alles das, was sie meinem Vater nicht hat sagen können und machte mich zu früh zum Vertrauten ihrer mannigfachen Sorgen. Als ich etwa elf Jahre alt war, teilte sie mir eine Angelegenheit mit, die meinen Vaterbetraf und mich alarmierte. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, was da zu tun wäre und kam zum Schluß, ich müsse einen gewissen Freund meines Vaters, der mir vom Hörensagen als eine einflußreiche Persönlickkeit bekannt war, zu Rate ziehen. Ohne meiner Mutter ein Wort davon zu sagen, ging ich an einem schulfreien Nachmittag in die Stadt und läutete am Hause dieses Herrn. Die Magd, welche die Tür öffnete, sagte mir, der Herr sei ausgegangen. Enttäuscht und betrübt kehrte ich wieder nach Hause zurück. Aber ich kann schon sagen, es war eine pro videntia specialis, daß er nicht zu Hause war. Bald darauf kam meine Mutter im Gespräch wieder auf diese Angelegenheit zurück und gab mir diesmal eine ganz andere und weit harmlosere Darstellung zum besten, so daß sich a lles in blauen Dunst auflöste. Das traf mich tief, und ich dachte: Und du warst der Esel, der das geglaubt hat und mit seinem blöden Ernstnehmen beinah ein Unglück angerichtet hätte! - Ich beschloß von da an, alles, was

1 Heinrich Zschokke, Schweizer Erzähler und Politiker (1771—1848).

meine Mutter berichtete, durch zwei zu dividieren. Ich hatte nur noch ein bedingtes Vertrauen zu ihr, und das hinderte mich daran, ihr jemals etwas mitzuteilen, was mich ernstlich beschäftigte.

Aber manchmal kamen Augenblicke, wo ihre zweite Persönlichkeit herausbrach, und das, was sie dann sagte, war immer dermaßen «to the point» und so wahr, daß ich davor gezittert habe. Hätte sich meine Mutter dabei behaften lassen, so hätte ich einen Gesprächspartner gehabt.

Bei meinem Vater lag der Fall allerdings anders. Ich hätte ihm gern meine religiösen Beschwernisse unterbreitet und ihn um Rat gefragt, aber ich tat es nicht, weil es mir schien, als ob ich wüßte, was er mir aus ehrenwerten Gründen, seines Amtes wegen antworten müßte. Wie sehr ich mit dieser Annahme recht hatte, bestätigte sich mir wenig später. Mein Vater erteilte mir persönlich Konfirmationsunterricht, der mich maßlos langweilte. Einmal blätterte ich im Katechismus, um etwas anderes zu finden als die mir sentimental klingenden und im übrigen unverständlichen und uninteressanten Ausführungen über den «her Jesus». Da stieß ich auf den Paragraphen über die Dreieinigkeit Gottes. Das war nun etwas, das mein Interesse herausforderte: eine Einheit, die zugleich eine Dreiheit ist. Das war ein Problem, dessen innerer Widerspruch mich fesselte. Ich wartete sehnlichst auf den Moment, wo wir zu dieser Frage kommen würden. Als wir soweit waren, sagte mein Vater: «Wir kämen jetzt zur Dreieinigkeit, wir wollen das aber überschlagen, denn ich verstehe eigentlich nichts davon.» Einerseits bewunderte ich die Wahrhaftigkeit meines Vaters, andererseits aber war ich aufs tiefste enttäuscht und dachte: Da haben wir's, sie wissen nichts davon und denken auch nichts. Wie kann ich dann davon reden ?

Ich machte vergebliche, andeutende Versuche bei gewissen Kameraden, die mir nachdenklich erschienen. Ich fand kein Echo, im Gegenteil ein Befremden, das mich warnte.

Trotz der Langeweile gab ich mir alle Mühe, mich zum Glauben ohne Verstehen zu zwingen - eine Haltung, die derjenigen meines Vaters zu entsprechen schien - und bereitete mich zum Abendmahl vor, auf das ich meine letzte Hoffnung gesetzt hatte. Es war zwar bloß ein Gedächtnismahl, eine Art Erinnerungsfeier für den 1890-30=1860 Jahre zuvor verstorbenen «her Jesus». Aber Er hatte doch gewisse Andeutungen gemacht wie «Nehmet, esset, das ist mein Leib» und damit das Abendmahlbrot gemeint, das wir essen sollten wie Seinen Leib, der doch ursprünglich Fleisch war. Ebenso sollten wir den Wein trinken, der ursprünglich Blut war. Ich hatte verstanden, daß wir Ihn auf diese Weise uns einverleiben sollten. Dies kam mir jedoch als eine so offenkundige Unmöglichkeit vor, daß dahinter nur ein großes Geheimnis stecken konnte. In der Communion, von der mein Vater so viel zu halten schien, würde ich es erfahren. Wesentlich in dieser Erwartung bestand meine Vorbereitung aufs Abendmahl.

Wie es Sitte war, hatte ich als Paten ein Mitglied der Kirchenpflege, einen mir sympathischen alten, schweigsamen Mann, einen Wagner, in dessen Werkstatt ich oft seine geschickte Arbeit an der Drehbank und mit dem Zimmermannsbeil beobachtet hatte. Er kam, feierlich verwandelt durch Gehrock und Zylinder und brachte mich zur Kirche, wo mein Vater im wohlbekannten Ornat, hinter dem Altar stehend, Gebete aus der Liturgie vorlas. Auf dem Altartisch befanden sich große Platten, auf denen kleine Brotstücke lagen. Das Brot stammte, wie ich sah, von dem Bäcker, der wenig gutes und fade schmeckendes Brot lieferte. Aus einer zinnernen Kanne wurde Wein in einen zinnernen Becher geschüttet. Mein Vater aß ein Stückchen Brot, trank einen Schluck Wein, von dem ich wußte, aus welchem Wirtshaus er vorher geholt worden war, und gab den Becher einem der alten Männer weiter. Alle waren steif, feierlich, teilnahmslos, wie mir schien. Ich schaute gespannt zu, konnte aber nicht sehen und erraten, ob etwas Besonderes in ihnen vorging. Es war wie bei allen kirchlichen Handlungen, bei Taufen, Begräbnissen usw. Ich hatte den Eindruck, daß hier etwas vorgenommen und in hergebracht richtiger Weise durchgeführt wurde. Auch mein Vater schien sich Mühe zu geben, die Sache vor allem der Regel entsprechend durchzuführen; und dazu gehörte auch, daß mit Betonung die passenden Worte gesprochen, beziehungsweise gelesen wurden. Es wurde nicht erwähnt, daß es nun 1860 Jahre her war, seit Jesus gestorben, was doch sonst bei allen Erinnerungsfeiern hervorgehoben wird. Ich sah keine Trauer und keine Freude, und für mein Gefühl erschien die Feier, in Anbetracht der außerordentlichen Bedeutung der gefeierten Persönlichkeit, in jeder Hinsicht erstaunlich mager. Sie hielt den Vergleich mit weltlichen Jubiläen keineswegs aus.

Plötzlich kam die Reihe an mich. Ich aß das Brot; es schmeckte fad, wie erwartet. Der Wein, von dem ich nur den kleinsten Schluck nahm, war dünn und "säuerlich, offenbar nicht vom bessern. Dann


kam das Schlußgebet, und alle gingen hinaus, nicht bedrückt und nicht erfreut, sondern mit Gesichtern, die sagten: «So, das wär's jetzt.»

Ich ging mit meinem Vater nach Hause, intensiv bewußt, daß ich einen neuen schwarzen Filzhut und einen neuen schwarzen Anzug trug, der sich schon anschickte, zu einem Gehrock zu werden. Es war eine Art verlängerter Jacke, die nach hinten unten sich in zwei Flügelchen erweiterte, und zwischen ihnen war ein Schlitz mit einer Tasche, in die man das Nastuch versorgen konnte, was mir als eine männliche erwachsene Geste vorkam. Ich fühlte mich sozial gehoben und andeutungsweise in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen; auch gab es heute ein besonders gutes Mittagessen. Ich würde den ganzen Tag im neuen Gewand herumspazieren. Sonst war ich leer und wußte überhaupt nicht, wie ich mich fühlte.

Nur allmählich, im Laufe der folgenden Tage, dämmerte es mir: es hat sich nichts ereignet, ich bin zwar auf dem Gipfel der religiösen Einführung gewesen, wo ich etwas erwartet hatte - ich wußte nicht was. Es war aber nichts geschehen. Ich wußte, daß Gott mir unerhörte Dinge antun konnte, Dinge von Feuer und von überirdischem Licht, aber diese Feier enthielt, für mich wenigstens, keine Spur von Gott. Es war zwar die Rede von Ihm, aber es waren nur Wörter. Auch bei den anderen hatte ich nichts von fas sungsloser Verzweiflung, von übermächtiger Ergriffenheit und strömender Gnade, die für mich das Wesen Gottes ausmachten, wahrgenommen. Ich hatte nichts von «communio» bemerkt, nichts von Vereinigung, oder Einswerden. Einswerden mit wem? Mit Jesus? Er war doch ein Mensch, der vor 1860 Jahren gestorben war. Warum soll man mit ihm einswerden? Er wird «Gottessohn» genannt, war also anscheinend ein Halbgott, wie die griechischen Heroen - wie kann dann ein gewöhnlicher Mensch mit ihm einswerden? Man nennt das «Christliche Religion», aber das hat ja alles mit Gott, wie ich Ihn erfahren hatte, nichts zu tun. Es ist hingegen ganz klar, daß Jesus, der Mann, mit Gott zu tun hatte;


er war verzweifelt in Gethsemane und am Kreuz, nachdem er die Liebe und Güte Gottes als eines guten Vaters gelehrt hatte. Dann hatte er aber auch die Furchtbarkeit Gottes gesehen. Das konnte ich verstehen. Aber wozu dann diese ärmliche Erinnerungsfeier mit diesem Brot und diesem Wein? Es wurde mir langsam klar, daß das Abendmahl für mich ein fatales Erlebnis gewesen war. Es war


leer ausgegangen, mehr noch, es war ein Verlust. Ich wußte, daß ich nie mehr an dieser Zeremonie teilnehmen konnte. Für mich war sie keine Religion und eine Abwesenheit Gottes. Die Kirche war ein Ort, an den ich nicht mehr gehen durfte. Dort war für mich kein Leben, sondern Tod.

Heftigstes Mitleid mit meinem Vater erfaßte mich. Auf einmal verstand ich die Tragik seines Berufes und seines Lebens. Er rang ja mit einem Tode, den er nicht wahrhaben konnte. Ein Abgrund hatte sich geöffnet zwischen ihm und mir, und ich sah keine Möglichkeit, diese unendliche Kluft zu überbrücken. Ich konnte ihn, meinen lieben und generösen Vater, der mir so vieles überließ und mich nie tyrannisiert hatte, nicht in jene Verzweiflung und in jenen Frevel stürzen, die nötig waren zum Erlebnis der göttlichen Gnade. Nur ein Gott kann das. Ich darf es nicht tun. Es wäre unmenschlich. Gott ist nicht menschlich, dachte ich. Das ist Seine Größe, daß nichts Menschliches an Ihn heranreicht. Er ist gütig und furchtbar, beides, und darum eine große Gefahr, vor der man sich natürlicherweise zu retten versucht. Man klammert sich einseitig an Seine Liebe und Güte, damit man nicht dem Versucher und dem Vernichter verfalle. Das hat Jesus auch bemerkt und darum gelehrt: «Führe uns nicht in Versuchung.»

Meine Einigkeit mit der Kirche und mit der menschlichen Umwelt, wie ich sie kannte, zerbrach mir. Ich hatte, wie mir schien, die größte Niederlage meines Lebens erlitten. Die mir als einzig sinnreicher Zusammenhang mit dem Ganzen erscheinende religiöse Anschauung war zerfallen, d. h. ich konnte am allgemeinen Glauben nicht mehr teilhaben, sondern fand mich verwickelt in ein Unaussprechbares, in «mein Geheimnis», das ich mit niemandem teilen konnte. Es war schrecklich und - das war das Schlimmste vulgär und lächerlich, ein teuflisches Gelächter.

Ich begann zu grübeln: Was muß man von Gott denken? Ich hatte jenen Einfall von Gott und dem Münster nicht selber gemacht, noch viel weniger jenen Traum, der mich, als ich drei Jahre alt war, befallen hatte. Es war ein stärkerer Wille als der meinige, der mir beides aufgenötigt hatte. Hatte die Natur in mir es getan ? Aber die Natur ist ja nichts anderes als der Schöpferwille. Es half auch nichts, den Teufel hiefür anzuklagen, denn er war auch eine Kreatur Gottes. Gott allein war wirklich - ein verheerendes Feuer und eine unbeschreibliche Gnade.

Das Versagen des Abendmahls? War das mein Versagen? Ich hatte mich mit allem Ernst vorbereitet und hoffte auf ein Erlebnis der Gnade und Erleuchtung, aber es war nichts geschehen. Gott blieb abwesend. Um Gottes willen fand ich mich von der Kirche und dem Glauben meines Vaters und aller anderen getrennt, insofern diese die christliche Religion vertraten. Ich war aus der Kirche herausgefallen. Das erfüllte mich mit einer Trauer, die alle die Jahre bis zum Beginn meines Studiums überschatten sollte.

III

Ich begann in der relativ bescheidenen Bibliothek meines Vaters, welche mir damals aber beträchtlich vorkam, Bücher zu suchen, die mir sagen könnten, was man über Gott wußte. Ich fand zunächst nur die traditionellen Auffassungen, aber nicht, was ich suchte, nämlich einen Autor, der selbständig nachdachte, bis ich auf Biedermanns «Christliche Dogmatik» vom Jahre 1869 stieß. Hier war anscheinend ein Mann, der selber nachgedacht und sich eigene Auffassungen zurechtgelegt hatte. Ich erfuhr, daß Religion «ein geistiger Akt der Selbstbeziehung des Menschen zu Gott» sei. Das erregte meinen Widerspruch, denn ich verstand Religion als etwas, was Gott mit mir tut; sie ist ein Akt Seinerseits, dem ich einfach ausgeliefert bin, denn Er ist der Stärkere. Meine «Religion» kannte eben keine menschliche Beziehung zu Gott, denn wie könnte man sich auf etwas beziehen, das man so wenig kannte wie Gott? Darum mußte ich mehr von Gott wissen, um eine Beziehung zu Ihm zu finden.

Im Kapitel «Das Wesen Gottes» fand ich, daß sich Gott selber als «Persönlichkeit» bezeuge, «vorstellbar nach der Analogie des menschlichen Ich, und zwar als das einzigartige, schlechthin überweltliche Ich, dessen die ganze Welt ist».

Soweit ich die Bibel kannte, schien mir diese Definition zu stimmen. Gott hat Persönlichkeit und ist das Ich des Universums, so wie ich selber das Ich meiner seelischen und körperlichen Erscheinungsweise bin. Hier aber stieß ich auf ein mächtiges Hindernis:


Persönlichkeit ist doch wohl ein Charakter. Charakter ist dieses und nicht ein anderes, d. h. er hat bestimmte Eigenschaften. Wenn aber Gott alles ist, wie kann Er dann noch einen unterscheidbaren Charakter besitzen? Besitzt Er aber einen Charakter, so kann Er nur das Ich einer subjektiven, beschränkten Welt sein. Und was


für einen Charakter oder was für e ine Persönlichkeit hat Er? Darauf kommt ja alles an, denn sonst kann man sich nicht auf Ihn beziehen.

Ich hatte die stärksten Widerstände dagegen, mir Gott nach Analogie meines Ich vorzustellen. Das erschien mir, wenn nicht direkt blasphemisch, so doch von grenzenloser Anmaßung. «Ich» schien mir sowieso ein schwer faßbarer Tatbestand. Erstens einmal bestanden für mich zwei sich widersprechende Aspekte dieses Faktors: Ich Nr. l und Nr. 2; sodann war das Ich in dieser und der anderen Form etwas höchst Beschränktes; es unterlag allen möglichen Selbsttäuschungen und Irrtümern, Launen, Emotionen, Leidenschaften und Sünden, es erlitt mehr Niederlagen als Erfolge, es war kindisch, eitel, selbstsüchtig, trotzig, liebebedürftig, begeh-rerisch, ungerecht, empfindlich, faul, unverantwortlich usw. Zu meinem Leidwesen ermangelte es vieler Tugenden und Talente, die ich bei anderen neidisch bewunderte. Und das sollte die Analogie sein, nach der wir uns das Wesen Gottes vorzustellen hätten?

Ich suchte eifrig nach anderen Eigenschaften Gottes und fand sie auch alle, wie ich sie bereits aus dem Konfirmationsunterricht kannte. Ich fand, daß nach § 172 «der unmittelbarste Ausdruck für das überweltliche Wesen Gottes ist l. negativ: .Seine Unsichtbarkeit für den Menschen' usw. 2. positiv: ,Sein Wohnen im Himmel' usw.» Dies war katastrophal: sofort nämlich fiel mir das blasphemische Bild ein, welches mir Gott direkt oder indirekt (via Teufel) gegen meinen Willen aufgenötigt hatte.

§ 183 belehrte mich, daß «Gottes überweltliches Wesen gegenüber der sittlichen Welt» in Seiner «Gerechtigkeit» bestehe, und Seine Gerechtigkeit sei nicht bloß eine «richterliche», sondern «ein Ausdruck Seines heiligen Wesens». Ich hatte gehofft, in diesem Paragraphen etwas über die Dunkelheiten Gottes zu vernehmen, welche mir zu schaffen machten: über Seine Rachsucht, Seine gefährliche Zornmütigkeit, Sein unverständliches Verhalten gegenüber den Geschöpfen Seiner Allmacht. Kraft Seiner Allmacht müßte Er wissen, wie untauglich sie waren. Aber es gelüstete Ihn, sie auch noch zu verführen, oder Er stellte sie auf die Probe, obwohl Er den Ausgang Seiner Experimente schon von vornherein wußte. - Ja, was ist der Charakter Gottes? Was ist eine menschliche Persönlichkeit, die so verfährt? Ich wagte nicht, es auszudenken, und dann las ich gar, daß Gott «obgleich Sich selbst genug und für Sich selbst nichts außer Sich bedürftig» die Welt «aus Seinem Wohlgefallen» geschaffen, daß Er «sie als natürliche mit Seiner Güte erfüllt» habe und «als sittliche mit Seiner Liebe erfüllen will».

Zunächst grübelte ich über das befremdliche Wort «Wohlgefallen» nach. Wohlgefallen mit was oder mit wem ? Offenbar mit der Welt, denn Er lobte Sein Tagewerk als gut. Gerade das hatte ich aber nie begriffen. Gewiß ist die Welt über alle Maßen schön, aber auch ebenso grauenhaft. Auf dem Lande in einem kleinen Dorf, wo es wenig Menschen und wenig Ereignisse gibt, erlebt man «Alter, Krankheit und Tod» intensiver, ausführlicher und unverhüllter als anderswo. Obwohl ich noch nicht sechzehn Jahre alt war, hatte ich vieles von der Wirklichkeit des Lebens bei Mensch und Tier gesehen und hatte in Kirche und Unterricht genug gehört vom Leiden und von der Verdorbenheit der Welt. Gott konnte höchstens am Paradies Wohlgefallen empfunden haben, aber auch da hatte Er ja selber dafür gesorgt, daß diese Herrlichkeit nicht zu lange dauern konnte, indem Er die gefährliche Giftschlange, den Teufel selber, hineingesetzt hatte. Hatte Er auch daran ein Wohlgefallen? Ich war zwar sicher, daß Biedermann das nicht meinte, sondern daß er aus jener allgemeinen Gedankenlosigkeit des Religionsunterrichtes, die mir mehr und mehr auffiel, einfach erbaulich daherplapperte und gar nicht merkte, was für Unsinn er sagte. Ich selber nahm zwar nicht an, daß Gott ein grausames Wohlgefallen am unverschuldeten Leiden von Mensch und Tier empfand, es erschien mir aber keineswegs unsinnig zu denken, daß Er beabsichtigt hatte, eine Welt der Gegensätze zu schaffen, in der eines das andere fraß und das Leben eine Geburt zum Tode war. Die «wunderbaren Harmonien» der Naturgesetze kamen mir weit eher als ein mühsam gebändigtes Chaos vor, und der «ewige» Sternhimmel mit seinen vorgeschriebenen Bahnen erschien mir als eine offensichtliche Zusammenhäufung von Zufälligkeiten ohne Ord nung und Sinn, denn die Sternbilder, von denen man sprach, konnte man in Wirklichkeit gar nicht sehen. Es waren bloße Willkürkombinationen.

Inwiefern Gott die natürliche Welt mit Seiner Güte erfüllte, blieb mir dunkel, beziehungsweise äußerst zweifelhaft. Das war offenbar wieder einer jener Punkte, über die man nicht denken durfte, sondern die man glauben mußte. Wenn Gott das «höchste Gut» ist, warum ist Seine Welt, Sein Geschöpf so unvollkommen, so verdorben,so erbarmungswürdig? - Offenbar vom Teufel ge


stochen und durcheinandergebracht, dachte ich. Aber der Teufel ist ja auch das Geschöpf Gottes. Ich mußte also über den Teufel nachlesen. Er schien doch sehr wichtig zu sein. Wieder schlug ich meine Dogmatik auf und suchte nach der Antwort auf diese brennende Frage nach den Gründen des Leidens, der Mangelhaftigkeit und des Bösen und konnte nichts finden. Das schlug dem Faß den Boden aus. Diese Dogmatik war offenbar nichts als Schönschwät -zerei, ja schlimmer noch, eine ungewöhnliche Dummheit, welche nichts anderes konnte, als die Wahrheit verdunkeln. Ich war enttäuscht und noch mehr: ich war empört.

Aber irgendwo und irgendwann mußte es doch Menschen gegeben haben, welche die Wahrheit suchten wie ich, die vernünftig dachten, die nicht sich und andere betrügen und die leidvolle Wirklichkeit der Welt leugnen wollten. In dieser Zeit war es, daß meine Mutter, nämlich ihre Persönlichkeit Nr. 2, plötzlich ohne weitere Präambeln zu mir sagte: «Du mußt einmal den Faust von Goethe lesen.» Wir hatten eine schöne Goetheausgabe letzter Hand, und ich suchte den Faust heraus. Es strömte wie ein Wunderbalsam in meine Seele. Endlich ein Mensch, dachte ich, der den Teufel ernst nimmt und sogar einen Blutpakt abschließt mit dem Widersacher, der die Macht hat, Gottes Absicht, eine vollkommene Welt zu schaffen, zu durchkreuzen. - Ich bedauerte Fau-stens Handlungsweise, denn nach meiner Ansicht hätte er nicht so einseitig und verblendet sein dürfen. Er hätte doch gescheiter und auch moralischer sein sollen! Es erschien mir kindisch, seine Seele so leichtsinnig zu verspielen. Faust war offenbar ein Windbeutel! Auch hatte ich den Eindruck, daß das Schwergewicht und das Bedeutende hauptsächlich auf selten Mephistos lag. Ich hätte es nicht bedauert, wenn Faustens Seele in die Hölle geraten wäre. Es wäre nicht schade um ihn gewesen. Der «betrogene Teufel» am Ende wollte mir gar nicht gefallen, war doch Mephisto alles, nur kein dummer Teufel, der von blöden Engelchen hätte genasführt werden können. Mephisto schien mir in einem ganz ändern Sinne betrogen zu sein: er ist nicht zu seinem verbrieften Recht gekommen, sondern Faust, dieser etwas windige und charakterlose Geselle, hat seinen Schwindel bis ins Jenseits durchgeführt. Dort ist zwar seine Knabenhaftigkeit an den Tag gekommen, aber die Einweihung in die großen Mysterien schien er mir nicht verdient zu haben. Ich hätte ihm noch etwas Fegefeuer gegönnt! Das eigentliche Problem sah ich bei Mephisto, dessen Gestalt mir haften blieb und von dem ich unklar eine Beziehung zum Muttermysterium ahnte. Auf alle Fälle blieben mir Mephisto und die große Einweihung am Schluß als ein wunderbares und geheimnisvolles Erlebnis am Rande meiner Bewußtseinswelt.

Endlich hatte ich die Bestätigung gefunden, daß es doch Menschen gab oder gegeben hatte, welche das Böse und dessen weltumspannende Macht sahen und noch mehr, nämlich die geheimnis volle Rolle, welche es in der Erlösung der Menschen aus Dunkelheit und Leiden spielt. Insoweit wurde mir Goethe zum Propheten. Aber ich konnte es ihm nicht verzeihen, daß er Mephisto mit einer bloßen Spielerei, mit einem tour de passe-passe, im Handkehrum erledigte. Das war mir zu theologisch, zu leichtsinnig und unverantwortlich. Ich bedauerte es aufs tiefste, daß auch Goethe der - oh so trügerischen - Verharmlosung des Bösen zum Opfer gefallen war.

Bei meiner Lektüre hatte ich entdeckt, daß Faust eine Art Philosoph gewesen war und, obschon er sich von der Philosophie abgewandt, doch offenbar von ihr eine Offenheit für die Wahrheit gelernt hatte. Ich hatte bis dahin von der Philosophie so gut wie nichts gehört, und eine neue Hoffnung schien mir zu dämmern. -Vielleicht, dachte ich, gab es Philosophen, die über meine Fragen nachgedacht hatten und mir ein Licht aufstecken könnten.

Da in der Bibliothek meines Vaters keine Philosophen vorkamen - sie waren suspekt, weil sie dachten - so mußte ich mich mit Krugs Allgemeinem Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, 2. Aufl. 1832, begnügen. Ich vertiefte mich sofort in den Artikel über Gott. Zu meinem Mißbehagen begann er mit einer Etymologie des Wortes «Gott», das «unstreitig» von «gut» herkomme und das ens summum oder perfectissimum bezeichne. Man könne, so hieß es weiter, das Dasein Gottes nicht beweisen, auch nicht das Angeborensein der Gottesidee. Letztere könnte, wenn schon nicht actu, so doch potentia von vornherein im Menschen sein. Auf alle Fälle müsse unser «geistiges Vermögen» schon «bis zu einem gewissen Grade entwickelt sein, bevor es fähig ist, eine so erhabene Idee zu erzeugen».

Diese Erklärung erstaunte mich über alle Maßen. Was ist mit diesen «Philosophen» los? fragte ich mich. Sie kennen Gott offenbar nur vom Hörensagen. Da ist es mit den Theologen doch anders; die sind wenigstens sicher, daß Gott existiert, auch wenn sie widersprüchliche Aussagen über Ihn machen. Dieser Krug drückt


sich so gewunden aus, aber man sieht deutlich, daß er eigentlich behaupten möchte, von Gottes Dasein hinlänglich überzeugt zu sein. Warum sagt er es nicht direkt heraus? Warum tut er dergleichen, als ob er wirklich meine, daß man die Idee Gottes «erzeuge» und daß man dazu erst auf einer gewissen Entwicklungsstufe fähig sei? Soviel ich weiß, hatten ja auch die Wilden, die nackt in ihren Wäldern herumstreiften, solche Ideen. Das waren doch keine «Philosophen», die sich hinsetzten, um «eine Idee Gottes zu erzeugen». Auch ich habe doch nie eine «Gottesidee erzeugt». Natürlich kann man Gott nicht beweisen, denn wie könnte z. B. eine Kleidermotte, die australische Wolle frißt, der anderen beweisen, daß es Australien gibt? Gottes Dasein hängt nicht von unseren Beweisen ab. Wie bin ich denn zu meiner Gewißheit Gottes gekommen? Man h atte mir ja in dieser Hinsicht alles mögliche erzählt, und doch konnte ich eigentlich nichts glauben. Nichts hatte mich überzeugt. Von da stammt meine Idee keineswegs. Und es war ja überhaupt keine Idee oder etwas Ausgedachtes. Es war nicht so, als ob man sich etwas vorgestellt und ausgedacht und nachher geglaubt hätte. Z. B. war mir die Geschichte mit dem «her Jesus» immer verdächtig vorgekommen, und ich habe sie nie wirklich geglaubt. Und doch hatte man sie mir mehr aufgedrängt als «Gott», der meistens nur im Hintergrund angedeutet wurde. Warum war mir Gott selbstverständlich? Warum tun diese Philosophen dergleichen, als ob Gott eine Idee sei, eine Art willkürlicher Annahme, die man «erzeugen» kann oder nicht, wo Er doch so offenkundig ist, wie wenn einem ein Ziegel auf den Kopf fällt?

Damals wurde es mir plötzlich klar, daß Gott, für mich wenigstens, eine der allersichersten, unmittelbaren Erfahrungen war. Jene entsetzliche Geschichte mit dem Münster hatte ich doch nicht erfunden. Im Gegenteil, sie wurde mir aufgedrängt, und ich wurde mit größter Grausamkeit gezwungen, sie zu denken. Aber nachher wurde mir unaussprechliche Gnade zuteil.

Ich kam zu dem Schluß, daß mit den Philosophen offenbar etwas nicht stimme, denn sie hatten die kuriose Vorstellung, daß Gott gewissermaßen eine Annahme sei, die man diskutieren könne. Auch fand ich es höchst unbefriedigend, daß ich keine Ansichten über und keine Erklärung für die dunkeln Taten Gottes fand. Diese wären doch, wie mir schien, einer besonderen philosophischen Aufmerksamkeit und Betrachtung würdig. Sie stellen wirklich ein Problem dar, das, wie ich wohl verstand, den Theolo gen schwer fallen mußte. Umso größer war meine Enttäuschung darüber, daß die Philosophen anscheinend nicht einmal davon wußten.

Ich ging daher zum nächsten Artikel über, nämlich zu dem Abschnitt über den Teufel. Wenn man sich diesen, so hieß es, als ursprünglich böse dächte, so würde man sich in handgreifliche Widersprüche verwickeln, d. h. in einen Dualismus geraten. Darum würde man besser daran tun, anzunehmen, daß der Teufel ursprünglich als gutes Wesen geschaffen und erst durch seinen Hochmut verdorben worden sei. Zu meiner großen Genugtuung wies aber der Autor darauf hin, daß diese Behauptung das Böse, das sie erklären wolle, schon voraussetze, nämlich den Hochmut. Im übrigen sei der Ursprung des Bösen «unerklärt und unerklärbar», was für mich hieß: er will, wie die Theologen, nicht darüber nachdenken. Der Artikel über das Böse und dessen Ursprung erwies sich als gleichermaßen unerleuchtend.

Diese hier zusammenhängende Erzählung betrifft Entwicklungen, die, von längeren Zwischenräumen unterbrochen, sich über einige Jahre erstreckten. Sie fanden ausschließlich in meiner Persönlichkeit Nr. 2 statt und waren streng geheim. Ich benutzte die Bibliothek meines Vaters zu diesen Studien ungefragt und nur heimlicherweise. In den Zwischenzeiten las aber Nr. l offen sämtliche Gerstäckerromane, sowie deutsche Übersetzungen der klassischen englischen Romane. Eb enso begann ich deutsche Literatur zu lesen, in erster Linie die Klassiker, insofern sie mir durch die Schule mit ihren unnötig laboriösen Erklärungen von Selbstverständlichkeiten noch nicht verleidet waren. Ich las massenhaft und ohne Plan, Drama, Lyrik, Geschichte, und später naturwissenschaftliche Werke. Die Lektüre war nicht nur interessant, sondern bot mir auch eine wohltuende Zerstreuung. Meine Beschäftigung als Nr. 2 verursachte mir nämlich in zunehmendem Maße Depressionen, da ich auf dem Gebiete der religiösen Fragen nur verschlossene Türen fand, und wo sich solche etwa zufällig öffneten, stieß ich auf Enttäuschungen. Die anderen Menschen schienen wirklich allesamt anderswo zu sein. Ich fühlte mich mit meinen Gewißheiten völlig allein. Ich hätte gern davon mit jemandem gesprochen, aber ich fand nirgends einen Anknüpfungspunkt -im Gegenteil, ich fühlte im anderen ein Befremden, ein Mißtrauen, ein Fürchten, mir entgegenzutreten, das mich der Sprache


beraubte. Das deprimierte mich. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte: warum erlebt niemand Ähnliches wie ich? Warum steht auch in den gelehrten Büchern nichts davon? Bin ich der einzige, der solche Erfahrungen macht? Warum sollte ich der einzige sein? Ich dachte nie, daß ich etwa verrückt wäre, denn Licht und Dunkelheit Gottes erschienen mir als Tatsachen, die mir, obschon sie mein Gefühl beschwerten, verständlich vorkamen.

Die «Einzigartigkeit», in die ich hineingedrängt wurde, empfand ich als bedrohlich, denn sie bedeutete Isolierung, die mir umso unangenehmer erschien, als ich, mehr als mir lieb war, ungerechtfertigterweise als Sündenbock in Betracht kam. Dazu hatte sich etwas ereignet, das mir einen nachhaltigen Eindruck hinterließ. In den Deutschstunden war ich eher mittelmäßig, da mich der Lehrgegenstand, insbesondere die deutsche Grammatik und Syntax, ganz und gar nicht interessierte. Ich war faul und gelangweilt. Die Aufsatzthemata erschienen mir in der Regel flach oder gar läppisch, und meine Aufsätze waren dementsprechend; entweder flüchtig oder mühsam. Ich schlüpfte mit mittleren Noten durch, was mir ganz recht war. Das gefiel nämlich meiner allgemeinen Tendenz, ja nicht aufzufallen, denn ich wollte von dieser «verdammten Isolierung in Einzigartigkeit», in die ich von verschiedensten Seiten gedrängt wurde, um jeden Preis loskommen. Meine Sympathien galten den Buben aus armen Familien, die, wie ich, aus einem Nichts kamen, und oft auch Schwachbegabten, obschon ich mich durch ihre Dummheit und Ungebildetheit oftmals irritieren ließ. Sie boten mir aber andererseits den sehnlichst erwünschten Vorteil, ahnungslos zu scheinen und mir nichts Besonderes anmerken zu lassen. Meine «Besonderung» begann mir allmählich ein unliebsames, ja etwas unheimliches Gefühl zu verursachen, daß ich widerwärtige, mir unbewußte Eigenschaften besitzen müsse, welche Lehrer und Kameraden von mir abstießen.


In diese Situation fiel wie ein Donnerschlag folgendes Ereignis:

Wir hatten ein Aufsatzthema bekommen, welches mich ausnahms weise interessierte. Infolgedessen setzte ich mich mit Eifer dahinter und produzierte eine, wie mir schien, sorgfältige und wohlgelungene Arbeit. Ich erhoffte dafür wenigstens einen der ersten Plätze; nicht etwa den ersten, denn das wäre auffallend, aber einen der nächsten.

Unser Lehrer besprach nämlich die Aufsätze jeweils in der Reihenfolge ihrer Güte. Als erster kam der Aufsatz des Klassen


ersten. Das war in Ordnung. Dann folgten die Aufsätze der anderen, und immer wartete ich vergebens auf meinen Namen; er wollte nicht kommen. Es ist doch unmöglich, dachte ich, daß mein Aufsatz so schlecht ist, daß er noch unterhalb der schlechten Aufsätze sein könnte. Was ist denn los? Oder bin ich am Ende «hors concours», also in unangenehmster Weise auffallend und isoliert ?

Als alle Aufsätze besprochen waren, machte der Lehrer eine Atempause und sagte dann: «Jetzt habe ich noch einen Aufsatz, -den von Jung. Er ist weitaus der beste, und ich hätte ihm den ersten Platz gegeben. Aber leider ist er ein Betrug. Wo hast du ihn abgeschrieben ? Gesteh die Wahrheit!»

Ich fuhr ebenso entsetzt wie wütend auf und rief: «Ich habe ihn nicht abgeschrieben, sondern ich habe mir im Gegenteil besondere Mühe gegeben, einen guten Aufsatz zu schreiben!» Er aber schrie mich an: «Du lügst! So einen Aufsatz kannst du ja gar nicht schreiben. Das glaubt niemand. Also wo hast du ihn abgeschrieben ?»

Ich beteuerte vergebens meine Unschuld. Der Lehrer blieb unerschütterlich und antwortete: «Das kann ich dir sagen: wenn ich wüßte, wo du ihn abgeschrieben hast, würdest du aus der Schule fliegen.» Und wandte sich ab. Meine Kameraden warfen mir zweifelhafte Blicke zu, und ich sah mit Schrecken, daß sie dachten;


«Aha, das ist es!» Meine Beteuerungen fanden kein Echo.

Ich fühlte, daß ich von jetzt an gebrandmarkt war, und alle Wege, die mich aus der «Besonderung» hätten herausführen können, waren mir abgeschnitten. Zutiefst enttäuscht und gekränkt schwor ich dem Lehrer Rache, und wenn ich eine Gelegenheit gehabt hätte, so hätte damals etwas aus der Zeit des Faustrechtes passieren können. Wie in aller Welt konnte ich beweisen, daß ich den Aufsatz nicht abgeschrieben hatte?

Tagelang wälzte ich diese Geschichte in meinen Gedanken und kam immer wieder zum Schluß, daß ich machtlos und einem blinden und dummen Schicksal ausgeliefert sei, das mich zum Lügner und Betrüger stempelte. Es wurde mir jetzt vieles klar, was ich zuvor nicht verstanden hatte, z. B. wieso ein Lehrer zu meinem Vater, der sich nach me inem Verhalten in der Schule erkundigte, gesagt hatte: «Ach, er ist halt mittelmäßig, gibt sich aber ganz ordentlich Mühe.» Man hielt mich für relativ dumm und oberflächlich. Das ärgerte mich nicht eigentlich. Was mich aber wütend


machte, war, daß man mir einen Betrug zumutete und mich damit moralisch erledigte.


Meine Trauer und Wut drohten maßlos zu werden, aber da geschah etwas, das ich schon mehrere Male zuvor beobachtet hatte:


es wurde plötzlich stille, wie wenn gegen einen lärmerfüllten Raum eine schalldichte Türe geschlossen würde. Es war, wie wenn eine kühle Neugier über mich käme mit der Frage: Was ist denn hier los? Du bist ja aufgeregt! Der Lehrer ist natürlich ein Dummkopf, der deine Art nicht versteht, d. h. ebenso wenig versteht wie du. Er ist darum mißtrauisch wie du. Du mißtraust dir selber und anderen und hältst dich deshalb zu den Einfachen, Naiven urid Überschaubaren. Man fällt dann in Aufregungszustände, wenn man nicht versteht.

Angesichts dieser Betrachtung sine ira et Studio fiel mir die Analogie ein mit jener anderen Überlegung, die mit solcher Nachdrücklichkeit eingesetzt hatte, als ich das Verbotene nicht denken wollte. Damals hatte ich zweifellos noch keinen Unterschied zwischen den Persönlichkeiten Nr. l und Nr. 2 gesehen, sondern hatte auch die Welt von Nr. 2 als meine persönliche Welt in Anspruch genommen; doch bestand immer ein hintergründiges Gefühl, daß noch etwas anderes als ich selber dabei war - etwa wie wenn ein Hauch aus der großen Welt der Gestirne und der endlosen Räume mich berührt hätte, oder wie wenn ein Geist unsichtbar ins Zimmer getreten wäre. Einer, der längst vergangen und doch immerwährend bis in ferne Zukunft im Zeitlosen gegenwärtig wäre. Peripetien dieser Art waren umschwebt vom Halo eines Numen.

Ich hätte mich damals selbstverständlich niemals in dieser Art ausdrücken können, doch lege ich nicht jetzt etwas in meinen damaligen Bewußtseinszustand hinein, sondern ich versuche bloß, mit meinen heutigen Mitteln jene Dämmerwelt zu erhellen.

Es war einige Monate nach dem hier beschriebenen Ereignis, als meine Schulkameraden mir den Übernamen «Erzvater Abraham» anhängten. Nr. l konnte das nicht verstehen und fand es dumm und lächerlich. Im Hintergrund aber fühlte ich, daß es mich irgendwie getroffen hatte. Alle Anspielungen auf meinen Hintergrund waren mir peinlich, denn je mehr ich las und mit der städtischen Welt bekannt wurde, desto mehr wuchs in mir der Eindruck, daß das, was ich jetzt als Wirklichkeit kennenlernte, einer anderen Ordnung der Dinge angehörte als jenes Weltbild, das mit mir auf


dem Lande gewachsen war, zwischen Flüssen und Wäldern, zwischen Tieren und Menschen, in einem kleinen Dorf, über dem der Sonnenschein lag, Winde und Wolken zogen, und das eingehüllt war von dunkler, mit unbestimmbaren Dingen erfüllter Nacht. Es war kein bloßer Ort auf der Landkarte, sondern die Gotteswelt, so verordnet und mit geheimem Sinn erfüllt. Das wußten die Menschen anscheinend nicht, und schon die Tiere hatten irgendwie den Sinn dafür verloren. Das sah man im traurig -verlorenen Blick der Kühe und im resignierten Auge der Pferde, in der Ergebenheit des Hundes, der sich an den Menschen klammerte, und sogar im selbstsicheren Auftreten der Katze, welche Haus und Scheune als Wohnsitz und Jagdgrund erkoren hatte. Wie die Tiere schienen mir auch die Menschen unbewußt zu sein; sie blickten auf den Boden oder in die Bäume hinauf, um zu sehen, was man und zu welchem Zwecke man es gebrauchen könnte; wie Tiere scharten, paarten und stritten sie sich und sahen nicht, daß sie im Kosmos wohnten, in der Gotteswelt, in der' Ewigkeit, wo alles geboren wird, und alles schon gestorben ist.

Ich liebte alle warmblütigen Tiere, weil sie uns nah verwandt sind und an unserer Unwissenheit teilhaben. Ich liebte sie, weil sie eine Seele haben wie wir, und wir sie, wie ich glaubte, instinktiv verstehen. Sie erleben ja, so dachte ich, wie wir Freude und Trauer, Liebe und Haß, Hunger und Durst, Angst und Vertrauen - alle wesentlichen Inhalte des Daseins, mit Ausnahme der Sprache, des zugespitzten Bewußtseins, der Wissenschaft. Ich bewunderte zwar die letztere in herkömmlicher Weise, fand aber in ihr die Möglichkeit zu einer Entfernung und Abirrung von der Gotteswelt und einer Degeneration, deren das Tier nicht fähig war. Die Tiere waren die Lieben und Treuen, die Unveränderlichen und Vertrauenswürdigen, aber den Menschen mißtraute ich mehr denn je.

Die Insekten waren keine «richtigen» Tiere und die kaltblütigen Vertebraten bildeten eine wenig geschätzte Zwischenstufe auf dem Weg zu den Insekten. Diese Kategorie von Wesen waren Beobach-tungs- und Sammlungsobjekte, Curiosa, weil fremdartig und außermenschlich, Manifestationen unpersönlicher Wesen, die mehr Verwandtschaft mit Pflanzen hatten als mit Menschen.

Mit dem Pflanzenreich begann die irdische Erscheinung der Gotteswelt als eine Art unmittelbarer Mitteilung. Es war, als ob man dem Schöpfer, der sich unbeobachtet wähnte, über die Schulter geschaut hätte, wie er Spielzeug oder Dekorationsstücke anfer


tigte. Demgegenüber waren der Mensch und die «richtigen» Tiere selbständig gewordene Gottesteile. Darum konnten sie aus freien Stücken herumgehen und ihre Wohnorte wählen. Die Pflanzenwelt dagegen war auf Gedeih und Verderb an ihren Standort gebunden. Sie drückte nicht nur die Schönheit, sondern auch die Gedanken der Gotteswelt aus, ohne irgendwelche Absicht oder Abweichung. Insbesondere waren die Bäume geheimnisvoll und schienen mir den unverständlichen Sinn des Lebens unmittelbar darzustellen. Darum war der Wald der Ort, wo man tiefsten Sinn und schauervolles Wirken am nächsten fühlte.

In diesem Eindruck wurde ich bestärkt, als ich gotische Kathedralen kennenle rnte. Aber hier war die Unendlichkeit von Kosmos und Chaos, von Sinn und Sinnlosigkeit, von subjektloser Absichtlichkeit und mechanischer Gesetzlichkeit im Stein verhüllt. Er enthielt und war zugleich das bodenlose Geheimnis des Seins, ein Inbegriff des Geistes. Das war es, was ich dunkel als meine Verwandtschaft mit dem Stein fühlte: die Gottesnatur in beiden, dem Toten und dem Lebenden.

Es wäre mir damals, wie schon gesagt, nicht möglich gewesen, meine Gefühle und Ahnungen in anschaulicher Weise zu formulieren, denn sie ereigneten sich in Nr. 2, während mein aktives und erfassendes Ich, Nr. l, sich passiv verhielt und aufgenommen war in die Sphäre des «alten Mannes», der in die Jahrhunderte gehörte. Ich erlebte ihn und seinen Einfluß merkwürdig unreflek-tiert: wenn er gegenwärtig war, verblaßte Nr. l bis zum Nichtvorhandensein, und wenn das Ich, das mit Nr. l in zunehmendem Maße identisch wurde, die Szene beherrschte, dann war der «alte Mann», wenn überhaupt erinnert, ein femer und unwirklicher Traum.

Vom sechzehnten bis neunzehnten Lebensjahr hob sich langsam die Wolke meines Dilemmas. Damit besserte sich meine depressive Gemütsverfassung, und Nr. l trat immer deutlicher hervor. Die Schule und das städtische Leben nahmen mich in Anspruch, auch durchdrang oder verdrängte mein vermehrtes Wissen allmählich die Welt der ahnungsvollen Eingebungen. Ich fing an, bewußte Fragestellungen systematisch zu verfolgen. So las ich eine kleine Einführung in die Geschichte der Philosophie und gewann dadurch einen gewissen Überblick über all das, was schon gedacht worden war. Ich fand zu meiner Genugtuung, daß viele meiner Eingebungen ihre historischen Verwandten hatten. Ich liebte vor allem die


Gedanken Pythagoras', Heraklits, Empedokles' und Platos trotz der Langfädigkeit des sokratischen Arguments. Sie waren schön und akademisch wie eine Gemäldegalerie, aber etwas fern. Erst in Meister Eckhart fühlte ich den Hauch des Lebens, ohne daß ich ihn ganz verstanden hätte. Die Christliche Scholastik ließ mich kalt, und der aristotelische Intellektualismus des Hl. Thomas erschien mir lebloser als eine Sandwüste. Jch dachte: Sie alle wollen mit logischen Kunststücken etwas erzwingen, was sie nicht empfangen haben, und um das sie nicht wirklich wissen. Sie wollen sich einen Glauben anbeweisen, wo es sich doch um Erfahrung handelt! - Sie kamen mir vor wie Leute, die vom Hörensagen wußten, daß es Elefanten gibt, aber selber keine gesehen hatten. Nun versuchten sie mit Argumenten zu beweisen, daß es aus logischen Gründen dergleichen Tiere geben müsse, und daß sie so beschaffen sein müßten, wie sie es sind. Die kritische Philosophie des 18. Jahrhunderts ging mir aus verständlichen Gründen zunächst nicht ein. Hegel schreckte mich ab durch seine ebenso mühsame wie anmaßende Sprache, die ich mit unverhohlenem Mißtrauen betrachtete. Er kam mir vor wie einer, der in seinem eigenen Wörtergebäude eingesperrt war und sich dazu noch mit stolzer Gebärde in seinem Gefängnis erging.

Der große Fund meiner Nachforschung aber war Schopenhauer. Er war der erste, der vom Leiden der Welt sprach, welches uns sichtbar und aufdringlich umgibt, von Verwirrung, Leidenschaft, Bösem, das alle anderen kaum zu beachten schienen und immer in Harmonie und Verständlichkeit auflösen wollten. Hier war endlich einer, der den Mut zur Einsicht hatte, daß es mit dem Weltengrund irgendwie nicht zum Besten stand. Er sprach weder von einer allgütigen und allweisen Providenz der Schöpfung, noch von einer Harmonie des Gewordenen, sondern sagte deutlich, daß dem leidensvollen Ablauf der Menschheitsgeschichte und der Grausamkeit der Natur ein Fehler zugrundelag, nämlich die Blindheit des weltschaffenden Willens. Ich fand dies bestätigt durch meine frühen Beobachtungen von kranken und sterbenden Fischen, von räudigen Füchsen, erfrorenen oder verhungerten Vögeln, von der erbarmungslosen Tragödie, die eine blumengeschmückte Wiese verbirgt: Regenwürmer, die von Ameisen zu Tode gequält werden, Insekten, die einander Stück für Stück auseinanderreißen usw. Aber auch meine Erfahrungen am Menschen hatten mich alles andere als den Glauben an ursprüngliche menschliche Güte und


Sittlichkeit gelehrt. Ich kannte mich selber gut genug, um zu wis sen, daß ich mich sozusagen nur graduell von einem Tier unterschied.

Schopenhauers düsteres Gemälde der Welt fand meinen ungeteilten Beifall, nicht aber seine Problemlösung. Es war mir sicher, daß er mit seinem «Willen» eigentlich Gott, den Schöpfer, meinte und diesen als «blind» bezeichnete. Da ich aus Erfahrung wußte, daß Gott durch keine Blasphemie gekränkt wurde, sondern sie im Gegenteil sogar fordern konnte, um nicht nur die helle und positive Seite des Menschen, sondern auch dessen Dunkelheit und Widergöttlichkeit zu haben, so verursachte mir Schopenhauers Auffassung keine Beschwerden. Ich hielt sie für ein durch die Tatsachen gerechtfertigtes Urteil. Umso mehr aber enttäuschte mich sein Gedanke, daß der Intellekt dem blinden Willen nur dessen Bild entgegenhalten müsse, um diesen zur Umkehr zu veranlassen. Wie konnte der Wille überhaupt dies Bild sehen, da er ja blind war? Und warum sollte er, auch wenn er es sehen könnte, dadurch bewogen werden, umzukehren, da das Bild ihm gerade das zeigen würde, was er ja wollte? Und was war der Intellekt? Er ist Funktion der menschlichen Seele, kein Spiegel, sondern ein infinites!-males Spiegelchen, das ein Kind der Sonne entgegenhält und erwartet, daß sie davon geblendet würde. Das erschien mir als völlig inadaequat. Es war mir rätselhaft, wie Schopenhauer auf eine derartige Idee verfallen konnte.

Das veranlaßte mich, ihn noch gründlicher zu studieren, wobei ich in zunehmendem Maße von seiner Beziehung zu Kant beeindruckt wurde. Ich begann daher, die Werke dieses Philosophen, vor allem die «Kritik der reinen Vernunft» mit vielem Kopfzerbrechen zu lesen. Meine Bemühungen lohnten sich, denn ich glaubte den Grundfehler in Schopenhauers System entdeckt zu haben: er hatte die Todsünde begangen, eine metaphysische Aussage zu machen, nämlich ein bloßes nooumenon, ein «Ding an sich» zu hypostasieren und zu qualifizieren. Dies ergab sich aus Kants Erkenntnistheorie, welche für mich eine womöglich noch größere Erleuchtung als Schopenhauers «pessimistisches» Weltbild bedeutete.

Diese philosophische Entwicklung erstreckte sich von meinem siebzehnten Lebensjahr bis weit in die Jahre meines Medizinstudiums hinein. Sie hatte eine umwälzende Änderung meiner Einstellung zu Welt und Leben im Gefolge. War ich früher scheu, angst


lich, mißtrauisch, bleich, mager und von anscheinend schwankender Gesundheit, so meldete sich jetzt ein gewaltiger Appetit in jeder Hinsicht. Ich wußte, was ich wollte und griff danach. Offensichtlich wurde ich auch zugänglicher und mitteilsamer. Ich entdeckte, daß die Armut kein Nachteil und bei weitem nicht der Hauptgrund der Leiden war und daß die Söhne der Reichen keineswegs im Vorteil gegenüber den armen und schlechtbekleideten Jungen waren. Es gab viel tiefere Gründe für Glück und Unglück als den Umfang des Taschengeldes. Ich gewann mehr und bessere Freunde als zuvor. Ich fühlte festeren Boden unter den Füßen und fand sogar den Mut. von meinen Gedanken offen zu reden. Das war aber, wie ich nur zu bald erfuhr, ein Mißverständnis, das ich zu bereuen hatte. Ich stieß nicht nur auf Befremden oder Spott, sondern auch auf feindselige Ablehnung. Zu meinem größten Erstaunen und Mißbehagen entdeckte ich, daß ich gewissen Leuten als Aufschneider und «blagueur» galt. Auch die frühere Verdächtigung als Betrüger wiederholte sich, wenn auch in etwas anderer Form. Wiederum handelte es sich um ein Aufsatzthema, das mein Interesse erregt hatte. Darum schrieb ich den Aufsatz mit besonderer Sorgfalt, wobei ich meinen Stil peinlichst ausfeilte. Das Resultat war niederschmetternd. «Hier ist ein Aufsatz von Jung», sagte der Lehrer, «er ist schlechthin brillant, aber dermaßen aus dem Ärmel geschüttelt, daß man sieht, wie wenig Ernsthaftigkeit und Mühe darauf verwendet worden sind. Das kann ich dir sagen, Jung, mit dieser Leichtfertigkeit wirst du nicht durchs Leben kommen. Da braucht es Ernst und Gewissenhaftigkeit, Arbeit und Mühe. Da sieh dir den Aufsatz von D. an. Er hat nichts von deiner Brillanz, dafür ist er ehrlich, gewissenhaft und fleißig. Das ist der Weg zum Erfolg im Leben.»

Meine Niedergeschlagenheit war nicht so tief wie beim ersten Mal, denn der Lehrer war doch - contre coeur - beeindruckt von meinem Aufsatz und behauptete wenigstens nicht, daß ich ihn gestohlen hätte. Ich protestierte zwar gegen seine Vo rwürfe, wurde aber abgetan mit der Bemerkung: «Nach der Ars Poetica ist zwar dasjenige Gedicht das beste, dem man die Mühe seiner Entstehung nicht anmerkt. Aber das gilt nicht von deinem Aufsatz. Da kannst du mir nichts weismachen. Er ist nur leichtfertig und ohne Anstrengung hingeworfen.» Es waren, wie ich wußte, ein paar gute Gedanken drin, auf die der Lehrer aber überhaupt nicht einging.

Dieser Fall erbitterte mich zwar, aber die Verdächtigungen unter meinen Kameraden wogen mir schwerer, denn sie drohten mich wieder in meine frühere Isolierung und Depression zurückzuwerfen. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wodurch ich solche Verleumdungen verschuldet haben könnte. Durch vorsichtige Erkundigungen erfuhr ich, daß man mir mißtraute, weil ich oft Bemerkungen hinwarf oder Andeutungen machte von Dingen, die ich doch gar nicht wissen könne, so z. B. gäbe ich mir den Anschein, als ob ich etwas von Kant und Schopenhauer verstünde oder von Paläontologie, die man in der Schule ja gar nicht «hätte». Diese erstaunlichen Feststellungen zeigten mir, daß eigentlich alle brennenden Fragen nicht zum Alltag, sondern, wie mein Urgeheimnis, zur Gotteswelt gehörten, von der man besser schweigen sollte,,

Ich hütete mich von da an, diese «Esoterik» unter meinen Kameraden zu erwähnen, und unter den Erwachsenen wußte ich niemanden, mit dem ich hätte reden können, ohne befürchten zu müssen, daß man mich für einen Aufschneider und Betrüger hielt. Was ich dabei am peinlichsten empfand, war die Verh inderung und Lähmung meiner Versuche, die Trennung der beiden Welten in mir aufzuheben. Immer wieder traten Ereignisse ein, die mich aus meinem gewöhnlichen Alltagsdasein hinaus in die grenzenlose «Gotteswelt» drängten.

Der Ausdruck «Gotteswelt», der für g ewisse Ohren sentimenta-lisch klingt, hatte für mich keineswegs diesen Charakter. Zur «Gotteswelt» gehörte alles «Übermenschliche», blendendes Licht, Finsternis des Abgrunds, die kalte Apathie des Grenzenlosen in Zeit und Raum und das unheimlich Groteske der irrationalen Zufalls welt. «Gott» war für mich alles, nur nicht erbaulich.

IV

Je älter ich wurde, desto häufiger wurde ich von meinen Eltern und von anderen Leuten gefragt, was ich eigentlich werden wolle. Darüber war ich mir keineswegs im klaren. Meine Interessen zogen mich nach verschiedenen Seiten. Einesteils zog mich die Naturwis senschaft mit ihrer auf Tatsachen beruhenden Wahrheit mächtig an, andernteils faszinierte mich alles, was mit vergleichender Religionsgeschichte zusammenhing. In ersterer waren es Zoologie, Paläontologie und Geologie, in letzterer griechisch-römische, ägyptische und prähistorische Archäologie, denen meine hauptsächlichen Interessen galten. Damals war es mir allerdings unbekannt, wie sehr diese Auswahl verschiedenster Disziplinen meiner doppelseitigen Natur entsprach: in der Naturwissenschaft befriedigte mich die konkrete Tatsache mit ihren geschichtlichen Vorstufen, in der Religionswissenschaft die geistige Problematik, in die auch die Philosophie einging. In ersterer vermißte ich den Faktor des Sinnes, in letzterer die Empirie. Die Naturwissenschaft entsprach in hohem Maße den geistigen Bedürfnissen von Nr. l, die geisteswissenschaftlichen, beziehungsweise historischen Disziplinen hingegen bedeuteten einen wohltätigen Anschauungsunterricht für Nr. 2.

In dieser widersprüchlichen Situation konnte ich mich lange nicht zurechtfinden. Ich bemerkte, daß mein Onkel, der Senior der Familie meiner Mutter, welcher Pfarrer zu St. Alban in Basel war und in der Familie den Übernamen «Isemännli» trug, mir sachte die Theologie in die Nähe schob. Es war ihm nicht entgangen, mit welch ungewöhnlicher Aufmerksamkeit ich dem Tischgespräch folgte, wenn er mit einem seiner Söhne, die allesamt Theologen waren, ein Fachproblem diskutierte. Ich war nämlich durchaus nicht sicher, ob es nicht am Ende Theologen gab, die mit den schwindelnden Höhen der Universität in naher Beziehung standen und darum mehr wußten als mein Vater. Ich gewann aus diesen Tischgesprächen jedoch nie den Eindruck, daß sie sich mit wirklichen Erfahrungen und gar mit solchen wie den meinen beschäftigten, sondern sie diskutierten ausschließlich Lehrmeinungen über die biblischen Berichte, die mir wegen der zahlreichen und wenig glaubhaften Wundererzäh lungen ausgesprochen unbehaglich waren.

Ich durfte während meiner Gymnasialzeit jeden Donnerstag bei diesem Onkel zu Mittag essen. Ich war ihm aber nicht nur dafür dankbar, sondern auch für den einzigartigen Vorteil, daß ich an seinem Tisch bisweilen einer erwachsenen, intelligenten und intellektuellen Unterhaltung folgen durfte. Daß es etwas derartiges überhaupt gab, war für mich ein großes Erlebnis, denn in meiner Umgebung hatte ich nie gehört, wie jemand sich über gelehrte Gegenstände unterhielt. Ich richtete zwar die Ansprüche an meinen Vater, begegnete aber dort einer mir unverständlichen Ungeduld und ängstlichen Abwehr. Ich verstand erst einige Jahre später, daß mein armer Vater nicht denken durfte, weil er von inneren Zweifeln zerrissen war. Er war auf der Flucht vor sich selber und


insistierte deshalb auf dem blinden Glauben, den er erkämpfen mußte und mit krampfhafter Anstrengung erzwingen wollte. Darum konnte er ihn nicht als Gnade empfangen.

Mein Onkel und meine Vettern konnten mit aller Ruhe über dogmatische Lehrmeinungen von den Kirchenvätern bis zur neuesten Theologie diskutieren. Sie schienen wohl begründet in der Sicherheit einer selbstverständlichen Weltordnung. Doch kam darin der Name Nietzsche überhaupt nicht vor, und der Name Jakob Burckhardt wurde nur mit widerwilliger Anerkennung geäußert. Burckhardt wurde «liberal», «etwas zu freisinnig» genannt, und damit deutete man an, daß er irgendwie schief zu der ewigen Ordnung der Dinge stand. Mein Onkel war, wie ich wußte, ahnungslos, wie fern ich der Theologie stand, und ich bedauerte es sehr, daß ich ihn enttäuschen mußte. Ich hätte es damals aber nie gewagt, mit meinen Problemen herauszurücken, denn ich wußte zu genau, welch unabsehbare Katastrophe für mich daraus hervorgehen würde. Ich hatte ja nichts in den Händen, womit ich mich hätte verteidigen können. Im Gegenteil, die Persönlichkeit Nr. l war entschieden im Vordringen, mit meinen allerdings noch spärlichen naturwissenschaftlichen Kenntnissen, die völlig vom damaligen Wissenschaftsmaterialismus durchtränkt waren. Nur mühsam wurde sie in Schach gehalten durch das Zeugnis der Geschichte und durch die «Kritik der Reinen Vernunft», die anscheinend niemand in meiner Umgebung verstand. Zwar wurde Kant von meinen Theologen in lobendem Ton erwähnt. Seine Grundsätze wurden jedoch nur auf den gegnerischen Standpunkt angewandt, nicht aber auf den eigenen. Auch dazu sagte ich nichts.

Infolgedessen wurde es mir immer ungemütlicher, wenn ich mich mit meinem Onkel und seiner Familie zu Tisch setzte. Für mein habituell schlechtes Gewissen wurden die Donnerstage zu schwarzen Tagen. In dieser Welt sozialer und spiritueller Sicherheit und Gelassenheit fühlte ich mich immer weniger Zuhause, obschon ich nach den Tropfen geistiger Anregung dürstete, die dort gelegentlich fielen. Ich kam mir unehrlich und verworfen vor. Ich mußte mir gestehen: Ja, du bist ein Betrüger, du lügst und täuschest die Menschen, die dir doch wohlwollen. Sie können ja nichts dafür, daß sie in einer Welt der sozialen und geistigen Sicherheit wohnen, daß sie nichts wissen von Armut, daß ihre Religion auch zugleich ihr bezahlter Beruf ist und daß sie sich offenbar keine Gedanken darüber machen, wie Gott selber einen Menschen aus seiner eigenen


geistigen Weltordnung herausreißen und zur Blasphemie verdammen kann. Ich habe keine Möglichkeit, es ihnen zu erklären. Ich muß also dieses Odium auf mich nehmen und es ertragen lernen. Das war mir allerdings bis jetzt nur schlecht gelungen.

Diese Zuspitzung des moralischen Konfliktes in mir brachte es mit sich, daß mir Nr. 2 zunehmend zweifelhafter und unangenehmer wurde, eine Tatsache, die ich mir nicht mehr länger verheimlichen konnte. Ich versuchte, die Persönlichkeit Nr. 2 auszulöschen, aber es wollte mir nicht gelingen. Ich konnte sie zwar in der Schule und in der Gegenwart meiner Kameraden vergessen, auch entschwand sie mir beim Studium der Naturwissenschaften, aber sobald ich allein zu Hause oder in der Natur war, kamen Schopenhauer und Kant wieder mächtig zurück und mit ihnen die große «Gotteswelt». Meine naturwissenschaftlichen Kenntnisse waren auch darin enthalten und erfüllten das große Gemälde mit Farben und Gestalten. Nr. l aber und seine Bekümmernisse um die Berufswahl sanken als eine kleine Episode in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts unter den Horizont. Wenn ich von meinem Ausflug in die Jahrhunderte wieder zurückkam, so geschah dies mit einer Art Katzenjammer. Ich, d. h. Nr. l, lebte jetzt und hier und hatte sich über kurz oder lang eine definitive Vorstellung davon zu machen, welchen Beruf er ergreifen wollte.

Mein Vater sprach mehrere Male ernstlich mit mir: ich könne irgendein Studium wählen, aber, wenn es auf seinen Rat ankäme, dann lieber nicht Theologie. «Du kannst alles werden, nur kein Theologe!» Es bestand damals bereits etwas wie eine stillschweigende Übereinkunft zwischen uns, daß gewisse Dinge kommentarlos gesagt und getan werden konnten. Er hatte mich z. B. nie darüber zur Rede gestellt, warum ich die Kirche so oft wie möglich schwänzte und nie mehr am Abendmahl teilnahm. Es wurde mir leichter, je ferner ich der Kirche rückte. Was ich vermißte, war einzig die Orgel und der Choral, keineswegs aber die «kirchliche Gemeinschaft». Darunter konnte ich mir überhaupt nichts vorstellen; denn die Leute, die aus Gewohnheit regelmäßig in die Kirche gingen, schienen mir untereinander noch weniger «Gemeinschaft» zu haben als die «Weltlichen». Diese letzteren waren allerdings weniger tugendhaft, dafür aber viel nettere Leute mit natürlichen Gefühlen, umgänglicher und fröhlicher, wärmer und herzlicher.

Ich konnte meinen Vater beruhigen, daß es mich keinesfalls gelüstete, Theologe zu werden. Ich schwankte unentschieden zwi


sehen Natur- und Geisteswissenschaft. Beide zogen mich mächtig an. Es fing mir aber an klar zu werden, daß Nr. 2 kein pied-ä-terre hatte. In ihm war ich dem Hier und Jetzt enthoben; in ihm fühlte ich mich als ein Auge im tausendäugigen Weltall, aber außerstande, auf der Erde auch nur einen Kieselstein zu bewegen. Dagegen empörte sich Nr. l: er wollte tun und bewirken, fand sich aber in einem vorderhand unlösbaren Zwiespalt. Ich mußte offenbar abwarten und zusehen, was geschehen würde. Wenn mich damals jemand fragte, was ich werden wolle, so pflegte ich zu sagen: Philologe, worunter ich mir heimlich assyrische und ägyptische Archäologie vorstellte. In Wirklichkeit betrieb ich aber naturwissenschaftliche und philosophische Studien in meinen Mußestunden und besonders in den Ferien, die ich mit Mutter und Schwester zu Hause verbrachte. - Die Zeiten, wo ich zur Mutter lief und lamentierte: «Es ist langweilig, ich weiß nicht, was ich tun soll!» waren längst vorüber. Die Ferien waren jeweils die große Zeit, wo ich mich allein unterhalten konnte. Überdies war dann, wenigstens im Sommer, mein Vater fort, da er seine Ferien fast regelmäßig in Sachsein verbrachte.

Nur ein einziges Mal trat das Ereignis ein, daß auch ich eine Ferienreise machte. Ich war vierzehn Jahre alt, als unser Arzt mir einen Kuraufenthalt im Entlebuch verschrieb, um meinem damaligen schwankenden Gesundheitszustand und meinem launischen Appetit aufzuhelfen. Zum ersten Mal war ich allein unter fremden erwachsenen Leuten, einquartiert im Hause des katholischen Pfarrers. Das bedeutete für mich ein unheimliches und zugleich faszinierendes Abenteuer. Den Pfarrer selber bekam ich kaum zu Gesicht, und seine Haushälterin war eine zwar etwas kurz angebundene, aber im übrigen keineswegs beunruhigende Persönlichkeit. Es ereigneten sich keine bedrohlichen Dinge. Ich war unter der Obhut eines alten Landarztes, der eine Art Hotel-Sanatorium für Rekonvaleszenten aller Art unterhielt. Es war eine in jeder Hinsicht gemischte Gesellschaft: bäurische Leute, kleine Beamte und Kaufleute und einige wenige gebildete Leute von Basel, darunter ein Dr. phil., ein Chemiker. Mein Vater war auch ein Dr. phil., aber ein Philolog und Linguist. Der Chemiker aber war für mich ein höchst interessantes Novum, ein Naturwissenschaftler, einer, der vielleicht sogar die Geheimnisse der Steine verstand! Er war ein noch junger Mann, der mich Croquetspielen lehrte, aber nichts


von seinem (vermutlich ungeheuren) Wissen verlauten ließ; ich war zu scheu, zu unbeholfen und viel zu unwissend, um ihn zu fragen. Er wurde aber von mir verehrt als der erste leibhaftige Kenner der Naturgeheimnisse (oder wenigstens eines Teiles derselben), den meine Augen erblickten. Er saß an der gleichen Table d'hote, aß dieselben Speisen wie ich und wechselte sogar gelegentlich einige Worte mit mir. Ich fühlte mich in die höhere Sphäre der Erwachsenen entrückt. Daß ich auch an den Ausflügen der Pensionäre teilnehmen durfte, bestätigte meine Rangerhöhung. Bei ein er dieser Gelegenheiten besuchten wir eine Distillerie, wo wir zu einer Kostprobe eingeladen wurden. In wörtlicher Erfüllung des klassischen Wortes: Nun_aber_naht_sich_das_Malör, Denn_dies_Getränke_ist_Likör........ ... fand ich die verschiedenen Gläschen so begeisternd, daß ich mich in einen mir ganz neuen und unerwarteten Bewußtseinszustand versetzt fühlte: es gab kein Innen und Außen, kein Ich und die Anderen, kein Nr. l und Nr. 2, keine Vorsicht und Ängstlichkeit mehr. Die Erde und der Himmel, die Welt und alles, was darin «kreucht und fleucht», rotiert, aufsteigt oder herunterfällt, war einsgeworden. Ich war schamerfüllt und triumphbeglückt betrunken. Ich war wie in einem Meer seliger Nachdenklichkeit ertrunken und hielt mich infolge heftiger Meeresbewegung mit Augen, Händen und Füßen an allen soliden Gegenständen fest, um mein Gleichgewicht auf wogender Straße und zwischen sich neigenden Häusern und Bäumen zu wahren. Großartig, dachte ich, nur leider gerade etwas zu viel. - Das Erlebnis fand zwar ein etwas jammervolles Ende, blieb aber eine Entdeckung und Ahnung von Schönheit und Sinn, die ich nur infolge meiner Dummheit leider verdorben hatte.

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