Dann wechselte die Szene des Traumes, und er befand sich mit mir in einem großen achteckigen und gewölbten Raum in der Mitte der Zitadelle. Der Raum war ganz weiß, sehr einfach und sehr eindrucksvoll. Den Wänden aus hellem Marmor entlang standen niedere Sofas, und vor mir am Boden lag ein geöffnetes Buch mit schwarzen Lettern, die außerordentlich schön auf milchweißes Pergament geschrieben waren. Es war keine arabische Schrift, sondern sah eher aus wie uigurische, west-turkestanische Schrift, die mir aus den manichäischen Turfanfragmenten bekannt war. Ich kannte zwar den Inhalt nicht, hatte aber dennoch das Gefühl, es sei «mein Buch», das ich geschrieben hatte. Der junge Fürst, mit dem ich eben noch gerungen hatte, saß rechts von mir auf dem Boden. Ich erklärte ihm, er müsse nun, da ich ihn überwunden hätte, das Buch lesen. Aber dagegen sträubte er sich. Ich legte meinen Arm um seine Schulter und zwang ihn sozusagen mit väterlicher Güte und Geduld, das Buch zu lesen. Ich wußte, daß das unbedingt sein mußte, und schließlich gab er nach.

Der Traum hinterließ mir einen tiefen Eindruck. Der arabische Jüngling ist ein Duplikat des stolzen Arabers, der grußlos an uns vorüber geritten war. Er ist als Bewohner der Kasba eine Figur des Selbst, oder besser, ein Bote oder Abgesandter des Selbst. Die Kasba nämlich, aus der er kommt, ist ein vollkommenes Mandala:


die Zitadelle, umgeben von der quadratischen Mauer mit den vier Toren. In seiner Absicht, mich umzubringen, klingt das Motiv vom Kampfe Jakobs mit dem Engel an; er ist - um in der Sprache der Bibel zu reden - wie der Engel des Herrn, ein Gottesbote, der den Menschen töten will, weil er ihn nicht kennt.

Eigentlich sollte der Engel in mir Wohnung haben. Er kennt jedoch nur die «englische» Wahrheit und versteht nichts vom Menschen. Darum tritt er zuerst als mein Feind auf, ich behaupte mich aber ihm gegenüber. Im zweiten Teil des Traumes bin ich der Herr der Zitadelle; er sitzt zu meinen Füßen und muß meine Gedanken und damit den Menschen kennenlernen.

Meine Begegnung mit der arabischen Kultur hatte mich offenbar überwältigend getroffen. Das emotionale, lebensnähere Wesen dieser aus Affekten lebenden, nicht reflektierenden Menschen hat einen starken, suggestiven Effekt auf jene historischen Schichten in uns, die wir eben überwunden haben, oder wenigstens überwunden zu haben glauben. Es ist wie das Kindheitsparadies, dem man sich entronnen wähnt, das uns aber bei der leisesten Provokation wiederum Niederlagen beibringt. Ja, unsere Fortschrittsgläubigkeit


steht in Gefahr, sich umso kindischeren Zukunftsträumen hinzugeben, je stärker unser Bewußtsein von der Vergangenheit wegdrängt.

Die Kindheit hat es aber andererseits an sich, daß sie vermöge ihrer Naivität und Unbewußtheit ein vollständigeres Bild des Selbst, des ganzen Menschen in seiner unverfälschten Individualität, entwirft. Infolgedessen erweckt der Anblick des Kindes und des Primitiven im erwachsenen Kulturmenschen Sehnsüchte, die unerfüllten Wünschen und Bedurfnissen entstammen. Diese entsprechen Persönlichkeitsteilen, die zugunsten der Angepaßtheit, der Persona, aus dem Gesamtbild des Menschen wegretouchiert worden waren.

Wenn ich nach Afrika reise, um einen psychischen Ort außerhalb des Europäers zu finden, so will ich unbewußterweise jenen Persönlichkeitsteil in mir auffinden, welcher unter dem Einfluß und dem Druck des Europäerseins unsichtbar geworden ist. Dieser Teil steht in unbewußter Opposition zu mir, weil ich ihn nicht gelten lasse. Er will, seiner Natur entsprechend, mich unbewußt machen (mich unters Wasser drücken), um mich zu töten; ich aber möchte ihn durch Erkenntnis bewußter machen, wodurch man einen gemeinsamen Modus vivendi finden könnte. Seine beinahe schwarze Hautfarbe charakterisiert ihn als «Schatten», aber nicht als persönlichen, sondern vielmehr als ethnischen, der nichts mit meiner bewußten Person, sondern mehr mit dem Ganzen meiner Persönlichkeit, d. h. mit meinem Selbst, zu tun hat. Als Herr der Kasba ist er sozusagen eine Art Schatten des Selbst. Dem großenteils rational bestimmten Europäer ist viel Menschliches fremd, und er tut sich darauf etwas zugute, ohne zu merken, daß dies auf Kosten seiner Lebensintensität geht und daß der primitive Persönlichkeitsteil infolgedessen zu einer partiellen Untergrundexistenz verurteilt ist.

Aus dem Traum geht deutlich hervor, in welchem Sinn meine Begegnung mit Nordafrika auf mich gewirkt hat: Ich wurde zunächst von einer Überwältigung meines europäischen Bewußtseins durch einen unerwartet heftigen Angriff seitens der unbewußten Psyche bedroht. Im Bewußtsein war ich einer solchen Situation ganz und gar nicht gewahr; im Gegenteil, ich konnte mich eines Gefühls der Superiorität nicht erwehren, weil ich auf Schritt und Tritt an mein Europäertum erinnert wurde. Das war nicht zu umgehen und betonte eine gewisse Distanz und Fremdheit diesen andersartigen Menschen gegenüber. Aber darauf war ich nicht


gefaßt, daß es unbewußte Kräfte in mir gab, welche sich mit solcher Intensität der Sache der anderen annahmen, daß sich daraus ein heftiger Konflikt ergab. Der Traum drückte ihn im Bild einer mörderischen Situation aus.

Die wirkliche Natur dieser Störung erkannte ich erst einige Jahre später, als ich im tropischen Afrika weilte: es war die erste Andeutung des «going black under the skin», einer weithin unterschätzten geistigen Gefahr, die dem entwurzelten Europäer in Afrika droht. «Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch», dieses Hölderlinsche Wort fiel mir in solcher Situation des öfteren ein. Das «Rettende» liegt darin, daß man sich die unbewußte Einwirkung bewußt machen kann mit Hilfe warnender Träume. Sie zeigen, daß etwas in uns nicht etwa nur passiv der unbewußten Einwirkung unterliegt, sondern sich sogar mit Begierde darauf stürzt, sich mit dem Schatten zu identifizieren. Wie etwa eine Kindheitserinnerung sich plötzlich mit derart lebhaftem Affekt des Bewußtseins bemächtigen kann, daß man sich wieder ganz in die ursprüngliche Situation zurückversetzt fühlt, so weckt diese anscheinend ganz andere und fremde arabische Umwelt eine Urerinnerung an eine nur zu bekannte Vorzeit, die wir anscheinend gänzlich vergessen haben. Es ist die Erinnerung an eine noch vorhandene Lebensmöglichkeit, die aber von der Zivilisation überwachsen wurde. Würden wir sie naiv wiedererleben, so wäre dies ein Rückfall in die Barbarei. Man zieht deshalb vor, sie zu vergessen. Tritt sie uns aber in Form eines Konfliktes wieder entgegen, so sollte man sie im Bewußtsein behalten und beide Möglichkeiten - die gelebte und die vergessene - miteinander konfrontieren; denn ohne zureichende Gründe hätte sich das scheinbar Verlorene nicht wie-der zum Worte gemeldet. In der lebendigen psychischen Struktur geschieht nichts auf bloß mechanis che Weise, sondern in der Ökonomie des Ganzen, bezogen aufs Ganze: es ist zweckhaft und hat Sinn. Weil aber das Bewußtsein nie einen Überblick über das Ganze hat, so kann es in der Regel diesen Sinn nicht verstehen. Man muß sich darum vorerst mit der Konstatierung der Tatsache begnügen und es der Zukunft und weiteren Nachforschungen überlassen, eine Antwort auf die Frage zu finden, was dieser Zusammenstoß mit dem «Schatten des Selbst» zu bedeuten hat. Auf alle Fälle hatte ich damals keine Ahnung von der Natur dieser archetypischen Erfahrung und noch viel weniger von den geschichtlichen Parallelen. Ohne daß mir die letzte Bedeutung des Traumes damals klar wurde,


blieb er mir unvergeßlich im Gedächtnis haften und hinterließ den lebhaftesten Wunsch, bei nächster Gelegenheit wieder nach Afrika zu fahren. Dieser Wunsch ging mir erst fünf Jahre später in Erfüllung.

Die Pueblo-lndianer

Wir bedürfen immer eines außerhalb der Sache liegenden Stand-Punktes, um den Hebel der Kritik wirksam anzusetzen. J^es^ilt ganz besonders für psychologische Dinge, in denen wir naturgemäß viel mehr subjektiv befangen sind als in irgendeiner anderen Wissenschaft. Wie können wir uns z. B. nationaler Eigentümlichkeiten bewußt werden, wenn wir nie Gelegenheit hatten, unsere Nation einmal von außen anzusehen? Von außen ansehen, heißt vom Standpunkt einer anderen Nation aus sehen. Dazu muß man sich eine genügende Kenntnis der fremden Kollektivseele erwerben, und in diesem Assimilationsprozeß stößt man dann auf alle jene Unverträglichkeiten, welche das nationale Vorurteil und die nationale Eigenart ausmachen. Alles, was mich am Anderen irritiert, kann mir so zur Erkenntnis meiner selbst werden. England verstehe ich erst, wenn ich sehe, wo ich als Schweizer nicht hineinpasse. Europa, unser größtes Problem, verstehe ich erst, wenn ich sehe, wo ich als Europäer nicht in die Welt hineinpasse. Ich habe meiner Bekanntschaft mit vielen Amerikanern und meinen Reisen nach und in Amerika unendlich viel an Einsicht in und an Kritik über das europäische Wesen zu verdanken, und es schien mir, als ob es nichts Nützlicheres für den Europäer gäbe, als sich Europa einmal vom Dach eines Wolkenkratzers aus anzusehen. Zum ersten Mal hatte ich das europäische Schauspiel von der Sahara aus betrachtet, umgeben von einer Zivilisation, die sich zu der unsrigen etwa so verhält wie das römische Altertum zur Neuzeit. Da wurde es mir bewußt, wie sehr ich auch in Amerika noch im Kulturbewußtsein des weißen Mannes be- und gefangen war. Damals reifte in mir der Wunsch, die historischen Vergleiche noch weiter zu führen dadurch, daß ich auf ein noch tieferes Kulturniveau hinunterstieg.

Meine nächste Reise führte mich in Gesellschaft einiger amerikanischer Freunde zu den Indianern Neu-Mexikos, und zwar zu den städtebauenden Pueblos. «Städte» ist allerdings zu viel gesagt. Es sind ja in Wirklichkeit nur Dörfer, aber ihre gedrängten und übereinander gebauten Häuser suggerieren das Wort «Stadt», eben


so ihre Sprache und ihre ganze Manier. Dort hatte ich zum ersten Mal das Glück, zu einem Nichteuropäer, d. h. zu einem nichtweis -sen Menschen zu sprechen. Es war ein Häuptling der Taos pueblos, ein intelligenter Mann zwischen vierzig und fünfzig Jahren. Er hieß Ochwiä Biano (Gebirgs-See). Ich konnte zu ihm sprechen, wie ich noch selten zu einem Europäer gesprochen hatte. Gewiß, er war befangen in seiner Welt, ebenso befangen wie ein Europäer in der seinigen, aber in was für ein er Welt! Spricht man zu einem Europäer, so gerät man überall auf den Sand des Längstbekannten und doch nie Verstandenen, dort aber schwimmt das Schiff auf fremden, tiefen Meeren. Dabei weiß man nicht, was entzückender ist, der Anblick neuer Gestade oder die Entdeckung neuer Zugänge zum Uraltbekannten und Fastvergessenen.

«Sieh», sagte Ochwiä Biano, «wie grausam die Weißen aussehen. Ihre Lippen sind dünn, ihre Nasen spitz, ihre Gesichter sind von Falten gefurcht und verzerrt, ihre Augen haben einen starren Blicke sie suchen immer etwas. Was suchen sie ? Die Weißen wollen immer etwas, sie sind immer unruhig und rastlos. Wir wissen nicht^ was sie wollen. Wir verstehen sie nicht. Wir glauben, daß sie verrückt sind.»

Ich fragte ihn, warum er denn meine, die Weißen seien alle verrückt. Er entgegnete: «Sie sagen, daß sie mit dem Kopf denken.» «Aber natürlich. Wo denkst du denn?» fragte ich erstaunt. «Wir denken hier», sagte er und deutete auf sein Herz. Ich versank in langes Nachsinnen. Zum ersten Mal in meinem Leben, so schien es mir, hatte mir jemand ein Bild des wirklichen weißen Menschen gezeichnet. Es war mir, als hätte ich bis jetzt nur sentimentalisch-beschönigende farbige Drucke gesehen. Dieser Indianer hatte unseren verwundbaren Fleck getroffen und etwas berührt, wofür wir blind sind. Ich fühlte, wie etwas Unbekanntes und doch innigst Vertrautes in mir aufstieg wie ein formloser Nebel. Und aus diesem Nebel löste sich nun Bild um Bild, zuerst römische Legionen, wie sie in die Städte Galliens einbrachen, Julius Caesars scharf geschnittene Züge, Scipio Africanus, Pompejus. Ich sah den römischen Adler an der Nordsee und am Gestade des Weißen Nils. Dann sah ich Augustinus, wie er das christliche Credo den Briten auf römischen Lanzenspitzen überreicht, und Karls des Großen rühmlichst bekannte Heidenbekehrungen; dann die plündernden und mordenden Scharen der Kreuzfahrerheere, und mit einem


heimlichen Stich wurde mir die Hohlheit der traditionellen Kreuzzugsromantik klar. Sodann kamen Columbus, Cortez und die anderen Conquistadores, die mit Feuer, Schwert, Tortur und Christentum selbst diese entlegenen, friedlich in der Sonne, ihrem Vater, träumenden Pueblos erschreckten. Ich sah auch die Entvölkerung der Südseeinseln mittels scharlachinfizierter Kleider, Feuerwasser und Syphilis.

Damit hatte ich genug. Was wir als Kolonisation, Heidenmis sion, Ausbreitung der Zivilisation usw. bezeichnen, hat noch ein anderes Gesicht, ein Raubvogelgesicht, das mit grausamer Konzentration nach ferner Beute späht, ein Gesicht, das eines Geschlechtes von See- und Landräubern würdig ist. Alle die Adler und sonstigen Raubtiere, die unsere Wappenschilder zieren, schienen mir passende psychologische Exponenten unserer wahren Natur zu sein.

Noch etwas anderes, das mir Ochwiä Biano sagte, haftete. Was er sagte, scheint mir dermaßen mit der eigentümlichen Atmosphäre zusammenzuhängen, daß mein Bericht unvollständig wäre, wenn ich nichts davon erwähnte. Unsere Unterredung fand statt auf dem Dach des fünften Stockwerks des Hauptgebäudes. Von dort sah man Gestalten auf den anderen Dächern stehen, in ihre Wolldecken gehüllt, versunken in den Anblick der wandernden Sonne, die sich täglich in einen reinen Himmel erhob. Um uns herum gruppierten sich die niedrigeren, aus luftgetrockneten Ziegeln (Adobe) gebauten viereckigen Häuser mit den charakteristischen Leitern, die von der Erde aufs Dach oder von Dach zu Dach zu höheren Stockwerken führten. (In den früheren unruhigen Zeiten pflegte der Eingang im Dach zu sein). Vor uns dehnte sich die wellige Hochebene von Taos (ca. 2300 m über Meer) bis an den Horizont, wo sich einige konische Gipfel (alte Vulkane) bis 2u 4000 m erhoben. Hinter uns strömte ein klarer Fluß an den Häusern vorbei, und auf dem anderen Ufer stand ein zweites Pueblo mit seinen rötlichen Adobehäusern, die gegen das Zentrum der Ansiedlung aufeinandergebaut waren, in seltsamer Weise die Perspektive einer amerikanischen Großstadt mit ihren Wolkenkratzern im Zentrum antizipierend. Vielleicht eine halbe Stunde flußaufwärts erhob sich ein gewaltiger isolierter Berg, der Berg, der keinen Namen hat. Es geht die Sage, daß an Tagen, wo der Berg in Wolken gehüllt ist, die Männer bergwärts verschwinden zur Ausübung mysteriöser Riten.

Der Pueblo -Indianer ist ungemein verschlossen, und in Sachen seiner Religion wird er überhaupt unzugänglich. Aus seiner Religionsübung macht er absichtlich ein Geheimnis. Es wird so streng gewahrt, daß ich den Weg der direkten Befragung als hoffnungslos aufgab. Noch nie zuvor hatte ich eine solche Atmosphäre von Geheimnis empfunden, denn die Religionen der heutigen Kulturvölker sind allen zugänglich; ihre Sakramente haben längst aufgehört, Mysterien zu sein. Hier aber war die Luft erfüllt von einem Geheimnis, das allen bewußt, dem Weißen aber unzugänglich war. Diese seltsame Situation gab mir eine Ahnung von Eleusis, dessen Geheimnis einer Nation bekannt war und doch niemals verraten wurde. Ich verstand, was ein Pausanias oder Herodot fühlte, wenn er schrieb: «... den Namen jenes Gottes zu nennen, ist mir nicht erlaubt.» Ich empfand es jedoch nicht als Geheimnistuerei, sondern fühlte ein vitales Geheimnis, dessen Verrat Gefahr für den Einzelnen sowohl wie für die Kollektivität bedeutet. Die Bewahrung des Geheimnisses gibt dem Pueblo Stolz und Widerstandskraft gegenüber dem übermächtigen Weißen. Sie gibt ihm Zusammenhalt und Einigkeit, und man fühlt es als Gewißheit, daß die Pueblos als in:


dividuelle Kollektivität solange bestehen werden, als ihre Mysterien nicht abgesetzt oder entweiht werden.

Es war mir erstaunlich zu sehen, wie der Ausdruck des Indianers sich ändert, wenn er von seinen religiösen Vorstellungen spricht. Im gewöhnlichen Leben zeigt er beträchtliche Selbstbeherrschung und Würde bis zu fast apathischem Gleichmut. Wenn er dagegen von Dingen redet, die zu seinen Mysterien gehören, so erfaßt ihn eine überraschende Emotion, die er nicht verbergen kann, eine Tatsache, die meiner Neugier sehr zustatten kam. Wie ich schon sagte, mußte ich die direkte Befragung als aussichtslos aufgeben. Wenn ich aber etwas Wesentliches wissen wollte, so machte ich tastende Bemerkungen und beobachtete das Gesicht meines Gegenübers auf die mir so wohlbekannten Affektbewegungen hin. Wenn ich das Wesentliche getroffen hatte, so schwieg er zwar oder gab eine ausweichende Antwort, aber mit allen Anzeichen eines tiefen Affektes, oft stiegen ihm Tränen in die Augen. Seine Auffassungen sind ihm keine Theorien (die schon ganz merkwürdig beschaffen sein müßten, sollten sie einem Tränen entlocken), sondern Tatsachen von ebenso großer und ergreifender Bedeutung wie die ihnen entsprechenden äußeren Wirklichkeiten.

Als ich mit Ochwiä Biano auf dem Dach saß,und die Sonne


mit blendendem Licht höher und höher stieg, sagte er, auf die Sonne deutend: «Ist nicht der, der dort geht, unser Vater? Wie kann man anderes sagen? Wie kann ein anderer Gott sein? Nichts kann ohne die Sonne sein.» Seine Erregung, die bereits merklich war, steigerte sich noch, er rang nach Worten und rief endlich aus:


«Was will ein Mann allein in den Bergen? Er kann ja nicht einmal sein Feuer bauen ohne ihn.»

Ich fragte ihn, ob er nicht dächte, die Sonne sei eine feurige Kugel, von einem unsichtbaren Gott geformt. Meine Frage erregte nicht einmal Erstaunen, geschweige denn Unwillen. Es reagierte offensichtlich überhaupt nichts in ihm, auch fand er meine Frage nicht einmal dumm. Sie ließ ihn gänzlich kalt. Ich hatte das Gefühl, an eine unübersteigbare Wand gekommen zu sein. Die einzige Antwort, die ich erhielt, war: «Die Sonne ist Gott. Jeder kann es sehen.»

Obschon sich niemand dem gewaltigen Eindruck der Sonne entziehen kann, war es mir doch eine neue und mich tief berührende Erfahrung, diese gereiften, würdigen Männer von einer Emotion ergriffen zu sehen, die sie nicht verbergen konnten, wenn sie von der Sonne sprachen.

Ein anderes Mal stand ich am Fluß und schaute zum Berg hinauf, der sich noch fast 2000 Meter über die Hochebene erhebt. Ich dachte gerade, dies sei das Dach des amerikanischen Kontinentes, und die Leute wohnten hier im Angesicht der Sonne wie die Männer, die in Decken gehüllt auf den höchsten Dächern des Pueblo stehen, stumm und in sich versunken, im Angesicht der Sonne. Da sprach plötzlich eine tiefe, von heimlicher Emotion vibrierende Stimme von hinten in mein linkes Ohr: «Denkst du nicht, daß alles Leben vom Berge kommt ?» Ein älterer Indianer war auf unhörbaren Mokassins herangekommen und stellte mir diese - ich weiß nicht, wie weit reichende Frage. Ein Blick auf den Fluß, der vom Berge herunterströmt, zeigte mir das äußere Bild, von dem diese Anschauung gezeugt war. Offenbar kam hier alles Leben vom Berge, denn wo Wasser ist, da ist Leben. Nichts war offenkundiger. Ich fühlte in seiner Frage eine mit dem Wort «Berg» anschwellende Emotion und dachte an das Gerücht über heimliche, auf dem Berge zelebrierte Riten. Ich antwortete ihm: «Jedermann kann sehen, daß du die Wahrheit sprichst.»

Leider wurde die Unterhaltung bald unterbrochen, und so gelang es mir nicht, eine tiefere Einsicht in den Symbolismus des Wassers und des Berges zu gewinnen.

Ich bemerkte, daß die Pueblo -Indianer, so ungern sie von etwas sprachen, das ihre Religion betraf, mit großer Bereitwilligkeit und Intensität von ihrem Verhältnis zu den Amerikanern redeten. «Warum», sagte Mountain Lake, «lassen uns die Amerikaner nicht in Ruhe ? Warum wollen sie unsere Tänze verbieten ? Warum wollen sie unseren jungen Leuten nicht erlauben, die Schule zu verlassen, wenn wir sie in die Kiwa (Kultstätte) nehmen und in der Religion unterrichten wollen ? Wir tun doch nichts gegen die Amerikaner!» Nach längerem Stillschweigen fuhr er fort: «Die Amerikaner wollen unsere Religion verbieten. Warum können sie uns nicht in Ruhe lassen ? Was wir tun, tun wir doch nicht nur für uns, sondern auch für die Amerikaner. Ja, wir tun es für die ganze Welt. Es kommt ja allen zugute.»


Ich merkte an seiner Erregung, daß er offenbar auf etwas sehr Wichtiges in seiner Religion anspielte. Ich fragte ihn deshalb:


«Meint ihr, daß das, was ihr in eurer Religion tut, der ganzen Welt zugute komme?» Er antwortete mit großer Lebhaftigkeit:


«Natürlich, wenn wir das nicht täten, was müßte dann aus der Welt werden?» Und mit einer andeutungsvollen Geste zeigte der Sprecher auf die Sonne.

Ich fühlte, daß wir hier auf ein sehr heikles Gebiet kamen, das an die Mysterien des Stammes grenzte. «Wir sind doch ein Volk», sagte er, «das auf dem Dach der Welt wohnt, wir sind die Söhne des Vaters Sonne, und mit unserer Religion helfen wir unserem Vater täglich, über den Himmel zu gehen. Wir tun dies nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt. Wenn wir unsere Religion nicht mehr ausüben können, dann wird bis in zehn Jahren die Sonne nicht mehr aufgehen. Dann wird es für immer Nacht werden.»

Da wurde mir deutlich, worauf die «Würde», die gelassene Selbstverständlichkeit des einzelnen Mannes, beruhte: Er ist der Sonnensohn, sein Leben ist kosmologisch sinnvoll, hilft er doch dem Vater und Erhalter allen Lebens in seinem täglichen Auf- und Abstieg. Vergleichen wir damit unsere Selbstbegründung, unseren Lebenssinn, den unsere Vernunft formuliert, so können wir nicht anders, als von seiner Armseligkeit beeindruckt sein. Aus lauter Neid schon müssen wir die indianische Naivität belächeln und uns in unserer Klugheit erhaben vorkommen, um nicht zu entdecken^ wie verarmt und heruntergekommen wir sind. Das Wissen bereichert uns nicht, sondern entfernt uns mehr und mehr von der mythischen Welt, in der wir einst heimatberechtigt waren.

Sehen wir einen Augenblick ab von allem europäischen Rationalismus und versetzen wir uns in die klare Höhenluft jener einsamen Hochebene, die auf der einen Seite in die weiten kontinentalen Prärien und auf der anderen Seite zum Stillen Ozean abfällt, begeben wir uns gleichzeitig unserer Weltbewußtheit und tauschen wir dafür einen unermeßlich scheinenden Horizont mit einer jenseits liegenden Weltunbewußtheit ein, so fangen wir an, den Gesichtspunkt des Pueblo -Indianers zu verstehen. «Alles Leben kommt vom Berge» ist unmittelbar überzeugend für ihn. Ebenso tief ist es ihm bewußt, daß er auf dem Dach einer unermeßlichen Welt wohnt, zunächst dem Gotte. Er vor allen hat das Ohr der Gottheit, und seine kultische Handlung wird am ehesten die ferne Sonne erreichen. Die Heiligkeit der Berge, die Offenbarung Jahwes auf dem Sinai, die Inspiration, die Nietzsche im Engadin empfing, liegen auf der gleichen Linie. Die uns absurd erscheinende Idee, daß ein kultisches Handeln die Sonne magisch «bewirken» könne, ist bei näherem Zusehen zwar nicht weniger irrational, aber uns doch bedeutend vertrauter, als man zunächst vermuten könnte. Unsere christliche Religion, wie übrigens jede andere, ist durchtränkt von dem Gedanken, daß man durch besondere Handlungen oder eine besondere Art des Handelns den Gott beeinflussen könne, z. B. durch Riten oder durch Gebet oder durch eine Gott wohlgefällige Moral.

Der Einwirkung des Gottes auf den Menschen steht die kultische Handlung des Menschen als eine Antwort und Rückwirkung gegenüber, und vielleicht nicht nur als das, sondern auch als aktive «Bewirkung», als magischer Zwang. Daß sich aber der Mensch imstande fühlt, auf die übermächtige Einwirkung des Gottes vollgültig zu antworten und eine selbst dem Gotte wesentliche Rückleistung zu geben, ist ein stolzes Gefühl, welches das menschliche Individuum zur Würde eines metaphysischen Faktors erhebt. «Gott und wir» auch wenn es nur ein unbewußtes sous-entendu ist -dieses äquivalente Verhältnis liegt wohl jener beneidenswerten Gelassenheit zugrunde. Ein solcher Mensch ist im vollsten Sinne des Wortes an seinem Platze.

Kenya und Uganda


Tout est bien sortant des mains de l'Auteur des choses. Rousseau

Als ich die Wembley Exhibition (1925) in London besuchte, regte mich die ausgezeichnete Schau der unter englischer Herrschaft stehenden Völkerschaften mächtig an, und ich beschloß, in naher Zukunft eine Reise ins tropische Afrika zu unternehmen. Schon lange hatte mich der Wunsch beschäftigt, längere Zeit in einem Land und unter Menschen zu verbringen, die möglichst wenig mit Europa zu tun hatten.

Im Herbst 1925 begab ich mich mit zwei Freunden, einem Engländer und einem Amerikaner, nach Mombasa. Wir reisten auf einem WoermanDampfer, zusammen mit vielen jungen Engländern, die Stellungen in verschiedenen afrikanischen Kolonien angenommen hatten. Man merkte es der Atmosphäre an, daß die Passagiere keine Vergnügungsreisenden waren, sondern einem Schicksal entgegengingen. Wohl herrschte oft laute Fröhlichkeit, aber ein ernster Unterton war unverkennbar. In der Tat vernahm ich noch vor meiner Rückreise vom Schicksal mehrerer meiner Mitreisenden. Einige waren schon im Laufe der nächsten zwei Monate vom Tod ere ilt worden. Sie starben an Malaria tropica. Amöbendysenterie und Pneumonie. Unter den Toten befand sich auch der junge Mann, der mir am Tisch stets gegenüber gesessen hatte. Ein anderer war Dr. Akley, der sich um die Erhaltung der Gorillas verdient gemacht hatte, und mit dem ich kurz vor meiner afrikanischen Reise in New York zusammengetroffen war. Gleichzeitig mit mir war er, aber vom Westen her, zu einer Expedition ins Gorillagebiet aufgebrochen und starb dort, als ich noch am Mt. Elgon weilte. Ich hörte von seinem Tode erst nach meiner Rückkehr.

Mombasa ist in meiner Erinnerung eine feucht-heiße, in einem Wald von Palmen und Mangobäumen versteckte europäische, sowie eine indische und eine Negersiedlung, ungemein malerisch an einem natürlichen Hafen gelegen und überragt von einem alten portugiesischen Fort. Wir blieben dort zwei Tage und fuhren dann gegen Abend mit einer Schmalspurbahn ins Innere, nach Nairobi und zugleich in die tropische Nacht hinein.

Im Küstenstreifen kamen wir an zahlreichen Negerdörfern vorbei, wo die Leute um kleine Feuer saßen und sich unterhielten. Bald begann die Bahn zu steigen. Die Siedlungen hörten auf, und es herrschte pechschwarze Nacht. Es wurde allmählich kühler, und ich fiel in Schlaf. Als der erste Sonnenstrahl den Beginn des Tages verkündete, wachte ich auf. Gerade wand sich der Zug, in eine rote Staubwolke gehüllt, um einen steilen Abhang aus roten Felsen - da stand auf einer Felszacke über uns regungslos eine braunschwarze, schlanke Gestalt auf einen langen Speer gestützt und schaute auf den Zug herunter. Neben ihm ragte ein riesiger Kandelaberkaktus.

Ich war von diesem Anblick wie verzaubert. Es war ein fremdartiges, nie geschautes Bild und doch zugleich ein intensivstes «sen-timent du dejä vu», ein Gefühl, wie wenn ich diesen Augenblick schon einmal erlebt und schon immer jene Welt, die nur durch Zeitferne von mir getrennt war, gekannt hätte. Es war mir, als kehrte ich eben in das Land meiner Jugend zurück und als kennte ich jenen dunkeln Mann, der seit fünftausend Jahren auf mich wartete.

Der Gefühlston dieses wunderlichen Erlebnisses begleitete mich auf der ganzen Reise durch das wilde Afrika. Ich kann mich nur einer einzigen anderen Erfahrung des Unbekannten erinnern, und das war, als ich zum ersten Mal zusammen mit meinem früheren Chef, Prof. Eugen Bleuler, eine parapsychologische Erscheinung beobachtet hatte. Zuvor hatte ich mir vorgestellt, daß ich vor Erstaunen vergehen müßte, wenn ich etwas derart Unmögliches sähe. Als es aber geschah, war ich überhaupt nicht erstaunt, sondern fand das Phänomen ganz in Ordnung, wie wenn es selbstverständlich und mir schon längst bekannt gewesen wäre.

Ich ahnte nicht, welche Saite der Anblick des einsamen dunkeln Jägers in mir zum Erklingen brachte. Ich wußte nur, daß seine Welt die meine war seit ungezählten Jahrtausenden.

Etwas traumbefangen kam ich um die Mittagszeit in dem 1800 m hoch gelegenen Nairobi an, in einer unbeschreiblich blendenden Lichtfülle, die mich an den Sonnenglanz des Engadins erinnerte, wenn man aus den Winternebeln des Tieflandes heraufkommt. Zu meiner Verwunderung trugen die zahlreichen, am Bahnhof versammelten Boys die altmodischen, grauen und weißen wollenen Skimützen, die man im Engadin zu sehen oder selber zu tragen gewohnt war. Sie wurden hoch geschätzt, weil man den aufgestülp ten Rand wie ein Visier herunterlassen konnte, in den Alpen ein guter Schutz gegen den eisigen Wind, hier aber gegen die strahlende Hitze.

Von Nairobi aus besuchten wir mit einem kleinen Fordwagen die Athi Plains, ein großes Wildreservat. Auf einem niedrigen Hügel in dieser weiten Savanne erwartete uns eine Aussicht sondergleichen. Bis an den fernsten Horizont sahen wir riesige Tierherden: Gazellen, Antilopen, Gnus, Zebras, Warzenschweine usw. Langsam strömend, grasend, die Köpfe nickend bewegten sich die Herden - kaum daß man den melancholischen Laut eines Raubvogels vernahm. Es war die Stille des ewigen Anfangs, die Welt, wie sie immer schon gewesen, im Zustand des Nicht-Seins; denn bis vor kurzem war niemand vorhanden, der wußte, daß es «diese Welt» war. Ich entfernte mich von meinen Begleitern, bis ich sie nicht mehr sah und das Gefühl hatte, allein zu sein. Da war ich nun der erste Mensch, der erkannte, daß dies die Welt war und sie durch sein Wissen in diesem Augenblick erst wirklich erschaffen hatte.

Hier wurde mir die kosmische Bedeutung des Bewußtseins überwältigend klar. «Quod natura relinquit imperfectum, ars perficit» (was die Natur unvollständig läßt, vervollständigt die Kunst), heißt es in der Alchemie. Der Mensch, ich, gab der Welt in unsichtbarem Schöpferakt erst die Vollendung, das objektive Sein. Man hat diesen Akt dem Schöpfer allein zugeschrieben und nicht bedacht, daß wir damit Leben und Sein als eine auskalkulierte Maschine ansehen, die sinnlos, mitsamt der menschlichen Psyche, nach vorbekannten und -bestimmten Regeln weiterläuft. In einer solchen trostlosen Uhrwerkphantasie gibt es kein Drama von Mensch, Welt und Gott; keinen «neuen Tag», der zu «neuen Ufern» führt, sondern nur die öde errechneter Abläufe. Mein alter Pueblo -Freund kam mir in den Sinn: er glaubte, daß die rai-son d'etre seiner Pueblos die Aufgabe sei, ihrem Vater, der Sonne, täglich über den Himmel zu helfen. Ich hatte sie um dieser Sinn-erfülltheit willen beneidet und mich ohne Hoffnung nach unserem eigenen Mythus umgeschaut. Jetzt wußte ich ihn und dazu noch mehr: der Mensch ist unerläßlich zur Vollendung der Schöpfung, ja er ist der zweite Weltschöpfer selber, welcher der Welt erst das objektive Sein gibt, ohne das sie ungehört, ungesehen, lautlos fressend, gebärend, sterbend, köpfenickend durch Hunderte von Jahr-mjllionen in der tiefsten Nacht des Nicht-Seins zu einem unbe-stimmten Ende hin ablaufen würde. Menschliches Bewußtsein erst hat objektives Sein und den Sinn geschaffen, und dadurch hat der Mensch seine im großen Seinsprozeß unerläßliche Stellung gefunden.

Mit der damals im Bau befindlichen Ugandabahn begaben wir uns zu ihrer vorläufigen Endstation Sigistifour (sixty-four). Unsere Boys luden das umfangreiche Expeditionsgepäck aus. Ich setzte mich auf eine chopbox (Lebensmittelkiste, je eine Kopflast) und zündete mir eine Pfeife an, meditierend über die Tatsache, daß wir uns hier sozusagen am Rande der oikumene (gr. der bewohnten Erde) befanden, von wo sich Pisten und Pfade endlos über den Kontinent erstreckten. Nach einer Weile gesellte sich ein älterer Engländer, offenbar ein Squatter, zu mir, setzte sich und zog ebenfalls eine Pfeife hervor. Er erkundigte sich, wohin wir gingen. Als ich ihm unsere Ziele skizziert hatte, fragte er: «Is this the first timc you are in Africa? I am here since forty years.»

«Ja», antwortete ich, «wenigstens in diesem Teil von Afrika.» «Then may I give you a piece of advice? You know, Mister, this here country is not Man's, it is God's country. So, if anything should happen, just sit down and don't worry.» Worauf er sich grußlos erhob und in der Schar der herbeigeströmten Neger verschwand.


Seine Worte schienen mir irgendwie bedeutend, und ich versuchte mir zu vergegenwärtigen, was für einem psychologischen Zustand sie entsprachen. Offenbar waren sie eine Quintessenz seiner Erfahrung; hier ist nicht der Mensch, sondern Gott obenauf, also nicht Wille und Absicht, sondern unerforschliche Anordnung.


Ich war mit meiner Betrachtung noch nicht fertig, als das Signal zum Aufbruch unserer zwei Autos kam. Man kletterte auf das Gepäck, acht Mann stark, und hielt sich dort fest, so gut es ging. Die nachfolgende mehrstündige Durchschüttelung gewährte den Gedanken keinen Raum. Bis zur nächsten Ortschaft Kakamega, dem Sitz eines D.C. (District Commissioner), einer kleinen Garnison von African Rifles, eines Spitals und einer - sage und schreibe -kleinen Irrenanstalt, war es viel weiter als angenommen. Der Abend nahte, und plötzlich war die Nacht da. Gleichzeitig zog ein tropisches Gewitter herauf mit beinahe unaufhörlichem Blitzen, Donnern und einem Wolkenbruch, der uns im Augenblick von Kopf zu Fuß durchnäßte und einen Wildbach zu einem gefährlichen Hindernis machte.


Erst eine halbe Stunde nach Mitternacht, bei aufklärendem Himmel, gelangten wir in erschöpftem Zustand nach Kakamega, wo uns der D.C. hilfreich mit Whisky in seinem drawing-room empfing. Dort brannte im Kamin ein lustiges - oh so willkommenes -Feuer. In der Mitte des eleganten Raumes stand ein großer Tisch mit englischen Journalen bedeckt. Man hätte sich ebensogut auf einem Landgut in Sussex befinden können. Ich wußte in meiner Müdigkeit nicht mehr, ob ich aus der Wirklichkeit in einen Traum oder aus einem Traum in die Wirklichkeit versetzt worden war. Dann mußten wir noch unsere Zelte aufschlagen - zum ersten Mal. Glücklicherweise fehlte nichts.


Am anderen Morgen erwachte ich mit einer fieberhaften Laryngitis und mußte einen Tag das Bett hüten. Diesem Umstand verdanke ich meine denkwürdige Bekanntschaft mit dem sogenannten brainfever bird, welcher sich dadurch hervortut, daß er eine korrekte Tonleiter singt, dabei aber den letzten Ton ausläßt und wieder von vorne anfängt. Als Begleitmusik zu Fieber kann man sich kaum etwas Aufreizenderes denken.


Ein anderer gefiederter Bewohner der Bananenpflanzungen produziert zwei der süßesten und melodiösesten Flageolettöne, die man sich vorstellen kann, und endet mit einem dritten, scheußlichen Mißton. «Quod natura relinquit imperfectum. ..» Einzig der Ton des Glockenvogels zeichnet sich durch ungeminderte Schönheit aus. Wenn er sang, war es, wie wenn eine Glocke den Horizont umwanderte.


Am nächsten Tag hatten wir mit Unterstützung des D.C. unsere Trägerkolonne beisammen, ergänzt durch eine militärische Eskorte von drei Askaris. Und nun begann der Treck zum Mt. Elgon, dessen 4400m hohe Kraterwand wir bald am Horizont erblickten. Die Pis te führte durch relativ trockene Savanne, die mit Schirmakazien bestanden war. Die ganze Gegend war dicht bedeckt mit kleinen, runden, zwei bis drei Meter hohen Tumult, nämlich alten Termitenkolonien.


Für die Reisenden gab es entlang der Piste Rasthäuser, grasgedeckte, runde Adobehütten, die offen waren und nichts enthielten. Nachts stellte man zum Schutz gegen Eindringlinge eine brennende Laterne in den Eingang. Eine solche besaß unser Koch nicht; er hatte dafür aber ein eigenes Miniaturhüttchen, womit er sehr zufrieden war. Aber beinahe wäre es ihm zum Verhängnis geworden. Er hatte nämlich tags zuvor ein Schaf, das wir für fünf Ugandaschil


linge erworben hatten, vor seiner Hütte geschlachtet und für unser Diner vorzügliche mutton-chops hergerichtet. Als wir nach dem Essen noch rauchend ums Feuer herumsaßen, hörten wir aus der Ferne, dann näher kommend, seltsame Töne. Es klang bald wie das Brummen von Bären, bald wie das Bellen und Gejaule von Hunden, bald waren es schrille Töne, wie Geschrei und hysterisches Gelächter - mein erster Eindruck war: ein komischer Akt bei Barnum and Bailey. Bald aber wurde die Szene bedrohlicher: wir waren auf allen Seiten von einem großen Pack hungriger Hyänen umgeben, die offenbar das Schafblut gerochen hatten. Sie vollführten ein Höllenkonzert, und man sah im Schein des Feuers ihre Lichter im hohen Elephantengras funkeln.


Trotz unserer überlegenen Kenntnis von der Natur der Hyänen, die den Menschen angeblich nicht angreifen, waren wir unserer Sache nicht allzu sicher, namentlich als plötzlich hinter dem Rasthaus ein entsetzliches Menschengeschrei ertönte. So griffen wir nach unserer Artillerie (ein 9-mmMannlicher-Gewehr und eine Schrotflinte) und feuerten einige Schüsse in Richtung der funke lnden Lichter, als unser Koch in höchster Panik in unsere Mitte stürzte und meldete, daß eine «fizi» (Hyäne) in seine Hütte gekommen sei und ihn beinahe getötet hätte. Das ganze Lager war in Aufruhr. Das erschreckte die Hyänengesellschaft offenbar dermaßen, daß sie unter lärmendem Protest das Lokal verließ. Der Rest der Nacht verlief, nach anfänglich lang anhaltendem Gelächter in den Mannschaftsquartieren, störungslos und ruhig. Anderntags kam in der Frühe der lokale Häuptling mit dem Geschenk von zwei Hühnern und einem Korb voll Eiern und flehte uns an, noch einen Tag zu bleiben, um die Hyänen zu schießen. Sie hätten nämlich tags zuvor einen schlafenden älteren Mann aus seiner Hütte gezerrt und aufgefressen - de Africa nihil certum!


Mit Tagesanbruch setzt en wiederum Salven von Gelächter im Quartier der Boys ein. Der Grund hierfür war, daß sie ein Schauspiel aufführten, welches die Ereignisse der Nacht wiederholte. Einer stellte den schlafenden Koch dar und einer der Soldaten die anschleichende Hyäne, die sich dem Schlafenden mörderisch näherte. Dieses Drama wurde zum Entzücken des Publikums, ich weiß nicht wie oft, wiederholt.


Von diesem Moment an trug der Koch den Übernamen «fizi». Wir drei Weißen hatten bereits unsere «trademarks». Mein Freund, der Engländer, galt als «Rothals» bzw. als der «mit dem


roten Nacken», da alle Engländer der Sage nach rote Nacken hätten. Der Amerikaner, der sich in der Tat im Besitze einer eleganten Garderobe befand, hieß «bwana maredadi» (der schmucke Gentleman). Weil ich damals schon (ich war fünfzig Jahre alt) graue Haare hatte, war ich der «mzee» (der alte Mann) und hundert Jahre alt. Hohes Alter war dort selten. Ich habe nur sehr wenige Weißhaarige gesehen. Mzee ist auch ein Ehrentitel, der mir als Leiter der «Bugishu Psychological Expedition» zukam, eine Bezeichnung, die uns als ein «lucus a non lucendo» vom Foreign Office in London aufgenötigt worden war. Wir haben zwar die Bugishus besucht, aber die längste Zeit bei den Elgonyis verbracht.


Meine Neger erwiesen sich überhaupt als treffliche Charakterkenner. Einer ihrer intuitiven Erkenntniswege bestand darin, daß sie in unübertrefflicher Weise die Ausdrucksart, Geste und Gang. art ihrer Objekte nachzuahmen verstanden und auf diese Weise ihnen unter die Haut schlüpften. Ich fand ihre Kenntnis der emotionalen Natur anderer überraschend. Ich scheute mich nicht vor langen Unterhaltungen, die sie ausgesprochen liebten. Auf diese Weise habe ich viel gelernt.


Daß wir halboffiziell reisten, erwies sich als vorteilhaft, da wir auf diese Weise leichter Träger anwerben konnten und auch eine militärische Eskorte erhielten. Das war nicht überflüssig, da wir im Sinne hatten, in Gebiete zu reisen, die noch nicht unter Kontrolle der Weißen standen. So begleiteten ein Corporal und zwei Soldaten unsere Safari am Mt. Elgon.


Ich erhielt einen Brief vom Gouverneur von Uganda, in welchem er bat, uns eine Engländerin anvertrauen zu dürfen, welche durch den Sudan nach Ägypten zurückreiste. Man wußte, daß wir den g leichen Reiseplan hatten, und da die Dame bereits in Nairobi mit uns bekannt geworden war, lag kein Grund vor, die Bitte abzuschlagen. Überdies fühlten wir uns dem Gouverneur für seine mannigfache Hilfe sehr verpflichtet.


Ich erwähne diese Episode, um zu zeigen, auf welch subtilen Wegen ein Archetypus unser Tun beeinflußt. Wir waren drei Männer, und das war reiner Zufall. Ich hatte noch einen dritten Freund gebeten mitzukommen. Aber widrige Umstände hatten seine Zusage verunmöglicht. Dies genügte, um das Unbewußte oder das Schicksal zu konstellieren. Es tauchte auf als Archetypus der Triade, welche nach dem Vierten ruft, wie es sich in der Geschichte dieses Archetypus immer wieder gezeigt hat.


Da ich geneigt bin, das Zufällige, das an mich kommt, zu akzeptieren, hieß ich die Dame in unserer Dreimännergruppe willkommen. Da sie sportlich und tapfer war, erwies sie sich als nützliche Kompensation unserer einseitigen Männlichkeit. Als mein jüngerer Freund später an einem gefährlichen Anfall tropischer Malaria erkrankte, waren wir dankbar für ihre Erfahrungen, die sie als Krankenschwester im ersten Weltkrieg erworben hatte.

Nach unserem Hyänenabenteuer zogen wir ungeachtet der Bitten des Häuptlings weiter. Das Terrain war leicht ansteigend. Die Anzeichen tertiärer Lavaströme mehrten sich. Wir kamen durch herrliche Urwaldstreifen mit riesigen Nandi-Flame-Bäumen, die von flammendroten Blüten übersät waren. Riesige Käfer und noch größere farbenreiche Schmetterlinge belebten Waldränder und Lichtungen. Äste wurden von neugierigen Affen geschüttelt. Bald befanden wir uns «miles from anywhere» im Busch. Es war eine paradiesische Welt. Die Gegend bestand vor allem aus flacher Savanne mit durchwegs hochrotem Boden. Wir marschierten meist auf den Eingeborenenpfaden, die sich in auffallend engen Windungen, d. h. mit kurzem Kurvenradius von drei bis sechs Metern durch den Busch schlängelten.

Unser Weg führte uns in die Nandiregion und durch den Nandi-forest, einen beträchtlichen Urwaldkomple x. Ohne Zwischenfälle erreichten wir ein Rasthaus am Fuß des Mt. Elgon, der schon seit Tagen über uns emporwuchs. Hier begann der Aufstieg auf einem schmalen Pfad. Wir wurden vom lokalen Häuptling, dem Sohn eines Medizinmannes, des «laibon», begrüßt. Er ritt ein Pony, das einzige Pferd, das wir bisher angetroffen hatten. Von ihm vernahm ich, daß sein Stamm zu den Masai gehörte, jedoch von diesen abgetrennt ein Sonderdasein an den Abhängen des Mt. Elgon führte.

Nach einigen Stunden Aufstieg erreichten wir eine schöne weite Lichtung, durchflossen von einem klaren, kühlen Bächlein mit einem etwa 3 m hohen Wasserfall, dessen Becken wir zu unserem Badeplatz erkoren. Unser Lagerplatz lag in einiger Entfernung auf einem sanften, trockenen Abhang, beschattet von Schirmakazien. In der Nähe befand sich ein Negerkral. Er bestand aus ein paar Hütten und einer Boma, einem von einer Hecke aus Wait -a-bit -thorn umzäunten Platz. Mit dem Häuptling konnte ich mich auf Suaheli verständigen.

Er bes timmte unsere Wasserträgerinnen: eine Frau mit zwei halb erwachsenen Töchtern, nackt bis auf einen Kaurigürtel *. Sie waren schokoladebraun und auffallend hübsch, von schlanker Gestalt und elegant lässigen Bewegungen. Es war mein allmorgendliches Vergnügen, den leisen Kling-Klang ihrer eisernen Fußringe vom Bach herauf zu hören und sie bald darauf, wiegenden Ganges, die Wasseramphoren auf dem Kopf balancierend, aus dem hohen gelben Elefantengras auftauchen zu sehen. Sie waren geschmückt mit Fußringen und aus Messing verfertigten Arm- und Halsbändern, mit Ohrgehängen aus Kupfer oder in Form kleiner Holzspulen, die Unterlippe durchbohrt von einem Bein- oder Eisennagel. Sie hatten sehr gute Manieren und grüßten uns jeweils mit scheuem charmantem Lächeln.

Ich habe, der allgemeinen Erwartung entsprechend, nie mit eingeborenen Frauen gesprochen, mit einer Ausnahme, die ich noch erwähnen werde. Männer sprechen, wie auch bei uns im Süden, mit Männern, Frauen mit Frauen. Anderes bedeutet love-making. Mit letzterem aber riskiert der Weiße nicht nur seine Autorität, sondern läuft auch ernstlich Gefahr des «goingblack», wovon ich mehrere sehr instruktive Fälle beobachtet habe. Mehrfach hörte ich von den Negern das Urteil über einen gewissen Weißen: «Er ist ein schlechter Mann.» Als ich fragte warum, lautete die Antwort: «Er schläft mit unseren Weibern.»

Bei meinen Elgonyis beschäftigte sich der Mann mit dem Großvieh und der Jagd, die Frau war sozusagen identisch mit der «shamba» (Pflanzung, Bananen, süße Kartoffeln, Negerhirse und Mais). Sie hatte Kinder, Ziegen und Hühner, die alle in derselben runden Hütte wohnten. Das ist ihre Würde und Selbstverständlichkeit: sie ist ein intensiver Geschäftspartner. Der Begriff «gleiches Recht für die Frau» ist das Kind eines Zeitalters, in dem eine solche Partnerschaft ihren Sinn verloren hat. Die primitive Gesellschaft jedoch ist reguliert durch unbewußten Egoismus und Altruismus, beide kommen ausgiebig auf ihre Rechnung. Diese unbewußte Ordnung zerfällt sofort, wenn eine Störung eintritt, die nur durch einen Bewußtseinsakt kompensiert werden könnte und sollte.

Mit Vergnügen erinnere ich mich eines wichtigen Informators 2 Kauri (oder kowri) sind kleine Muscheln,die auch als Geld verwendet werden.

über die Familie bei den Elgonyi: Es war ein auffallend schöner Jüngling mit Namen Gibroat, ein Häuptlingssohn von liebenswürdigen, eleganten Manieren, dessen Vertrauen ich offensichtlich gewonnen hatte. Er nahm zwar gerne meine Zigaretten an, war aber nicht darauf erpicht, Geschenke zu erhalten wie die anderen. Er erzählte mir viel Interessantes und stattete mir von Zeit zu Zeit einen «gentleman-Besuch» ab. Ich fühlte, daß er irgend etwas im Sinne hatte, irgendeinen Wunsch hegte. Erst nach längerer Bekanntschaft kam er mit dem völlig unerwarteten Anliegen heraus, er wolle mich mit seiner Familie bekannt machen. Ich wußte aber, daß er selber noch unverheiratet und seine Eltern tot waren. Es handelte sich um eine ältere Schwester. Sie war verheiratet als zweite Frau und hatte vier Kinder. Er wünschte sich sehr, daß ich ihr einen Besuch machte, so daß sie Gelegenheit hätte, mich kennenzulernen. Sie stand für ihn offenbar an Mutterstelle, und ich sagte zu, weil ich auf diese sozusagen gesellschaftliche Weise in das Familienleben Einblick zu gewinnen hoffte.

«Madame etait chez eile», sie trat aus der Hütte, als wir ankamen, und begrüßte mich auf die natürlichste Weise der Welt. Sie war eine hübsche Frau von mittlerem Alter, d. h. etwa dreißig Jahre alt; außer dem obligaten Kaurigürtel trug sie Arm- und Fußringe, in den übermäßig ausgedehnten Ohrläppchen einigen Kupferschmuck und über der Brust ein kleines Wildfell. Ihre vier kleinen «mtotos» hatte sie in die Hütte gesperrt, von wo sie durch die Türspalten äugten und aufgeregt kicherten. Auf meine Bitte ließ sie sie heraus. Es brauchte eine ganze Weile, bis sie sich herausgetrauten. Die junge Frau hatte die ausgezeichneten Manieren des Bruders, der aus Freude über den gelungenen Coup übers ganze Gesicht strahlte.

Man setzte sich nicht nieder, da es nichts gab, auf das man sich hätte setzen können außer der staubigen Erde, die mit Hühnermist und Ziegenpillen bedeckt war. Die Unterhaltung bewegte sich im konventionellen Rahmen eines halbfamiliären drawing-room-Gesprächs, das sich um Familie, Kinder, Haus und Garten drehte. Ihre ältere Nebenfrau, deren Grundstück an das ihrige grenzte, hatte sechs Kinder. Die Boma der «Schwester» befand sich in etwa 80 m Entfernung. Ungefähr in der Mitte zwischen den beiden Frauenhütten, aber im Dreieck dazu, stand die Hütte des Mannes und dahinter in etwa 50 m Entfernung eine kleine Hütte, die der schon erwachsene Sohn der ersten Frau bewohnte. Jede der beiden


Frauen besaß ihre «shamba», d. h. eine Pflanzung mit Bananen, süßen Kartoffeln, großstämmiger Hirse und Mais, auf die meine Gastgeberin sichtlich stolz war.

Ich hatte das Gefühl, daß die Sicherheit und das Selbstbewußtsein ihres Benehmens in hohem Maße auf einer Identität mit ihrer offensichtlichen Ganzheit beruhte, die aus Kindern, Haus, Kleinvieh, «shamba» und - last but not least - ihrer nicht unattraktiven Körperlichkeit bestand. Vom Mann war nur andeutungsweise die Rede. Er schien bald da, bald nicht da zu sein. Momentan weilte er an einem unbekannten Ort. Meine Gastgeberin war offenkundig und problemlos das Vorhandene, ein wahrhaftes «pied-ä-terre» des Mannes. Die Frage schien nicht zu sein, ob er da sei oder nicht, sondern vielmehr, ob sie in ihrer Ganzheit vorhanden und «erdmagnetisches» Zentrum ihres mit seinen Herden schweifenden Gatten sei. Was im Innern dieser «einfachen» Seelen vorgeht, ist unbewußt, daher nicht gewußt und nur aus europäischem Vergleichsmaterial von «fortgeschrittener» Differenzierung zu erschließen.

Ich fragte mich, ob die Vermännlichung der weißen Frau nicht mit dem Verlust ihrer natürlichen Ganzheit (shamba, Kinder, Kleinvieh, eigenes Haus und Herdfeuer) zusammenhänge, nämlich als eine Kompensation für ihre Verarmung, und ob die Verweib-lichung des weißen Mannes nicht eine weitere Folgeerscheinung^ darstelle. Die rationalsten Staaten verwischen den Unterschied der Geschlechter am allermeisten. Die Rolle, welche die Homosexualität in der_modernen Gesellschaft spielt, ist enorm. Sie ist teils Folge des Mutterkomplexes, teils natürliches Zweckphänomen (Verhinderung der Fortpflanzung !).

Meinen Reisegefährten und mir war das Glück beschieden, die afrikanische Urwelt mit ihrer unerhörten Schönheit und ihrem ebenso tiefen Leiden noch vor Torschluß zu erleben. Unser Lagerleben war eine der schönsten Zeiten meines Lebens - procul nego-tiis et integer vitae scelerisque purus (fern von den Geschäften und unverdorben vom Leben und frei von Schuld) genoß ich den «Gottesfrieden» eines noch urweltlichen Landes. Nie hatte ich das je so gesehen: «Der Mensch und die anderen Tiere» (Herodot). Tausende von Meilen zwischen mir und Europa, der Mutter aller Teufel, die mich hier nicht erreichen konnten - kein Telegramm, kein Telephonanruf, kein Brief, kein Besuch! Das war ein wesentlicher Bestandteil der «Bugishu Psychological Expedition». Meine


befreiten seelischen Kräfte strömten beseligt zurück in vorweltliche Weiten.

Es war uns ein leichtes, jeden Morgen ein Palaver mit den Neugierigen, die tagelang unser Lager umhockten und mit nie erlahmendem Interesse allen unseren Bewegungen folgten, zu veranstalten. Mein Headman Ibrahim hatte mich in die Etikette des Palavers eingeweiht: Alle Männer (die Frauen besuchten uns nie) mußten auf dem Boden sitzen. Ibrahim hatte mir einen kleinen vier-füßigen Häuptlingsstuhl aus Mahagoni verschafft, auf dem ich sitzen mußte. Dann begann ich die Ansprache und erklärte das «shauri», nämlich die Traktanden des Palavers. Die meisten Teilnehmer sprachen ein leidliches Pidgin-Suaheli, das hinreichte, um mich zu verstehen, wenn ich mit reichlicher Benützung eines kleinen Lexikons mein Anliegen in Form gebracht hatte. Das Büchlein war ein Gegenstand nimmermüder Bewunderung. Meine spärlichen Ausdrucksmittel zwangen mich zu der nötigen Einfachheit. Oft glich die Unterhaltung einem amüsanten Rätselraten, weshalb sich die Palaver größter Beliebtheit erfreuten. Sie dauerten aber selten länger als etwa eine Stunde, weil die Leute sichtlich müde wurden und mit bewegter Gebärde klagten: «Ach, wir sind so müde.»

Ich interessierte mich natürlich für die Träume der Neger, konnte aber zunächst keinen zu hören bekommen. Ich setzte kleine Belohnungen aus, z. B. Zigaretten, Zündhölzer, Sicherheitsnadeln, auf welche die Leute sehr erpicht waren. Nichts half. Die Scheu, Träume zu erzählen, konnte ich nie restlos aufklären. Ich vermute, der Grund war Furcht und Mißtrauen: Bekanntlich haben die Neger Angst vor dem Photographiertwerd en; sie fürchten, daß man ihnen damit die Seele raube, und vielleicht fürchten sie ebenso, daß man ihnen durch die Kenntnis ihrer Träume Schaden zufügen könne. Das galt übrigens nicht für unsere Boys, die aus Küstensomalis und Suahelis bestanden. Sie hatten ein arabisches Traumbuch, das sie besonders während des Reisemarsches täglich konsultierten. Waren sie im Zweifel über eine Deutung, so wurde sogar mein Rat eingeholt, da sie mich wegen meiner Kenntnis des Korans als «Mann des Buches» bezeichneten und für einen verkappten Mohammedaner hielten.

Einmal hatten wir ein Palaver mit dem Laibon, dem alten Häuptling Doktor. Er erschien in einem prächtigen Mantel, der aus blauen Affenfellen bestand und ein wertvolles Prunkstück darstellte. Als


ich ihn über seine Träume befragte, erklärte er mir mit Tränen in den Augen: «Früher haben die Laibons Träume gehabt und haben gewußt, ob es Krieg gibt oder Krankheiten, ob der Regen kommt und wohin man die Herden treiben soll.» So habe auch sein Großvater noch geträumt. Aber seit die Weißen in Afrika seien, habe niemand mehr Träume. Man brauche auch keine Träume mehr, denn jetzt wüßten es die Engländer!

Seine Antwort zeigte, daß der Medizinmann seine raison d'etre verloren hatte. Man brauchte die göttliche Stimme, die den Stamm berät, nicht mehr, denn «die Engländer wissen es besser». Früher verhandelte der Medizinmann mit den Göttern oder der Schicksalsmacht und beriet sein Volk. Er übte einen großen Einfluß aus, so wie im alten Griechenland das Wort der Pythia höchste Autorität besaß. Nun war die Autorität des Medizinmannes abgelöst durch die des District Commissioner. Der ganze Wert des Lebens liegt jetzt in der diesseitigen Welt, und es schien mir nur eine Frage der Zeit und der Vitalität der schwarzen Rasse, wann den Negern die Bedeutung der physischen Macht bewußt würde.

Unser Laibon war keine irgendwie imposante Persönlichkeit, sondern ein etwas weinerlicher alter Herr. Trotzdem oder gerade deshalb stellte er den sich unterirdisch ausbreitenden Zerfall einer überholten und nie mehr zurückkommenden Welt anschaulich und eindrucksvoll dar.

In zahlreichen Fällen brachte ich das Gespräch auf die Numina, insbesondere auf Riten und Zeremonien. Ich hatte in dieser Hinsicht nur eine einzige Beobachtung in einem kleinen Dorf gemacht. Dort befand sich mitten auf der lebhaften Dorfstraße vor einer leeren Hütte eine sorgfältig gewischte Stelle von mehreren Metern Durchmesser. In der Mitte lagen ein Kaurigürtel, Arm- und Fu ßspangen, Ohrgehänge und die Scherben von allerlei Töpfen, sowie ein Grabstock. Das Einzige, was wir darüber zu erfahren vermochten, war die Tatsache, daß in dieser Hütte eine Frau gestorben war. Über ein Leichenbegängnis verlautete nichts.

Im Palaver versicherten mir die Leute mit Emphase, daß ihre westlichen Nachbarn «schlechte» Leute seien. Wenn dort einer sterbe, dann werde das nächste Dorf benachrichtigt und am Abend werde die Leiche bis in die Mitte zwischen die beiden Dörfer gebracht. Von der anderen Seite würden Geschenke verschiedener Art an dieselbe Stelle gebracht, und am Morgen sei keine Leiche mehr da. Es wurde deutlich insinuiert, daß der Tote vom anderen Dorf aufgefressen werde. Bei den Elgonyi geschähe aber solches nie. Wohl würden die Leichen in den Busch gelegt, wo die Hyänen im Lauf der Nacht das Begräbnis erledigten. In der Tat fanden wir nie Spuren einer Totenbestattung.

Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich aber, daß wenn ein Mann stirbt, seine Leiche in die Mitte der Hütte auf den Boden gelegt werde. Der Laibon umwandle sie und spritze aus einer Schale Milch auf den Boden, indem er dazu murmle: «ayik adhtsta, adhista aylk!»

Die Bedeutung dieser Worte war mir bereits bekannt aus einem denkwürdigen Palaver, das unterdessen stattgefunden hatte. Am Schluß jenes Palavers rief ein Alter plötzlich: «Am Morgen, wenn die Sonne kommt, gehen wir aus den Hütten, spucken in die Hände und halten sie der Sonne hin.» Ich ließ mir die Zeremonie vormachen und genau beschreiben. Sie spuckten oder bliesen heftig in die vor den Mund gehaltenen Hände und kehrten sie dann um, die Handflächen gegen die Sonne. Ich fragte, was das bedeute, warum sie es täten, warum sie in die Hände bliesen oder spuckten. Vergebens - «das hat man immer gemacht», sagten sie. Es war unmöglich, irgendeine Erklärung zu bekommen, und es wurde mir klar, daß sie tatsächlich nur wissen, daß sie es tun, nicht aber, was sie tun. Sie sehen keinen Sinn in dieser Handlung. Aber auch wir vollziehen Zeremonien - zünden den Weihnachtsbaum an, verstecken Ostereier usw. - ohne uns jedoch darüber klar zu sein, was wir tun.

Der alte Mann sagte, daß dies die wahre Religion aller Völker sei - alle Kevirondos, alle Buyanda, alle Stämme, soweit man vom Berge sehen könne und noch unendlich viel weiter, alle verehrten «adhista», das ist die Sonne im Moment des Aufgangs. Nur dann ist sie «mungu», Gott. Die erste feine Goldsichel des neuen Mondes im Purpur des Westhimmels ist auch Gott. Aber nur dann, sonst nicht.

Offenbar handelt es sich bei der Elgonyizeremonie um eine Darbringung an die Sonne, die im Augenblick ihres Aufgangs göttlich ist. Wenn es Speichel ist, so ist es die Substanz, die nach primitiver Auffassung das persönliche Mana, die Heil-, Zauber- und Lebenskraft enthält. Ist es der Atem, so ist er roho. arabisch ruch, hebräisch mach, griechisch pneuma, Wind und Geist. Die Handlung sagt also: «Ich biete Gott meine lebendige Seele an.» Es ist ein wortloses, gehandeltes Gebet, das ebensogut lauten könnte: «Herr, in Deine Hände befehle ich meinen Geist.»

Neben «adhista» verehren die Elgonyi - so vernahmen wir weiter - «aylk», der in der Erde wohnt und ein «sheitan» (Teufel) ist. Er ist der Schöpfer der Angst, ein kalter Wind, der dem nächtlichen Wanderer einen Schlag versetzt. Der alte Mann pfiff eine Art Loki-Motiv, um zu veranschaulichen, wie ayik durch das hohe und geheimnisvolle Buschgras streicht.

Im allgemeinen bekannten sich die Leute zu der Überzeugung, daß der Schöpfer alles gut und schön gemacht habe. Er ist jenseits von Gut und Böse. Er ist m'zuri, d. h. schön, und alles, was er gemacht hat, ist m'zuri.

Als ich fragte: «Aber die bösen Tiere, die euch das Vieh töten?» sagten sie: «Der Löwe ist gut und schön.» Und: «Eure scheußlichen Krankheiten?» Sie sagten: «Du liegst in der Sonne, und es ist schön.» Ich war von diesem Optimismus beeindruckt. Aber abends um sechs Uhr hörte diese Philosophie plötzlich auf, wie ich bald entdeckte. Von Sonnenuntergang an herrscht eine andere Welt, die dunkle Welt, die Welt des aytk: das ist das Böse, Gefährliche, Angstverursachende. Die optimistische Philosophie hört auf, und es beginnt die Philosophie der Gespensterfurcht und der magischen Bräuche, die gegen das Übel schützen sollen. Mit dem Sonnenaufgang kehrt dann, ohne inneren Widerspruch, der Optimismus wieder.

Es war mir ein ans Tiefste rührendes Erlebnis, an den Quellen des Nils die Kunde von der ägyptischen Urvorstellung der beiden Ako -luthen des Osiris, Horus und Seth, zu vernehmen, ein afrikanis ches Urerlebnis, das gleichsam mit den heiligen Wassern des Nils bis zu den Küsten des Mittelmeeres hinuntergeflossen war. Adhista, die aufsteigende Sonne, das Licht, wie Horus; ayik, das Dunkle, der Angstmacher.

Bei dem einfachen Totenritual vereinigen die Worte des Laibon und seine Milchspende die Gegensätze, indem er gleichzeitig beiden opfert. Beide sind von gleicher Macht und Bedeutung, denn die Zeit ihrer Herrschaft, der Tag sowohl wie die Nacht, dauern sichtbar je zwölf Stunden. Das Bedeutungsvolle jedoch ist der Moment, wo aus dem Dunkel mit äquatorialer Plötzlichkeit der erste Lichtstrahl wie ein Geschoß hervorbricht, und wo Nacht in lebensvolles Licht übergeht.

Der Sonnenaufgang in diesen Breiten war ein Ereignis, das mich jeden Tag aufs neue überwältigte. Es war weniger das an sich großartige Heraufschießen der ersten Strahlen, als das, was nach


her geschah. Unmittelbar nach Sonnenaufgang pflegte ich mich auf meinen Feldstuhl unter eine Schirmakazie zu setzen. Vor mir in der Tiefe des kleinen Tals lag ein dunkler, fast schwarzgrüner Urwaldstreifen, darüber ragte der jenseitige Plateaurand. Zunächst herrschten scharfe Kontraste zwischen Hell und Dunkel; dann trat alles plastisch in das Licht, das mit einer geradezu kompakten Helligkeit das Tal ausfüllte. Der Horizont darüber strahlte weiß. Allmählich drang das steigende Licht sozusagen in die Körper ein, die wie von innen sich erhellten und schließlich durchsichtig wie farbige Gläser glänzten. Alles wurde zu flimmerndem Kristall. Der Ruf des Glockenvogels umläutete den Horizont. In diesen Augenblicken befand ich mich wie in einem Tempel. Es war die allerheiligste Stunde des Tages. Ich betrachtete diese Herrlichkeit mit nimmersattem Entzücken oder besser, in zeitloser Verzückung.

In der Nähe meines Platzes befand sich ein hoher Felsen, von großen Affen (baboons, Pavianen) bewohnt. Jeden Morgen saßen sie ruhig, fast bewegungslos auf dem Grat an der Sonnenseite des Felsens, während sie sonst tagsüber den Wald mit Geschnatter und Gekreisch durchlärmten. Wie ich, schienen sie den Sonnenaufgang zu verehren. Sie erinnerten mich an die großen Paviane vom Tempel in Abu Simbel in Ägypten, welche die Adorationsgeste machen. Sie erzählen immer dieselbe Geschichte: Seit jeher haben wir den großen Gott verehrt, der die Welt erlöst, indem er als strahlendes Himmelslicht aus dem großen Dunkel taucht.

Damals verstand ich, daß in der Seele von Uranfang her eine Sehnsucht nach Licht wohnt und ein unabdingbarer Drang, aus ihrer uranfänglichen Dunkelheit herauszukommen. Wenn die große Nacht kommt, erhält alles den Unterton einer tiefen Melancholie und eines unaussprechlichen Heimwehs nach Licht. Das ist es, was als Ausdruck in den Augen der Primitiven liegt, und was man auch in den Augen des Tieres sehen kann. Im Tierauge liegt eine Trauer, und man weiß nicht, ist es die Seele des Tieres oder ist es ein schmerzlicher Sinn, den jenes uranfängliche Sein darstellt ? Das ist die Stimmung von Afrika, die Erfahrung seiner Einsamkeiten. Es ist die uranfängliche Dunkelheit, ein mütterliches Geheimnis. Daher ist das überwältigende Erlebnis der Neger die Sonnengeburt am Morgen. Der Augenblick, in dem es Licht wird, das ist Gott. Der Augenblick bringt die Erlösung. Es ist ein Urerlebnis des Momentes, und es ist bereits verloren und vergessen, wenn man meint, die Sonne sei Gott. «Wir sind froh, daß die Nacht,


in der die Geister umgehen, jetzt zu Ende ist!» bedeutet schon eine Rationalisierung. In Wirklichkeit lastet eine ganz andere Dunkelheit über dem Lande als die natürliche Nacht: Es ist die psychische Urnacht, die ungezählten Millionen von Jahren, in denen es schon immer so war, wie es heute ist. Die Sehnsucht nach Licht ist die Sehnsucht nach Bewußtsein.

Als sich unser glückseliger Aufenthalt am Elgon seinem Ende näherte, brachen wir mit Trauer unsere Zelte ab und versprachen uns ein Wiederkommen. Ich hätte mir damals nicht vorstellen können, daß ich nie wieder diese ungeahnte Herrlichkeit erleben sollte. Seither wurden bei Kakamegas Goldfelder entdeckt, über mein fernes Land fegte die Mau-MauBewegung, und bei uns unterbrach ein jähes Erwachen den Kulturtraum.

Wir treckten dem Südabhang des Mt. Elgon entlang. Allmählich änderte sich der Charakter der Landschaft. Höhere Berge, mit dichtem Urwald bedeckt, näherten sich der Ebene. Die Farbe der Einwohner wurde schwärzer, der Körper verlor die Eleganz der Masai und wurde plumper und massiger. Wir kamen in das Gebiet der Bugishu und verweilten einige Zeit in dem hochgelegenen Rasthaus von Bunambale. Eine herrliche Aussicht bot sich uns von dort auf das weite Niltal. Dann treckten wir weiter nach Mbala, von wo wir mit zwei Fordtrucks schließlich Jinja am Victoriasee erreichten. Wir luden unser Gepäck auf die Schmalspurbahn, die alle vierzehn Tage einmal einen Zug an den Chiogasee führte. Ein Heckraddampfer, der mit Holz seinen Kessel heizte, nahm uns auf und brachte uns nach einigen Zwischenfällen bis Masindiport. Dort luden wir auf eine Lorry um und gelangten nach Masinditown, das auf dem Plateau liegt, welches den Chiogasee von Albert Nyanza trennt.

In einem Dorf auf dem Weg vom Albertsee nach Rejäf im Sudan hatten wir ein unvergeßliches Erlebnis: der lokale Häuptling, ein hochgewachsener, noch junger Mann, erschien mit seiner Begleitung. Es waren die schwärzesten Neger, die ich je gesehen hatte. Die Gesellschaft sah nicht sehr vertrauenerweckend aus. Der Ma-mur3 von Mimule hatte uns drei Askaris zur Bedeckung mitgegeben, aber ich sah bald, daß sie, wie auch unsere Boys, sich keineswegs wohl fühlten. Sie hatten für ihre Flinten nur je drei Patronen.

El Mamur wörtlich: beauftragter Präfekt, Statthalter.


Ihre Gegenwart war daher eine bloß symbolische Geste seitens des Governments.

Als mir der Häuptling vorschlug, abends ein N'goma (Tanz) zu veranstalten, begrüßte ich diese Idee. Ich hoffte auf diese Weise, auf der besseren Seite dieser Gesellschaft zu bleiben. Als die Nacht gekommen war und wir uns alle nach Schlaf sehnten, hörten wir Trommeln und Hornstöße, und bald erschienen an die sechzig Mann, kriegerisch ausgerüstet mit blitzenden Lanzen, Keulen und Schwertern, in einiger Distanz gefolgt von den Frauen, Kindern und selbst Säuglingen, die von den Müttern auf dem Rücken getragen wurden. Es war offenbar ein ganz großer gesellschaftlicher Anlaß. Trotz der Hitze von noch immer 34° wurde ein großes Feuer entfacht, um welches Frauen und Kinder einen Kreis bildeten. Um sie herum stellten sich die Männer in einem äußeren Ring auf, wie ich dies einmal bei einer sich bedroht wähnenden Elefantenherde beobachtet hatte. Ich wußte nicht, ob ich mich bei diesem Massenaufmarsch erfreut oder besorgt fühlen sollte. Ich sah mich nach unseren Boys und dem Militär um - sie waren spurlos aus dem Camp verschwunden! Als captatio benevolentiae verteilte ich Zigaretten, Zündhölzer und Sicherheitsnadeln. Der Männerchor begann zu singen, nicht unharmonische, kräftige und kriegerische Melodien, und damit begannen sich auch die Beine in Bewegung zu setzen. Die Frauen und Kinder trippelten um das Feuer herum, die Männer tanzten mit geschwungenen Waffen gegen das Feuer und zogen sich wieder zurück, um dann aufs neue mit wildem Gesang, Trommeln und Hornstößen vorzurücken. Es war eine wilde und begeisternde Szene, übergossen von Feuerschein und zauberhaftem Mondlicht. Mein Freund und ich sprangen auf und mischten uns unter die Tanzenden. Als einzige Waffe, die ich besaß, schwang ich meine Rhinozerospeitsche und tanzte mit. Ich sah an den strahlenden Gesichtern, daß unsere Teilnahme positiv aufgenommen wurde. Ihr Eifer verdoppelte sich, und die ganze Gesellschaft stampfte, sang, schrie und schwitzte in Strömen. Allmählich beschleunigte sich der Rhythmus des Tanzes und der Trommeln.

Bei diesen Tänzen und dieser Musik geraten die Neger leicht in eine Art Besessenheitszustand. So war es auch hier: als es gegen elf Uhr ging, fing es an zu überborden, und die Sache sah mit einem Mal sehr merkwürdig aus. Die Tanzenden bildeten nur noch eine wilde Horde, und mir wurde bang, wie das noch enden sollte. Ich bedeutete dem Häuptling, jetzt sei Schluß, und er solle mit seiner


Gesellschaft schlafen gehen. Er aber wollte «noch einen und noch einen und noch einen».

Ich erinnerte mich, daß einer meiner Landsleute, nämlich einer der beiden Vettern Sarasin, auf ihrer Forschungsreise in Celebes bei einem solchen N'goma von einem Speere, der sich befreit hatte, getroffen worden war. So rief ich, ungeachtet der Bitten des Häuptlings, die Leute zusammen, verteilte Zigaretten und machte dann die Geste des Schlafens. Darauf schwang ich, bedrohlich, jedoch lachend, meine Rhinozerospeitsche und fluchte sie aus Mangel eines Besseren mit lauter Stimme auf Schweizerdeutsch an, jetzt sei es genug, sie sollten heim ins Bett und schlafen. Die Leute merkten natürlich, daß ich den Zorn nur spielte, aber gerade das war anscheinend das Richtige. Allgemeines Gelächter erhob sich; mit hohen Bocksprüngen stoben sie auseinander und verschwanden nach verschiedenen Richtungen in die Nacht. Noch lange hörten wir ihr Gejohle und Trommeln aus der Ferne. Endlich trat Stille ein, und wir fielen in den Schlaf der Erschöpften.

In Rejäf, am Nil, kam unser Treck zu Ende. Wir verstauten uns dort in einem Heckraddampfer, der wegen niederen Wasserstandes Rejäf nur gerade noch anlaufen konnte. Nachgerade fühlte ich mich belastet von der Fülle des Erlebten. Tausend Gedanken umschwirrten mich, und es wurde mir peinlich klar, daß meine Fähigkeit, neue Eindrücke aufzunehmen und das uferlose Meer meiner Gedanken zu umfassen, sich rasch dem Ende näherte. Das zwang mich dazu, alle meine Beobachtungen und Erlebnisse noch einmal Revue passieren zu lassen, um ihre inneren Zusammenhänge festzuhalten. Alles Bemerkenswerte hatte ich aufgeschrieben.

Meine Träume hatten während der ganzen Reise hartnäckig an ihrer Taktik festgehalten, Afrika zu negieren, indem sie sich ausschließlich mit heimatlichen Szenen illustrierten und damit den Eindruck erweckten, daß sie die Afrikareise nicht eigentlich als etwas Wirkliches, sondern vielmehr als eine symptomatische bzw. symbolische Handlung betrachteten, wenn es gestattet ist, die unbewußten Vorgänge so weit zu personifizieren. Diese Annahme wurde mir allerdings nahegelegt durch die anscheinend absichts volle Beiseiteschiebung auch der eindrucksvollsten äußeren Begebnisse. Nur ein einziges Mal während der ganzen Reise hatte ich von einem Neger geträumt. Sein Gesicht kam mir merkwürdig bekannt vor, aber ich mußte lange nachdenken, bis ich herausfinden


konnte, wo ich ihm schon einmal begegnet war. Schließlich fiel es mir ein: es war mein Coiffeur von Chattanooga in Tennessee! Ein amerikanischer Neger! Im Traum hielt er eine riesige glühende Brennschere gegen meinen Kopf und wollte meine Haare «kinky» machen, das heißt, er wollte mir Negerhaare andrehen. Ich fühlte schon die schmerzhafte Hitze und erwachte mit einem Angstgefühl.

Ich nahm den Traum als eine Warnung des Unbewußten; denn er besagte, daß das Primitive eine Gefahr für mich war. Damals war ich offenbar dem «going-black» am nächsten. Ich hatte einen Anfall von «sandfly fever», der wohl meine psychische Widerstandskraft herabgesetzt hatte. Um einen mir bedrohlichen Neger darzustellen, war eine zwölf Jahre alte Erinnerung an meinen schwarzen Coiffeur in Amerika mobilisiert worden, um ja nicht an die Gegenwart zu erinnern.

Das eigentümliche Verhalten der Träume entspricht übrigens der Erfahrung, die man bereits im Ersten Weltkrieg gemacht hatte: Die Soldaten im Felde träumten viel weniger vom Krieg als von 211 Hause. Unter den Militärpsychiatern galt es als Grundsatz, einen Mann aus der Front herauszuziehen, wenn er zu viel von Kriegsszenen träumte, denn dann hatte er gegen die Eindrücke von außen keine psychische Abwehr mehr.

Parallel zu den Ereignissen des anspruchsvollen afrikanischen Milieus wurde in meinen Träumen eine innere Linie mit Erfolg festgehalten und durchgesetzt. Sie handelte von meinen persönlichsten Problemen. Ich konnte aus dieser Tatsache keinen anderen Schluß ziehen, als daß meine europäische Persönlichkeit unter allen Umständen integral erhalten werden sollte.

Aus meinem Erstaunen schöpfte ich den Verdacht, daß ich mit meinem Afrikaabenteuer den heimlichen Zweck verbunden hatte, von Europa und seiner Problematik loszukommen, selbst auf die Gefahr hin, dort zu bleiben wie so viele andere vor mir und gleichzeitig mit mir. Die Reise erschien mir weniger eine Erforschung primitiver Psychologie zu sein, «Bugishu Psychological Expedition» (B.P.E., schwarze Lettern auf chopboxes!), als vielmehr die etwas peinliche Frage zum Gegenstand zu haben: was geschieht mit dem Psychologen Jung «in the wilds of Africa»? Eine Frage, der ich anhaltend auszuweichen suchte, trotz meines intellektuellen Vorhabens, die Reaktion des Europäers auf Urweltsbedingungen zu untersuchen. Dies war aber, wie ich zu meinem Erstaunen herausfand,


nicht so sehr eine objektive, wissenschaftliche als vielmehr eine intensiv persönliche Frage, deren Beantwortung sich an allen möglichen schmerzhaften Stellen der eigenen Psychologie abwickelte. Ich mußte mir also gestehen, daß es weit weniger die Wembley Exhi-bition gewesen war, die den Entschluß zur Reise in mir gezeitigt hatte, als vielmehr der Umstand, daß mir in Europa die Luft zu dick geworden war.

Unter solchen Gedanken glitt ich auf den ruhigen Gewässern des Nils nach Norden - Europa, der Zukunft entgegen. Die Reise endete in Khartum. Dort begann Ägypten. Damit erfüllte sich mein Wunsch und Plan, mich dieser Kultursphäre nicht von Westen, von Europa und Griechenland her, zu nähern, sondern aus dem Süden, von der Seite der Nilquellen. Mehr als der komplexe asiatische interessierte mich der hamitische Beitrag zur ägyptischen Kultur. Ich hatte gehofft, dem geographischen Lauf des Nils und damit dem Zeitstrom folgend, etwas darüber in Erfahrung zu bringen. Meine größte Erleuchtung in dieser Hinsicht bildete das Horus-erlebnis der Elgonyi, das in der Verehrungsgeste der Paviane von Abu Simbel, dem südlichen Tor Ägyptens, so eindrücklich in Erinnerung gerufen wird.

Der Mythus von Horus ist die Geschichte des neu erstandenen göttlichen Lichtes. Er wurde erzählt, nachdem sich aus dem Urdun-kel der prähistorischen Zeiten zum ersten Mal Erlösung durch Kultur, d. h. durch Bewußtsein offenbart hatte. So wurde die Reise aus dem Inneren Afrikas nach Ägypten für mich wie zu einem Drama der Lichtgeburt, welches mit mir, mit meiner Psychologie, aufs innigste verbunden war. Das war mir erleuchtend, doch fühlte ich mich außerstande, es in Worte zu fassen. Ich wußte zum voraus nicht, was Afrika mir bringen würde, aber hier lag die befriedigende Antwort und Erfahrung. Sie war mir mehr wert als irgendeine ethnologische Ausbeute, als Waffen, Schmuck und Töpfe oder Jagdtrophäen. Ich wo llte wissen, wie Afrika auf mich wirkte, und das habe ich erfahren.

Indien

Die Reise nach Indien (1938) entsprang nicht meiner eigenen Absicht, sondern ich verdankte sie einer Einladung der Britischindischen Regierung, an den Feierlichkeiten teilzunehmen,die an


läßlich des 25 jährigen Jubiläums der Universität Calkutta stattfanden 4.

Ich hatte damals bereits viel über indische Philosophie und Religionsgeschichte gelesen und war vom Wert östlicher Weisheit zutiefst überzeugt. Aber ich mußte sozusagen als ein Selbstversorger reisen und blieb in mir selber wie ein Homunculus in der Retorte. Indien hat mich wie ein Traum berührt, denn ich war und blieb auf der Suche nach mir selber, nach der mir eigenen Wahrheit. So bildete die Reise ein Intermezzo in meiner damaligen intensiven Beschäftigung mit der alchemistischen Philosophie. Diese ließ mich nicht los, sondern veranlaßte mich, den ersten Band des «Theatnun Chemicum» von 1602, der die wichtigsten Schriften des Gerardus Dorneus enthält, mitzunehmen. Im Laufe der Reise habe ich das Buch von Anfang bis zu Ende durchstudiert. Ureuropäisches Gedankengut war auf diese Weise in konstante Berührung gebracht mit den Eindrücken eines fremden Kulturgeistes. Beide waren in ungebrochener Linie aus den seelischen Urerfahrungen des Unbewußten hervorgegangen und hatten daher gleiche oder ähnliche, oder wenigstens vergleichbare Einsichten erschaffen.

In Indien stand ich zum ersten Mal unter dem unmittelbaren Eindruck einer fremden, hochdifferenzierten Kultur. Auf meiner afrikanischen Reise waren ganz andere Eindrücke maßgebend gewesen als die Kultur; und in Nordafrika hatte ich nie Gelegenheit gehabt, mit einem Menschen zu reden, der imstande gewesen wäre, seine Kultur in Worte zu fassen. Aber nun hatte ich Gelegenheit, mit Vertretern indischen Geistes zu sprechen und diesen mit dem europäischen Geist zu vergleichen. Das war mir von größter Bedeutung. Ich habe mich mit S. Subramanya lyer, dem Guru des Maharadscha von Mysore, dessen Gast ich einige Zeit war, eingehend unterhalten; ebenso mit vielen anderen, deren Namen mit leider entfallen sind. Hingegen habe ich die Begegnung mit allen sogenannten «Heiligen» vermieden. Ich habe sie umgangen, weil ich mit meiner eigenen Wahrheit vorlieb nehmen mußte und nichts anderes annehmen durfte als das, was ich selber erreichen konnte. Es wäre mir wie Diebstahl vorgekommen, wenn ich von den Heiligen hätte lernen und ihre Wahrheit für mich akzeptieren wollen.

4 In zwei Aufsätzen «Die träumende Welt Indiens» und «Was Indien uns lehren kann» in Ges. Werke X, 1974, berichtet Jung über die Eindrücke seiner Reise. Sie erschienen unmittelbar nach seiner Rückkehr in der Zeitschrift «ASIA» (New York, Januar und Februar 1939). A. J.

Ihre Weisheit gehört ihnen, und mir gehört nur das, was aus mir selber hervorgeht. In Europa vollends kann ich keine Anleihen beim Osten machen, sondern muß aus mir selber leben - aus dem, was mein Inneres sagt, oder was die Natur mir bringt.

Ich unterschätze durchaus nicht die bedeutende Gestalt des indischen Heiligen, maße mir aber keineswegs das Vermögen an, ihn als isoliertes Phänomen richtig einzuschätzen. Ich weiß z. B. nicht, ob die Weisheit, die er ausspricht, eine eigene Offenbarung, oder ein Sprichwort ist, das seit tausend Jahren auf den Landstraßen zirkuliert. Ich erinnere mich an eine typische Begebenheit in Ceylon. Zwei Bauern fuhren mit den Rädern ihrer Karren in einer engen Straße ineinander. Statt des zu erwartenden Streites murmelte jeder mit zurückhaltender Höflichkeit Worte, die wie «adükan anätman» lauteten und bedeuteten: «Vorübergehende Störung, keine (individuelle) Seele.» War das einmalig? War es typisch indisch?

Was mich in Indien hauptsächlich beschäftigte, war die Frage nach der psychologischen Natur des Bösen. Es war mir sehr eindrücklich, wie dieses Problem vom indischen Geistesleben integriert wird, und ich gewann eine mir neue Auffassung darüber. Auch in der Unterhaltung mit gebildeten Chinesen hat es mich immer wieder beeindruckt, daß es überhaupt möglich ist, das sogenannte «Böse» zu integrieren, ohne dabei «das Gesicht zu verlieren». Das ist bei uns im Westen nicht der Fall. Für den östlichen Menschen scheint das moralische Problem nicht an erster Stelle zu stehen wie bei uns. Das Gute und das Böse sind für ihn sinngemäß in der Natur enthalten und im Grunde genommen nur graduelle Unterschiede einer und derselben Sache.

Es machte mir tiefen Eindruck, als ich sah, daß die indische Geistigkeit ebensoviel vom Bösen hat wie vom Guten. Der christliche Mensch strebt nach dem Guten und verfällt dem Bösen; der Inder hingegen fühlt sich außerhalb von Gut und Böse oder sucht diesen Zustand durch Meditation oder Yoga zu erreichen. Hier erhebt sich jedoch mein Einwand: bei einer solchen Einstellung haben weder das Gute noch das Böse eigentlich Kontur, und dies bewirkt einen gewissen Stillstand. Man glaubt nicht recht ans Böse, man glaubt nicht recht ans Gute. Am ehesten bedeuten sie das, was mein Gutes oder mein Böses ist, was mir als gut oder als böse erscheint. Man könnte paradoxerweise sagen, die indische Geistigkeit entbehre ebenso sehr des Bösen wie des Guten, oder aber sie sei dermaßen von den Gegensätzen belastet, daß sie des Nirdvandva,


der Befreiung von den Gegensätzen und den zehntausend Dingen, bedürfe.

Das Ziel des Inders ist nicht moralische Vollkommenheit, sondern der Status des Nirdvandva. Er will sich von der Natur befreien und dementsprechend auch in der Meditation in den Zustand der Bildlosigkeit und Leere gelangen. Ich dagegen möchte in der lebendigen Anschauung der Natur und der psychischen Bilder verharren. Ich möchte weder von den Menschen befreit sein, noch von mir, noch von der Natur; denn das alles sind für mich unbeschreibliche Wunder. Die Natur, die Seele und das Leben erscheinen mir wie die entfaltete Gottheit, und was könnte ich mir mehr wünschen ? Der höchste Sinn des Seins kann für mich nur darin bestehen, daß es ist und nicht darin, daß es nicht oder nicht mehr ist.

Es gibt für mich keine Befreiung ä tout prix. Ich kann von nichts befreit werden, das ich nicht besitze, begangen oder erlebt habe. Wirkliche Befreiung ist nur möglich, wenn ich das getan habe, was ich tun konnte, wenn ich mich völlig hingegeben und völlig Anteil genommen habe. Entziehe ich mich der Anteilnahme, so amputiere ich gewissermaßen den entsprechenden Seelenteil. Es kann natürlich der Fall eintreten, daß mir die Anteilnahme zu schwer fällt, und es gibt gute Gründe dafür, daß ich mich nicht völlig hingeben kann. Aber dann bin ich zum Bekenntnis des «non possumus» gezwungen und zu der Einsicht, daß ich vielleicht etwas Wesentliches unterlassen und eine Aufgabe nicht vollbracht habe. Ein solch eindrückliches Wissen um meine Untauglichkeit ersetzt den Mangel an positiver Tat.

Ein Mensch, der nicht durch die Hölle seiner Leidenschaften ge-gangen ist, hat sie auch nie überwunden. Sie sind dann im Haus nebendran, und ohne daß er es sich versieht, kann eine Flamme herausschlagen und auf sein eigenes Haus übergreifen. Insofern man zuviel aufgibt, zurückläßt und quasi vergißt, besteht die Möglichkeit und die Gefahr, daß das Aufgegebene oder Zurückgelassene mit doppelter Gewalt zurückkommt.

In Konarak (Orissa) traf ich mit einem Pandit zusammen, welcher mich bei meinem Besuch des Tempels und des großen Tempelwagens liebenswürdig begleitete und belehrte. Die Pagode ist von der Basis bis zur Spitze mit exquisit obszönen Skulpturen bedeckt. Wir unterhielten uns lange über diese bemerkenswerte Tatsache, die er mir als Mittel zur Vergeistigung erklärte. Ich wandte


ein - auf eine Gruppe junger Bauern weisend, die mit offenen Mäulern die Herrlichke iten eben bewunderten - daß diese jungen Leute wohl kaum im Begriffe der Vergeistigung stünden, sondern sich eher ihren Kopf mit sexuellen Phantasien füllten, worauf er entgegnete: «Aber das ist es ja gerade. Wie können sie sich je vergeistigen, wenn sie nicht zuvor ihr Karma erfüllen? Die zugegeben obszönen Bilder sind ja dazu da, die Leute an ihr Dharma (Gesetz) zu erinnern, sonst könnten diese Unbewußten es vergessen!»

Ich fand es höchst merkwürdig, daß er glaubte, junge Männer könnten ihre Sexualität vergessen, wie Tiere außerhalb der Brunstzeit. Mein Weiser aber hielt unentwegt daran fest, daß sie unbewußt wie Tiere seien und tatsächlich eindringlicher Ermahnung bedürften. Zu diesem Zwecke würden sie vor dem Betreten des Tempels durch dessen Außendekoration auf ihr Dharma aufmerksam gemacht, ohne dessen Bewußtmachung und Erfüllung sie keiner Vergeistigung teilhaft würden.

Als wir durch das Tor des Tempels schritten, wies mein Begleiter auf die beiden «Versucherinnen» hin, die Skulpturen von zwei Tänzerinnen, die mit verführerisch geschwungenen Hüften den Eintretenden anlächelten. «Sehen Sie diese beiden Tänzerinnen», sagte er. «Sie bedeuten dasselbe. Natürlich gilt dies nicht für Leute wie Sie und ich, denn wir haben eine Bewußtheit erreicht, die darüber steht. Aber für diese Bauernjungen ist es eine unerläßliche Belehrung und Ermahnung.»

Als wir den Tempel verließen und einer Lingamallee entlang spazierten, sagte er plötzlich: «Sehen Sie diese Steine? Wissen Sie, was sie bedeuten ? Ich will Ihnen ein großes Geheimnis verraten!» Ich war erstaunt, denn ich dachte, daß die phallische Natur dieser Monumente jedem Kind bekannt sei. Er aber flüsterte mir mit größtem Ernst ins Ohr: «These stones are man's private parts.» Ich hatte erwartet, er würde mir sagen, daß sie den großen Gott Shiva bedeuteten. Ich sah ihn entgeistert an, er aber nickte gewichtig, wie wenn er sagen wollte: «Ja, so ist es. Das hättest du in deiner europäischen Ignoranz wohl nicht gedacht!»

Als ich Zimmer diese Geschichte erzählte, rief er entzückt aus: «Endlich höre ich einmal etwas Wirkliches von Indiens


Unvergeßlich sind für mich die Stupas von Sanchi. Sie ergriffen 1 Über

Heinrich Zimmer vgl. Appendix pag. 385 f.


mich mit unerwarteter Gewalt und versetzten mich in eine Emotion, die dann bei mir einzutreten pflegt, wenn ich einer Sache oder Person oder eines Gedankens ansichtig werde, deren Bedeutung mir noch unbewußt ist. Die Stupas liegen auf einem Felshügel, zu dessen Anhöhe ein angenehmer Weg über große Steinplatten in grüner Wiese führt. Es sind Grabmäler, bzw. Reliquienbehälter von halbkugeliger Form, eigentlich zwei übereinandergestülpte Reis schalen (konkav auf konkav), entsprechend der Vorschrift des Buddha im Mahä-Parinibbäna-Sütra. Sie sind von den Engländern in pietätvoller Weise wieder hergestellt worden. Das größte dieser Gebäude ist von einer Mauer mit vier kunstvollen Toren umgeben. Wenn man eintritt, führt der Weg nach links zu einer Cir-cumambulation im Sinne des Uhrzeigers. An den vier Kardinalpunkten stehen Statuen des Buddha. Hat man die eine Circumam-bulation vollendet, so betritt man einen zweiten höher liegenden Rundweg, der im selben Sinne verläuft. Der weite Blick über die Ebene, die Stupas selber, die Tempelruinen und die einsame Stille des heiligen Ortes bilden ein unbeschreibliches Ganzes, das mich ergriff und festhielt. Nie zuvor war ich von einem Ort dermaßen verzaubert worden. Ich trennte mich von meinen Gefährten und versank in die überwältigende Stimmung.

Da hörte ich aus der Ferne näher kommend rhythmische Gongtöne. Es war eine Gruppe japanischer Pilger, die, einer hinter dem ändern marschierend, einen kleinen Gong schlugen. Sie skandierten damit das uralte Gebet: Om mani padme hum - wobei der Gongschlag auf das «hum» fiel. Sie verneigten sich tief vor den Stupas und traten dann durch das Tor ein. Dort verneigten sie sich wieder vor der Buddhastatue und intonierten einen choralartigen Gesang. Dann vollzogen sie die doppelte Circumambulation, wobei sie vor jeder Buddhastatue einen Hymnus sangen. Indem meine Augen sie beobachteten, gingen Geist und Gemüt mit ihnen, und etwas in mir bedankte sich schweigend bei ihnen dafür, daß sie meiner Unartikuliertheit in so trefflicher Weise zu Hilfe gekommen waren.

Meine Ergriffenheit zeigte mir, daß der Hügel von Sanchi etwas Zentrales für mich darstellte. Es war der Buddhismus, der mir dort in einer neuen Wirklichkeit erschien. Ich verstand das Leben Buddhas als die Wirklichkeit des Selbst, die ein persönliches Leben durchdrungen und für sich in Anspruch genommen hat. Für Buddha steht das Selbst über allen Göttern und stellt die Essenz


der menschlichen Existenz und der Welt überhaupt dar. Als ein unus mundus umfaßt es sowohl den Aspekt des Seins an sich, wie auch den seines Erkanntseins, ohne den eine Welt nicht ist. Buddha hat die kosmogonische Würde des menschlichen Bewußtseins wohl gesehen und verstanden; darum sah er deutlich, daß, wenn es einem gelänge, das Licht des Bewußtseins auszulöschen, die Welt ins Nichts versänke. Schopenhauers unsterbliches Verdienst war es , dies noch oder wieder erkannt zu haben.


Auch Christus ist - wie Buddha - eine Verkörperung des Selbst, aber in einem ganz anderen Sinne. Beide sind W eltüberwinder:


Buddha ist es aus sozusagen vernünftiger Einsicht, Christus wird es als schicksalsmäßiges Opfer. Im Christentum wird es mehr erlitten, im Buddhismus mehr gesehen und getan. Beides ist richtig, aber im indischen Sinne ist Buddha der vollständigere Mensch. Er ist eine historische Persönlichkeit und darum für den Menschen leichter verständlich. Christus ist historischer Mensch und Gott, und darum viel schwerer erfaßbar. Im Grunde genommen war er auch sich selber nicht erfaßbar; er wußte nur, daß er sich opfern müsse, wie es ihm von innen her auferlegt wurde. Sein Opfer ist ihm zugestoßen als ein Schicksal. Buddha handelte aus Einsicht. Er hat sein Leben gelebt und ist als alter Mann gestorben. Christus ist wahrscheinlich nur sehr kurz als das, was er ist, tätig gewesen6.

Später ist im Buddhismus dasselbe eingetreten wie im Christentum: Buddha wurde sozusagen zur Imago der Selbstwerdung, die nachgeahmt wird, während er selber verkündet hatte, daß durch die Überwindung der Nidäna-Kette jeder einzelne Mensch zum Erleuchteten, zum Buddha, werden könne. Ähnlich verhält es sich Im Christentum: Christus ist das Vorbild, das in jedem christlichen Menschen als dessen ganzheitliche Persönlichkeit lebt. Die historische Entwicklung führte aber zur «imitatio Christi», bei welcher der Einzelne nicht seinen eigenen schicksalsmäßigen Weg zur

* In späteren Gesprächen verglich Jung Buddha und Christus in ihrer Einstellung dem Leiden gegenüber. Christus erkennt im Leiden einen positiven Wert, und als Leidender ist er menschlicher und wirklicher als Buddha. Buddha versagte sich das Leiden, damit aber auch die Freude. Er war von Gefühlen und Emotionen abgeschnitten und darum nicht wirklich menschlich. In den Evangelien ist Christus so geschildert, daß er nicht anders denn als Gottmensch verstanden werden kann, obwohl er eigentlich nie aufgehört hat, Mensch zu sein, während sich Buddha schon zu Lebzeiten über das Menschsein erhoben hat. A. J.

Ganzheit geht, sondern den Weg nachzuahmen sucht, den Christus gegangen ist. Ebenso führte sie im Osten zu einer gläubigen imitatio des Buddha. Er wurde zum nachgeahmten Vorbild, und damit war schon die Schwächung seiner Idee gegeben, wie in der imitatio Christi der verhängnisvolle Stillstand in der Entwicklung der christlichen Idee vorausgenommen ist. Wie Buddha vermöge seiner Einsicht selbst den Brahmagöttern überlegen ist, so ruft Christus den Juden zu: «Ihr seid Götter» (Johannes 10, 34) und ward aus Unvermögen der Menschen nicht vernommen. Dafür nähert sich der sogenannte «christliche» Westen mit Riesenschritten der Möglichkeit, eine Welt zu zerstören, anstatt eine neue zu schaffen7.

Indien ehrte mich mit drei Doktordiplomen - Allahabad, Bena-res und Cakutta. Das erste repräsentiert den Islam, das zweite den Hinduismus und das dritte die Britisch-Indische Medizin und Naturwissenschaft. Das war etwas zu viel, und ich bedurfte einer Retraite. Ein zehntägiger Spitalaufenthalt verschaffte sie mir, als ich in Cakutta von einer Dysenterie erwischt wurde. So entstand für mich im unerschöpflichen Meer der Eindrücke eine rettende Insel, und ich fand den Boden wieder, d. h. einen Standort, von dem aus ich die zehntausend Dinge und ihren verwirrenden Strudel, die Höhen und Tiefen, die Herrlichkeit Indiens und seine unaussprechliche Not, seine Schönheit und seine Dunkelheit betrachten konnte.

Als ich wieder leidlich hergestellt ins Hotel zurückkehrte, hatte ich einen Traum, der so charakteristisch war, daß ich ihn erzählen möchte:


Ich befand mich mit einer Anzahl meiner Zürcher Freunde und Bekannten auf einer unbekannten Insel, die vermutlich in der Nähe der südenglischen Küste lag. Sie war klein und fast unbewohnt. Die Insel war schmal und erstreckte sich in nordsüdlicher Richtung etwa 30 km lang. Im südlichen Teil lag an der felsigen Küste ein mittelalterliches Schloß, in dessen Hof wir standen, als eine Gruppe von Touristen. Vor uns erhob sich ein imposanter Bergfried, durch dessen Tor eine breite steinerne Treppe sichtbar war. Wie man eben noch sehen konnte, mündete sie oben in eine Pfeilerhalle, die

7 Über das Problem der «imitatio» vgl. C. G. Jungs «Einleitung in die religionspsychologische Problematik der Alchemie» in Ges. Werke XII, 3. Aufl. 1976.

von Kerzenschimmer schwach erleuchtet war. Es hieß, dies sei die Gralsburg, und heute abend werde hier «der Gral gefeiert». Diese Information schien geheimer Natur zu sein, denn ein unter uns befindlicher deutscher Professor, der auffallend dem alten Mommsen glich, wußte nichts davon. Ich unterhielt mich mit ihm aufs lebhafteste und war von seiner Gelehrsamkeit und sprühenden Intelligenz beeindruckt. Nur eines störte mich: er sprach anhaltend von einer toten Vergangenheit und dozierte sehr gelehrt über das Verhältnis der britischen zu den französischen Quellen der Gralsgeschichte. Anscheinend war er sich weder des Sinnes der Legende bewußt, noch bekannt mit ihrer lebendigen Gegenwart, während ich von beiden aufs stärkste beeindruckt war. Auch schien er die unmittelbare wirkliche Umgebung nicht wahrzunehmen, denn er benahm sich so, als ob er in einem Hörsaal vor seinen Studenten spräche. Vergebens versuchte ich ihn auf die Eigenartigkeit der Situation aufmerksam zu machen. Er sah die Treppe nicht und nicht den festlichen Schimmer der Halle.

Ich blickte etwas hilflos um mich und entdeckte, daß ich an der Mauer eines hohen Burggebäudes stand, dessen unterer Teil wie mit einem Spalier bedeckt war. Es bestand aber nicht wie üblich aus Holz, sondern aus schwarzem Eisen, das kunstvoll wie ein Weinstock geformt war, mit Blättern, Ranken und Trauben. Auf den horizontalen Ästen standen im Abstand von je zwei Metern kleine, ebenfalls eiserne Häuschen, wie Nistkästen. Plötzlich sah ich eine Bewegung im Laub; zuerst schien sie von einer Maus herzurühren, dann aber sah ich deutlich ein kleines eisernes Kapuzenmännchen, einen Cucullatus, der von einem Häuschen in ein anderes huschte. «Nun», rief ich erstaunt dem Professor zu, «da sehen Sie ja ...»

In diesem Augenblick trat ein Hiatus ein, und der Traum änderte sich. Wir waren - die gleiche Gesellschaft wie vorher, aber ohne den Professor außerhalb der Burg in einer baumlosen felsigen Landschaft. Ich wußte, daß etwas geschehen mußte, denn der Gral war noch nicht in der Burg, und er sollte noch am gleichen Abend gefeiert werden. Es hieß, er sei im nördlichen Teil der Insel in einem kleinen unbewohnten Haus versteckt, dem einzigen, das sich dort befände. Ich wußte, daß es unsere Aufgabe war, den Gral von dort zu holen. Wir waren etwa unserer sechs, die sich aufmachten und nach Norden wanderten.

Nach mehrstündigem angestrengtem Marsch langten wir an der schmälsten Stelle der Insel an, und ich entdeckte, daß sie von einem


Meeresarm in zwei Hälften geteilt war. An der engsten Stelle betrug die Breite des Wassers etwa hundert Meter. Die Sonne war untergegangen, und die Nacht brach an. Müde lagerten wir uns am Boden. Die Gegend war menschenleer und öde. Kein Baum, kein Strauch, nur Gras und Felsen. Weit und breit keine Brücke und kein Schiff. Es war sehr kalt, und meine Gefährten schliefen einer nach dem anderen ein. Ich überlegte, was zu tun sei und kam zu dem Schluß, daß ich allein über den Kanal schwimmen und den Gral holen müsse. Schon zog ich meine Kleider aus, als ich erwachte.

Als ich mich notdürftig aus der überwältigenden Mannigfaltigkeit der indischen Eindrücke herausgearbeitet hatte, tauchte dieser ureuropäische Traum auf. Schon etwa zehn Jahre zuvor hatte ich feststellen können, daß vielerorts in England der Traum vom Gral noch nicht ausgeträumt ist, trotz aller um seine Legenden und Dichtungen angehäuften Gelehrsamkeit. Diese Tatsache hatte mich um-somehr beeindruckt, als mir die Übereinstimmung des poetischen Mythus mit den Aussagen der Alchemie über das «Unum Vas», die «Una Medicina», den «Unus Lapis», deutlich geworden war. Mythen, die der Tag vergaß, wurden weiter erzählt von der Nacht, und mächtige Figuren, die das Bewußtsein banalis iert und auf lächerliche Kleinigkeiten reduziert hat, werden vom Dichter wieder erweckt und vorausschauend belebt; darum können sie auch «in veränderter Gestalt» von einem Nachdenklichen wieder erkannt werden. Die großen Vergangenen sind nicht gestorben, wie wir wähnen, sondern haben bloß den Namen gewechselt. «Klein an Gestalt, doch groß an Gewalt» bezieht der verhüllte Kabir ein neues Haus.

Der Traum wischte mit starker Hand alle noch so intensiven indischen Tageseindrücke weg und versetzte mich in das allzulange vernachlässigte Anliegen des Abendlandes, das sich einstmals in der Quest des Hl. Gral, wie auch in der Suche nach dem «Stein der Philosophen» ausgedrückt hatte. Ich wurde aus der Welt Indiens herausgenommen und daran erinnert, daß Indien nicht meine Aufgabe war, sondern nur ein Stück des Weges - wenn auch ein bedeutendes - der mich meinem Ziel annähern sollte. Es war, als ob der Traum mich fragte: «Was tust du in Indien? Suche lieber für deinesgleichen das heilende Gefäß, den salvator mundi, dessen ihr dringend bedürft. Ihr seid ja im Begriff, alles zu ruinieren, was Jahrhunderte aufgebaut haben.»

Ceylon, dessen Eindrücke ich als letzte meiner Reise mitnahm, ist nicht mehr Indien, es ist bereits Südsee und hat etwas vom Paradies an sich, in dem man nicht zu lange verweilen kann. Colombo, einen internationalen geschäftigen Hafen, wo abends zwischen fünf und sechs Uhr Wassermassen aus heiterem Himmel stürzen, ließen wir bald hinter uns, um das Hügelland des Innern zu gewinnen. Dort liegt Kandy, die alte Königsstadt, gehüllt in einen feinen Nebel, der mit warmkühler Feuchtigkeit eine grüne Üppigkeit des Pflanzenwuchses unterhält. Der Dalada-Maligawa-Tempel, der die Reliquie des heiligen Zahnes (von Buddha) enthält, ist zwar klein, aber von besonderem Charme. Ich verbrachte längere Zeit in der Bibliothek im Gespräch mit den Mönchen und sah mir die auf silberne Folien geritzten Texte des Kanons an.

Dort erlebte ich eine unvergeßliche Abendzeremonie. Junge Burschen und Mädchen schütteten ganze Berge von entstielten Jasminblüten vor den Altären aus und sangen dabei leise ein Gebet, ein Mantra, vor sich hin. Ich dachte, sie beteten zu Buddha, aber der Mönch, der mich führte, erklärte mir: «Nein, Buddha ist nicht mehr; er ist im Nirvana, zu ihm kann man nicht beten. Sie singen:


Vorübergehend wie die Schönheit dieser Blumen ist das Leben. Möge mein Gott mit mir das Verdienst dieser Darbringung teilen 8». Daß junge Menschen so singen, ist echt indisch.

Die Zeremonie wurde eingeleitet durch ein einstündiges Trommelkonzert im Mandapam oder dem, was in indischen Tempeln als Wartehalle bezeichnet wird. Von den fünf Trommlern stellte sich je einer in einer Ecke des quadratischen Saales auf, der fünfte - ein schöner junger Mann - stellte sich in die Mitte. Er war der Solist und ein wahrer Künstler seines Faches. Mit nacktem, dunkelbraun glänzendem Oberkörper, roter Leibbinde, weißer Shoka (langer, bis auf die Füße reichender Rock) und weißem Turban, die Arme mit funkelnden Spangen bedeckt, trat er mit seiner Doppeltrommel vor den goldenen Buddha, um «den Klang zu opfern». Dort trommelte er allein eine wundersame Melodie von vollendeter Kunst, in schönster Bewegung des Körpers und der Hände. Ich sah ihn von hinten, er stand vor dem mit kleinen Öllämpchen umrahmten Eingang zum Mandapam. Die Trommel spricht in Ursprache zum Bauch oder plexus solaris; dieser «bittet» nicht, sondern erzeugt das «verdienstvolle» Mantra oder die meditative «Äußerung».

8 Für Gott wurde hier das Sanskritwort «Deva» = Schutzengel gebraucht. 287 Es ist also keine Verehrung eines nichtseienden Buddha, sondern einer der vielen Selbsterlösungsakte des erwachten Menschen.

Gegen Frühlingsanfang trat ich meine Heimreise an, dermaßen überwältigt von Eindrücken, daß ich in Bombay nicht mehr an Land ging, sondern mich in meine lateinischen alchemistischen Texte vergrub. Indien ist aber nicht etwa spurlos an mir vorübergegangen - im Gegenteil, es hat Spuren in mir hinterlassen, die von einer Unendlichkeit her in eine andere Unendlichkeit wandern.

Ravenna und Rom

Schon als ich das erste Mal in Ravenna war (1914), hatte mir das Grabmal der Galla Placidia einen tiefen Eindruck gemacht; es erschien mir bedeutsam und faszinierte mich in ungewöhnlichem Maße. Bei meinem zweiten Besuch, etwa zwanzig Jahre später, erging es mir genau gleich. Wieder geriet ich im Grabmal in eine eigentümlich ergriffene Stimmung. Ich war mit einer Bekannten dort, und wir gingen anschließend in das Baptisterium der Orthodoxen.

Was mir hier zuallererst auffiel, war ein sanftes blaues Licht, das den Raum erfüllte, ohne daß ich mich jedoch darüber wunderte. Ich legte mir keine Rechenschaft darüber ab, von wo es ausging, und so kam mir das Wunderbare der mangelnden Lichtquelle gar nicht in den Sinn. Zu meinem Erstaunen sah ich dort, wo sich nach meiner Erinnerung Fenster befunden hatten, vier große Mosaikfresken von unerhörter Schönheit, die ich, wie mir schien, vergessen hatte. Ich ärgerte mich, daß ich mich auf mein Gedächtnis so ganz und gar nicht verlassen konnte. Das Bild auf der Südseite stellte die Jordantaufe dar; ein zweites im Norden den Durchgang der Kinder Israel durch das Rote Meer, das dritte im Osten verblaßte bald in der Erinnerung. Vielleicht zeigte es die Abwaschung des Aussatzes von Naeman im Jordan. In der alten Merianschen Bibel in meiner Bibliothek befindet sich eine ganz ähnliche Abbildung dieses Wunders. Am eindrücklichsten war das vierte Mosaik im Westen des Baptisteriums, das wir als letztes betrachteten. Es stellte dar, wie Christus dem untergehenden Petrus die Hand reicht. Vor diesem Mosaik hielten wir uns mindestens zwanzig Minuten auf und diskutierten über den ursprünglichen Taufritus, besonders


über die merkwürdige Auffassung der Taufe als einer Initiation, die mit wirklicher Todesgefahr verbunden war. Derartige Initiationen wären oft mit Lebensgefahr verbunden, wodurch der archetypische Gedanke des Todes und der Wiedergeburt ausgedrückt wurde. So war auch die Taufe ursprünglich eine richtige «Eintauchung», welche die Gefahr des Ertrinkens wenigstens andeutete.


Von dem Mosaik des untersinkenden Petrus bewahrte ich die deutlichste Erinnerung und sehe noch heute jedes Detail vor mir:


Die Bläue des Meeres, die einzelnen Steine des Mosaiks, die Spruchbänder, die aus dem Munde Christi und Petri gingen, und die ich zu entziffern suchte. Nachdem wir das Baptisterium verlassen hatten, ging ich sogleich zu Alinari, um mir Photographien der Mosaiken zu kaufen, konnte aber keine finden. Da die Zeit drängte - es war nur ein kurzer Besuch - verschob ich den Einkauf auf später; ich hatte im Sinn, die Bilder von Zürich aus zu bestellen.

Als ich wieder Zuhause war, bat ich einen Bekannten, der bald darauf ebenfalls nach Ravenna reiste, mir die Bilder zu beschaffen. Natürlich konnte er sie nicht auftreiben, denn er stellte fest, daß die von mir geschilderten Mosaiken überhaupt nicht vorhanden waren!

Inzwischen hatte ich bereits in einem Seminar über die ursprüngliche Auffassung der Taufe als Initiation gesprochen und bei dieser Gelegenheit auch die Mosaiken erwähnt, die ich im Baptisterium der Orthodoxen gesehen hatte". Die Erinnerung an die Darstellungen ist mir noch heute deutlich. Meine Begleiterin konnte noch lange Zeit nicht glauben, daß das, was sie «mit eigenen Augen gesehen», nicht vorhanden war.

Es ist bekanntlich sehr schwierig festzustellen, ob und inwiefern zwei Personen gleichzeitig dasselbe sehen. In diesem Falle jedoch konnte ich mich hinlänglich versichern, daß wir beide in den Hauptzügen wenigstens dasselbe gesehen hatten.

Das Erlebnis in Ravenna ist etwas vom Merkwürdigsten, was mir je widerfahren ist. Erklären kann man es kaum. Ein gewisses Licht fällt vielleicht von einem Ereignis aus der Geschichte der Kaiserin Galla Placidia (gest. 450) darauf. Bei einer stürmischen Überfahrt von Byzanz nach Ravenna mitten im Winter tat sie das Gelübde,

• Tantra-Yoga-Seminar 1932.

eine Kirche zu bauen und die Gefahren des Meeres darstellen zu lassen, falls sie gerettet würde. Sie erfüllte das Gelöbnis durch den Bau der Basilica San Giovanni in Ravenna, die sie mit Mosaiken ausschmücken ließ. Im frühen Mittelalter wurde San Giovanni mitsamt den Mosaiken durch Brand zerstört, aber in der Ambrosiana in Mailand findet sich noch die Skizze zu einer Darstellung Galla Placidias in einem Boot.

Von der Gestalt der Galla Placidia war ich unmittelbar betroffen, und die Frage, was für diese hochgebildete Frau von differenziertester Kultur das Leben an der Seite eines Barbarenfürsten bedeutet haben mußte, beschäftigte mich. Ihr Grabmal erschien mir wie der letzte Rest, durch den ich sie noch persönlich erreichen konnte. Ihr Schicksal und ihre Art berührten mich zutiefst, und in ihrer intensiven Wesensart fand meine Anima einen passenden historischen Ausdruck. Mit dieser Projektion war jenes zeitlose Element des Unbewußten und jene Atmosphäre erreicht, wo das Wunder der Vision stattfinden konnte. Sie unterschied sich im Augenblick nicht im geringsten von der Wirklichkeit10.

Die Anima des Mannes trägt einen eminent historischen Charakter. Als Personifikation des Unbewußten ist sie getränkt mit Geschichte und Vorgeschichte. Sie enthält die Inhalte der Vergangenheit und ersetzt das im Manne, was er von seiner Vorgeschichte wis sen sollte. Alles schon gewesene Leben, das noch in ihm lebendig ist, ist die Anima. Im Verhältnis zu ihr bin ich mir immer vorgekommen wie ein Barbar, der eigentlich keine Geschichte hat - wie ein eben aus Nichts Gewordener, ohne Vorher, ohne Nachher.

Bei der Auseinandersetzung mit der Anima bin ich tatsächlich den Gefahren begegnet, die ich in den Mosaiken dargestellt sah. Beinahe wäre ich ertrunken. Es ist mir gegangen wie Petrus, der um Hilfe geschrien hat und von Jesus gerettet wurde. Es hätte mir gehen können wie dem Heer des Pharao. Wie Petrus und wie Naeman bin ich heil davongekommen, und die Integration der unbewußten Inhalte hat Wesentliches zur Vervollständigung meiner Persönlichkeit beigetragen.

Was einem geschieht, wenn man vordem unbewußte Inhalte dem

10 Jung erklärte die Vision nicht als ein synchronistisches Phänomen, sondern als eine momentane Neuschöpfung des Unbewußten, im Zusammenhang mit dem archetypischen Gedanken der Initiation. Die unmittelbare Ursache für die Konkretisierung lag in der Animabeziehung zu Galla Placidia und der dadurch hervorgerufenen Emotion. A. J.

Bewußtsein integriert, kann mit Worten wohl kaum beschrieben werden. Man kann es nur erfahren. Es ist eine indiskutable subjektive Angelegenheit: ich komme mir in einer gewissen Art und Weise vor, und das ist für mich eine Tatsache, welche zu bezweifeln weder möglich noch sinnreich ist - - ebenso komme ich anderen in bestimmter Art und Weise vor, und das ist ebenfalls eine Tatsache, die nicht zu bezweifeln ist. Es gibt unseres Wissens keine Instanz, welche die wahrscheinlichen Unstimmigkeiten der Eindrücke und Meinungen zu bereinigen vermöchte. Ob und was für eine Veränderung durch die Integrierung stattgefunden hat, ist und bleibt subjektive Überzeugung. Obschon sie kein wissenschaftlich zu qualifizierendes Faktum darstellt und damit ohne Verlust aus einem «offiziellen Weltbild» herausfallen könnte, bleibt sie doch eine praktisch ungemein wichtige und folgenreiche Tatsache, die auf alle Fälle von realistischen Psychotherapeuten nicht und vom therapeutisch interessierten Psychologen kaum übersehen werden darf.

Die Erfahrung im Baptisterium von Ravenna hat mir einen tiefen Eindruck hinterlassen. Seitdem weiß ich, daß ein Innen aussehen kann wie ein Außen und ebenso ein Außen wie ein Innen. Die wirklichen Wände des Baptisteriums, welche meine physischen Augen sehen mußten, waren überdeckt und verwandelt durch eine Vision, die ebenso real war wie das unveränderte Taufbecken. Was war in jenem Augenblick real ?

Mein Fall ist keineswegs der einzige in seiner Art, aber wenn solches einem selber zustößt, so kann man nicht umhin, es ernster zu nehmen, als wenn man davon hört oder irgendwo darüber liest. Im allgemeinen hat man bei solchen Erzählungen allerhand Erklärungen rasch zur Hand. Ich bin jedenfalls zum Schluß gekommen, daß wir in bezug auf das Unbewußte noch vieler Erfahrungen bedürfen, bevor wir uns auf Theorien festlegen.

Ich bin in meinem Leben viel gereist und wäre gern nach Rom gegangen, aber ich fühlte mich dem Eindruck dieser Stadt nicht gewachsen. Schon Pompeji war übergenug, die Eindrücke überschritten beinahe meine Aufnahmefähigkeit. Ich konnte Pompeji erst besuchen, als ich durch meine Studien von 1910 bis 1915 einigen Einblick in die Psychologie der Antike erlangt hatte. 1917 fuhr ich


von Genua zu Schiff nach Neapel. Ich stand an der Reling, als wir auf der Breite von Rom der Küste entlang fuhren. Dort hinten lag Rom! Dort lag der noch rauchende und glühende Brandherd alter Kulturen, eingeschlossen in den Wurzelgeflechten des christlichen und abendländischen Mittelalters. Dort war noch lebende Antike in ihrer ganzen Herrlichkeit und Ruchlosigkeit.

Ich wundere mich immer über Menschen, die nach Rom reisen wie z. B. nach Paris oder nach London. Gewiß kann man das eine wie das andere ästhetisch genießen, aber wenn man von dem Geist, der hier gewaltet hat, auf Schritt und Tritt im Innersten betroffen ist, wenn ein Mauerrest hier und eine Säule dort mich mit einem soeben wiedererkannten Gesicht anblicken, dann ist das eine andere Sache. Schon in Pompeji wurden unabsehbare Dinge bewußt und Fragen gestellt, denen mein Können nicht gewachsen war.

Als ich 1949, bereits in meinem hohen Alter, das Versäumte nachholen wollte, erlitt ich eine Ohnmacht beim Einkauf der Fahrkarten. Danach wurde der Plan einer Romfahrt ein für allemal ad acta gelegt.

Visionen

Zu Beginn des Jahres 1944 brach ich mir den Fuß, und es folgte ein Herzinfarkt. Im Zustand von Bewußtlosigkeit erlebte ich Delirien und Visionen, die angefangen haben müssen, als ich in unmittelbarer Todesgefahr schwebte und man mir Sauerstoff und Kampfer gab. Die Bilder waren so gewaltig, daß ich selber schloß, ich sei dem Tode nahe. Meine Pflegerin sagte mir später: «Sie waren wie von einem hellen Schein umgeben!» Das sei eine Erscheinung, die sie bei Sterbenden manchmal beobachtet habe. Ich war an der äußersten Grenze und weiß nicht, befand ich mich in einem Traum oder in Ekstase. Jedenfalls begannen sich höchst eindrucksvolle Dinge für mich abzuspielen.

Es schien mir, als befände ich mich hoch oben im Weltraum. Weit unter mir sah ich die Erdkugel in herrlich blaues Licht getaucht. Ich sah das tiefblaue Meer und die Kontinente. Tief unter meinen Füßen lag Ceylon, und vor mir lag der Subkontinent von Indien. Mein Blickfeld umfaßte nicht die ganze Erde, aber ihre Kugelgestalt war deutlich erkennbar, und ihre Konturen schimmerten silbern durch das wunderbare blaue Licht. An manchen Stellen schien die Erdkugel farbig oder dunkelgrün gefleckt wie oxydiertes Silber. «Links» lag in der Ferne eine weite Ausdehnung - die rotgelbe Wüste Arabiens. Es war, wie wenn dort das Silber der Erde eine rotgelbe Tönung angenommen hätte. Dann kam das Rote Meer, und ganz weit hinten, gleichsam «links oben», konnte ich gerade noch einen Zipfel des Mittelmeers erblicken. Mein Blick war vor allem dorthin gerichtet. Alles andere erschien nur undeutlich. Zwar sah ich auch die Schneeberge des Himalaya, aber dort war es dunstig oder wolkig. Nach «rechts» blickte ich nicht. Ich wußte, daß ich im Begriff war, von der Erde wegzugehen.

Später habe ich mich erkundigt, wie hoch im Räume man sich befinden müsse, um einen Blick von solcher Weite zu haben. Es sind etwa 1500 km! Der Anblick der Erde aus dieser Höhe war das Herrlichste und Zauberhafteste, was ich je erlebt hatte.

Nach einer Weile des Schauens wandte ich mich um. Ich hatte sozusagen mit dem Rücken zum ladischen Ozean geständen, mit


dem Gesicht nach Norden. Dann schien es mir, als machte ich eine Wendung nach Süden. Etwas Neues trat in mein Gesichtsfeld. In geringer Entfernung erblickte ich im Räume einen gewaltigen dunkeln Steinklotz, wie ein Meteorit


- etwa in der Größe meines Hauses, vielleicht noch größer. Im Weltall schwebte der Stein, und ich selber schwebte im Weltall.

Ähnliche Steine habe ich an der Küste des Bengalischen Meerbusens gesehen. Es sind Blöcke aus schwarz-braunem Granit, in welche bisweilen Tempel gehauen wurden. Solch ein riesiger dunkler Block war auch mein Stein. Ein Eingang führte in eine kleine Vorhalle. Rechts saß auf einer Steinbank ein schwarzer Inder im Lotussitz. Er trug ein weißes Gewand und befand sich in vollkommen entspannter Ruhestellung. So erwartete er mich schweigend. Zwei Stufen führten zu dieser Vorhalle, an deren linker Innenseite sich das Tor in den Tempel befand. Unzählige, in kleinen Nischen angebrachte Vertiefungen, gefüllt mit Kokosöl und brennenden Dochten, umgaben die Tür mit einem Kranz heller Flämmchen. Das hatte ich auch in Wirklichkeit einmal gesehen. Als ich in Kandy auf Ceylon den Tempel des Heiligen Zahnes besuchte, umrahmten mehrere Reihen brennender Öllampen solcher Art das Tor.

Als ich mich den Stufen zum Eingang in den Felsen näherte, geschah mir etwas Seltsames: ich hatte das Gefühl, als ob alles Bis herige von mir abgestreift würde. Alles, was ich meinte, was ich wünschte oder dachte, die ganze Phantasmagorie irdischen Daseins fiel von mir ab, oder wurde mir geraubt - ein äußerst schmerzlicher Prozeß. Aber etwas blieb; denn es war, als ob ich alles, was ich je gelebt oder getan hätte, alles, was um mich geschehen war, nun bei mir hätte. Ich könnte auch sagen: es war bei mir, und das war Ich. Ich bestand sozusagen daraus. Ich bestand aus meiner Geschichte und hatte durchaus das Gefühl, das sei nun Ich. «Ich bin dieses Bündel von Vollbrachtem und Gewesenem.» - Dieses Erlebnis brachte mir das Gefühl äußerster Armut, aber zugleich großer Befriedigung. Es gab nichts mehr, das ich verlangte oder wünschte;


sondern ich bestand sozusagen objektiv: ich war das, was ich gelebt hatte. Zuerst herrschte zwar das Gefühl der Vernichtung, des Beraubtseins oder Geplündertseins vor, aber plötzlich wurde auch das hinfällig. Alles schien vergangen, es blieb ein fait accompli, ohne irgendwelche Rückbeziehung auf das Frühere. Es gab kein Bedauern mehr, daß etwas weggefallen oder fortgenommen war. Im Gegenteil: ich hatte alles, was ich war, und ich hatte nur das.

Noch etwas anderes beschäftigte mich: ich hatte, während ich mich dem Tempel näherte, die Gewißheit, daß ich in einen erhellten Raum kommen und alle diejenigen Menschen antreffen würde, zu denen ich in Wirklichkeit gehöre. Dort würde ich - auch das war Gewißheit - endlich verstehen, in was für einen geschichtlichen Zusammenhang ich oder mein Leben gehörten. Ich würde wissen, was vor mir war, warum ich geworden bin, und wohin mein Leben weiterfließen würde. Mein gelobtes Leben war mir oft wie eine Geschichte vorgekommen, die keinen Anfang und kein Ende hat. Ich hatte das Gefühl, eine geschichtliche Perikope zu sein, ein Ausschnitt, zu dem der vorausgehende und nachfolgende Text fehlten. Wie mit der Schere schien mein Leben aus einer langen Kette herausgeschnitten, und viele Fragen waren unbeantwortet geblieben. Warum ist es so verlaufen? Warum habe ich diese Voraussetzungen mitgebracht? Was habe ich damit gemacht? Was wird daraus erfolgen? Auf all das würde ich - dessen war ich sicher - eine Antwort erhalten, sobald ich in den Steintempel eingetreten war. Dort würde ich erkennen, warum alles so und nicht anders gewesen war. Ich würde dort zu den Menschen kommen, welche die Antwort auf meine Frage nach dem Vorher und Nachher wissen.

Während ich noch über diese Dinge nachdachte, geschah etwas, das meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: Von unten, von Europa her, stieg ein Bild herauf. Es war mein Arzt, oder besser sein Bild, umrahmt von einer goldenen Kette oder von einem goldenen Lorbeerkranz. Ich wußte sofort: Ach, das ist ja mein Arzt, der mich behandelt hat. Aber jetzt kommt er in seiner Urgestalt, ein Basileus von Kos 1. Im Leben war er ein Avatar dieses Basileus, die zeitliche Verkörperung der Urgestalt, die von jeher gewesen ist. Nun kommt er in seiner Urgestalt.

Vermutlich war auch ich in meiner Urgestalt. Das hatte ich zwar nicht wahrgenommen, ich stelle mir nur vor, daß es so gewesen sei. Nachdem er wie ein Bild aus der Tiefe zu mir herangeschwebt war und vor mir stand, fand eine stumme Gedankenübermittlung zwischen uns statt. Mein Arzt war nämlich von der Erde delegiert, um mir eine Botschaft zu bringen: es würde dagegen protestiert, daß ich im Begriff sei wegzugehen. Ich dürfe die Erde nicht ver

1 Basileus = König. Kos war im Altertum durch den Asklepios-Tempel berühmt und war Geburtsort des Arztes Hippokrates (5. Jahrhundert v. Chr.).


lassen und müsse zu rückkehren. Im Augenblick, als ich das vernommen hatte, hörte die Vision auf.

Ich war zutiefst enttäuscht; denn jetzt schien alles umsonst. Der schmerzliche Prozeß der «Entblätterung» war vergebens gewesen, und ich durfte nicht in den Tempel, nicht zu den Menschen, die zu mir gehörten.

In Wirklichkeit ging es noch gute drei Wochen, bis ich mich entschließen konnte, wieder zu leben. Ich konnte nicht essen, weil ich einen degout vor allen Speisen hatte. Die Aussicht auf Stadt und Berge von meinem Krankenbett aus erschien mir wie ein gemalter Vorhang mit schwarzen Löchern, oder wie ein zerlöchertes Zeitungsblatt mit Photographien, die mir nichts sagten. Enttäuscht dachte ich: «Jetzt muß ich mich wieder in das .Kistchen-System' hineinbegeben!» Es schien mir nämlich, als ob hinter dem Horizont des Kosmos eine dreidimensionale Welt künstlich aufgebaut worden sei, in der jeder Mensch für sich allein in einem Kistchen säße. Und nun würde ich mir wieder einbilden müssen, das sei etwas wert! Das Leben und die ganze Welt kamen mir wie ein Gefängnis vor, und ich ärgerte mich maßlos darüber, daß ich das wieder in Ordnung finden würde. Da war man froh gewesen, daß endlich alles von einem abgefallen war, und nun war es wieder so, wie wenn ich - so wie alle anderen Menschen - an Fäden aufgehängt wäre in einem Kistchen drin. Als ich im Räume stand, war ich schwerelos, und nichts hatte mich gezogen. Und das sollte nun wieder vorbei sein!

Ich fühlte Widerstände gegen meinen Arzt, weil er mich wieder in das Leben zurückgebracht hatte. Andererseits war ich besorgt um ihn: «Er ist ja bedroht, um Gottes Willen! Er ist mir ja in seiner Urgestalt erschienen! Und wenn einer diese Gestalt erreicht hat, ist es soweit, daß er sterben muß. Dann gehört er schon in die Gesellschaft »seiner Menschen'!» - Plötzlich kam mir der erschreckende Gedanke, er müsse sterben - an meiner Stelle! Ich gab mir die größte Mühe, mit ihm darüber zu reden, aber er verstand mich nicht. Da wurde ich böse auf ihn. «Warum tut er immer so, wie wenn er nicht wüßte, daß er ein Basileus von Kos ist? Und daß er schon seine Urgestalt angenommen hat? Er will mich glauben machen, er wisse es nicht!» Das ärgerte mich. Meine Frau machte mir Vorwürfe, daß ich ihm gegenüber unfreundlich sei. Sie hatte recht;


aber ich nahm es ihm sehr übel, daß er nicht über all das sprechen wollte, was ich in meiner Vision mit ihm erlebt hatte. «Herrgott nochmal, er muß doch aufpassen, er kann doch nicht so unvorsichtig sein! Ich möchte mit ihm darüber reden, daß er etwas tut für sich!» Ich hatte die feste Überzeugung, er sei bedroht, weil er mir in seiner Urgestalt begegnet war.

In der Tat war ich sein letzter Patient. Am 4. April 1944 - ich weiß das Datum noch genau - durfte ich zum ersten Mal auf dem Bettrand sitzen, und an diesem gleichen Tage legte er sich ins Bett und ist nicht mehr aufgestanden. Ich vernahm, daß er gelegentlich Fieberanfälle hatte. Bald darauf ist er an Septicaemie gestorben. Er war ein guter Arzt und hatte etwas Geniales. Sonst wäre er mir auch nicht als Fürst von Kos erschienen.

In jenen Wochen lebte ich in einem seltsamen Rhythmus. Am Tage war ich meist deprimiert. Ich fühlte mich elend und schwach und wagte mich kaum zu rühren. Voll Betrübnis dachte ich: Jetzt muß ich wieder in diese graue Welt hinein. - Gegen Abend schlief ich ein, und mein Schlaf dauerte bis etwa gegen Mitternacht. Dann kam ich zu mir und war vielleicht eine Stunde lang wach, aber in einem ganz veränderten Zustand. Ich befand mich wie in einer Ekstase oder in einem Zustand größter Seligkeit. Ich fühlte mich, als ob ich im Raum schwebte, als ob ich im Schoß des Weltalls geborgen wäre - in einer ungeheuren Leere, aber erfüllt von höchstmöglichem Glücksgefühl. - Das ist die ewige Seligkeit, das kann man gar nicht beschreiben, es ist viel zu wunderbar! dachte ich.

Auch die Umgebung schien verzaubert. Zu jener Nachtstunde wärmte mir die Pflegerin das Essen; denn nur dann konnte ich etwas zu mir nehmen und aß mit Appetit. Eine Zeitlang schien es mir, als sei sie eine alte Jüdin, viel älter, als sie in Wirklichkeit war, und als bereite sie mir rituelle, koschere Speisen. Wenn ich zu ihr hinblickte, war es, als habe sie einen blauen Halo um den Kopf. Ich selber befand mich - so schien es mir - im Pardes rimmonim, dem Granatapfelgarten, und es fand die Hochzeit des Ti-fereth mit der Malchuth statt2. Oder ich war wie der Rabbi Simon ben Jochai, dessen jenseitige Hochzeit gefeiert wurde. Es war die

1 «Pardes rimmomm» ist der Titel eines kabbalistischen Traktates des Mose Cordovero aus dem 16. Jahrhundert. Malchuth und Tifereth sind nach kabbalistischer Auffassung zwei der zehn Sphären göttlicher Manifestationen, in denen Gott aus seiner Verborgenheit hervortritt. Sie stellen ein weibliches und ein männliches Prinzip innerhalb der Gottheit dar. A. J.

mystische Hochzeit, wie sie in den Vorstellungen der kabbalistischen Tradition erscheint. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie wunderbar das war. Ich konnte nur immerfort denken: «Das ist jetzt der Granatapfelgarten! Das ist jetzt die Hochzeit der Malchuth mit Ti-fereth!» Ich weiß nicht genau, was für eine Rolle ich darin spielte. Im Grunde genommen war ich es selber: ich war die Hochzeit. Und meine Seligkeit war die einer seligen Hochzeit.

Allmählich klang das Erlebnis des Granatapfelgartens ab und wandelte sich. Es folgte die «Hochzeit des Lammes» im festlich geschmückten Jerusalem. Ich bin nicht imstande zu beschreiben, wie es im einzelnen war. Es waren unbeschreibbare Seligkeitszustände. Engel waren dabei und Licht. Ich selber war die «Hochzeit des Lammes».

Auch das verschwand, und es kam eine neue Vorstellung, die letzte Vision. Ich ging ein weites Tal hinauf bis ans Ende, an den Rand eines sanften Höhenzuges. Den Abschluß des Tales bildete ein antikes Amphitheater. Wunderschön lag es in der grünen Landschaft. Und dort, in dem Theater, fand der Hierosgamos statt. Tänzer und Tänzerinnen traten auf; und auf einem blumengeschmückten Lager vollzogen Allvater Zeus und Hera den Hierosgamos, wie es in der Ilias beschrieben ist.

All diese Erlebnisse waren herrlich, und ich war Nacht für Nacht in lauterste Seligkeit getaucht, «umschwebt von Bildern aller Kreatur». Allmählich vermengten sich die Motive und wurden blasser. Meist dauerten die Visionen etwa eine Stunde; dann schlief ich wieder ein, und schon gegen Morgen fühlte ich: jetzt kommt der graue Morgen wieder! Jetzt kommt die graue Welt mit ihrem Zellensystem ! Was für ein Blödsinn, was für ein schrecklicher Unsinn! Denn die inneren Zustände waren so phantastisch, daß im Vergleich zu ihnen diese Welt geradezu lächerlich erschien. In dem Maße, wie ich mich dem Leben wieder annäherte, knapp drei Wochen nach der ersten Vision, hörten die visionären Zustände auf.

Von der Schönheit und der Intensität des Gefühls während der Visionen kann man sich keine Vorstellung machen. Sie waren das Ungeheuerste, was ich je erlebt habe. Und dann dieser Kontrast, der Tag! Da war ich gequält und mit den Nerven vollständig herunter. Alles irritierte mich. Alles war zu materiell, zu grob und zu schwerfällig, räumlich und geistig beschränkt, zu unerkennbarem Zwecke künstlich eingeengt, und besaß doch etwas wie eine hypnotische Kraft, an sich glauben zu machen, wie wenn es die Wirklichkeit selber wäre, während man doch ihre Nichtigkeit deutlich erkannt hatte. Im Grunde genommen bin ich seither, trotz revalori-sierten Weltglaubens, nie mehr ganz vom Eindruck losgekommen, daß das «Leben» ein Existenzausschnitt sei, welcher sich in einem hiefür bereitgestellten dreidimensionalen Weltsystem abspielt.

An etwas erinnere ich mich noch genau. Am Anfang, zur Zeit der Vision vom Granatapfelgarten, bat ich die Schwester, sie möge entschuldigen, wenn sie beschädigt werden sollte; es sei eine große Heiligkeit im Raum. Das sei gefährlich und könne ihr schädlich sein. Sie verstand mich natürlich nicht. Für mich war die Praesenz des Heiligen eine zauberhafte Atmosphäre, aber ich fürchtete, daß sie für andere unerträglich sei. Darum entschuldigte ich mich, ich könne ja nichts dafür. Damals verstand ich, warum man vom raumerfüllenden «Geruch» des Heiligen Geistes spricht. Das war's. Es war ein Pneuma im Raum von unaussprechlicher Heiligkeit, deren Verdeutlichung das Mysterium Coniunctionis war.

Ich hätte nie gedacht, daß man so etwas erleben könnte, daß eine immerwährende Seligkeit überhaupt möglich sei. Die Visionen und Erlebnisse waren vollkommen real; nichts war anempfunden, sondern alles war von letzter Objektivität.

Man scheut sich vor dem Ausdruck «ewig», aber ich kann das Erleben nur als Seligkeit eines nicht-zeitlichen Zustandes umschreiben, in welchem Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft eines sind. Alles, was in der Zeit geschieht, war dort in eine objektive Ganzheit zusammengefaßt. Nichts war mehr in der Zeit auseinandergelegt oder konnte nach zeitlichen Begriffen gemessen werden. Das Erleben könnte am ehesten als ein Zustand umschrieben werden - als ein Gefühlszustand, den man jedoch nicht imaginieren kann. Wie kann ich mir vorstellen, daß ich gleichzeitig wie vorgestern, heute und übermorgen bin ? Dann hätte etwas noch nicht begonnen, etwas anderes wäre klarste Gegenwart, und wieder etwas wäre schon beendet - und doch wäre alles Eines. Das einzige, was das Gefühl erfassen könnte, wäre eine Summe, eine schillernde Ganzheit, in der die Erwartung für das Beginnende ebenso enthalten ist wie Überraschung über das eben Geschehende und Befriedigung oder Enttäuschung über das Resultat des Vergangenen. Ein unbeschreibliches Ganzes, in das man mit verwoben ist; und doch nimmt man es mit völliger Objektivität wahr.

Das Erlebnis dieser Objektivität hatte ich später noch einmal. Es war nach dem Tode meiner Frau. Da sah ich sie in einem Traum, der wie eine Vision war. Sie stand in einiger Entfernung und sah mich voll an. Sie befand sich in der Blüte ihrer Jahre, war etwa dreißig Jahre alt und trug das Kleid, welches ihr vor vielen Jahren meine Cousine, das Medium, angefertigt hatte. Es war vielleicht das schönste Kleid, das sie jemals getragen hatte. Der Ausdruck ihres Gesichtes war nicht freudig und nicht traurig, sondern objektiv wissend und erkennend, ohne die geringste Gefühlsreaktion, wie jenseits des Nebels der Affekte. Ich wußte, es war nicht sie, sondern ein von ihr für mich gestelltes oder veranlaßtes Bild. Es enthielt den Beginn unserer Beziehung, das Geschehen während der dreiundfünfzig Jahre unserer Ehe und auch das Ende ihres Lebens. Angesichts einer solchen Ganzheit bleibt man sprachlos, denn man kann sie kaum fassen.

Die Objektivität, die ich in diesem Traum und in den Visionen erlebte, gehört zur vollendeten Individuation. Sie bedeutet eine Loslösung von Wertungen und von dem, was wir als gefühlsmäßige Verbundenheit bezeichnen. An der gefühlsmäßigen Verbundenheit liegt den Menschen im allgemeinen sehr viel. Aber sie enthält immer noch Projektionen, und diese gilt es zurückzunehmen, um zu sich selbst und zur Objektivität zu gelangen. Gefühlsbeziehungen sind Beziehungen des Begehrens, belastet mit Zwang und Unfreiheit; man erwartet etwas vom anderen, wodurch dieser und man selber unfrei werden. Die objektive Erkenntnis steht hinter der gefühlsmäßigen Bezogenheit; sie scheint das zentrale Geheimnis zu sein. Erst durch sie ist wirkliche Coniunctio möglich.

Nach der Krankheit begann eine fruchtbare Zeit der Arbeit für mich. Viele meiner Hauptwerke sind erst danach entstanden. Die Erkenntnis, oder die Anschauung vom Ende aller Dinge, gaben mir den Mut zu neuen Formulierungen. Ich versuchte nicht mehr, meine eigene Meinung durchzusetzen, sondern vertraute mich dem Strom der Gedanken an. So kam ein Problem nach dem anderen an mich heran und reifte zur Gestaltung.

Es war aber noch ein anderes, das sich mir aus der Krankheit ergab. Ich könnte es formulieren als ein Ja-sagen zum Sein - ein unbedingtes «Ja» zu dem, was ist, ohne subjektive Einwände. Die Bedingungen des Daseins annehmen, so wie ich sie sehe - so wie ich sie verstehe. Und mein eigenes Wesen akzeptieren, so wie ich eben bin. Zu Beginn der Krankheit hatte ich das Gefühl, einen


Irrtum in meiner Einstellung begangen zu haben und dämm für den Unfall gewissermaßen selber verantwortlich zu sein. Aber wenn man den Individuationsweg geht, wenn man das Leben lebt, muß man auch den Irrtum in Kauf nehmen, sonst wäre das Leben nicht vollständig. Es gibt keine Garantie - in keinem Augenblick - daß wir nicht in einen Irrtum geraten oder in eine tödliche Gefahr. Man meint vielleicht, es gäbe einen sicheren Weg. Aber das wäre der Weg der Toten. Dann geschieht nichts mehr oder auf keinen Fall das Richtige. Wer den sicheren Weg geht, ist so gut wie tot.

Erst nach der Krankheit verstand ich, wie wichtig das Ja-sagen zum eigenen Schicksal ist. Denn auf diese Weise ist ein Ich da, das auch dann nich t versagt, wenn Unbegreifliches geschieht. Ein Ich, das aushält, das die Wahrheit erträgt, und das der Welt und dem Schicksal gewachsen ist. Dann hat man mit einer Niederlage auch einen Sieg erlebt. Es wird nichts gestört weder außen noch innen;


denn die eigene Kontinuität hat dem Strom des Lebens und der Zeit standgehalten. Aber das kann nur geschehen, wenn man sich nicht vorwitzig in die Absichten des Schicksals einmischt.

Ich habe auch eingesehen, daß man das in einem selbst sich ereignende Denken als etwas tatsächlich Vorhandenes annehmen muß, jenseits aller Bewertung. Die Kategorien von wahr und falsch sind zwar stets vorhanden, stehen aber als unverbindlich daneben; denn das Vorhandensein der Gedanken ist wichtiger als ihre subjektive Beurteilung. Als vorhandene Gedanken sind aber auch Urteile nicht zu unterdrücken, da sie mit zur Erscheinung der Ganzheit gehören.

Über das Leben nach dem Tode

Was ich Ihnen über das Jenseits und über ein Leben nach dem Tode erzähle, sind alles Erinnerungen. Es sind Bilder und Gedanken, in denen ich gelebt habe, und die mich umgetrieben haben. In gewisser Hinsicht gehören sie auch zum Fundament meiner Werke;


denn diese sind im Grunde genommen nichts anderes als immer erneute Versuche, eine Antwort auf die Frage nach dem Zusammenspiel von «Diesseits» und «Jenseits» zu geben. Ich habe aber nie expressis verbis über ein Leben nach dem Tode geschrieben; denn dann hätte ich meine Gedanken belegen müssen, und das kann man nicht. Nun, jetzt spreche ich sie eben aus.

Ich kann aber auch jetzt nicht mehr tun als Geschichten darüber erzählen «mythologein». Vielleicht braucht es die Nähe des Todes, um die Freiheit zu erlangen, die dazu nötig ist. Weder wünsche ich, noch wünsche ich nicht, daß wir ein Leben nach dem Tode hätten, und ich möchte auch dergleichen Gedanken nicht kultivieren; aber ich muß, um die Wirklichkeit zu Worte kommen zu lassen, feststellen, daß ohne meinen Wunsch und ohne mein Zutun Gedanken solcher Art in mir kreisen. Ich weiß nichts darüber, ob sie wahr oder falsch sind, aber ich weiß, daß sie vorhanden sind und daß sie geäußert werden können, falls ich sie nicht aus irgendwelchem Vorurteil unterdrücke. Voreingenommenheit behindert und beschädigt aber die volle Erscheinung des psychischen Lebens, das ich viel zu wenig erkenne, um es durch ein Besserwissen korrigieren zu können. Neuerdings hat die kritische Vernunft neben vielen anderen mythischen Vorstellungen auch die Idee des postmortalen Lebens anscheinend zum Verschwinden gebracht. Dies war nur darum möglich, weil die Menschen heutzutage meist ausschließlich mit ihrem Bewußtsein identifiziert sind und sich einbilden, nur das zu sein, was sie selber von sich wissen. Jedermann, der auch nur eine Ahnung von Psychologie hat, kann sich leicht Rechenschaft darüber geben, wie beschränkt dieses Wissen ist. Rationalismus und Doktrinarismus sind unsere Zeitkrankheit; sie geben vor, alles zu wissen. Man wird aber noch vieles entdecken, was wir heute von unserem beschränkten Standpunkt aus als unmöglich bezeich


nen. Unsere Begriffe von Raum und Zeit haben eine nur annähernde Geltung und lassen daher ein weites Feld relativer und absoluter Abweichungen offen. Aus Rücksicht auf solche Möglichkeiten leihe ich den wunderlichen Mythen der Seele ein aufmerksames Ohr und beobachte das Geschehen, das mir widerfährt, gleichgültig, ob es meinen theoretischen Voraussetzungen paßt oder nicht.

Leider kommt die mythische Seite des Menschen heutzutage meist zu kurz. Er kann nicht mehr fabulieren. Damit entgeht ihm viel; denn es ist wichtig und heilsam, auch von den unfaßlichen Dingen zu reden. Das ist wie eine gute Gespenstergeschichte, bei der man am Kaminfeuer sitzt und eine Pfeife raucht.

Was die Mythen oder Geschichten von einem Leben nach dem Tode «in Wirklichkeit» bedeuten, oder was für eine Realität hinter ihnen steht, wissen wir allerdings nicht. Wir können nicht ausmachen, ob sie über ihren Wert als anthropomorphe Projektionen hinaus noch irgendeine Gültigkeit besitzen. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, daß es keine Möglichkeit gibt, Sicherheit über Dinge zu gewinnen, welche unseren Verstand übersteigen.

Eine andere Welt mit ganz anderen Umständen können wir uns gar nicht vorstellen, sintemalen wir in einer bestimmten Welt leben, durch welche unser Geist und unsere psychischen Voraussetzungen mitgeformt und mitgegeben sind. Wir sind durch unsere angeborene Struktur streng begrenzt und darum mit unserem Sein und Denken an diese unsere Welt gebunden. Der mythische Mensch verlangt zwar ein «Darüber-Hinausgehen», aber der wis senschaftlich verantwortliche Mensch kann es nicht zulassen. Für den Verstand ist das «mythologein» eine sterile Spekulation, für das Gemüt aber bedeutet es eine heilende Lebenstätigkeit; sie verleiht dem Dasein einen Glanz, welchen man nicht missen möchte. Es liegt auch kein zureichender Grund vor, warum man ihn missen sollte.

Die Parapsychologie erblickt einen wissenschaftlich gültigen Beweis für das Weiterleben nach dem Tode darin, daß ein Verstorbener sich manifestiert


- sei es als Spuk, sei es durch ein Medium - und Dinge mitteilt, die ausschließlich ihm bekannt gewesen sind. Auch wenn es solche wohl beglaubigten Fälle gibt, bleiben die Fragen offen, ob der Spuk oder die Stimme mit dem Toten iden


tisch oder eine psychische Projektion ist, und ob die Aussage wirklich von dem Verstorbenen herrührt oder vielleicht dem im Unbewußten vorhandenen Wissen entstammtl.


Trotz aller vernünftigen Überlegungen, die gegen eine Sicherheit in diesen Dingen sprechen, darf man eines nicht vergessen:


es bedeutet für die meisten Menschen sehr viel anzunehmen, daß ihr Leben eine unbestimmte Kontinuität über die jetzige Existenz hinaus habe. Dann leben sie vern ünftiger, es geht ihnen besser, und sie sind ruhiger. Man hat Jahrhunderte, man hat eine unausdenkbare Zeit zu verschwenden! Warum dann diese sinnlose Hetzerei ?

Natürlich gilt das nicht für jedermann. Es gibt Menschen, die kein Bedürfnis nach Unsterblichkeit empfinden, und für die es gräßlich ist zu denken, sie müßten zehntausend Jahre auf einer Wolke sitzen und Harfe spielen! Auch gibt es nicht wenige, denen das Leben so übel mitgespielt hat, oder die solchen Ekel vor der eigenen Existenz empfinden, daß ihnen ein absolutes Ende köstlicher erscheint als eine Fortdauer. Aber in der Mehrzahl der Fälle ist die Frage nach der Immortalität so dringend, so unmittelbar und auch so unausrottbar, daß man den Versuch wagen muß, sich irgendeine Auffassung darüber zu bilden. Aber wie könnte das möglich sein?

Meine Hypothese ist, daß wir dazu imstande sind mit Hilfe von Andeutungen, die uns das Unbewußte schickt, z. B. in Träumen. Meist sträuben wir uns, die Hinweise des Unbewußten ernst zu nehmen, weil wir von der Unbeantwortbarkeit der Frage überzeugt sind. Dieser verständlichen Skepsis halte ich folgende Überlegungen entgegen: Wenn wir etwas nicht wissen können, müssen wir es als ein intellektuelles Problem aufgeben. Ich weiß nicht, aus welchem Grund das Weltall entstanden ist, und werde es nie wissen. So muß ich diese Frage als wissenschaftliches oder intellektuelles Problem fallen lassen. Aber wenn sich mir darüber eine Idee darbietet - z. B. aus Träumen oder mythischen Überlieferungen -so will ich sie mir anmerken. Ich muß sogar wagen, mir daraus eine Auffassung zu bilden, auch wenn sie auf immer eine Hypothese bleibt, und ich weiß, daß sie nicht bewiesen werden kann.

1 Über das «absolute Wissen» im Unbewußten vgl. C. G. Jung «Syn-chronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge», in Ges. Werke VIII. 1967.

Der Mensch muß sich darüber ausweisen können, daß er sein möglichstes getan hat, sich eine Auffassung über das Leben nach dem Tode zu bilden, oder sich ein Bild zu machen - und sei es mit dem Eingeständnis seiner Ohnmacht. Wer das nicht tut, hat etwas verloren. Denn was als Fragendes an ihn herantritt, ist uraltes Erbgut der Menschheit, ein Archetypus, reich an geheimem Leben, das sich dem unsrigen hinzufügen möchte, um es ganz zu machen. Die Vernunft steckt uns viel zu enge Grenzen und fordert uns auf, nur das Bekannte - und auch dies mit Einschränkungen - in bekanntem Rahmen zu leben, so als ob man die wirkliche Ausdehnung des Lebens kennte! Tatsächlich leben wir Tag für Tag weit über die Grenzen unseres Bewußtseins hinaus; ohne unser Wissen lebt das Unbewußte mit. Je mehr die kritische Vernunft vorwaltet, desto ärmer wird das Leben; aber je mehr Unbewußtes, je mehr Mythus wir bewußt zu machen vermögen, desto mehr Leben integrieren wir. Die überschätzte Vernunft hat das mit dem absoluten Staat gemein: unter ihrer Herrschaft verelendet der Einzelne.

Das Unbewußte gibt uns eine Chance, indem es uns etwas mitteilt oder bildhafte Andeutungen macht. Es ist imstande, uns gelegentlich Dinge mitzuteilen, die wir aller Logik nach nicht wissen können. Denken Sie an synchronistische Phänomene, an Wahrträume und Vorahnungen!

Einmal fuhr ich von Bollingen nach Hause. Es war in der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Ich hatte ein Buch bei mir, aber ich konnte nicht lesen, denn im Augenblick, als sich der Zug in Bewegung setzte, hatte mich das Bild eines Ertrinkenden überfallen. Es war die Erinnerung an einen Unglücksfall im Militärdienst. Während der ganzen Fahrt kam ich nicht davon los. Das war mir unheimlich, und ich dachte: Was ist denn geschehen? Ist etwa ein Unglück passiert?

In Erlenbach stieg ich aus und ging heim, immer noch mit dieser Erinnerung und meinen Sorgen beschäftigt. Im Garten standen die Kinder meiner zweiten Tochter herum. Sie wohnte mit ihrer Familie bei uns, nachdem sie wegen des Krieges aus Paris in die Schweiz zurückgekehrt war. Alle schauten etwas dumm drein, und als ich fragte: «Was ist denn los?» erzählten sie's: Adrian, damals der Kleinste, sei im Bootshaus ins Wasser gefallen. Es ist dort schon recht tief, und da er noch nicht schwimmen konnte, wäre er beinahe ertrunken. Der ältere Bruder habe ihm dann herausgeholfen. Dies spielte sich genau zu der Zeit ab, als ich im Zug von


den Erinnerungen überfallen worden war. Das Unbewußte hatte mir also einen Wink gegeben. Warum kann es mir nicht auch über anderes Auskunft erteilen ?

Etwas Ähnliches erlebte ich vor einem Todesfall in der Familie meiner Frau. Damals träumte ich, daß das Bett meiner Frau eine tiefe Grube mit gemauerten Wänden sei. Es war ein Grab und mutete irgendwie antik an. Da hörte ich einen tiefen Seufzer, wie wenn jemand den Geist aufgibt. Eine Gestalt, die meiner Frau glich, richtete sich in der Grube auf und schwebte empor. Sie trug ein weißes Gewand, in welches merkwürdige schwarze Zeichen eingewoben waren. - Ich erwachte, weckte meine Frau und kontrollierte die Zeit. Es war drei Uhr morgens. Der Traum war so merkwürdig, daß ich sofort dachte, er könnte einen Todesfall anzeigen. Um sieben Uhr kam die Nachricht, daß eine Cousine meiner Frau um drei Uhr gestorben sei!

Oft handelt es sich nur um ein Vorauswissen, nicht aber um ein Vorauserkennen. So hatte ich einmal einen Traum, in welchem ich mich auf einer garden party befand. Ich erblickte meine Schwester, was mich sehr wunderte, denn sie war schon einige Jahre zuvor gestorben. Auch ein verstorbener Freund von mir war anwesend. Die übrigen waren noch lebende Bekannte. Meine Schwester befand sich in Gesellschaft einer mir wohlbekannten Dame, und schon im Traum schloß ich daraus, daß diese anscheinend vom Tode berührt war. - Sie ist vorgemerkt, dachte ich. Im Traum wußte ich, wer sie war, und daß sie in Basel wohnte. Kaum war ich erwacht, konnte ich mich jedoch beim besten Willen nicht mehr erinnern, wer sie war, obwohl mir der ganze Traum noch lebhaft vor Augen stand. Ich stellte mir sämtliche Basler Bekannten vor und paßte auf, ob nicht bei der Vorstellung der Gedächtnisbilder etwas in mir anklingen würde. Nichts!

Einige Wochen später erhielt ich die Nachricht vom tödlichen Unfall einer befreundeten Dame. Da wußte ich sofort: sie war es, die ich »m Traum gesehen, aber nicht erinnert hatte. Ich besaß ein mit vielen Einzelheiten ausgestattetes Erinnerungsbild von ihr, war sie doch während längerer Zeit, bis zum Jahr vor ihrem Tode, meine Patientin gewesen. Bei meinem Versuch, sie mir ins Gedächtnis zurückzurufen, war aber in der langen Reihe meiner Basler Bekannten ausgerechnet ihr Bild nicht aufgetreten, obwohl es sich aller Wahrscheinlichkeit nach schon unter den ersten hätte befinden müssen.

Wenn man solche Erfahrungen macht, bekommt man eine gewisse Hochachtung vor den Möglichkeiten und Fähigkeiten des Unbewußten. Man muß nur kritisch bleiben und wissen, daß solche «Mitteilungen» immer auch eine subjektive Bedeutung haben können. Sie können mit der Realität übereinstimmen oder auch nicht. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, daß mir die Auffassungen, die ich auf Grund solcher Andeutungen des Unbewußten gewinnen konnte, Lichter aufgesteckt und Ausblicke auf Ahnungsreiches eröffnet haben. Natürlich werde ich kein Buch der Offenbarungen darüber schreiben, sondern ich werde anerkennen, daß ich einen «Mythus» habe, der mich interessiert und mich zu Fragestellungen veranlaßt. Mythen sind früheste Formen der Wissenschaft. Wenn ich über die Dinge nach dem Tode rede, so spreche ich aus einer inneren Bewegtheit und kann nicht weiter gehen, als Träume und Mythen darüber erzählen.

Natürlich kann man von vornherein einwenden, Mythen und Träume über eine Kontinuität des Lebendigen nach dem Tode seien lediglich kompensierende Phantasien, die in unserer Natur liegen - alles Leben will Ewigkeit. Dagegen habe ich kein anderes Argument als eben den Mythus.

Darüber hinaus gibt es aber auch Hinweise, daß mindestens ein Teil der Psyche den Gesetzen von Raum und Zeit nicht unterworfen ist. Den wissenschaftlichen Beweis dafür erbrachten die bekannten Rhineschen Versuche2. Neben zahllosen Fällen von spontanem Vorauswissen, unräumlichen Wahrnehmungen und dergleichen, wofür ich Ihnen Beispiele aus meinem Leben erzählt habe, beweisen sie, daß die Psyche zeitweilig jenseits des raumzeitlichen Kausalgesetzes funktioniert. Daraus ergibt sich, daß unsere Vorstellungen von Raum und Zeit und damit auch der Kausalität unvollständig sind. Ein vollständiges Weltbild müßte sozusagen noch um eine andere Dimension erweitert werden; erst dann könnte die Gesamtheit der Phänomene einheitlich erklärt werden. Deshalb bestehen die Rationalisten auch heute noch darauf, es gäbe keine parapsychologischen Erfahrungen; denn damit steht und fällt ihre Weltanschauung. Wenn solche Phänomene überhaupt vorkommen, ist das rationalistische Weltbild ungültig, weil unvollständig. Dann wird die Möglichkeit einer hinter den Erscheinungen liegenden

2 J. B. Rhine, Duke University in Durham, USA, hat mit seinen Kartenexperimenten die Fähigkeit des Menschen nachgewiesen, außersinnliche Wahrnehmungen zu machen. A. J.

anderswertigen Wirklichkeit zum unabweisbaren Problem, und wir müssen die Tatsache ins Auge fassen, daß unsere Welt mit Zeit, Raum und Kausalität sich auf eine dahinter oder darunter liegende andere Ordnung der Dinge bezieht, in welcher weder «Hier und Dort», noch «Früher und Später» wesentlich sind. Ich sehe keine Möglichkeit zu bestreiten, daß wenigstens ein Teil unserer psychischen Existenz durch eine Relativität von Raum und Zeit charakterisiert ist. Mit zunehmender Bewußtseinsferne scheint sie sich bis zu einer absoluten Raum- und Zeitlosigkeit zu steigern.

Es waren nicht nur eigene Träume, sondern gelegentlich auch diejenigen von anderen, die meine Auffassungen über ein postmor-tales Leben formten, revidierten oder bestätigten. Von besonderer Bedeutung war der Traum, den eine knapp sechzigjährige Schülerin von mir etwa zwei Monate vor ihrem Tode träumte: Sie kam ins Jenseits. Dort war eine Schulklasse, in welcher auf der vordersten Bank ihre verstorbenen Freundinnen saßen. Es herrschte allgemeine Erwartung. Sie blickte sich um nach einem Lehrer oder Vortragenden, konnte aber niemanden finden. Man bedeutete ihr, daß sie selbst die Vortragende sei, denn alle Verstorbenen hätten gleich nach ihrem Tode einen Bericht über die Gesamterfahrung ihres Lebens abzugeben. Die Toten interessierten sich in hohem Maße für die von den Verstorbenen mitgebrachten Lebenserfahrungen, so als ob Taten und Entwicklungen im irdischen Leben die entscheidenden Ereignisse seien.

Auf alle Fälle schildert der Traum eine sehr ungewöhnliche Zuhörerschaft, die ihresgleichen auf der Erde wohl kaum finden dürfte: man interessiert sich brennend für das psychologische Endresultat eines menschlichen Lebens, das in keinerlei Weise bemerkenswert ist, so wenig wie der Schluß, der daraus gezogen werden könnte - nach unserem Dafürhalten. Wenn sich das «Publikum» aber in einer relativen Nicht-Zeit befindet, wo «Ablauf», «Ereignis», «Entwicklung» fragliche Begriffe geworden sind, so könnte es sich eben gerade für das, was ihm in seinem Zustand fehlt, am meisten interessieren.

Zur Zeit dieses Traumes hatte die Verstorbene Angst vor dem Tode und wollte diese Möglichkeit ihrem Bewußtsein tunlichst fernhalten. Es ist aber ein sehr wichtiges «Interesse» des alternden Menschen, sich gerade mit dieser Möglichkeit bekannt zu machen. Ein sozusagen unabweisbar Fragendes tritt an ihn heran, und er


sollte darauf antworten. Zu diesem Zweck sollte er einen Mythus vom Tode haben, denn die «Vernunft» zeigt ihm nichts als die dunkle Grube, in die er fährt. Der Mythus aber könnte ihm andere Bilder vor Augen führen, hilfreiche und bereichernde Bilder des Lebens im Totenland. Glaubt er an diese oder gibt er ihnen auch nur einigen Kredit, so hat er damit ebenso sehr recht und unrecht wie einer, der nicht an sie glaubt. Während aber der Leugnende dem Nichts entgegengeht, folgt der dem Archetypus Verpflichtete den Spuren des Lebens bis zum Tode. Beide sind zwar im Ungewissen, der eine aber gegen seinen Instinkt, der andere mit ihm, was einen beträchtlichen Unterschied und Vorteil zugunsten des letzteren bedeutet.

Auch die Gestalten des Unbewußten sind «uninformiert» und bedürfen des Menschen, oder des Kontaktes mit dem Bewußtsein, um «Wissen» zu erlangen. Als ich mit dem Unbewußten zu arbeiten begann, spielten die Phantasiefiguren der Salome und des Elias eine große Rolle. Dann rückten sie in den Hintergrund, traten aber nach circa zwei Jahren erneut auf. Zu meinem größten Erstaunen waren sie vollkommen unverändert; sie sprachen und handelten so, wie wenn sich in der Zwischenzeit überhaupt nichts ereignet hätte. Und doch hatten sich in meinem Leben die unerhörtesten Dinge abgespielt. Ich mußte sozusagen wieder von vorne anfangen und ihnen alles auseinandersetzen und erzählen. Das hat mich damals sehr erstaunt. Erst später verstand ich, was geschehen war: die beiden waren in der Zwischenzeit ins Unbewußte und in sich selber - man könnte ebensogut sagen: in die Zeitlosigkeit -versunken. Sie blieben ohne Kontakt mit dem Ich und dessen sich wandelnden Umständen und waren darum «unwissend» über das, was in der Welt des Bewußtseins geschehen war.

Schon früh hatte ich die Erfahrung gemacht, daß ich die Gestalten des Unbewußten, oder von ihnen oft ununterscheidbar, die «Geister der Abgeschiedenen» zu belehren hätte. Das erste Mal erlebte ich das auf einer Velotour durch Ober-Italien, die ich 1911 mit einem Freund unternommen hatte. Auf dem Heimweg kamen wir von Pavia nach Arona, am unteren Teil des Lago Maggiore und übernachteten dort. Wir hatten im Sinn, dem See entlang und dann weiter durch den Tessin bis Faido zu fahren. Dort wollten wir den Zug nach Zürich nehmen. Aber in Arona hatte ich einen Traum, der unsere Pläne über den Haufen warf.

Im Traum befand ich mich in einer Versammlung erlauchter Geister aus früheren Jahrhunderten und hatte ein ähnliches Gefühl wie später gegenüber den «erlauchten Ahnen», die sich im schwarzen Stein meiner Vision von 1944 befanden. Die Unterhaltung wurde auf Lateinisch geführt. Ein Herr mit einer Allongeperücke sprach mich an und stellte mir eine schwierige Frage, an deren Inhalt ich mich beim Erwachen nicht mehr erinnern konnte. Ich verstand ihn, beherrschte die Sprache aber nicht genügend, um ihm lateinisch zu antworten. Das beschämte mich aufs tiefste, so daß die Emotion mich weckte.

Schon im Augenblick des Erwachens fiel mir meine damalige Arbeit «Wandlungen und Symbole der Libido» ein, und ich hatte derartige Minderwertigkeitsgefühle ob der nicht beantworteten Frage, daß ich sofort den Zug nach Hause nahm, um mich an die Arbeit zu begeben. Es wäre mir unmöglich gewesen, die Velotour fortzusetzen und noch drei Tage dafür zu opfern. Ich mußte arbeiten, um die Antwort zu finden.

Erst viel später verstand ich den Traum und meine Reaktion: der Herr in der Allongeperücke war eine Art «Ahnen- oder Totengeist», der seine Fragen an mich gerichtet hatte, und ich wußte keine Antwort! Es war damals noch zu früh, ich war noch nicht so weit; aber ich hatte eine dunkle Ahnung, daß ich durch die Arbeit an meinem Buch die mir gestellte Frage beantwortete. Sie wurde gewissermaßen von meinen geistigen Vorfahren an mich gestellt in der Hoffnung und Erwartung, daß sie dann hören würden, was sie zu ihrer Zeit nicht in Erfahrung bringen konnten; es mußte in den nachfolgenden Jahrhunderten erst erschaffen werden. Wären Frage und Antwort in der Ewigkeit, schon von jeher, vorhanden gewesen, so hätte es meiner Anstrengung keineswegs bedurft, und sie hätten in irgendeinem anderen Jahrhundert entdeckt werden können. Es scheint zwar ein unbegrenztes Wissen in der Natur vorhanden zu sein, das aber nur unter passenden Zeitumständen vom Bewußtsein erfaßt werden kann. Es geschieht vermutlich wie in der Seele des Einzelnen: er trägt vielleicht viele Jahre lang eine Ahnung von etwas in sich herum, wird aber dessen erst in einem gewissen späteren Moment wirklich gewahr.

Als ich später die «Septem Sermones ad Mortuos» schrieb, waren es wiederum die Toten, welche die entscheidenden Fragen an mich richteten. Sie kamen - so hieß es - zurück von Jerusalem, weil sie


dort nicht fanden, was sie suchten. Das erstaunte mich damals sehr; denn nach hergebrachter Meinung sind es die Toten, welche das große Wissen haben. Man ist der Ansicht, sie wüßten viel mehr als wir, weil ja die christliche Lehre annimmt, daß wir «drüben» «von Angesicht zu Angesicht schauen» würden. Scheinbar «wissen» die Seelen der Verstorbenen aber nur das, was sie im Augenblick ihres Todes wußten und nichts darüber hinaus. Daher ihr Bemühen, ins Leben einzudringen, um teilzunehmen am Wissen der Menschen. Oft habe ich das Gefühl, als stünden sie direkt hinter uns und warteten darauf, zu vernehmen, welche Antwort wir ihnen und welche wir dem Schicksal geben. Es scheint mir, als ob ihnen alles darauf ankäme, von den Lebenden, d. h. von denen, die sie überleben und in einer sich weiter verändernden Welt existieren, Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Die Toten fragen, wie wenn das Allwissen oder Allgewußtsein nicht ihnen zur Verfügung stünde, sondern nur in die körperverhaftete Seele des Lebenden einfließen könnte. Der Geist des Lebenden scheint daher wenigstens in einem Punkte gegenüber dem der Toten im Vorteil zu sein, nämlich in der Fähigkeit, klare und entscheidende Erkenntnisse zu erlangen. Die dreidimensionale Welt in Zeit und Raum erscheint mir wie ein Koordinatensystem: es wird in Ordinate und Abszisse auseinandergelegt, was «dort», in der RaumZeitlosigkeit, vielleicht als ein Urbild mit vielen Aspekten, vielleicht als eine diffuse «Erkenntnis wolke» um einen Archetypus herum, erscheinen mag. Es bedarf aber eines Koordinatensystems, um Unterscheidung von distinkten In halten zu ermöglichen. Eine derartige Operation erscheint uns undenkbar im Zustand eines diffusen Allwissens oder eines subjektlosen Bewußtseins ohne zeiträumliche Bestimmung. Erkenntnis setzt, wie Zeugung, einen Gegensatz voraus, ein Hier und Dort, ein Oben und Unten, ein Vorher und Nachher.

Wenn es ein bewußtes Dasein nach dem Tode geben sollte, so ginge es, wie mir scheint, in der Richtung weiter wie das Bewußtsein der Menschheit, das jeweils eine obere, aber verschiebbare Grenze hat. Es gibt viele Menschen, die im Augenblick ihres Todes nicht nur hinter ihren eigenen Möglichkeiten zurückgeblieben sind, sondern vor allem auch weit hinter dem, was schon zu ihren Lebzeiten von anderen Menschen bewußt gemacht worden war. Daher ihr Anspruch, im Tode den Anteil an Bewußtheit zu erlangen, den sie im Leben nicht erworben haben.

Zu dieser Ansicht bin ich durch die Beobachtung von Träumen über Verstorbene gekommen. So träumte ich einmal, daß ich einen Freund besuchte, der etwa vierzehn Tage zuvor gestorben war. In seinem Leben hatte er nie etwas anderes gekannt als eine konventionelle Weltanschauung, und in dieser reflexionslosen Haltung war er stecken geblieben. Seine Wohnung befand sich auf einem Hügel, ähnlich dem Tüllinger Hügel bei Basel. Dort stand ein altes Schloß, dessen Ringmauer einen Platz mit einer kleinen Kirche und einigen kleineren Gebäuden umgab. Er erinnerte mich an den Platz beim Schloß Rapperswil. Es war Herbst. Die Blätter der alten Bäume waren schon golden gefärbt, und milder Sonnenschein verklärte das Bild. Dort saß mein Freund an einem Tisch mit seiner Tochter, die in Zürich Psychologie studiert hatte. Ich wußte, daß sie ihm die nötigen Aufklärungen über Psychologie gab. Er war so fasziniert von dem, was sie zu ihm sagte, daß er mich nur mit einer flüchtigen Handbewegung begrüßte, so als wollte er mir zu verstehen geben: «Störe mich nicht!» Der Gruß war gleichzeitig ein Abwinken.

Der Traum sagte mir, daß er jetzt auf eine mir natürlich unwiß. bare Art und Weise die Wirklichkeit seines psychischen Daseins realisieren müsse, wozu er in seinem Leben niemals imstande gewesen war. Zum Traumbild fielen mir später die Worte ein: «Heilige Anachoreten gebirgauf verteilt...» Die Anachoreten in der Schlußszene des zweiten Teils von Faust sind als Darstellung von verschiedenen Entwicklungsstufen gedacht, die sich ergänzen und gegenseitig erhöhen.

Eine andere Erfahrung über die Entwicklung der Seele nach dem Tode machte ich, als ich - etwa ein Jahr nach dem Tode meiner Frau - eines Nachts plötzlich erwachte und wußte, daß ich bei ihr in Südfrankreich, in der Provence, gewesen war und einen ganzen Tag mit ihr verbracht hatte. Sie machte dort Studien über den Gral. Das erschien mir bedeutsam; denn sie war gestorben, bevor sie die Arbeit über dieses Thema beendet hatte. Die Erklärung auf der Subjektstufe - daß meine Anima mit der ihr auferlegten Arbeit noch nicht fertig sei - sagt mir nichts;


denn ich weiß, daß ich damit noch nicht fertig bin. Aber der Gedanke, daß meine Frau nach dem Tode noch an ihrer geistigen Weiterentwicklung arbeitet - was immer man sich darunter vorstellen mag - schien mir sinnvoll, und darum hatte der Traum etwas Beruhigendes für mich.

Vorstellungen dieser Art sind natürlich inkorrekt und geben ein ungenügendes Bild, wie ein in die Fläche projizierter Körper oder wie, umgekehrt, die Konstruktion eines vierdimensionalen Gebildes aus einem Körper. Sie bedienen sich der Bestimmungen einer dreidimensionalen Welt, um sich zu veranschaulichen. Wie die Mathematik es sich nicht verdrießen läßt, einen Ausdruck für Verhältnisse zu schaffen, die alle Empirie übersteigen, so gehört es auch zum Wesen einer disziplinierten Phantasie, Bilder des Unanschaulichen nach logischen Prinzipien und auf Grund empirischer Daten, z. B. der Traumaussagen, zu entwerfen. Die dabei verwendete Methode ist die der «notwendigen Aussage», wie ich sie genannt habe. Sie stellt das Prinzip der Amplifikation in der Traumdeutung dar, kann aber am leichtesten durch die Aussagen der einfachen ganzen Zahlen demonstriert werden.

Die Eins ist als erstes Zählwort eine Einheit. Sie ist aber auch «die Einheit», das Eine, das All-Eine, Einzige und Zweitlose - kein Zählwort, sondern eine philosophische Idee, oder ein Archetypus und Gottesattribut, die Monas. Es ist schon richtig, daß der menschliche Verstand diese Aussagen macht, aber er ist bestimmt und gebunden durch die Vorstellung der Eins und ihrer Implikationen. Es sind, mit anderen Worten, keine willkürlichen Aussagen, sondern sie sind durch das Wesen der Eins determiniert und darum notwendig. Die gleiche logische Operation ließe sich theoretisch an allen folgenden individuellen Zahlenvorstellungen vollziehen, kommt aber praktisch bald zum Ende wegen der rasch ansteigenden Anzahl von Komplikationen, die unübersehbar wird.

Jede weitere Einheit bringt neue Eigenschaften und Modifikationen. So z. B. ist es eine Eigenschaft der Zahl Vier, daß Gleichungen vierten Grades noch aufgelöst werden können, diejenigen fünften Grades jedoch nicht. Eine «notwendige Aussage» der Zahl Vier ist also, daß sie Höhepunkt und zugleich Ende eines vorhergehenden Anstiegs ist. Da mit jeder weiteren Einheit eine oder mehrere neue Eigenschaften mathematischer Natur auftreten, komplizieren sich die Aussagen derart, daß sie nicht mehr formuliert werden können.

Die unendliche Zahlenreihe entspricht der unendlichen Zahl individueller Geschöpfe. Sie besteht ebenfalls aus Individuen, und schon die Eigenschaften ihrer zehn Anfangsglieder stellen - wenn überhaupt etwas - eine abstrakte Kosmogonie aus der Monas d ar. Die Eigenschaften der Zahlen sind aber auch zugleich Eigenschaf


ten der Materie, weshalb gewisse Gleichungen das Verhalten des Stoffes vorauszunehmen imstande sind.

Ich möchte deshalb auch anderen als den mathematischen (von Natur her vorhandenen) Aussagen unseres Verstandes die Möglichkeit zubilligen, über sich selbst hinaus auf Realitäten unanschaulicher Art hinzuweisen. Ich denke bei solchen Aussagen z. B. an Phantasiebildungen, die sich des consensus omnium erfreuen oder die durch große Häufigkeit ihres Auftretens ausgezeichnet sind, und an die archetypischen Motive. Es gibt mathematische Gleichungen, von denen man nicht weiß, welchen physischen Wirklichkeiten sie entsprechen; ebenso gibt es mythische Wirklichkeiten, und wir wissen zunächst nicht, auf welche psychischen Wirklichkeiten sie sich beziehen. Man hatte zum Beispiel Gleichungen aufgestellt, die die Turbulenz erhitzter Gase ordnen, längst bevor diese genau untersucht worden waren; seit noch viel längerer Zeit gibt es Mythologeme, die den Ablauf gewisser unterschwelliger Vorgänge ausdrücken, aber erst heute können wir sie als solche erkennen.

Der Grad von Bewußtheit, der irgendwo schon erreicht ist, bildet, wie mir scheinen will, die obere Grenze dessen, was auch die Toten an Erkenntnis erreichen können. Darum ist wohl das irdische Leben von so großer Bedeutung und das, was ein Mensch beim Sterben «hinüberbringt», so wichtig. Nur hier, im irdischen Leben, wo die Gegensätze zusammenstoßen, kann das allgemeine Bewußtsein erhöht werden. Das scheint die metaphysische Aufgabe des Menschen zu sein, die er aber ohne «mythologein» nur teilweise erfüllen kann. Der Mythus ist die unvermeidliche und unerläßliche Zwischenstufe zwischen dem Unbewußten und der bewußten Erkenntnis. Es steht fest, daß das Unbewußte mehr weiß als das Bewußtsein, aber es ist ein Wissen besonderer Art, ein Wissen in der Ewigkeit, meist ohne Beziehung auf das Hier und Jetzt, ohne Rücksicht auf unsere Verstandessprache. Nur wenn wir seiner Aussage Gelegenheit geben, sich zu amplifizieren, wie oben am Beispiel der Zahlen gezeigt, gerät sie in die Reichweite unseres Verständnisses, und ein neuer Aspekt wird uns wahrnehmbar. Dieser Vorgang wiederholt sich bei jeder gelungenen Traumanalyse in überzeugender Weise. Darum ist es so wichtig, keine vorgefaßten doktrinären Meinungen über Traumaussagen zu haben. Sobald eine gewisse «Monotonie der Deutung» auffällt, weiß man, daß die Interpretation doktrinär und daher unfruchtbar geworden ist,

Wenn es auch nicht möglich ist, einen gültigen Beweis für ein Weiterleben der Seele nach dem Tode zu erbringen, so gibt es doch Erlebnisse, die einem 2u denken geben. Ich fasse sie als Hinweise auf, ohne mir die Kühnheit herauszunehmen, ihnen die Bedeutung von Erkenntnissen zuzuerteilen.

Einmal lag ich nachts wach und dachte an den plötzlichen Tod eines Freundes, der am Tage zuvor begraben worden war. Sein Tod beschäftigte mich sehr. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, er sei im Zimmer. Es war mir, als stünde er zu Füßen meines Bettes und verlangte, daß ich mit ihm gehe. Ich hatte nicht das Gefühl einer Erscheinung, sondern es war ein visuelles inneres Bild von ihm, das ich mir als eine Phantasie erklärte. Ehrlicherweise mußte ich mich aber fragen: Habe ich einen Beweis dafür, daß es eine Phantasie ist? Wenn es nun keine Phantasie wäre, wenn also mein Freund wirklich da wäre, und ich würde ihn für eine Phantasie halten, wäre das nicht eine Unverschämtheit? - Ich hatte aber ebensowenig einen Beweis dafür, daß er als Erscheinung, d. h. «wirklich» vor mir stand. Da sagte ich mir: Beweis hin oder her! Anstatt ihn als Phantasie zu erklären, könnte ich ihn mit dem gleichen Recht als Erscheinung akzeptieren und ihm wenigstens versuchsweise Wirklichkeit zubilligen. - In dem Augenblick, als ich das dachte, ging er zur Tür und winkte mir, ihm zu folgen. Ich sollte sozusagen mitspielen. Das war nun allerdings nicht vorgesehen! Ich mußte mir daher mein Argument nochmals wiederholen. Erst dann folgte ich ihm in meiner Phantasie.

Er führte mich aus dem Haus, in den Garten, auf die Straße und schließlich in sein Haus. (In Wirklichkeit lag es einige hundert Meter von dem meinigen entfernt). Ich ging hinein, und er geleitete mich in sein Arbeitszimmer. Er stieg auf einen Schemel und zeigte auf das zweite von fünf rot eingebundenen Büchern, die auf dem zweitobersten Schaft standen. Dann hörte die Vision auf. Ich kannte seine Bibliothek nicht und wußte nicht, was für Bücher er besaß. Überdies hätte ich die Titel der Bände, auf die er hingewiesen hatte, von unten nicht erkennen können, da sie auf dem zweitobersten Schaft standen.

Das Erlebnis schien mir so merkwürdig, daß ich am anderen Morgen zu der Witwe meines Freundes ging und sie fragte, ob ich in der Bibliothek des Verstorbenen etwas nachschauen dürfe. Tatsächlich stand unter dem in der Phantasie gesehenen Regal ein Schemel, und ich sah schon von weitem die fünf rot eingebunde


nen Bände. Ich stieg auf den Schemel, um die Titel lesen zu können. Es waren Übersetzungen von Emile Zolas Romanen; der Titel des zweiten Bandes lautete: «Das Vermächtnis der Toten.» Der Inhalt schien mir uninteressant, aber der Titel war im Zusammenhang mit dem Erlebnis höchst belangreich.

Ein anderes Erlebnis, das mir zu denken gab, hatte ich vor dem Tode meiner Mutter. Als sie starb, befand ich mich im Tessin. Ich war erschüttert über die Nachricht, denn ihr Tod war unerwartet plötzlich gekommen. In der Nacht vor ihrem Tode hatte ich einen erschreckenden Traum: Ich befand mich in einem dichten, finsteren Wald; phantastische, riesige Felsblöcke lagen zwischen gewaltigen, urwaldartigen Bäumen. Es war eine heroische, urweltliche Landschaft. Mit einem Male hörte ich ein gellendes Pfeifen, das durch das Universum zu hallen schien. Die Knie wurden mir weich vor Schrecken. Da krachte es im Gebüsch, und ein riesiger Wolfshund mit einem furchtbaren Rachen brach heraus. Vor seinem Anblick gerann mir das Blut in den Adern. Er schoß an mir vorbei, und ich wußte: jetzt hat der Wilde Jäger ihm befohlen, einen Menschen zu apportieren. Mit Todesschrecken erwachte ich, und am folgenden Morgen erhielt ich die Nachricht vom Tode meiner Mutter.

Selten hat mich ein Traum dermaßen erschüttert, denn bei oberflächlicher Betrachtung schien er zu sagen, daß der Teufel meine Mutter geholt habe. In Wahrheit aber war es der Wilde Jäger, der «Grünhütl», der in jener Nacht - in den Föhntagen des Januar -mit seinen Wölfen jagte. Es war Wotan, der Gott der alemannischen Vorväter, welcher meine Mutter zu ihren Ahnen «versammelte», nämlich negativ zum wilden Heer, positiv aber zu den «sälig Lüt». Erst durch die christlichen Missionare wurde Wotan zum Teufel. An sich ist er ein bedeutender Gott - ein Mercurius oder Hermes, wie die Römer richtig erkannten; ein Naturgeist, der im Merlin der Gralssage wieder erstand und als «Spiritus Mer-curialis» zum gesuchten Arcanum der Alchemisten wurde. So sagt der Traum, daß die Seele meiner Mutter in jenen größeren Zusammenhang des Selbst aufgenommen wurde, jenseits des christlichmoralischen Ausschnittes, nämlich in die den Gegensatzkonflikt umfassende Ganzheit von Natur und Geist.

Ich fuhr sofort nach Hause, und als ich nachts im Zuge saß, hatte ich das Gefühl großer Traurigkeit, aber in meinem innersten


Herzen konnte ich nicht traurig sein und zwar aus einem seltsamen Grunde: während der ganzen Fahrt hörte ich unausgesetzt Tanzmusik, Lachen und freudigen Lärm, so als ob eine Hochzeit gefeiert würde. Dieses Erlebnis stand in krassem Gegensatz zu dem furchtbaren Eindruck des Traumes. Hier war heitere Tanzmusik, fröhliches Lachen, und es war mir unmöglich, mich ganz der Trauer hinzugeben. Immer wieder wollte sie mich überwältigen, aber im nächsten Augenblick war ich wieder inmitten der fröhlichen Melodien. Es war ein Gefühl von Wärme und Freude einerseits und von Schrecken und Trauer andererseits, ein unaufhörlicher Wechsel von Gefühlskontrasten.

Der Gegensatz läßt sich dadurch erklären, daß der Tod einmal vom Gesichtspunkt des Ich und das andere Mal von dem der Seeleaus dargestellt wird. Im ersteren Fall erscheint er als Katastrophe, und es sieht so aus, wie wenn böse und mitleidlose Mächte einen Menschen erschlagen hätten.

Der Tod ist ja auch eine furchtbare Brutalität - darüber darf man sich nicht täuschen - nicht nur als physisches Geschehen, sondern viel mehr noch als psychisches: ein Mensch wird weggerissen, und was bleibt, ist eisige Totenstille. Keine Hoffnung besteht mehr auf irgendeinen Zusammenhang, denn alle Brücken sind abgebrochen. Menschen, denen man ein langes Leben gewünscht hätte, werden mitten aus dem Leben dahingerafft, und Nichtsnutze erreichen ein hohes Alter. Das ist eine grausame Realität, die man sich nicht verhehlen sollte. Die Brutalität und Willkürlichkeit des Todes können die Menschen so verbittern, daß sie daraus schließen, es gäbe keinen barmherzigen Gott, keine Gerechtigkeit und keine Güte.

Unter einem anderen Gesichtspunkt aber erscheint der Tod als ein freudiges Geschehen. Sub specie aeternitatis ist er eine Hochzeit, ein Mysterium Coniunctionis. Die Seele erreicht sozusagen die ihr fehlende Hälfte, sie erlangt Ganzheit. Auf griechischen Sarkophagen wurde das freudige Element durch Tänzerinnen dargestellt, auf etruskischen Gräbern durch Gastmähler. Als der fromme Kabbalist Rabbi Simon ben Jochai starb, sagten seine Freunde, er feiere Hochzeit. Noch heute ist es in manchen Gegenden Sitte, zu Allerseelen auf den Gräbern ein «Picnic» zu veranstalten. All das drückt die Empfindung aus, der Tod sei eigentlich ein Freudenfest.

Bereits ein paar Monate vor dem Tode meiner Mutter, im September 1922, hatte ich einen Traum, der auf ihn hinwies. Er handelte von meinem Vater und beeindruckte mich sehr. Seit seinem


Tode, also seit 1896, hatte ich nie mehr von ihm geträumt. Nun erschien er wieder in einem Traum, wie wenn er von einer weiten Reise zurückgekehrt wäre. Er sah verjüngt aus und nicht väterlich autoritär. Ich ging mit ihm in meine Bibliothek und freute mich riesig, zu erfahren, wie es ihm ergangen sei. Ganz besonders freute ich mich darauf, ihm meine Frau und meine Kinder vorzustellen, ihm mein Haus zu zeigen und zu erzählen, was ich inzwischen alles getan hätte und geworden sei. Ich wollte ihm auch von dem Typenbuch berichten, das jüngst herausgekommen war. Aber ich sah sogleich, daß alles das nicht möglich war, denn mein Vater schien präokkupiert. Anscheinend wollte er etwas von mir. Das fühlte ich deutlich und stellte mich darum selber zurück. Da sagte er mir, er möchte mich, da ich ja Psychologe sei, gern konsultieren und zwar über Ehepsychologie. Ich machte mich bereit, ihm einen längeren Exkurs über die Komplikationen der Ehe zu geben, und daran bin ich erwacht. Ich konnte den Traum nicht recht verstehen, denn es kam mir nicht in den Sinn, daß er sich auf den Tod meiner Mutter beziehen könnte. Das wurde mir erst klar, als sie im Januar 1923 plötzlich starb.

Die Ehe meiner Eltern war kein glückhaftes Einvernehmen, sondern eine durch viele Schwierigkeiten belastete Geduldsprobe. Beide machten die für viele Ehepaare typischen Fehler. Aus meinem Traum hätte ich den Tod meiner Mutter voraussehen können:


nach sechsundzwanzigj ähriger Abwesenheit erkundigte sich mein Vater im Traum beim Psychologen nach den neuesten Einsichten und Erkenntnissen, Ehekomplikationen betreffend, da für ihn die Zeit gekommen war, das Problem wieder aufzunehmen. Er hatte in seinem zeitlosen Zustand offenbar keine besseren Einsichten erworben und mußte sich deshalb an den Lebenden wenden, der unter veränderten Zeitumständen einige neue Gesichtspunkte hatte gewinnen können.

So spricht der Traum. Unzweifelhaft hätte ich durch Einsicht in seinen subjektiven Sinn noch viel gewinnen können - aber warum träumte ich ihn gerade vor dem Tode meiner Mutter, von welchem ich keine Voraussicht hatte? Er ist deutlich auf meinen Vater ausgerichtet, mit dem mich eine mit den Jahren sich vertiefende Sympathie verband.

Da das Unbewußte infolge seiner Zeit-Raum-Relativität bessere Informationsquellen hat als das Bewußtsein, welches nur über die Sinneswahrnehmungen verfügt, sind wir in bezug auf unseren


Mythus vom Leben nach dem Tode auf die spärlichen Andeutungen des Traumes und ähnlicher Spontanmanifestationen des Unbewußten angewiesen. Man kann diesen Hinweisen, wie schon gesagt, natürlich nicht den Wert von Erkenntnissen oder gar Beweisen beimessen. Sie können aber als passende Unterlagen zu mythischen Amplifikationen dienen; sie schaffen dem forschenden Verstand jenen Umkreis an Möglichkeiten, die zu seiner Lebendigkeit unerläßlich sind. Fehlt die Zwischenwelt der mythischen Phantasie, so ist der Geist von Erstarrung im Doktrinarismus bedroht. Umgekehrt bedeutet aber die Be rücksichtigung der mythischen Ansätze auch eine Gefahr für schwache und suggestible Geister, Ahnungen für Erkenntnisse zu halten und Phantasmata zu hypostasieren.

Einen weitverbreiteten Jenseitsmythus formen die Ideen und Vorstellungen über die Reinkarnation.


In einem Lande, dessen geistige Kultur sehr differenziert und viel älter ist als die unsrige, nämlich in Indien, gilt der Gedanke der Reinkarnation als ebenso selbstverständlich wie bei uns derjenige, daß Gott die Welt erschaffen habe, oder daß es ein en Spiritus rector gebe. Die gebildeten Inder wissen, daß wir nicht so denken wie sie, aber das kümmert sie nicht. Der geistigen Eigentümlichkeit östlichen Wesens entsprechend wird die Folge von Geburt und Tod als ein endloses Geschehen, als ein ewiges Rad, gedacht, das ohne Ziel weiterrollt. Man lebt und erkennt und stirbt und fängt wieder von vorne an. Nur bei Buddha tritt die Idee eines Zieles hervor, nämlich die Überwindung des irdischen Seins.


Das mythische Bedürfnis des westlichen Menschen verlangt ein evolutionäres Weltbild mit Anfang und Ziel. Es verwirft ein solches mit Anfang und bloßem Ende ebenso wie die Anschauung eines statischen, in sich geschlossenen ewigen Kreislaufs. Der östliche Mensch dagegen scheint letztere Idee tolerieren zu können. Es gibt offenbar keinen allgemeinen Consensus in bezug auf das Wesen der Welt, ebensowenig wie die Astronomen in dieser Frage bis jetzt sich einigen konnten. Dem westlichen Menschen ist die Sinnlosigkeit einer bloß statischen Welt unerträglich, er muß ihren Sinn voraussetzen. Der östliche Mensch braucht diese Voraussetzung nicht, sondern er verkörpert sie. Während jener den Sinn der Welt vollenden will, strebt dieser nach der Erfüllung des Sinns im Menschen und streift die Welt und das Dasein von sich ab (Buddha).


Ich würde beiden recht geben. Der westliche Mensch scheint eben vorherrschend extravertiert, der östliche vorherrschend introvertiert zu sein. Ersterer projiziert den Sinn und vermutet ihn in den Objekten; letzterer fühlt ihn in sich. Der Sinn aber ist außen wie innen.


Nicht zu trennen von der Idee der Wiedergeburt ist diejenige des Karma. Die entscheidende Frage ist, ob das Karma eines Menschen persönlich sei oder nicht. Stellt die Schicksalsbestimmung, mit der ein Mensch sein Leben antritt, das Resultat von Handlungen und Leistungen vergangener Leben dar, so besteht eine persönliche Kontinuität. Im anderen Fall wird ein Karma von einer Geburt gewissermaßen erfaßt, so daß es sich wieder verkörpert, ohne daß eine persönliche Kontinuität bestünde.


Zweimal wurde Buddha von seinen Schülern gefragt, ob das Karma des Menschen persönlich oder unpersönlich sei. Beide Male hat er die Frage abgebogen und ist nicht darauf eingegangen; sie trage nicht dazu bei, sich von der Illusion des Seins zu befreien. Buddha hielt es für nützlicher, daß seine Schüler über die Nidäna-Kette meditierten, nämlich über Geburt, Leben, Alter und Tod, über Ursache und Wirkung der leidensvollen Ereignisse.


Ich weiß keine Antwort auf die Frage, ob das Karma, welches ich lebe, das Resultat meiner vergangenen Leben, oder ob es nicht vielmehr die Errungenschaft meiner Ahnen sei, deren Erbe in mir zusammenkommt. Bin ich eine Kombination von Ahnenleben und verkörpere deren Leben wieder? Habe ich als bestimmte Persönlichkeit früher schon einmal gelebt und bin in jenem Leben soweit gekommen, daß ich nun eine Lösung versuchen kann ? Ich weiß es nicht. Buddha hat es offen gelassen, und ich möchte annehmen, er habe es nicht mit Sicherheit gewußt.


Ich könnte mir gut vorstellen, daß ich in früheren Jahrhunderten gelebt habe und dort an Fragen gestoßen bin, die ich noch nicht beantworten konnte; daß ich wiedergeboren werden mußte, weil ich die mir gestellte Aufgabe nicht erfüllt hatte. Wenn ich sterbe, werden - so stelle ich es mir vor - meine Taten nachfolgen. Ich werde das mitbringen, was ich getan habe. Mittlerweile aber handelt es sich darum, daß ich im Ende meines Lebens nicht mit leeren Händen dastehe. Dies scheint auch Buddha gedacht zu haben, als er seine Jünger von unnützen Spekulationen abzuhalten versuchte.


Es ist der Sinn meiner Existenz, daß das Leben eine Frage an mich hat. Oder umgekehrt: ich selber bin eine Frage, die an die


Welt gerichtet ist, und ich muß meine Antwort beibringen, sonst bin ich bloß auf die Antwort der Welt angewiesen. Das ist die überpersönliche Lebensaufgabe, die ich nur mit Mühe realisiere. Vielleicht stellt sie etwas dar, was meine Ahnen schon beschäftigt hat, was sie jedoch nicht beantworten konnten. Bin ich vielleicht darum beeindruckt von der Tatsache, daß der Schluß von Faust keine Lösung enthält? Oder von dem Problem, an dem Nietzsche gescheitert ist: dem dionysischen Erlebnis, das dem christlichen Menschen entgangen zu sein scheint? Oder ist es der unruhvolle WotanHermes meiner alemannischen und fränkischen Ahnen, der mir herausfordernde Fragen stellt? Oder hat Richard Wilhelms scherzhafte Vermutung recht, daß ich in meinem Vorleben ein rebellischer Chinese gewesen sei. der strafweise seine östliche Seele in Europa entdecken muß ?


Was ich als Resultat meiner Ahnenleben oder als in persönlichen Vorleben erworbenes Karma empfinde, könnte vielleicht ebensogut ein unpersönlicher Archetypus sein, der heute alle Welt in Atem hält und mich besonders ergriffen hat, wie z. B. die saekulare Entwicklung der göttlichen Trias und ihre Konfrontation mit dem weiblichen Prinzip, oder die noch immer fällige Antwort auf die gnostische Frage nach dem Ursprung des Bösen, mit anderen Worten, die Unvollständigkeit des christlichen Gottesbildes.


Ich denke auch an die Möglichkeit, daß durch eine individuelle Leistung eine Frage in der Welt entsteht, deren Beantwortung gefordert wird. Zum Beispiel könnten meine Fragestellung und meine Antwort unbefriedigend sein. Unter diesen Umständen müßte jemand, der mein Karma hat - also vielleicht ich selber - wiedergeboren werden, um eine vollständigere Antwort zu geben. Darum könnte ich mir vorstellen, daß ich solange nicht wiedergeboren werde, als die Welt keine Antwort nötig hat, und daß ich Anwartschaft hätte auf etliche hundert Jahre der Ruhe, bis man wieder jemanden braucht, der sich für dergleichen Dinge interessiert, und ich daher erneut mit Gewinn an die Aufgabe gehen könnte. Ich habe die Idee, man könnte jetzt einige Ruhe eintreten lassen, bis das bisherige Pensum aufgearbeitet ist.


Die Frage des Karma ist mir dunkel, wie auch das Problem der persönlichen Wiedergeburt oder der Seelenwanderung. «Libera et vacua mente» vernehme ich mit Achtung das indische Bekenntnis zur W iedergeburt und halte Umschau in meiner Erfahrungswelt, ob sich nicht irgendwo und irgendwie etwas ereignet, das billigerweise


in die Richtung der Reinkarnation weisen könnte. Ich sehe natürlich ab von den bei uns relativ zahlreichen Zeugnissen des Glaubens an Reinkarnation. Ein Glaube beweist mir nämlich nur das Phänomen des Glaubens, aber keineswegs den geglaubten Inhalt. Dieser muß sich mir an und für sich empirisch offenbaren, um akzeptiert zu werden. Bis vor wenigen Jahren habe ich trotz hierauf gerichteter Aufmerksamkeit nichts in dieser Hinsicht Überzeugendes zu entdecken vermocht. Vor kurzem aber habe ich bei mir selber eine Reihe von Träumen beobachtet, welche nach allem Dafürhalten den Reinkarnationsvorgang bei einer mir bekannten verstorbenen Persönlichkeit beschreiben. Gewisse Aspekte ließen sich sogar mit einer nicht ganz abzuweisenden Wahrscheinlichkeit bis in die empirische Wirklichkeit verfolgen. Etwas Ähnliches habe ich aber nie wieder beobachtet oder vernommen, so daß ich keine Vergleichsmöglichkeiten habe. Da somit meine Beobachtung subjektiv und einmalig ist, möchte ich nur ihr Vorhandensein mitteilen, nicht aber ihre Inhalte. Ich muß aber gestehen, daß ich nach dieser Erfahrung das Problem der Reinkarnation mit etwas anderen Augen betrachte, ohne allerdings in der Lage zu sein, eine bestimmte Meinung vertreten zu können.

Wenn wir annehmen, daß es «dort» weitergeht, so können wir uns keine andere Existenz denken als eine psychische; denn das Leben der Psyche bedarf keines Raumes und keiner Zeit. Die psychische Existenz, vor allem die inneren Bilder, mit denen wir uns jetzt schon beschäftigen, liefern den Stoff für alle mythischen Spekulationen über eine Existenz im Jenseits, und diese stelle ich mir als ein Fortschreiten in der Bilderwelt vor. So könnte die Psyche jene Existenz sein, in der sich das «Jenseits» oder das «Totenland» befindet. Das Unbewußte und das «Totenland» sind in dieser Hinsicht Synonyma.

Vom psychologischen Gesichtspunkt aus erscheint das «Leben im Jenseits» als eine konsequente Fortsetzung des psychischen Lebens im Alter. Mit zunehmendem Alter nämlich spielen Beschaulichkeit, Reflexion und die inneren Bilder natürlicherweise eine immer größere Rolle. «Deine Alten werden Träume haben3.» Dies setzt allerdings voraus, daß die Seele der Alten nicht verholzt oder versteinert ist - sero medicina paratur cum mala per longas convaluere

» Apostelgesch. II, 17. Joel. III, l


moras4. Im Alter fängt man an, die Erinnerungen vor seinem inneren Auge abrollen zu lassen und sich in den inneren und äußeren Bildern der Vergangenheit denkend zu erkennen. Das ist wie eine Vorstufe oder eine Vorbereitung zu einer Existenz im Jenseits, so wie nach Auffassung Platos die Philosophie eine Vorbereitung auf den Tod darstellt.

Die inneren Bilder verhindern, daß ich mich in der persönlichen Rückschau verliere. Es gibt viele alte Menschen, die sich in der Erinnerung an äußere Ereignisse verstricken. Sie bleiben darin verhaftet, während die Rückschau, wenn sie reflektiert und in Bilder übersetzt ist, ein «reculer pour mieux sauter» bedeutet. Ich versuche, die Linie zu sehen, die durch mein Leben in die Welt geführt hat und aus der Welt wiederum herausführt.

Im allgemeinen sind die Vorstellungen, welche die Menschen sich über das Jenseits machen, von ihrem Wunschdenken und ihren Vorurteilen mitbestimmt. Meist werden darum mit dem Jenseits nur lichte Vorstellungen verbunden. Aber das leuchtet mir nicht ein. Ich kann mir kaumvorstellen, daß wir nach dem Tode auf einer lieblichen Blumenwiese landen. Wenn im Jenseits alles licht und gut wäre, müßte doch auch eine freundliche Kommunikation zwischen uns und lauter seligen Geistern bestehen, und aus dem Vorgeburtszustand könnten uns schöne und gute Konsequenzen zufließen. Davon ist aber keine Rede. Warum diese unüberwindliche Trennung der Abgeschiedenen von den Menschen ? Mindestens die Hälfte der Berichte über Begegnungen mit den Totengeistern handelt von angstvollen Erlebnis sen mit dunkeln Geistern, und es ist die Regel, daß das Totenland eisiges Schweigen beobachtet, unbekümmert um den Schmerz der Vereinsamten.

Wenn ich dem folge, was es unwillkürlich in mir denkt, so erscheint mir die Welt in viel zu hohem Maße einheitlich, als daß es ein «Jenseits» geben könnte, in welchem die Gegensatznatur völlig fehlt. Auch dort ist «Natur», die auf ihre Weise Gottes ist. Die Welt, in die wir nach dem Tode kommen, wird großartig sein und furchtbar, so wie die Gottheit und die uns bekannte Natur. Auch daß das Leiden gänzlich aufhörte, kann ich mir nicht vorstellen. Zwar war das, was ich in meinen Visionen 1944 erlebt habe, die Befreiung von der Last des Körpers und das Wahrnehmen des

4 Die Medizin wird zu spät zubereitet, wenn das Übel durch lange Zeiten stark geworden ist.

Sinnes, tief beglückend. Trotzdem war auch dort Dunkelheit und ein seltsames Aufhören menschlicher Wärme. Denken Sie an den schwarzen Felsen, zu dem ich gelangte! Er war dunkel und aus härtestem Granit. Was hat das zu bedeuten? Wäre keine Unvollkommenheit, kein primordialer Defekt im Schöpfungsgrund vorhanden, warum dann ein Schöpferdrang, eine Sehnsucht nach dem zu Erfüllenden? Warum liegt es den Göttern an Mensch und Schöpfung? An der Fortsetzung der Nidänakette ins Endlose? Wo doch ein Buddha der leidvollen Illusion des Daseins sein «quod non» entgegenhielt und der christliche Mensch auf ein baldiges Weltende hofft?

Ich halte es für wahrscheinlich, daß es auch im Jenseits irgendwelche Beschränkungen gibt, daß die Totenseelen aber nur allmählich herausfinden, wo die Grenzen des befreiten Zustandes liegen. Irgendwo ist «dort» ein weltbedingendes Muß, das dem Jenseitszustand ein Ende bereiten will. Dieses schöpferische Muß wird - so denke ich mir - darüber entscheiden, welche Seelen wieder in die Geburt eintauchen werden. Ich könnte mir vorstellen, daß gewisse Seelen den Zustand der dreidimensionalen Existenz als seliger empfinden als den der «ewigen». Doch hängt das vielleicht davon ab, wieviel sie an Vollständigkeit oder Unvollständigkeit ihrer menschlichen Existenz mit hinübergenommen haben.

Es ist möglich, daß eine Fortsetzung des dreidimensionalen Lebens keinen Sinn mehr hätte, wenn die Seele erst einmal gewisse Stufen der Einsicht erreicht hat; daß sie dann nicht mehr zurückkehren müßte und erhöhte Einsicht den Wunsch nach Wiederverkörperung verhinderte. Dann würde die Seele der dreidimensionalen Welt entschwinden und in einen Zustand gelangen, den die Buddhisten als Nirvana bezeichnen. Wenn aber noch ein Karma übrig bleibt, das erledigt werden muß, so fällt die Seele wieder in die Wünsche zurück und begibt sich erneut in das Leben, vielleicht sogar aus Einsicht, daß noch etwas zu vollenden sei.

In meinem Fall muß es in erster Linie ein leidenschaftlicher Drang zu verstehen gewesen sein, welcher meine Geburt bewirkt hat. Denn er ist das stärkste Element meines Wesens. Dieser unersättliche Trieb nach Verständnis hat sich sozusagen ein Bewußtsein geschaffen, um zu erkennen, was ist und was geschieht, und um darüber hinaus noch aus spärlicher Andeutung des Unerkennbaren mythische Vorstellungen zu entdecken.

Wir sind keineswegs in der Lage, beweisen zu können, daß etwas von uns ewig erhalten bleibt. Wir können höchstens sagen, es bestehe eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß etwas von unserer Psyche über den physischen Tod hinaus weiter existiere. Ob nun das, was weiter existiert, in sich selber bewußt ist, wissen wir ebensowenig. Besteht das Bedürfnis, sich über diese Frage eine Meinung zu bilden, so könnte man vielleicht die Erfahrungen in Betracht ziehen, die mit psychischen Spaltungsphänomenen gemacht wurden. In den meisten Fällen nämlich, wo sich ein abgespaltener Komplex manifestiert, geschieht dies in Form einer Persönlichkeit so als ob der Komplex ein Bewußtsein seiner selbst hätte. Darum sind z. B. die Stimmen der Geisteskranken personifiziert. Das Phänomen der personifizierten Komplexe habe ich schon in meiner Dissertation behandelt. Man könnte sie, wenn man will, zugunsten einer Kontinuität des Bewußtseins anführen. Für eine solche Annahme sprechen auch die überraschenden Beobachtungen, die bei tiefen Ohnmächten nach akuten Gehirnverletzungen und bei schweren Kollapszuständen gemacht werden. In beiden Fällen können auch bei schwerster Bewußtlosigkeit Wahrnehmungen der Außenwelt sowie intensive Traumerlebnisse stattfinden. Da die Großhirnrinde, der Sitz des Bewußtseins, während der Ohnmacht ausgeschaltet ist, sind solche Erlebnisse heute noch unerklärt. Sie können für eine zumindest subjektive Erhaltung der Bewußtseinsfähigkeit - auch im Zustande anscheinender Bewußtlosigkeit - sprechen5.

Das Problem der Beziehung zwischen dem «zeitlosen Menschen», dem Selbst, und dem irdischen Menschen in Zeit und Raum, wirft Fragen schwierigster Art auf. Es wurde mir durch zwei Träume beleuchtet.

In einem Traum, den ich im Oktober 1958 hatte, erblickte ich von meinem Hause aus zwei linsenförmige, metallisch glänzende Scheiben, die in einem engen Bogen über das Haus hinweg zum See sausten. Es waren zwei UFOs. Danach kam ein anderer Körper direkt auf mich zugeflogen. Es war eine kreisrunde Linse, wie das Objektiv eines Fernrohres. In einer Entfernung von etwa vier- bis fünfhundert Metern stand es einen Augenblick lang still und flog dann fort. Gleich darauf kam wieder ein Körper durch die Luft geflogen: ein Objektiv mit metallenem Ansatz, der zu einem Kasten

s Vgl. dazu «Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge» in Ges. Werke VIII, 1967, pag. 563 ff.

führte - eine Laterna magica. In etwa sechzig bis siebzig Metern Entfernung stand sie in der Luft still und zielte direkt auf mich. Ich erwachte mit dem Gefühl der Verwunderung. Noch halb im Traum ging es mir durch den Kopf: Wir denken immer, daß die UFOs unsere Projektionen seien. Nun zeigt es sich, daß wir ihre Projektionen sind. Ich werde von der Laterna magica als C. G. Jung projiziert. Aber wer manipuliert den Apparat?

Über das Problem der Beziehung von Selbst und Ich hatte ich schon einmal geträumt. In jenem früheren Traum befand ich mich auf der Wanderschaft. Auf einer kleinen Straße ging ich durch eine hügelige Landschaft, die Sonne schien, und ich hatte einen weiten Ausblick ringsum. Da kam ich an eine kleine Wegkapelle. Die Tür war angelehnt, und ich ging hinein. Zu meinem Erstaunen befand sich auf dem Altar kein Muttergottesbild und auch kein Crucifix, sondern nur ein Arrangement aus herrlichen Blumen. Dann aber sah ich, daß vor dem Altar, auf dem Boden, mir zugewandt, ein Yogin saß - im Lotus-Sitz und in tiefer Versenkung. Als ich ihn näher anschaute, erkannte ich, daß er mein Gesicht hatte. Ich erschrak zutiefst und erwachte an dem Gedanken: Ach so, das ist der, der mich meditiert. Er hat einen Traum, und das bin ich. Ich wußte, daß wenn er erwacht, ich nicht mehr sein werde.

Diesen Traum hatte ich nach meiner Krankheit 1944. Er stellt ein Gleichnis dar: mein Selbst begibt sich in die Versenkung, sozusagen wie ein Yogin, und meditiert meine irdische Gestalt. Man könnte auch sagen: es nimmt menschliche Gestalt an, um in die dreidimensionale Existenz zu kommen, wie wenn sich jemand in einen Taucheranzug kleidet, um ins Meer zu tauchen. Das Selbst begibt sich der jenseitigen Existenz in einer religiösen Einstellung, worauf auch die Kapelle im Traumbild weist. In der irdischen Gestalt kann es die Erfahrungen der dreidimensionalen Welt machen und sich durch größere Bewußtheit um ein weiteres Stück verwirklichen.

Die Gestalt des Yogin würde gewissermaßen meine unbewußte praenatale Ganzheit darstellen und der ferne Osten, wie das in Träumen häufig der Fall ist, einen uns fremden, dem Bewußtsein entgegengesetzten psychischen Zustand. Wie die Laterna magica, «projiziert» auch die Meditation des Yogin meine empirische Wirklichkeit. In der Regel werden wir aber dieses Kausalzusammenhanges in umgekehrter Richtung gewahr: wir entdecken in den Pro


dukten des Unbewußten Mandalasymbole, d. h . Kreis - und Quaternitätsfiguren, welche Ganzheit ausdrücken; und wenn wir Ganzheit ausdrücken, so verwenden wir ebensolche Figuren. Unsere Basis ist das Ichbewußtsein, ein im Ichpunkt zentriertes Lichtfeld, das unsere Welt darstellt. Von hier aus schauen wir eine rätselvolle Dunkelwelt an und wissen nicht, wie weit ihre schattenhaften Spuren von unserem Bewußtsein verursacht werden, oder wie weit sie eigene Realität besitzen. Eine oberflächliche Betrachtung gibt sich mit der Annahme des verursachenden Bewußtseins zufrieden. Genauere Beobachtung aber zeigt, daß in der Regel die Bilder des Unbewußten nicht vom Bewußtsein gemacht werden, sondern ihre eigene Realität und Spontaneität besitzen. Trotzdem betrachten wir sie bloß als eine Art Randphänomene.

Die Tendenz beider Träume geht dahin, das Verhältnis von Ichbewußtsein und Unbewußtem geradezu umzukehren und das Unbewußte als Erzeuger der empirischen Person darzustellen. Die Umkehrung weist daraufhin, daß nach der Ansicht der «anderen Seite» unsere unbewußte Existenz die wirkliche ist und unsere Bewußtseinswelt eine Art Illusion oder eine scheinbare, zu einem bestimmten Zweck hergestellte, Wirklichkeit darstellt, etwa wie ein Traum, der auch solange Wirklichkeit zu sein scheint, als man sich darin befindet. Es ist klar, daß dieser Sachverhalt sehr viel Ähnlichkeit mit dei östlichen Weltanschauung hat, insofern diese an Mäjä glaubt'.

Die unbewußte Ganzheit erscheint mir daher als der eigentliche Spiritus rector alles biologischen und psychischen Geschehens. Sie strebt nach totaler Verwirklichung, also totaler Bewußtwerdung im Fall des Menschen. Bewußtwerdung ist Kultur im weitesten Sinne und Selbsterkenntnis daher Essenz und Herz dieses Vorgangs. Der Osten mißt dem Selbst unzweifelhaft «göttliche» Bedeutung bei, und nach alter christlicher Anschauung ist Selbsterkenntnis der Weg zur cognitio Dei.

Die entscheidende Frage für den Menschen ist: Bist du auf Unendliches bezogen oder nicht? Das ist das Kriterium seines Lebens.

• Die Unsicherheit darüber, wem oder welchem «Ort» Wirklichkeit zu gesprochen werden müsse, hatte schon einmal in Jungs Leben eine Rolle gespielt: als er als Kind auf dem Stein saß und mit dem Gedanken spielte, dieser sage oder sei «Ich». Vgl. auch den bekannten Schmetterlingstraum des Dschuang-Dsi. A. J.

Nur wenn ich weiß, daß das Grenzenlose das Wesentliche ist, verlege ich mein Interesse nicht auf Futilitäten und auf Dinge, die nicht von entscheidender Bedeutung sind. Wenn ich es nicht weiß, so insistiere ich darauf, um dieser oder jener Eigenschaft willen, die ich als persönlichen Besitz auffasse, etwas in der Welt zu gelten. Also vielleicht wegen «meiner» Begabung oder «meiner» Schönheit. Je mehr der Mensch auf falschem Besitz insistiert und je weniger das Wesentliche für ihn spürbar ist, desto unbefriedigender ist sein Leben. Er fühlt sich beschränkt, weil er beschränkte Absichten hat, und das schafft Neid und Eifersucht. Wenn man versteht und fühlt, daß man schon in diesem Leben an das Grenzenlose angeschlossen ist, ändern sich Wünsche und Einstellung. Letzten Endes gilt man nur wegen des Wesentlichen, und wenn man das nicht hat, ist das Leben vertan. Auch in der Beziehung zum anderen Menschen ist es entscheidend, ob sich das Grenzenlose in ihr ausdrückt oder nicht.

Das Gefühl für das Grenzenlose erreiche ich aber nur, wenn ich auf das Äußerste begrenzt bin. Die größte Begrenzung des Menschen ist das Selbst; es manifestiert sich im Erlebnis «ich bin nur das!» Nur das Bewußtsein meiner engsten Begrenzung im Selbst ist angeschlossen an die Unbegrenzheit des Unbewußten. In dieser Bewußtheit erfahre ich mich zugleich als begrenzt und ewig, als das Eine und das Andere. Indem ich mich einzigartig weiß in meiner persönlichen Kombination, d. h. letztlich begrenzt, habe ich die Möglichkeit, auch des Grenzenlosen bewußt zu werden. Aber nur dann.

In einer Epoche, die ausschließlich auf Erweiterung des Lebensraumes sowie Vermehrung des rationalen Wissens ä tout prix gerichtet ist, ist es höchste Forderung, sich seiner Einzigartigkeit und Begrenzung bewußt zu sein. Einzigartigkeit und Begrenztheit sind Synonyme. Ohne sie gibt es keine Wahrnehmung des Unbegrenzten — und daher auch keine Bewußtwerdung sondern bloß eine wahnartige Identität mit demselben, welche sich im Rausch der großen Zahlen und der politischen Machtfülle äußert.

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