Am Ende meines Ferienaufenthaltes holte mich mein Vater ab und fuhr mit mir nach Luzern, wo wir - oh Glück - ein Dampfschiff bestiegen. Ich hatte noch nie etwas derartiges gesehen. Ich konnte mich an der Aktion der Dampfmaschine nicht satt sehen, und plötzlich hieß es, man sei in Vitznau. Über der Ortschaft stand ein hoher Berg, und mein Vater erklärte mir, das sei nun die Rigi, und es führe eine Eisenbahn, nämlich eine Zahnradbahn, hinauf. Wir gingen zu einem kleinen Stationsgebäude, und da stand die seltsamste Lokomotive der Welt mit aufrechtem, aber schiefgestelltem Dampfkessel. Im Wagen waren sogar die Sitze schief. Mein


Vater drückte mir ein Billett in die Hand und sagte: «Du kannst jetzt allein auf Rigi-Kulm fahren. Ich bleibe hier, denn für zwei kostet es zu viel. Paß auf und fall nirgends hinunter.»

Ich war sprachlos vor Glück. Dieser gewaltige Berg, so hoch, wie ich nie zuvor etwas gesehen hatte, und ganz nahe bei den Feuerbergen meiner so längst vergangenen Vorzeit! Ich war in der Tat schon fast ein Mann. Ich hatte mir für diese Reise einen Bambusspazierstock gekauft und eine englische Jockeymütze, wie es sich für einen Weltreisenden gebührt, und jetzt - ich auf diesen ungeheuren Berg! Ich wußte nicht mehr, was größer war, ich oder der Berg. Mit gewaltigem Gepuste rüttelte mich die Wunderlokomotive in schwindelnde Höhen, wo immer neue Tiefen und Fernen sich meinem Blicke auftaten, und zuletzt stand ich auf dem Gipfel in einer neuen, mir fremden dünnen Luft, in einer unvorstellbaren Weite: Ja, dachte ich, das ist sie, die Welt, meine Welt, die eigentliche Welt, das Geheimnis, wo es keine Lehrer, keine Schule, keine unbeantwortbaren Fragen gibt, wo man ist, ohne zu fragen. - Ich hielt mich sorgsam an die Wege, denn es gab ungeheure Abstürze. Es war feierlich, man mußte höflich und still sein, denn man war in der Gotteswelt. Hier war sie leibhaftig. Das war ein Geschenk, das kostbarste und beste, das mein Vater mir je gegeben hat.

Der Eindruck war so tief, daß meine Erinnerung an das, was danach geschah, völlig ausgelöscht wurde. Aber auch Nr. l war bei dieser Reise auf seine Rechnung gekommen, und seine Eindrücke blieben während des größten Teiles meines Lebens immer lebendig. Ich sah mich als erwachsen und unabhängig, mit steifem, schwarzem Hut und einem kostbaren Spazierstock, auf der Terrasse vor einem der überwältigenden, ungeheuer vornehmen Hotelpaläste am Quai in Luzern oder in den wunderschönen Gärten von Vitznau, an einem weißgedeckten Tischchen unter einer von Morgensonne beglänzten Marquise sitzen, meinen Kaffee trinkend und Croissants mit goldgelber Butter und verschiedenen Konfitüren essend, Ausflugspläne für den ganzen langen Sommertag erwägend. Nach dem Kaffee wandle ich gelassen, ohne Aufregung, gemächlichen Schrittes zu einem Dampfschiff, das gotthardwärts an den Fuß jener Riesenberge führt, die oben mit den schimmernden Gletschern bedeckt sind.

Jahrzehntelang stellte sich diese Phantasie ein, wenn ich von vieler Arbeit ermüdet einen Ruhepunkt suchte. In Wirklichkeit


habe ich mir diese Herrlichkeit zwar immer wieder versprochen, aber mein Versprechen nie eingehalten.

Diese meine erste bewußte Reise war ein oder zwei Jahre später gefolgt von einer zweiten. Ich durfte meinen Vater, der seine Ferien in Sachsein verbrachte, besuchen. Ich erfuhr von ihm die eindrucksvolle Neuigkeit, daß er sich mit dem dortigen katholischen Geistlichen befreundet habe. Das erschien mir als ein außerordentlich kühnes Unterfangen, und ich bewunderte im stillen den Mut meines Vaters. Ich stattete dort dem Flüeli, der Einsiedelei und den Reliquien des damals seligen Bruder Klaus einen Besuch ab. Ich wunderte mich, woher die Katholiken wußten, daß Bruder Klaus selig sei. Ob er vielleicht noch umgeht und es den Leuten gesagt hat ? Ich war vom genius loci stark beeindruckt und konnte mir die Möglichkeit eines derart gottgeweihten Lebens nicht nur vorstellen, sondern sie auch begreifen - mit einem innerlichen Schauer und einer Frage, auf die ich keine Antwort wußte: wie konnten seine Frau und seine Kinder es ertragen, daß der Mann und Vater ein Heiliger war, wo es doch gerade gewisse Fehler und Unzulänglichkeiten waren, die mir meinen Vater besonders liebenswert machten? Ich dachte: Ja, wie könnte man mit einem Heiligen zusammenleben? Das war offenbar auch für ihn nicht möglich, und er mußte darum ein Einsiedler werden. Immerhin war es nicht allzuweit von seiner Zelle zu seinem Haus. Ich fand diese Idee auch nicht so übel, die Familie in dem einen Haus zu wissen, und ich würde in einem anderen, etwas entfernten Pavillon eine Menge Bücher und einen Schreibtisch und ein offenes Feuer haben, darin Kastanien rösten und darüber meinen Suppentopf auf einem Dreibein aufsetzen. Als heiliger Einsiedler müßte ich auch nicht mehr zur Kirche gehen, sondern ich hätte meine Privatkapelle.

Vom Flüeli ging ich noch ein Stück Weges aufwärts, in meinen Gedanken wie in einem Traum verloren, und wandte mich eben zum Abstieg, als von links her die schlanke Gestalt eines jungen Mädchens auftauchte. Sie trug die Landestracht, hatte ein hübsches Gesicht und grüßte mit freundlichen blauen Augen. Wie selbstverständlich gingen wir zusammen zu Tal. Sie war ungefähr gleich alt wie ich. Da ich keine anderen Mädchen kannte als meine Cousinen, so fühlte ich mich in einiger Verlegenheit, wie ich zu ihr reden sollte. Ich begann daher zögernd zu erklären, ich sei hier für ein paar Tage in den Ferien. Ich sei in Basel auf dem Gymnasium


und später wolle ich studieren. Während ich sprach, beschlich mich ein sonderbares Gefühl von «Schicksalhaftigkeit». - Sie ist, dachte ich mir, gerade in diesem Moment aufgetaucht; sie geht so natürlich neben mir her, wie wenn wir zusammengehörten. - Ich schaute sie seitwärts an und sah einen Ausdruck in ihrem Gesicht, etwas wie Scheu und wie Bewunderung, etwas, das mich verlegen machte und mich irgendwie traf. - Sollte es möglich sein, daß hier ein Schicksal droht? Ist es bloß zufällig, daß ich sie antreffe? Ein Bauernmädchen - sollte es möglich sein? Sie ist katholisch, aber vielleicht ist ihr Pfarrer derselb e, mit dem sich mein Vater befreundet hat? Sie weiß ja gar nicht, wer ich bin. Ich könnte doch nicht von Schopenhauer und der Verneinung des Willens mit ihr reden? Sie scheint ja nicht irgendwie unheimlich zu sein. Vielleicht gehört ihr Pfarrer nicht zu den Jesuiten, diesen gefährlichen Schwarzröcken. Ich kann ihr auch nicht sagen, daß mein Vater ein reformierter Pfarrer ist. Das könnte sie erschrecken oder beleidigen. Und vollends die Philosophie und der Teufel, der bedeutender ist als Faust und den Goethe so schnöde versimpelt hat - das ist ausgeschlossen. Sie ist im fernen Unschuldslande, und ich bin in die Wirklichkeit, in die Pracht und Grausamkeit der Schöpfung gefallen. Wie könnte sie das ertragen ? Eine undurchdringliche Mauer steht zwischen uns. Es gibt keine und darf keine Verwandtschaft geben.

Ich fiel mit Trauer im Herzen in mich selbst zurück und gab dem Gespräch eine andere Wendung. Ob sie nach Sachsein hinunter gehe? Das Wetter sei schön, ebenso die Aussicht usw.

Dieses Zusammentreffen war von außen betrachtet völlig bedeutungslos. Aber von innen her hatte es ein so großes Gewicht, daß es mich nicht nur für Tage beschäftigte, sondern für immer und unverlierbar wie ein Monument am Wege in meinem Gedächtnis stehen blieb. Ich war damals noch in jenem kindlichen Zustand, in welchem das Leben aus unzusammenhängenden Einzelerlebnissen besteht. Denn wer vermöchte den Schicksalsfaden aufzudecken, der vom Hl. Klaus zu dem hübschen Mädchen führt?

Jene Zeit war erfüllt vom Widerstreit der Gedanken. Schopenhauer und das Christentum einerseits wollten sich nicht reimen, und andererseits wollte sich Nr. l vom Druck oder der Melancholie von Nr. 2 befreien. Nicht Nr. 2 war deprimiert, sondern Nr. l, wenn er sich an Nr. 2 erinnerte. Es geschah nun eben zu dieser


Zeit, daß aus dem Zusammenprall der Gegensätze die erste systematische Phantasie meines Lebens geboren wurde. Sie trat stückweise in Erscheinung und nahm ihren Ursprung wahrscheinlich, so weit ich mich richtig erinnere, aus einem Erlebnis, das mich aufs tiefste erregt hatte.

Es war an einem Tage, da ein Nordweststurm auf dem Rhein Schaumwellen aufwarf. Mein Schulweg führte den Fluß entlang. Da sah ich plötzlich, wie von Norden her ein Schiff mit einem großen Rahsegel den Rhein vor dem Sturm hinauffuhr, ein für mich völlig neues Erlebnis: Ein Segelschiff auf dem Rhein! Das beflügelte meine Phantasie. Wenn statt des rasch fließenden Stromes ein See da wäre, der das ganze Elsaß bedeckte! Dann hätten wir Segelschiffe und große Dampfer. Dann wäre Basel eine Hafenstadt. Dann wären wir so gut wie am Meer! Dann wäre alles anders, und wir würden leben wie in einer anderen Zeit und Welt. Dann gäbe es auch kein Gymnasium, keinen langen Schulweg, und ich wäre erwachsen und würde mir mein Leben selber einrichten. Da wäre ein Felsenhügel im See, durch eine schmale Landzunge mit dem Festland verbunden, unterbrochen durch einen breiten Kanal, über den eine Holzbrücke führt zu einem mit Türmen flankierten Tor, das sich in ein kleines, auf den Abhängen gebautes, mittelalterliches Städtchen öffnet. Auf dem Felsen steht eine wohlbewehrte Burg mit einem hohen Donjon, einem Luginsland. Das war mein Haus. Es gab darin keine Säle oder irgendwelche Pracht. Die Räume waren einfach getäfelt und eher klein. Es gab eine ungemein attraktive Bibliothek, wo man alles Wissenswerte finden konnte. Es gab auch eine Waffensammlung, und die Bastionen waren bestückt mit gewichtigen Rohren. Auch lag eine Besatzung von fünfzig wehrhaften Gesellen in der kleinen Burg. Das Städtchen hatte einige hundert Einwohner und war regiert durch einen Bürgermeister und einen Rat alter Männer. Ich war der selten erscheinende Schiedsrichter, juge de paix und Berater. Das Städtchen hatte auf der Landseite einen Hafen, in welchem mein Zweimaster lag, mit etlichen kleinen Stücken bewehrt.

Der nervus rerum und zugleich die raison d'etre dieses ganzen Arrangements war das Geheimnis des Donjon, um das nur ich wußte. Der Gedanke hatte mich getroffen wie ein Schock. Im Turm nämlich befand sich, von der Zinne bis ins Kellergewölbe reichend, eine kupferne Säule, oder ein dickes Drahtseil, das sich oben in feinste Ästchen auffaserte, wie eine Baumkrone oder


besser noch - wie ein Wurzelstock mit allen seinen kleinsten Würzelchen, die in die Luft ragten. Sie zogen daraus ein gewisses unvorstellbares Etwas, das durch die armdicke Kupfersäule in den Keller geleitet wurde. Dort befand sich eine unvorstellbare Apparatur, eine Art Laboratorium, in welchem ich Gold fabrizierte und zwar aus der geheimen Substanz, welche die Kupferwurzeln aus der Luft zogen. Es war wirklich ein Arcanum, von dessen Natur ich mir keine Vorstellung machte oder machen konnte. Auch bestand keine Imagination über die Natur des Umwandlungsprozesses. Über das, was in diesem Laboratorium geschah, ging meine Phantasie taktvoll, oder besser, mit einer gewissen Scheu hinweg. Da war etwas wie ein inneres Verbot: man sollte nicht genauer hinsehen, auch nicht auf das, was aus der Luft ausgezogen wurde. Es herrschte darum eine stillschweigende Verlegenheit, wie Goethe von den «Müttern» sagt: «Von ihnen sprechen ist Verlegenheit.»

«Geist» war mir natürlich ein Ineffabile, aber im Hintergrund unterschied er sich nicht wesentlich von sehr verdünnter Luft. Was die Wurzeln sogen und dem Stamm übermittelten, war eine Art geistiger Essenz, die unten im Keller als fertige Goldmünzen sichtbar wurde. Das war beileibe kein bloßer Zaubertrick, sondern ein ehrwürdiges und lebenswichtiges Geheimnis der Natur, das mir, ich weiß nicht wie, zuteil geworden war und das ich nicht nur vor dem Rate der Alten geheimhalten, sondern auch noch gewissermaßen mir selber verheimlichen mußte.

Mein langer und langweiliger Schulweg fing an, sich in willkommener Weise zu verkürzen. Kaum war ich aus dem Schulhaus heraus, so war ich schon in der Burg, wo Umbauten vorgenommen, Ratssitzungen abgehalten, Missetäter verurteilt, Streitfälle geschlichtet und Kanonen abgefeuert wurden. Das Segelschiff wurde klar gemacht, Segel gesetzt, das Schiff mit einer lauen Brise sorgsam aus dem Hafen gesteuert, um dann, hinter dem Felsen hervorkommend, gegen einen steifen Nordwest aufzukreuzen. Und schon war ich zu Hause, wie wenn nur wenige Minuten vergangen wären. Ich trat dann aus meiner Phantasie heraus, wie aus einem Wagen, der mich mühelos nach Hause gefahren hatte. Diese höchst angenehme Beschäftigung dauerte einige Monate, bis sie mir verleidet war. Dann fand ich die Phantasie dumm und lächerlich. Anstatt zu träumen, begann ich aus kleinen Steinen mit Lehm als Mörtel Burgen und kunstvoll befestigte Plätze zu bauen, wozu mir die Festung Hüningen, die damals noch mit allen Einzelheiten erhalten war, als Modell diente. Im Anschluß daran studierte ich alle mir erreichbaren Vaubanschen Fortifikationspläne und war bald mit allen technischen Namen auf dem laufenden. Von Vauban aus vertiefte ich mich auch in moderne Befestigungsmethoden jeglicher Art und versuchte sie mit meinen beschränkten Mitteln kunstvoll nachzubauen. Diese Präokkupation füllte meine Mußestunden für mehr als zwei Jahre aus, in welcher Zeit sich meine Neigung zu Naturstudien und konkreten Dingen auf Kosten von Nr. 2 verstärkte.

Solange ich von den wirklichen Dingen so wenig wußte, hatte es, wie ich dachte, auch gar keinen Zweck, über sie nachzudenken. Phantasieren kann jedermann, aber wirklich wissen ist eine andere Sache. Ich durfte mir ein naturwissenschaftliches Journal abonnieren, das ich mit leidenschaftlichem Interesse las. Ich suchte und sammelte unsere Jurafossilien und alle erreichbaren Mineralien, ebenso Insekten, Mammut- und Menschenknochen, erstere aus Kiesgruben der Rheinebene, letztere aus einem Massengrab bei Hüningen aus dem Jahre 1811. Die Pflanzen interessierten mich zwar, aber nicht wissenschaftlich. Aus einem mir unverständlichen Grunde sollten sie nicht abgerissen und getrocknet werden. Sie waren lebende Wesen, die nur wachsend und blühend einen Sinn hatten, einen verborgenen, geheimnisvollen Sinn, einen Gottesgedanken. Sie waren mit Scheu zu betrachten, man mußte sich über sie philosophisch wundern. Es war zwar interessant, was die Biologie über sie zu sagen hatte, aber das war nicht das Wesentliche. Was dieses Wesentliche war, vermochte ich mir nicht klar zu machen. Wie verhielten sie sich z. B. zum christlichen Glauben oder zur Verneinung des Willens? Das war mir unerfindlich. Sie gehörten offensichtlich zum göttlichen Unschuldszustand, den man besser nicht stören sollte. Im Gegensatz dazu waren die Insekten denaturierte Pflanzen, Blumen und Früchte, die es sich herausgenommen hatten, auf einer seltsamen Art von Beinen oder Stelzen herumzukriechen und mit Flügeln, wie mit Blumen- oder Kelchblättern, herumzufliegen und sich als Pflanzenschädlinge zu betätigen. Um dieser gesetzeswidrigen Tätigkeit willen wurden sie zu Massenhin richtungen verurteilt, von welchen Straf expeditionen besonders Maikäfer und Raupen betroffen wurden. Das «Mitleid mit allen Wesen» beschränkte sich ausschließlich auf Warmblüter. Einzig Frösche und Kröten waren wegen ihrer Menschenähnlichkeit von den Kaltblütern ausgenommen.

Studienjahre

Trotz meiner zunehmenden naturwissenschaftlichen Interessen kehrte ich immer wieder von Zeit zu Zeit zu meinen philosophischen Büchern zurück. Die Frage meiner Berufswahl kam beängstigend näher. Ich hoffte zwar sehnlichst auf das Ende der Schulzeit. Dann würde ich studieren, natürlich Naturwissenschaften. Dann würde ich etwas Wirkliches wissen. Kaum hatte ich mir dies gewissermaßen laut versprochen, so kam auch schon der Zweifel: sollte es nicht Geschichte und Philosophie lauten? - Dann wieder interessierte ich mich intensiv für das Ägyptische und Babylonische und wollte am liebsten Archäologe werden. Aber ich hatte kein Geld, um woanders als in Basel zu studieren, und dort gab es keinen Lehrer für diese Gebiete. So war es mit meinem Plan sehr bald zu Ende. Lange Zeit konnte ich mich nicht entscheiden und schob meinen Entschluß immer wieder hinaus. Mein Vater war darüber sehr bekümmert. Er sagte einmal: «Der Bub interessiert sich für alles Mögliche. Aber er weiß nicht, was er will.» Ich konnte ihm nur recht geben. Als das Maturitätsexamen herannahte und wir uns entscheiden mußten, in welche Fakultät wir uns einschreiben wollten, sagte ich kurzerhand: stud. phil. II, also Naturwissenschaften, ließ aber meine Kameraden in Zweifel, ob ich wirklich stud. phil. I oder II meinte.

Dieser anscheinend rasche Entschluß hatte aber seine Vorgeschichte. Einige Wochen zuvor, mitten in der Zeit, als sich Nr. l und Nr. 2 um die Entscheidung stritten, hatte ich zwei Träume. Im ersten Traum ging ich in einen dunkeln Wald, der sich längs des Rheins hinzog. Ich kam an einen kleinen Hügel, einen Grabtumulus, und begann zu graben. Nach einer Weile stieß ich zu meinem Erstaunen auf Knochen von prähistorischen Tieren. Das interessierte mich leidenschaftlich, und in dem Augenblick wußte ich: Ich muß die Natur, die Welt, in der wir leben, und die Dinge, die uns umgeben, kennenlernen.

Dann kam ein zweiter Traum, in welchem ich mich wieder in einem Wald befand. Er war von Wasserläufen durchzogen, und an der dunkelsten Stelle sah ich, umgeben von dichtem Gestrüpp,


einen kreisrunden Weiher. Im Wasser lag, halb eingetaucht, das wunderseltsamste Gebilde: ein rundes Tier, in vielen Farben schillernd, das aus vielen kleinen Zellen bestand, oder aus Organen, die wie Tentakel geformt waren. Eine Riesenradiolarie von etwa einem Meter Durchmesser. Daß dieses herrliche Gebilde ungestört an der verborgenen Stelle im klaren, tiefen Wasser lag, erschien mir unbeschreiblich wunderbar. Es erweckte in mir die höchste Wißbegier, so daß ich mit klopfendem Herzen erwachte. Diese beiden Träume bestimmten mich mit Übermacht für die Naturwissenschaft und beseitigten jeglichen Zweifel in dieser Hinsicht.

Es wurde mir bei dieser Gelegenheit klar, daß ich in der Zeit und an einem bestimmten Ort lebte, wo man sein Leben verdienen mußte. Zu diesem Zwecke mußte man dieses oder jenes sein, und ich war tief davon beeindruckt, daß alle meine Kameraden von dieser Notwendigkeit erfüllt waren und überhaupt nicht darüber hinaus dachten. Ich kam mir selber merkwürdig vor. Warum konnte ich mich nicht entscheiden und endgültig festlegen? Selbst der mühsame D., der mir von meinem Deutschlehrer als Vorbild des Fleißes und der Gewissenhaftigkeit vorgehalten worden war, war sicher, daß er Theologie studieren würde. Ich sah ein, daß ich mich dazu bequemen müßte, mich einmal hinzusetzen und die Sache auszudenken. Als Zoologe z. B. könnte ich nur Schulmeister werden oder bestenfalls Angestellter an einem zoologischen Garten. Das war keine Aussicht, auch bei bescheidenen Ansprüchen. Vor dem Schullehrerdasein hätte ich allerdings letzteres vorgezogen.

In dieser Sackgasse kam mir der erleuchtende Gedanke, ich könnte Medizin studieren. Merkwürdigerweise war mir das früher nie eingefallen, obwohl mein Großvater väterlicherseits, von dem ich soviel gehört hatte, auch Arzt gewesen war. Gerade deshalb hatte ich sogar gewisse Widerstände gegen diesen Beruf. «Nur nicht nachmachen» war meine Devise. Jetzt aber sagte ich mir, daß das Medizinstudium wenigstens mit naturwissenschaftlichen Fächern beginne. Insofern käme ich also auf meine Re chnung. Überdies war das Gebiet der Medizin so mannigfaltig, daß man immer noch eine Möglichkeit hatte, sich in irgendeiner wissenschaftlichen Richtung zu betätigen. «Wissenschaft» stand für mich fest. Die Frage war nur wie? Ich mußte mir mein Leben verdienen, und da ich kein Geld hatte, konnte ich keine fremde Universität besuchen, um mich auf eine wissenschaftliche Laufbahn vorzubereiten. Ich könnte bestenfalls zu einem Dilettanten der Wissenschaft wer


den. Da ich zudem für viele meiner Kameraden und auch für maßgebende Leute (lies Lehrer) ein unsympathisches Wesen besaß, das Mißtrauen und vorwurfsvolle Meinungen erzeugte, so bestand auch keine Hoffnung, einen Gönner zu finden, der meinen Wunsch hätte unterstützen können. Ich entschloß mich daher schließlich zum Studium der Medizin mit dem nicht gerade angenehmen Gefühl, daß es nicht gut sei, sein Leben mit einem derartigen Kompromiß zu beginnen. Immerhin fühlte ich mich durch diesen unwiderruflichen Entschluß beträchtlich erleichtert.

Jetzt erhob sich aber die peinliche Frage: Woher kommt das zum Studium nötige Geld? Mein Vater konnte es nur zum Teil aufbringen. Er bewarb sich aber um ein Stipendium bei der Universität, das ich zu meiner Beschämung dann auch erhielt. Ich schämte mich weniger wegen der Tatsache, daß unsere Armut damit vor aller Welt bekräftigt wurde, als vielmehr wegen meiner heimlichen Überzeugung, daß sozusagen alle Leute «oben», d. h. die Maßgebenden, mir übel gesinnt seien. Ich hätte diese Güte von «oben» nie erwartet. Offenbar hatte ich profitiert von dem günstigen Prestige meines Vaters, der ein guter und unkomplizierter Mensch war. Ich fühlte mich von ihm aufs äußerste verschieden. Ich hatte eigentlich zwei voneinander abweichende Auffassungen über mich. Nr. l sah meine Persönlichkeit als einen wenig sympathischen und mäßig begabten jungen Mann mit ehrgeizigen Ansprüchen, unkontrolliertem Temperament und zweifelhaften Manieren, bald naiv begeistert, bald kindisch enttäuscht, im innersten Wesen als weitabgewandten Finsterling. Nr. 2 betrachtete Nr. l als eine schwierige und undankbare moralische Aufgabe, als eine Art durchzupaukendes Pensum, erschwert durch eine Reihe von Defekten, wie sporadische Faulheit, Mutlosigkeit, Depression, inepte Begeisterung für Ideen und Dinge, die niemand schätzt, eingebildete Freundschaften, Beschränktheit, Vorurteil, Dummheit (Mathematik!), Mangel an Verständnis für andere Menschen, Unklarheit und Verworrenheit in weltanschaulicher Beziehung, weder Christ noch sonst etwas. Nr. 2 war überhaupt kein Charakter, sondern eine vita peracta, geboren, lebend, gestorben, alles in einem, eine Totalschau der menschlichen Natur selber; sich selber zwar mitleidlos klar, aber unfähig und wenig gewillt, wenn schon sehnsuchtsvoll, sich selber durch das dichte und dunkle Medium von Nr. l auszusprechen. Nr. l war, wenn Nr. 2 vorherrschte, in diesem enthalten und aufgehoben, wie umgekehrt Nr. l den anderen als ein finsteres Innenreich betrachtete. Nr. 2 empfand den möglichen Ausdruck seiner selbst als einen Stein, der vom Rande der Welt geworfen wurde und in nächtlicher Unendlichkeit lautlos versank. In ihm (Nr. 2) selber aber herrschte Licht wie in den weiten Räumen eines königlichen Palastes, dessen hohe Fenster sich auf eine sonnendurchflutete Landschaft öffneten. Hier herrschte Sinn und historische Kontinuität in strengstem Gegensatz zur zusammenhanglosen Zufälligkeit des Nr. l-Lebens, das in seiner unmittelbaren Umgebung eigentlich keine Anknüpfungspunkte fand. Nr. 2 dagegen fühlte sich in heimlicher Übereinstimmung mit dem Mittelalter, personifiziert in Faust, dem Vermächtnis verflossener Zeiten, von dem offenbar Goethe aufs stärkste angerührt war. Also auch ihm - das war mein großer Trost - war Nr. 2 eine Wirklichkeit. Faust - das ahnte ich mit einigem Schrecken - bedeutete mir mehr als mein geliebtes Johannesevangelium. In ihm lebte etwas, das ich unmittelbar nachfühlen konnte. Der johanneische Christus war mir fremd, aber noch fremder war der synoptische Heilbringer. Faust dagegen war ein lebendiges Äquivalent von Nr. 2, welches mich davon überzeugte, daß er die Antwort darstellte, die Goethe auf die Frage seiner Zeit gegeben hatte. Diese Einsicht war mir nicht nur tröstlich, sondern gab mir auch vermehrte innere Sicherheit und die Gewißheit, zur menschlichen Gesellschaft zu gehören. Ich war nicht mehr der Einzige und ein bloßes Kuriosum, sozusagen ein lusus der grausamen Natur. Mein Pate und Gewährsmann war der große Goethe selber.

Hier hörte allerdings das vorläufige Verständnis auf. Trotz meiner Bewunderung kritisierte ich die endgültige Lösung des Faust. Die spielerische Unterschätzung Mephistos kränkte mich persönlich, ebenso Faustens ruchlose Überheblichkeit und vor allem der Mord an Philemon und Baucis.

In dieser Zeit hatte ich einen unvergeßlichen Traum, der mich zugleich erschreckte und ermutigte. Es war Nacht an einem unbekannten Orte, und ich kam nur mühsam voran gegen einen mächtigen Sturmwind. Zudem herrschte dichter Nebel. Ich hielt und schützte mit beiden Händen ein kleines Licht, das jeden Augenblick zu erlöschen drohte. Es hing aber alles davon ab, daß ich dieses Lichtlein am Leben erhielt. Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß etwas mir nachfolge. Ich schaute zurück und sah eine riesengroße schwarze Gestalt, die hinter mir herkam. Ich war mir aber


im selben Moment bewußt - trotz meines Schreckens - daß ich, unbekümmert um alle Gefahren, mein kleines Licht durch Nacht und Sturm hindurch retten mußte. Als ich erwachte, war es mir sofort klar: es ist das «Brockengespenst», mein eigener Schatten auf den wirbelnden Nebelschwaden, verursacht durch das kleine Licht, das ich vor mir trug. Ich wußte auch, daß das Lichtlein mein Bewußtsein war; es ist das einzige Licht, das ich habe. Meine eigene Erkenntnis ist der einzige und größte Schatz, den ich besitze. Er ist zwar unendlich klein und zerbrechlich im Vergleich zu den Mächten der Dunkelheit, aber eben doch ein Licht, mein einziges Licht.

Dieser Traum bedeutete für mich eine große Erleuchtung: jetzt wußte ich, daß Nr. l der Lichtträger war, und Nr. 2 folgte ihm nach wie ein Schatten. Meine Aufgabe war, das Licht zu erhalten und nicht zurückzublicken in die vita peracta, die ein offenbar verbotenes Lichtreich anderer Art war. Ich mußte vorwärts gegen den Sturm, der mich zurückzudrängen suchte, hinein in die uner-meßliche Dunkelheit der Welt, wo man nichts sieht und nichts wahrnimmt als_ Oberflächen hintergründiger Geheimnisse. Ich mußte als Nr. l vorwärts ins Studium, ins Geldverdienen, in Abhängigkeiten, Verwicklungen, Verworrenheiten, Irrtümer, Unterworfenheiten und Niederlagen. Der Sturm, der mir entgegendrang, war die Zeit, die unaufhörlich in die Vergangenheit fließt, die mir aber ebenso unaufhörlich und unmittelbar auf den Fersen ist. Sie ist ein mächtiger Sog, der alles Existierende gierig in sich zieht, und dem nur das Vorwärtsdrängende sich für eine Weile entzieht Die Vergangenheit ist ungeheuer wirklich und gegenwärtig und holt sich jeden, der sich nicht durch eine genügende Antwort loskaufen kann.

Mein Weltbild erfuhr damals eine Drehung um weitere 90 Grad: ich erkannte, daß mein Weg unwiderruflich in das Außen, in das Beschränkte, das Finstere der Dreidimensionalität führte. Es kam mir vor, als habe Adam einst auf diese Weise das Paradies verlassen: es war ihm zum Gespenst geworden, und licht war es, wo im Schweiße seines Angesichts ein steiniger Acker bebaut wurde.

Ich fragte mich damals: «Woher kommt ein derartiger Traum?» Bis dahin war es mir selbstverständlich gewesen, daß solche Träume unmittelbar von Gott gesandt waren - somnia a Deo missa. Jetzt aber hatte ich mir soviel Erkenntniskritik einverleibt, daß mich Zweifel befielen. Man konnte ja z. B. sagen, meine Einsicht habe


sich langsam entwickelt und sei dann plötzlich einmal im Traume durchgebrochen. Das war auch offensichtlich der Fall. Aber dies ist keine Erklärung, sondern eine bloße Beschreibung. Die eigentliche Frage ist nämlich, warum dieser Prozeß stattgefunden hatte und warum er ins Bewußtsein durchgebrochen war. Ich hatte ja im Bewußtsein nichts getan, um diese Entwicklung zu unterstützen, sondern meine Sympathien waren auf der anderen Seite. Da muß doch irgend etwas hinter den Kulissen am Werke sein, etwas Intelligentes, jedenfalls etwas Intelligenteres als ich; denn auf die geniale Idee, daß das innere Lichtreich im Lichte des Bewußtseins ein riesengroßer Schatten ist, wäre ich nicht verfallen. Jetzt verstand ich auf einmal vieles, das mir früher unerklärlich gewesen war: nämlich jenen kalten Schatten des Befremdet- und Fremdseins, welcher jeweils auf die Leute fiel, wenn ich auf irgendetwas anspielte, das an das innere Reich erinnerte.

Ich mußte Nr. 2 hinter mir lassen, das war mir klar, aber unter keinen Umständen durfte ich ihn vor mir selber verleugnen oder ihn gar als ungültig erklären. Das wäre Selbstverstümmelung gewesen, und überdies hätte dann überhaupt keine Möglichkeit mehr bestanden, die Herkunft der Träume zu erklären. Es bestand kein Zweifel für mich, daß Nr. 2 etwas mit der Erzeugung von Träumen zu tun hatte, und die geforderte höhere Intelligenz war ihm leicht zuzutrauen. Ich selber fühlte mich in zunehmendem Maße identisch mit Nr. l, und dieser Zustand erwies sich als ein bloßer Teil des viel umfänglicheren Nr. 2, mit dem ich mich aus eben diesem Grunde nicht mehr identisch fühlen konnte. Nr. 2 war in der Tat ein «Gespenst», das heißt ein Geist, der an Macht dem Weltdunkel gewachsen war. Das hatte ich vordem nicht gewußt, und es war mir auch damals, wie ich rückschauend feststellen kann, nur undeutlich, wenn schon im Gefühl unwidersprechlich bewußt.

Auf alle Fälle war ein Schnitt zwischen mir und Nr. 2 geschehen, der mich Nr. l zuteilte und im selben Maße mich von Nr. 2 abtrennte. Nr. 2 wurde wenigstens andeutungsweise zu einer gewissermaßen autonomen Persönlichkeit. Ich verband damit keine Vorstellung einer bestimmten Individualität, wie etwa die eines Re -venant, obschon mir kraft meiner ländlichen Herkunft eine derartige Möglichkeit durchaus annehmbar gewesen wäre. Auf dem Lande nämlich glaubt man diese Dinge je nachdem - sie sind und sind nicht.

Das einzig Deutliche an diesem Geist war sein historischer Charakter, seine Ausgedehntheit in der Zeit resp. seine Zeitlosigkeit. Dies sagte ich mir allerdings nicht mit so vielen Worten, wie ich mir auch keine Vorstellung machte über seine räumliche Exi stenz. Er spielte die Rolle eines nicht näher definierten, jedoch definitiv vorhandenen Faktors im Hintergrund meiner Existenz.

Der Mensch kommt physisch und geistig mit einer individuellen Disposition zur Welt und wird zunächst mit dem elterlichen Milieu und dessen Geist bekannt, mit welchem er infolge seiner Individualität nur bedingt übereinstimmt. Der familiäre Geist aber ist seinerseits wieder in hohem Maße vom Zeitgeist geprägt, der an sich den meisten unbewußt ist. Wenn dieser familiäre Geist einen con-sensus omnium darstellt, so bedeutet er eine Weltsicherheit; steht er aber im Gegensatz zu den vielen und ist in sich selber durchkreuzt, so entsteht das Gefühl von Weltunsicherheit. Kinder reagieren viel weniger auf das, was die Erwachsenen sagen, als auf die Imponderabilien der umgebenden Atmosphäre. An diese paßt sich das Kind unbewußt an, d. h. es entstehen in ihm Korrelationen kompensatorischer Natur. Die eigentümlichen «religiösen» Vorstellungen, die mich in frühester Kindheit schon befielen, sind spontan entstandene Gebilde, die als Reaktionen auf meine elterliche Umgebung zu verstehen sind. Die Glaubenszweifel, denen mein Vater später manifest unterliegen sollte, hatten in ihm natürlich eine lange Vorbereitungszeit. Eine derartige Revolution der eigenen Welt, und der Welt überhaupt, warf ihre Schatten auf lange Zeit voraus und zwar umso länger, als das Bewußtsein sich verzweifelt gegen ihre Macht wehrte. Es ist begreiflich, daß vorausnehmende Ahnungen meinen Vater in Unruhe versetzten, die selbstverständlich auch auf mich übergingen.

Ich hatte nie den Eindruck, daß solche Einflüsse etwa von meiner Mutter ausgingen, denn sie war irgendwie in einem unsichtbaren, tiefen Grunde verankert, der mir aber nie als eine christliche Glaubenszuversicht erschien. Er hatte meinem Gefühl nach irgendwie mit Tieren, Bäumen, Bergen, Wiesen und Wasserläufen zu tun, womit ihre christliche Oberfläche mit ihren konventionellen Glaubensäußerungen merkwürdig kontrastierte. Dieser Hintergrund entsprach meiner eigenen Einstellung so sehr, daß keine Beunruhigung von ihm ausging; im Gegenteil g ab diese Wahrnehmung mir immer ein Gefühl der Sicherheit und die Überzeugung, daß hier ein fester Grund vorhanden war, auf dem man stehen konnte. Es kam mir dabei nie der Gedanke, wie «heidnisch» diese Grundlegung war. Nr. 2 meiner Mutter war mir die stärkste Stütze in dem sich anbahnenden Konflikt zwischen der väterlichen Tradition und den seltsamen, kompensatorischen Gebilden, zu deren Erschaffung mein Unbewußtes angeregt wurde.

Rückblickend sehe ich, wie sehr meine kindliche Entwicklung zukünftige Ereignisse vorwegnahm und Anpassungsmodi vorbereitete für den religiösen Zusammenbruch meines Vaters sowohl wie für die erschütternde Offenbarung des heutigen Weltbildes, die ja auch nicht von gestern auf heute entstanden ist, sondern ihren Schatten lange vorausgeworfen hat. Obschon wir Menschen unser eigenes persönliches Leben haben, so sind wir doch auf der anderen Seite in hohem Maße die Repräsentanten, die Opfer und Förderer eines kollektiven Geistes, dessen Lebensjahre Jahrhunderte bedeuten. Wir können wohl ein Leben lang meinen, dem eigenen Kopf zu folgen, und entdecken nie, daß wir zur Hauptsache Statisten auf der Szene des Welttheaters waren. Es existieren aber Tatsachen, die wir zwar nicht kennen, die aber doch unser Leben beeinflussen, und das umso mehr, als sie unbewußt sind.

So lebt wenigstens ein Teil unseres Wesens in den Jahrhunderten, jener Teil, den ich zum privaten Gebrauch als Nr. 2 bezeichnet habe. Daß er kein individuelles Kuriosum ist, beweist unsere abendländis che Religion, die sich expressis verbis an diesen inneren Menschen wendet und es seit bald zweitausend Jahren ernstlich versucht, ihn dem Oberflächenbewußtsein und dessen Personalismus zur Kenntnis zu bringen: «Noii foras ire, in interiore homine habitat veritas!» (Geht nicht nach außen, im inneren Menschen wohnt die Wahrheit).

In die Jahre 1892 bis 1894 fiel eine Reihe heftiger Diskussionen mit meinem Vater. Er hatte in Göttingen orientalische Sprache unter Ewald studiert und seine Dissertation über ein e arabische Version des Hohen Liedes geschrieben. Seine heroische Zeit war mit dem Schlußexamen an der Universität abgelaufen. Danach vergaß er seine philologische Begabung. Als Landpfarrer in Laufen am Rheinfall versank er in Gefühlsenthusiasmus und in studentische Erinnerungen, rauchte immer noch die lange Studentenpfeife und war enttäuscht von seiner Ehe. Er tat sehr viel Gutes - zu viel. Infolgedessen war er meist schlechter Laune und chronisch gereizt. Beide Eltern gaben sich große Mühe, ein frommes Leben zu führen, mit dem Resultat, daß es nur zu oft zu Szenen kam. An dieser Schwierigkeit zerbrach dann später auch begreiflicherweise sein Glaube.

Damals hatten seine Reizbarkeit und Unbefriedigtheit zugenommen, und sein Zustand erfüllte mich mit Besorgnis. Meine Mutter vermied alles, was ihn hätte aufregen können, und ließ sich auf keine Dispute ein. Obschon ich die Weisheit ihres Verhaltens anerkennen mußte, konnte ich oft mein eigenes Temperament nicht zügeln. Seinen Affektausbrüchen gegenüber verhielt ich mich allerdings passiv, aber wenn er in zugänglicher Laune zu sein schien, so versuchte ich des öfteren ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, in der Absicht, etwas Näheres über seine inneren Vorgänge und sein Selbstverständnis zu erfahren. Es stand mir nämlich fest, daß ihn etwas Bestimmtes plagte, und ich vermutete, daß dies mit seiner religiösen Weltanschauung zu tun hatte. Aus einer Reihe von Andeutungen war ich überzeugt, daß es Glaubenszweifel waren. Dies, so kam es mir vor, konnte nur der Fall sein, wenn ihm die nötige Erfahrung fehlte. Aus meinen Ansätzen zu Diskussionen lernte ich in der Tat, daß etwas Derartiges vorliegen mußte, denn auf alle meine Fragen erfolgten entweder die mir bekannten leblosen theologischen Antworten oder ein resigniertes Achselzucken, die meinen Widerspruch reizten. Ich konnte nicht verstehen, daß er nicht jede Gelegenheit ergriff, sich mit seiner Situation kämpferisch auseinanderzusetzen. Zwar sah ich, daß meine kritischen Fragen ihn traurig machten, aber ich hoffte dennoch auf ein konstruktives Gespräch. Es erschien mir fast unvorstellbar, daß er die Gotteserfahrung, die evidenteste aller Erfahrungen, nicht besitzen sollte. Ich wußte wenigstens so viel von Erkenntnistheorie, daß man eine derartige Erkenntnis nicht beweisen kann, aber es war mir ebenso klar, daß sie auch gar keines Beweises bedurfte, so wenig wie die Schönheit eines Sonnenaufgangs oder die Angst vor den Möglichkeiten der Nachtwelt mir bewiesen werden mußten. Ich versuchte, in wahrscheinlich sehr ungeschickter Weise, ihm diese Selbstverständlichkeiten zu vermitteln, in der hoffnungsvollen Absicht, ihm zu helfen, sein besonderes Schicksal, das ihm unvermeidlicherweise zugefallen war, zu ertragen. Er mußte ja mit jemandem hadern, und er tat dies mit seiner Familie und sich selbst. Warum tat er es nicht


mit Gott, dem dunkeln auctor rerum creatarum, dem Einzigen, der wirklich für das Leiden der Welt verantwortlich ist? Er hätte ihm sicher als Antwort einen jener zauberhaften, endlos-tiefen Träume geschickt, die Er mir sogar, ohne gefragt zu werden, schickte und damit mein Schicksal besiegelte. Ich wußte nicht wieso - es war halt so. Ja, Er hatte mir sogar einen Einblick in Sein eigenes Wesen eröffnet. Dieses letztere war allerdings ein großes Geheimnis, das ich auch meinem Vater nicht verraten durfte oder konnte. Vielleicht, so schien es mir, hätte ich es verraten können, wenn er imstande gewesen wäre, die unmittelbare Erfahrung Gottes zu begre ifen. Aber ich kam in meinen Gesprächen mit ihm nie so weit, nicht einmal in Sicht des Problems, weil ich es immer in sehr un-psychologischer und intellektueller Weise anging und den Gefühls aspekt tunlichst vermied, um seine Emotionen fernzuhalten. Aber diese Art der Annäherung wirkte jedesmal wie das rote Tuch auf den Stier und führte zu gereizten Reaktionen, die mir unverständlich waren. Ich war nämlich unfähig zu verstehen, wieso ein völlig vernünftiges Argument auf einen emotionalen Widerstand stoßen konnte.

Diese fruchtlosen Diskussionen verärgerten ihn und mich, und wir zogen uns schließlich davon zurück, jeder mit seinem spezifischen Minderwertigkeitsgefühl. Die Theologie hatte meinen Vater und mich entfremdet. Ich empfand es wiederum als eine fatale Niederlage, in der ich mich allerdings nicht allein fühlte. Ich hatte eine dunkle Ahnung, daß mein Vater seinem Schicksal unentrinnbar verfallen war. Er war einsam. Er hatte keinen Freund, mit dem er sich besprechen konnte, wenigstens kannte ich niemanden in unserer Umgebung, dem ich es zugetraut hätte, das erlösende Wort zu finden. Einmal hörte ich ihn beten: er rang verzweifelt um seinen Glauben. Ich war erschüttert und empört zugleich, weil ich sah, wie hoffnungslos er der Kirche und ihrem theologischen Denken verfallen war. Sie hatten ihn treulos verlassen, nachdem sie ihm alle Möglichkeiten, unmittelbar zu Gott zu gelangen, verrammelt hatten. Jetzt verstand ich zutiefst mein Erlebnis: Gott selber hatte in meinem Traum die Theologie und die darauf gegründete Kirche desavouiert. Andererseits hatte Er die Theologie, wie so vieles andere, zugelassen. Es kam mir lächerlich vor anzunehmen, daß die Menschen solche Entwicklungen veranlaßt haben könnten. Was waren schon die Menschen? Sie sind dumm und blind geboren wie junge Hunde, wie alle Geschöpfe


Gottes, mit spärlichstem Lichte ausgerüstet, das die Finsternis, in der sie tappen, nicht erhellen kann. So viel stand für mich fest, und ebenso sicher war mir, daß keiner der mir bekannten Theologen «das Licht, das in die Finsternis schien», mit eigenen Augen gesehen hatte, sonst hätten sie keine «theologische Religion» lehren können. Mit der «theologischen Religion» konnte ich nichts anfangen; denn sie entsprach nicht meinem Gotteserlebnis. Ohne Hoffnung auf Wissen forderte sie auf zu glauben. Das hatte mein Vater mit größter Anstrengung versucht und war daran gescheitert. Ebenso wenig konnte sich mein Vater gegen den lächerlichen Materialismus der Psychiater verteidigen. Das war ja auch so etwas, das man glauben mußte, genau wie die Theologie! Ich war sicherer denn je, daß beiden sowohl Erkenntniskritik wie Erfahrung fehlte.

Mein Vater stand offenbar unter dem Eindruck, die Psychiater hätten im Gehirn etwas entdeckt, was bewies, daß an der Stelle, wo der Geist sein sollte, «materia» vorhanden war und nichts «Luftartiges». Damit stimmten verschiedene Mahnungen meines Vaters überein, ich solle, wenn ich Medizin studiere, ja kein Materialist werden. Für mich bedeutete aber seine Mahnung, ich solle ja nichts glauben, denn ich wußte, daß die Materialisten, genau wie die Theologen, an ihre Definitionen glaubten, und ich wußte auch, daß mein armer Vater einfach vom Regen in die Traufe gekommen war. Ich hatte erkannt, daß der mir immer hochgepriesene Glaube ihm diesen fatalen Streich gespielt hatte und nicht nur ihm, sondern den meisten gebildeten und ernsthaften Leuten, die ich kannte. Als die Erzsünde des Glaubens erschien mir die Tatsache, daß er der Erfahrung Vorgriff. Woher wußten die Theologen, daß Gott absichtlich gewisse Dinge arrangiert hatte und gewisse andere «zuließ», und woher die Psychiater, daß die Materie die Eigenschaften des menschlichen Geistes besaß? Ich stand in keinerlei Gefahr, dem Materialismus zu verfallen, wohl aber mein Vater, was mir immer deutlicher wurde. Offenbar hatte ihm jemand etwas von der «Suggestion» zugeraunt, denn er las damals, wie ich entdeckte, Bernheims Buch über Suggestion, übersetzt von Sigmund Freud 1. Das war mir neu und bedeutsam, denn bisher hatte ich meinen Vater nur Romane oder etwa eine Reisebeschreibung lesen sehen. Alle «gescheiten»

* «Die Suggestion und ihre Heilwirkung», Leipzig und Wien 1888.

und interessanten Bücher schienen verpönt zu sein. Die Lektüre aber machte ihn nicht glücklich. Seine depressiven Launen häuften und verstärkten sich, ebenso seine Hypochondrie. Er hatte schon seit einer Reihe von Jahren über alle möglichen abdominalen Symptome geklagt, ohne daß der Arzt etwas Definitives feststellen konnte. Jetzt klagte er über Empfindungen, als hätte er «Steine im Bauch». Wir nahmen das lange Zeit nicht ernst, aber schließlich wurde der Arzt bedenklich. Das war Ende Sommer 1895.

Im Frühjahr hatte ich mein Studium an der Universität Basel begonnen. Die einzige Zeit in meinem Leben, wo ich mich gelangweilt habe, nämlich die Schulzeit, war zu Ende, und die goldenen Tore zur universitas litterarum und zur akademischen Freiheit öffneten sich mir: ich würde die Wahrheit über die Natur in ihren Hauptaspekten hören, ich würde alles über den Menschen, anatomisch und physiologisch, in Erfahrung bringen, und daran würde sich die Kenntnis der biologischen Ausnahmezustände, nämlich der Krankheiten, reihen. Zu allem kam, daß ich in eine farbentragende Verbindung, die Zofingia, eintreten konnte, der schon mein Vater angehört hatte. Als ich ein junger Fuchs war, kam er sogar mit mir auf einen Verbindungsausflug in ein Weindorf des Markgrafenlandes und hielt dort eine launige Rede, in der zu meinem Entzücken der frohe Geist seiner eigenen studentischen Vergangenheit zum Vorschein kam. Zugleich erkannte ich blitzartig, daß sein eigenes Leben mit dem Abschluß des Studiums zum endgültigen Stillstand gekommen war, und der Vers eines Studentenliedes fiel mir ein:

Sie zogen mit gesenktem Blick


In das Philisterland zurück.


0 jerum, jerum, jerum,


0 quae mutatio rerum!

Diese Worte fielen mir schwer auf die Seele. Er war ja einstmals ein enthusiastischer Student im ersten Semester gewesen wie ich;


die Welt hatte sich ihm auf getan wie mir; die unendlichen Schätze des Wissens hatten vor ihm gelegen wie vor mir. Was konnte es gewesen sein, das ihm alles geknickt, versauert und verbittert hatte? Ich fand keine Antwort oder zu viele. Die Rede, die er an jenem Sommerabend beim Weine hielt, war seine letzte gelebte Erinnerung an eine Zeit, in der er gewesen war, was er hätte sein sollen. Bald hernach verschlimmerte sich sein Zustand. Er wurde im Spätherbst 1895 bettlägerig, und zu Anfang des Jahres 1896 starb er.

Ich war nach dem Kolleg nach Hause gekommen und fragte nach ihm. «Ach, es ist wie immer. Er ist recht schwach», sagte die Mutter. Er flüsterte ihr etwas zu, und sie sagte, mit ihrem Blick seinen deliriösen Zustand andeutend: «Er möchte wissen, ob du dein Staatsexamen schon bestanden hast?» Ich sah, daß ich lügen mußte: «Ja, es ist gut gegangen.» Er seufzte erleichtert und schloß die Augen. Etwas später ging ich nochmals zu ihm. Er war allein. Meine Mutter hatte im Nebenzimmer etwas zu tun. Er röchelt e, und ich sah, daß er in der Agonie war. Ich stand an seinem Bett, gebannt. Ich hatte noch nie einen Menschen sterben sehen. Plötzlich hörte er auf zu atmen. Ich wartete und wartete auf den nächsten Atemzug. Er kam nicht. Jetzt erinnerte ich mich an meine Mutter und ging ins Nebenzimmer, wo sie am Fenster saß, mit Stricken beschäftigt. «Er stirbt», sagte ich. Sie kam mit mir zum Bett und sah, daß er tot war. Sie sagte, wie wundernd: «Wie schnell ist doch alles vorübergegangen.»

Die nächsten Tage waren dumpf und schmerzhart, und wenig ist mir davon im Gedächtnis geblieben. Einmal sprach meine Mutter in ihrer «zweiten» Stimme zu mir oder zu der mich umgebenden Luft, und sagte: «Er ist zur Zeit für dich gestorben», was mir zu bedeuten schien: Ihr habt euch nicht verstanden, und er hätte dir hinderlich werden können. - Diese Auffassung schien mir mit Nr. 2 meiner Mutter übereinzustimmen.

Das «für dich» hat mich furchtbar getroffen, und ich fühlte, daß nun ein Stück alter Zeit unwiderruflich zu Ende gegangen war.Andererseits erwachte damals ein Stück Männlichkeit und Freiheit in mir. Nach dem Tode


meines Vaters zog ich in sein Zimmer, und innerhalb der Familie trat ich an


seine Stelle. Ich mußte z. B. meiner Mutter wöchentlich das Haushaltsgeld


geben, weil s ie nicht haushalten und nicht mit Geld umgehen konnte. Etwa sechs Wochen nach seinem Tode erschien mein Vater mir im Traum.


Plötzlich stand er vor mir und sagte, er käme aus den Ferien. Er habe sich gut


erholt, und nun kehre er nach Hause zurück. Ich dachte, er würde mir


Vorwürfe machen, weil ich in sein Zimmer gezogen war. Aber keine Rede


davon! Trotzdem schämte ich mich, weil ich mir eingebildet hatte, er sei tot.


Nach ein paar Tagen wiederholte sich der Traum, daß mein Vater als Genesener nach Hause zurückkehrte, und wieder machte ich mir Vorwürfe, weil ich gedacht hatte, er sei gestorben. Ich fragte mich immer wieder:


«Was heißt es, daß mein Vater im Traume zurückkehrt? Daß er so »wirklich"


scheint?» Das war ein unvergeßliches Erlebnis und zwang mich zum ersten


Mal, über das Leben nach dem Tode nachzudenken.

Mit dem Tode meines Vaters erhoben sich schwerwiegende Probleme in bezug auf die Fortsetzung meines Studiums. Ein Teil der mütterlichen Verwandtschaft war der Ansicht, ich sollte mir eine Stelle als Commis in einem Handelshaus suchen, um möglichst bald etwas zu verdienen. Der jüngste Bruder meiner Mutter anerbot sich, ihr zu helfen, da die vorhandenen Mittel zum Leben bei weitem nicht genügten. Ein Onkel väterlicherseits half mir. Am Ende meines Studiums schuldete ich ihm Fr. 3000.-. Das übrige verdiente ich mir durch Unterassistententätigkeit und durch privaten Vertrieb einer kleinen Antiquitätensammlung, die ich von einer alten Tante übernommen hatte und Stück um Stück vorteilhaft verkaufte, wobei mir ein sehr willkommener Gewinnanteil zufiel.

Ich möchte die Zeit der Armut nicht missen. Man lernt die einfachen Dinge schätzen. Ich erinnere mich noch sehr gut, daß ich einmal ein Kistchen Zigarren geschenkt erhielt. Da kam ich mir fürstlich vor. Sie reichten ein ganzes Jahr, nur sonntags habe ich mir eine geleistet.

Rückblickend kann ich sagen: die Studienzeit war eine schöne Zeit für mich. Alles war geistig belebt, und es war auch eine Zeit der Freundschaften. Im Zofinger Verein hielt ich mehrere Vorträge über theologische und psychologische Themen. Wir hatten die angeregtesten Gespräche und durchaus nicht nur über medizinische Fragen. Wir stritten uns über Schopenhauer und Kant. Wir wußten Bescheid über die verschiedenen Stilarten des Cicero und interessierten uns für Theologie und Philosophie. Man konnte sozusagen bei allen klassische Bildung und eine gepflegte geistige Tradition voraussetzen.

Zu meinen nächsten Freunden gehörte Albert Oeri. Mit ihm verband mich Freundschaft bis zu seinem Tode (1950). Eigentlich war unsere Beziehung um die zwanzig Jahre älter als wir selber, indem sie schon Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit der Freundschaft unserer Väter angehoben hatte. Aber ungleich jenen, die das Schicksal in späteren Jahren allmählich voneinander trennte, führte es Oeri und mich nicht nur zusammen, sondern hielt uns auch zusammen durch das Band der Treue bis zum Ende.

Ich hatte Oeri als Mitglied der Zofingia kennengelernt. Er war ebenso humor- wie gemütvoll und ein trefflicher Erzähler. Besonders eindrücklich schien mir, daß er ein Großneffe Jakob Burck-hardts war, den wir jungen Basler Studenten als den schon sagenhaften, großen Mann, der in unserer Mitte gelebt und gewirkt hatte, verehrten. Ja, Oeri vermittelte etwas vom äußeren Wesen dieses seltenen Mannes durch gewisse Züge seines Gesichtes, durch seine Bewegungen und seine Sprechweise. Auch über Bachofen, dem ich, ebenso wie Burckhardt, dann und wann auf der Straße begegnet bin, erfuhr ich manches von meinem Freunde. Aber noch mehr als diese Äußerlichkeiten zogen mich seine Nachdenklichkeit an, die Art und Weise, wie er geschichtliche Vorgänge betrachtete, die schon damals erstaunliche Reife seines politischen Urteils und seine oft verblüffende Treffsicherheit in der Erfassung zeitgenössischer Persönlichkeiten, die sein Witz unnachahmlich umreißen konnte. Seine Skepsis sah die Eitelkeit und Leere auch unter den eindruckvollsten Draperien.

Ein Dritter in unserem Bunde war der leider früh verstorbene Andreas Vischer, der nachmalige langjährige Leiter des Spitals von Urfa in Kleinasien. Zusammen diskutierten wir im «Adler» zu Weil und im «Hirzen» zu Haltingen bei einem Schoppen Markgräfler alles unter der Sonne und dem sich wandelnden Monde. Diese Unterhaltungen bildeten die unvergeßlichen Glanzpunkte meiner Studentenzeit.

Da Beruf und Wohnort uns trennten, sahen wir im folgenden Jahrzehnt nicht viel voneinander. Aber als die feierliche Stunde des Lebensmittags sich Oeri und mir, den beiden Gleichaltrigen, näherte, führte uns das Schicksal auch wieder mehr zusammen. Als wir das fünfunddreißigste Lebensjahr erreicht hatten, machten wir ahnungslos zusammen eine denkwürdige Reise zu Schiff, in meinem Segelboot nämlich, und unser Meer war der Zürichsee. Als Bootsmannschaft hatte ich drei junge Ärzte, die damals bei mir arbeiteten. Unsere Fahrt ging nach Walenstadt und zurück. Sie dauerte vier Tage. Wir fuhren vor frischem Winde mit dem Spinnaker. Oeri hatte die Voßsche Übersetzung der Odyssee mitgebracht und las uns während der Fahrt das Abenteuer bei Kirke und die Nekyia vor. Ein Glanz lag über dem glitzernden See und den in silbernem Dunst verschleierten Ufern.

«Uns nun ließ in die Segel des schwarz geschnäbelten Schiffes Fahrwind, schwellenden Hauches, nachwehn als guten Begleiter, Kirke, die schöngelockte, die hehre melodische Göttin.^

Doch unruhevoll dämmerten mir hinter den leuchtenden homerischen Bildern Gedanken der Zukunft, von der größeren Fahrt über den pelagus mundi, die uns noch bevorstand. Oeri, der bis her gezaudert hatte, heiratete nicht lange danach, und mir bescherte das Schicksal, wie dem Odysseus, eine Nekyia, den Abstieg in den finsteren Hades2. Dann kamen die Kriegsjahre, und wiederum sah ich ihn nur selten. Auch die großen Gespräche verstummten. Man sprach eigentlich nur noch von Vordergründigem. Aber ein inneres Gespräch hob zwischen uns an, wie ich aus gewis sen vereinzelten Fragen, die er mir stellte, erraten konnte. Er war ein kluger Freund und wußte um mich in seiner Art. Dieses stillschweigende Einverständnis und seine unwandelbare Treue bedeuteten mir sehr viel. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens sahen wir uns öfters wieder, weil wir beide wußten, daß die Schatten länger wurden.

In bezug auf die religiösen Fragen empfing ich während meiner Studentenzeit viele Anregungen. Zu Hause bot sich mir die hochwillkommene Gelegenheit, mich mit einem Theologen, dem Vikar meines verstorbenen Vaters, zu unterhalten. Er zeichnete sich nicht nur durch seinen phänomenalen Appetit aus, der mich in den Schatten stellte, sondern auch durch große Gelehrsamkeit. Von ihm lernte ich vieles aus der Patristik, der Dogmengeschichte, und insbesondere vernahm ich eine Menge Neues über die protestantische Theologie. Die Ritschlsche Theologie war damals an der Tagesordnung. Ihre historische Auffassung und vor allem das Gleichnis vom Eisenbahnzug irritierten michs. Auch die Theologiestudenten, mit denen ich im Zofinger Verein diskutierte, schienen sich alle

1 Nekyia von NEXUZ; (Leichnam) ist der Titel des 11. Gesanges der «Odyssee». Es bedeutet das Totenopfer zur Heraufbeschwörung der Abgeschiedenen aus dem Hades. Nekyia ist daher eine passende Bezeichnung für einen Abstieg in das Totenland, wie zum Beispiel in der «Divina Commedia» oder in der «klassischen Walpurgisnacht» im Faust. Jung braucht es hier im übertragenen Sinne und spielt auf seinen «Abstieg» in die Bilderwelt des Unbewußten an, von dem im Kapitel «Die Auseinandersetzung mit dem Unbewußten» die Rede sein wird. A. J.

s R. braucht das Gleichnis von einem Eisenbahnzug, der rangiert wird; hinten stößt die Lokomotive an, und dieser Ruck setzt sich durch den ganzen Zug fort: so gehe der Anstoß Christi durch die Jahrhunderte. A. J.

mit der Idee des historischen Effektes, der vom Christusleben ausgegangen war, zu begnügen. Diese Anschauung kam mir nicht nur schwachsinnig, sondern auch tot vor. Ich konnte mich auch nicht mit der Ansicht befreunden, die Christus in den Vordergrund rückte und ihn zur allein entscheidenden Figur im Drama von Gott und Mensch machte. Dies stand mir im absoluten Gegensatz zu Christi eigener Auffassung, daß der Hl. Geist, der ihn gezeugt hatte, nach seinem Tode ihn bei den Menschen ersetzen werde.

Der Hl. Geist bedeutete mir eine adaequate Verdeutlichung des unvorstellbaren Gottes. Seine Wirkungen waren nicht nur erhabener Natur, sondern auch von wunderlicher und sogar zweifelhafter Art, wie die Taten Jahwes, welch letzteren ich im Sinne meines Konfirmandenunterrichtes naiv mit dem christlichen Gottesbild identifizierte. (Auch wurde mir damals die Tatsache nicht bewußt, daß der richtige Teufel erst mit dem Christentum geboren worden war). Der «her Jesus» war mir unzweifelhaft ein Mensch und daher zweifelhaft, resp. ein bloßes Sprachrohr des Hl. Geistes. Diese höchst unorthodoxe Auffassung, die mit der theologischen um 90 bis 180 Grad differierte, stieß natürlich auf tiefstes Unverständnis. Die Enttäuschung, die ich darüber empfand, führte mich allmählich zu einer Art von resigniertem Desinteressement, und meine Überzeugung, daß hier einzig die Erfahrung entscheiden könne, verstärkte sich immer mehr. Mit «Candide», den ich damals las, konnte ich sagen: «Tout cela est bien dit - mais il faut cultiver notre jardin», womit die Naturwissenschaft gemeint war.

Im Laufe meiner ersten Studienjahre machte ich die Entdek-kung, daß die Naturwissenschaft zwar unendlich viele Kenntnisse ermöglichte, aber nu r sehr spärliche Erkenntnis und diese in der Hauptsache spezialisierter Natur. Ich wußte aus meiner philosophischen Lektüre, daß alledem die Tatsache der Psyche zugrundelag. Ohne die Seele gab es weder Kenntnis noch Erkenntnis. Man hörte von ihr überhaupt nichts. Sie war zwar überall stillschweigend vorausgesetzt, aber auch wo sie erwähnt wurde, wie bei C. G. Carus, bestand keine wirkliche Kenntnis, sondern nur philosophische Spekulation, die so oder anders lauten konnte. Aus dieser merkwürdigen Beobachtung konnte ich nicht klug werden.

Zu Ende meines zweiten Semesters aber machte ich eine folgenschwere Entdeckung: ich fand in der Bibliothek des Vaters eines meiner Studienfreunde, eines Kunsthistorikers, ein kleines Büchlein aus den siebziger Jahren über Geistererscheinungen. Es war ein


Bericht über die Anfänge des Spiritismus, von einem Theologen verfaßt. Meine anfänglichen Zweifel zerstreuten sich rasch, denn ich konnte nicht umhin zu sehen, daß es sich im Prinzip um gleiche oder ähnliche Geschichten handelte, wie ich sie seit frühester Kindheit auf dem Lande immer wieder gehört hatte. Das Material war zweifellos authentisch. Aber die große Frage: sind diese Geschichten auch physisch wahr? war mir noch nicht sicher beantwortet. Immerhin konnte ich feststellen, daß offenbar zu allen Zeiten und an den verschiedensten Orten der Erde immer wieder dieselben Geschichten berichtet wurden. Dafür mußte doch ein Grund vorliegen. Keinesfalls konnte er darin zu suchen sein, daß überall die gleichen religiösen Voraussetzungen bestanden. Dies war offenkundig nicht der Fall. So mußte es mit dem objektiven Verhalten der menschlichen Seele zusammenhängen. Aber gerade über diese Hauptfrage, nämlich die objektive Natur der Seele, war überhaupt nichts in Erfahrung zu bringen, als was die Philosophen sagten.

So seltsam und zweifelhaft sie mir auch vorkamen, waren die Beobachtungen der Spiritisten für mich doch die ersten Berichte über objektive psychische Phänomene. Namen wie Zoellner und Crookes machten mir Eindruck, und ich las sozusagen die ganze mir damals erreichbare Literatur über Spiritismus. Natürlich sprach ich davon auch zu meinen Kameraden, die zu meinem großen Erstaunen teils mit Spott und Unglauben, teils mit ängstlicher Abwehr reagierten. Ich wunderte mich einerseits über die Sicherheit, mit der sie behaupten konnten, dergleichen Dinge wie Spuk und Tischrücken seien unmöglich und deshalb Betrug, andererseits über ihre Abwehr, die einen ängstlichen Charakter zu haben schien. Ich war zwar auch nicht sicher in bezug auf die absolute Zuverlässigkeit der Berichte, aber warum sollte es schließlich keinen Spuk geben? Woher wußten wir überhaupt, daß etwas «unmöglich» war? Und vor allem - was sollte die Ängstlichkeit bedeuten? Ich selber fand solche Möglichkeiten überaus interessant und anziehend. Sie verschönerten mein Dasein um ein Vielfaches. Die Welt gewann an Tiefe und Hintergrund. Sollten z. B. die Träume auch mit Geistern zu tun haben? Kants «Träume eines Geistersehers» kam mir wie gerufen und bald entdeckte ich auch Karl Duprel, der diese Ideen philosophisch und psychologisch ausgewertet hatte. Ich grub Eschenmayer, Passavant, Justinus Kerner und Görres aus und las sieben Bände von Swedenborg.

Nr. 2 meiner Mutter war sehr einverstanden mit meinem Enthusiasmus, aber meine weitere Umgebung war entmutigend. Bisher war ich nur gegen den Stein traditioneller Anschauungen geprallt; jetzt aber stieß ich auf den Stahl der Voreingenommenheit und einer positiven Unfähigkeit, unkonventionelle Möglichkeiten gelten zu lassen, und dies bei meinen nächsten Freunden. Ihnen erschien mein Interesse noch verdächtiger als meine Beschäftigung mit der Theologie! Ich hatte das Gefühl, an den Rand der Welt gestoßen zu sein. Was mich aufs brennendste interessierte, war den anderen Staub und Nebel, ja sogar Grund zur Ängstlichkeit.

Angst wovor? Ich konnte keine Erklärung hiefür finden. Es war doch nicht unerhört oder welterschütternd, daß es vielleicht Ereignisse gab, welche die beschränkenden Kategorien von Zeit, Raum und Kausalität überschritten? Es gab ja sogar Tiere, die das Wetter und Erdbeben vorauswitterten, Träume, die den Tod bestimmter Personen anzeigten, Uhren, die im Moment des Todes stillstanden, Gläser, die im kritischen Augenblick zersprangen, lauter Dinge, die in meiner bisherigen Welt selbstverständlich waren. Und jetzt war ich scheinbar der Einzige, der je von solchen Dingen gehört hatte! Ich legte mir allen Ernstes die Frage vor, in was für eine Welt ich eigentlich geraten sei. Es war offensichtlich die städtische Welt, die von der Landwelt, der wirklichen Welt der Berge, Wälder und Flüsse, der Tiere und der Gottesgedanken (lies: Pflanzen und Kristalle) nichts wußte. Ich fand diese Erklärung tröstlich, auf alle Fälle vermehrte sie zunächst mein Selbstgefühl; denn es wurde mir klar, daß die Stadtwelt trotz der Fülle ihres gelehrten Wissens geistig beschränkt war. Diese Einsicht wurde mir gefährlich, denn sie verführte mich zu Überlegenheitsanfällen und zu unangebrachter Kritiklust und Aggressivität, die mir verdiente Antipathien eintrugen. Letztere brachten im weiteren Verlaufe wieder die alten Zweifel, Minderwertigkeitsgefühle und Depressionen zurück - ein Zyklus, den ich um jeden Preis zu unterbrechen mich entschloß. Ich wollte nicht mehr außerhalb der Welt stehen und den zweifelhaften Ruhm einer Kuriosität erwerben.

Nach dem ersten Propädeuticum wurde ich Unterassistent auf der Anatomie und im folgenden Semester überließ mir der Pro -sector sogar die Leitung des histologischen Kurses - natürlich zu meiner größten Genugtuung. Ich beschäftigte mich damals hauptsächlich mit Abstammungslehre und vergleichender Anatomie und wurde auch mit der neovitalistischen Lehre bekannt. Am meisten


faszinierte mich der morphologische Gesichtspunkt im weitesten Sinne. Auf der anderen Seite stand für mich die Physiologie. Sie war mir aufs tiefste zuwider wegen der Vivisektion, die zu bloßen Demonstrationszwecken vorgenommen wurde. Ich konnte mich nie von dem Gefühl befreien, daß die Warmblüter unsere Verwandten und keineswegs bloße Gehirnautomaten waren. Dementsprechend schwänzte ich solche Demonstrationen wenn immer möglich. Ich sah zwar ein, daß man an Tieren experimentieren mußte, aber ich empfand die Demonstration solcher Experimente nichtsdestoweniger als barbarisch und scheußlich und vor allem überflüssig: Ich hatte Phantasie genug, um mir die demonstrierten Vorgänge nach ihrer bloßen Beschreibung vorzustellen. Mein Mitleid mit den Geschöpfen datierte nicht etwa von den buddhistischen Allüren der Schopenhauerschen Philosophie, sondern ruhte auf der tieferen Grundlage einer primitiven Geisteshaltung, nämlich der unbewußten Identität mit dem Tiere. Diese wichtige psychologische Tatsache war mir allerdings damals völlig unbekannt. Mein Widerwillen gegen die Physiologie war so groß, daß mein Examen in dieser Disziplin auch entsprechend schlecht ausfiel. Immerhin schlüpfte ich durch.

Die folgenden klinischen Semester waren so voll, daß mir zu meinen Ausflügen in abgelegene Gebiete fast keine Zeit blieb. Nur an Sonntagen konnte ich Kant studieren. Ich las auch eifrigst E. von Hartmann. Nietzsche hatte schon für einige Zeit auf dem Programm gestanden, aber ich zögerte mit der Lektüre, da ich mich ungenügend vorbereitet fühlte. Nietzsche wurde damals viel diskutiert, aber meistens abgelehnt, am heftigsten von den «kompetenten» Philosophiestudenten, woraus ich meine Schlüsse auf die in höheren Sphären herrschenden Widerstände zog. Höchste Autorität war natürlich Jakob Burckhardt, von dem verschiedene kritische Äußerungen in bezug auf Nietzsche kolportiert wurden. Zudem gab es einige Leute, die Nietzsche persönlich gekannt hatten und darum imstande waren, allerhand Curiosa nicht gerade sympathischer Art über ihn zu berichten. Meistens hatten sie auch nichts von ihm gelesen und hielten sich dementsprechend bei äußerlichen Mißverständlichkeiten auf, z. B. bei seiner «gentle-man»Spielerei, seiner Manier, Klavier zu spielen, seinen stilistischen Übertriebenheiten, lauter Eigentümlichkeiten, die dem Basler von damals auf die Nerven gehen mußten. Diese Dinge dienten mir nun allerdings nicht zum Vorwand, die Nietzschelektüre hin


auszuschieben - im Gegenteil, sie wären für mich der stärkste Anlaß gewesen


- sondern es war eine geheime Angst, ich könnte ihm vielleicht ähnlich sein, wenigstens in dem Punkte des «Geheimnisses», das ihn in seiner Umwelt isolierte. Vielleicht, wer weiß, hatte er innere Erlebnisse gehabt, Einsichten, worüber er unglücklicherweise reden wollte und von niemandem verstanden wurde? Offenbar war er eine Ausgefallenheit, oder galt wenigstens als eine solche, als ein lusus naturae, was ich unter keinen Umständen sein wollte. Ich fürchtete mich vor der möglichen Erkenntnis, daß ich wie Nietzsche «Auch Einer» war. Natürlich - si parva componere magnis licet - war er ja ein Professor, hatte Bücher geschrieben, also traumhafte Höhen erreicht; er kam zwar auch aus einem Theologenhause, aber in dem großen und weiten Deutschland, das sich bis zum Meer ausdehnte, während ich nur ein Schweizer war und aus einem bescheidenen Pfarrhaus in einem kleinen Grenzdörfchen stammte. Er sprach ein geschliffenes Hochdeutsch, kannte Latein und Griechisch, vielleicht auch Französisch, Italienisch und Spanisch, während ich nur über Waggis -Baseldeutsch mit einiger Sicherheit verfügte. Er, im Besitze all dieser Herrlichkeiten, konnte sich schließlich eine gewisse Ausgefallenheit leisten, aber ich durfte nicht wissen, inwiefern ich selber ihm ähnlich sein könnte.

Trotz meiner Befürchtungen war ich neugierig und entschloß mich, ihn zu lesen. Es waren die «Unzeitgemäßen Betrachtungen», die mir zunächst in die Hände fielen. Ich war restlos begeistert, und bald las ich auch «Also sprach Zarathustra». Das war, wie Goethes «Faust», ein stärkstes Erlebnis. Zarathustra war der Faust Nietzsches, und Nr. 2 war mein Zarathustra, allerdings mit der angemessenen Distanz des Maulwurfshügels vom Montblanc; und Zarathustra war - das stand mir fest - morbid. War Nr. 2 auch krankhaft ? Diese Möglichkeit versetzte mich in einen Schrecken, den ich lange Zeit nicht wahrhaben wollte, der mich aber trotzdem in Atem hielt und sich immer wieder zu ungelegener Zeit meldete und mich zum Nachdenken über mich selber zwang. Nietzsche hatte sein Nr. 2 erst später in seinem Leben entdeckt, nach der Lebensmitte, während ich Nr. 2 schon seit früher Jugend kannte. Nietzsche hat naiv und unvorsichtigerweise von diesem Arrheton, dem nicht zu Nennenden, gesprochen, wie wenn alles in Ordnung wäre. Ich aber habe sehr bald gesehen, daß man damit schlechte Erfahrungen macht. Er war aber andererseits so genial, daß er schon in jungen Jahren als Professor nach Basel kam, nichts


ahnend von dem, was ihm bevorstand. Gerade vermöge seiner Genialität hätte er doch beizeiten merken müssen, daß etwas nicht stimmte. Das also, dachte ich, war sein krankhaftes Mißverständnis: daß er Nr. 2 ungescheut und ahnungslos herausließ auf eine Welt, die von dergleichen Dingen nichts wußte und nichts verstand. Er war von der kindischen Hoffnung beseelt, Menschen zu finden, die seine Ekstase mitfühlen und die «Umwertung aller Werte» verstehen könnten. Er fand aber nur Bildungsphilister, ja tragikomischerweise war er selber einer, der, wie alle anderen, sich selber nicht verstand, als er in das Mysterium und das Nichtzusagende fiel und dies einer stumpfen, von allen Göttern verlassenen Menge anpreisen wollte. Daher die Aufschwellung der Sprache, die sich übersteigernden Metaphern, die hymnische Begeisterung, die vergebens versuchte, sich dieser Welt, die sich dem zusammenhanglosen Wissenswerten verschrieben hatte, vernehmbar zu machen. Und er fiel - dieser Seiltänzer - sogar noch über sich selbst hinaus. Er kannte sich nicht aus in dieser Welt - «dans ce meilleur des mondes possibles» - und war darum ein Besessener, einer, der von seiner Umwelt nur mit peinlicher Vorsicht umgangen werden konnte. Unter meinen Freunden und Bekannten wußte ich nur zwei, die sich offen zu Nietzsche bekannten, beide homosexuell. Der eine endete mit Selbstmord, der andere verkam als unverstandenes Genie. Alle anderen standen vor dem Phänomen Zarathustra nicht etwa fassungslos, sondern waren schlechthin immun.

Wie mir der «Faust» eine Türe öffnete, so schlug mir «Zarathustra» eine zu, und dies gründlich und auf lange Zeit hinaus. Es ging mir wie dem alten Bauern, dem das Doggeli zwei Kühe in denselben Halfter manövriert hatte, und der von seinem kleinen Sohn gefragt wurde, wieso denn so etwas möglich sei? Er antwortete: «Heiri, vo däm redt me nit.»

Ich sah ein, daß man nirgends hinkommt, wenn man nicht von den Dingen spricht, die allen bekannt sind. Der in dieser Hinsicht Naive versteht nicht, welche Beleidigung es für den Mitmenschen bedeutet, wenn man ihm von etwas spricht, das ihm unbekannt ist. Man verzeiht eine derartige Ruchlosigkeit nur dem Schriftsteller, dem Journalisten oder dem Dichter. Ich hatte verstanden, daß eine neue Idee oder auch nur ein ungewöhnlicher Aspekt allein durch Tatsachen vermittelt werden kann. Tatsachen bleiben liegen und lassen sich auf die Dauer nicht unter den Tisch


wischen, und einmal kommt einer daran vorüber und weiß, was er gefunden hat. Ich sah ein, daß ich eigentlich aus Mangel an besserem nur redete, anstatt Tatsachen vorzulegen, und an letzteren gebrach es mir völlig. Ich hatte nichts in den Händen. Mehr denn je trieb es mich zur Empirie. Ich nahm es den Philosophen übel, daß sie von all dem redeten, was keiner Erfahrung zugänglich war und überall da schwiegen, wo man auf eine Erfahrung hätte antworten sollen. Es schien mir zwar, daß ich irgend einmal und irgendwo durchs Diamantental gekommen sei, aber ich konnte niemanden davon überzeugen, daß die Gesteinsproben, die ich mitgebracht hatte, etwas anderes als Kieselsteine waren, auch mich selber nicht, bei näherem Zusehen.

Es war 1898, als ich anfing, mich mit meinem zukünftigen Beruf als Arzt auseinanderzusetzen. Ich gelangte bald zur Einsicht, daß ich mich spezialisieren müsse. Dafür kam nur Chirurgie oder innere Medizin in Betracht. Zu ersterer neigte ich wegen meiner speziellen Ausbildung in Anatomie und meiner Vorliebe für pathologische Anatomie, und ich hätte sie höchst wahrscheinlich als Beruf in Betracht gezogen, wenn mir die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung gestanden hätten. Es war mir außerordentlich peinlich, daß ich Schulden machen mußte, um überhaupt studieren zu können. Ich wußte, daß ich nach dem Schlußexamen sobald wie möglich meinen Lebensunterhalt verdienen mußte. Ich stellte mir daher eine Assistentenlaufbahn an irgendeinem Kantonsspital vor, wo man eher auf eine bezahlte Stelle hoffen konnte als an einer Klinik. Eine klinische Stelle hing aber in hohem Maße von Protektion oder von der persönlichen Sympathie des Chefs ab. In Ansehung meiner zweifelhaften Popularität und meiner so oft erfahrenen Befremdlichkeit wagte ich nicht an einen Glücksfall zu denken und begnügte mich daher mit der bescheidenen Möglichkeit, wenigstens an irgendeinem lokalen Krankenhaus als Assistent unterzukommen. Das übrige hing dann von meinem Fleiß, meiner Tüchtigkeit und Verwendbarkeit ab.

In den Sommerferien ereignete sich nun etwas, das mich aufs tiefste beeinflussen sollte. Eines Tages saß ich in meinem Arbeitszimmer und studierte meine Lehrbücher. Im Nebenzimmer, dessen Tür halb offen stand, saß meine Mutter und strickte. Es war unser Eßzimmer, in welchem der runde Eßtisch aus Nußbaumholz stand. Er stammte aus dem Trousseau meiner Großmutter väterlicherseits


und war damals an die siebzig Jahre alt. Meine Mutter saß am Fenster, etwa einen Meter vom Tisch entfernt. Meine Schwester war in der Schule und unsere Magd in der Küche. Plötzlich ertönte ein Knall wie ein Pistolenschuß. Ich sprang auf und eilte ins Nebenzimmer, von woher ich die Explosion gehört hatte. Meine Mutter saß entgeistert in ihrem Lehnstuhl, die Strickarbeit war ihren Händen entfallen. Sie sagte stammelnd: «Was - was ist geschehen? Es war gerade neben mir -» und blickte auf den Tisch. Wir sahen, was geschehen war: Die Tischplatte war bis über die Mitte durchgerissen und nicht etwa an einer geleimten Stelle, sondern durch das gewachsene Holz. Ich war sprachlos. Wie konnte so etwas passieren? Ein seit siebzig Jahren ausgetrocknetes, natürlich gewachsenes Holz, das an einem Sommertag mit der bei uns üblichen relativ hohen Luftfeuchtigkeit zerspringt? Ja, wenn es bei geheiztem Ofen an einem kalten und trockenen Wintertag gewesen wäre! Was in aller Welt konnte der Grund einer derartigen Explosion gewesen sein? Es gibt schließlich merkwürdige Zufälle, dachte ich. Meine Mutter nickte mit dem Kopfe und sagte mit ihrer Nr.-2-Stimme: «Ja, ja, das bedeutet etwas.» Ich war widerwillig beeindruckt und ärgerlich, nichts dazu sagen zu können.

Etwa vierzehn Tage später kam ich abends um sechs Uhr nach Hause und fand den Haushalt, d. h. meine Mutter, meine vierzehnjährige Schwester und die Magd in großer Aufregung. Wieder war etwa eine Stunde zuvor ein ohrenbetäubender Schuß ertönt. Diesmal war es nicht der schon beschädigte Tisch, sondern der Knall kam aus der Richtung des Büffets, eines schweren, aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts stammenden Möbels. Sie hatten bereits überall gesucht, aber nirgends einen Riß gefunden.

Ich begann sofort das Büffet und dessen Umgebung abzusuchen, ebenfalls erfolglos. Darauf durchsuchte ich das Innere des Büffets und dessen Inhalte. In der Schublade, die den Brotkorb enthielt, fand ich den Brotlaib und neben ihm das Brotmesser, dem die Klinge zum größten Teil abgebrochen war. Der Griff lag in der einen Ecke des viereckigen Korbes, und in jeder der drei anderen Ecken lag je ein Stück der Klinge. Das Messer war beim Vieruhrkaffee noch gebraucht und nachher versorgt worden. Seitdem hatte niemand mehr am Buffet zu tun gehabt.

Anderentags nahm ich das zersprungene Messer zu einem der besten Messerschmiede der Stadt. Er besah sich die Bruchwände mit der Lupe und schüttelte den Kopf. «Dieses Messer», sagte er, «is t


ganz in Ordnung. Es ist kein Schaden im Stahl. Jemand hat das Messer Stück für Stück abgebrochen. Man kann das z. B. dadurch tun, daß man es in den Spalt der Schublade steckt und Stück für Stück abbricht. Es ist guter Stahl. Oder man hat es aus großer Höhe auf Stein fallen lassen. Explodieren kann so etwas nicht. Man hat Ihnen etwas angegeben4

Meine Mutter und meine Schwester hatten sich im Zimmer befunden, als der plötzliche Knall sie erschreckte. Nr. 2 meiner Mutter schaute mich bedeutungsvoll an, und ich konnte nur schweigen. Ich war völlig ahnungslos und konnte mir das Vorgefallene in keinerlei Weise erklären. Dies war mir umso ärgerlicher, als ich mir zugeben mußte, daß ich tief beeindruckt war. Warum und wieso zerriß der Tisch und zersprang das Messer? Die Hypothese des Zufalls ging mir entschieden zu weit. Daß der Rhein zufälligerweise gerade einmal aufwärts fließt, war mir höchst unwahrscheinlich, und andere Möglichkeiten waren eo ipso ausgeschlossen. Was konnte es also sein ?

Einige Wochen später erfuhr ich von gewissen Verwandten, daß sie sich schon seit geraumer Zeit mit Tischrücken beschäftigten und ein Medium hatten, ein junges, etwas über fünfzehn Jahre altes Mädchen. In diesem Kreise trug man sich schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken, mich mit diesem Medium, welches somnambule Zustände und spiritistische Phänomene produzierte, bekannt zu machen. Als ich dies hörte, dachte ich sofort an unsere sonderbaren Erscheinungen und vermutete, daß sie mit diesem Medium in Zusammenhang stünden. Ich begann nun, mit ihr und anderen Interessierten regelmäßig jeden Samstagabend Sitzungen abzuhalten. Die Resultate waren Mitteilungen und Klopflaute in den Wänden und im Tisch. Vom Medium unabhängige Bewegungen des Tis ches waren zweifelhaft. Ich fand bald heraus, daß beschränkende Bedingungen im allgemeinen hinderlich waren. Ich begnügte mich daher mit der offensichtlichen Selbständigkeit der Klopflaute und wandte meine Aufmerksamkeit dem Inhalt der Mitteilungen zu. Die Resultate dieser Beobachtungen habe ich in meiner Dissertation dargestellt6. Nachdem ich die Experimente etwa zwei Jahre lang durchgeführt hatte, stellte sich eine gewisse

4 Das in vier Teile zersprungene Messer wurde von Jung sorgfältig aufbewahrt. A. J. 8 «Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene», 1902,in.Ges.Werke I, 1966.

Flauheit ein, und ich ertappte das Medium beim Versuch, in betrügerischer Weise Phänomene zu produzieren. Das bestimmte mich dazu, die Versuche abzubrechen - sehr zu meinem Bedauern, denn ich hatte an ihrem Beispiel gelernt, wie eine Nr. 2 entsteht, wie es in ein kindliches Bewußtsein eintritt und dieses schließlich in sich integriert. Das Mädchen war eine «Frühvollendete». Mit sechsundzwanzig Jahren starb sie an Tuberkulose. Ich habe sie, als sie vierundzwanzig Jahre alt war, noch einmal gesehen und war nachhaltig beeindruckt von der Selbständigkeit und Reife ihrer Persönlichkeit. Nach ihrem Tode erfuhr ich von ihren Angehörigen, daß in den letzten Monaten ihres Lebens ihr Charakter Stück um Stück von ihr abfiel und sie schließlich in den Zustand eines zweijährigen Kindes zurückkehrte, in welchem Zustand sie in den letzten Schlaf fiel.

Dies war nun alles in allem die große Erfahrung, welche meine ganz frühe Philosophie aufhob und mir einen psychologischen Standpunkt ermöglichte. Ich hatte etwas Objektives über die menschliche Seele erfahren. Die Erfahrung war aber so beschaffen, daß ich wiederum nichts darüber sagen konnte. Ich wußt e niemanden, dem ich den ganzen Sachverhalt hätte mitteilen können. Wiederum mußte ich etwas des Nachdenkens Würdiges unerledigt zur Seite legen. Erst ein paar Jahre später ist daraus meine Dissertation entstanden.

In der Medizinischen Klinik hatte Friedrich von Müller den alten Immermann abgelöst. In von Müller traf ich einen Geist, der mir zusagte. Ich sah, wie eine scharfe Intelligenz ein Problem erfaßte und jene Fragen formulierte, die an sich schon eine halbe Lösung darstellten. Er seinerseits schien auch in mir etwas zu sehen, denn später, gegen den Abschluß meiner Studien hin, schlug er mir vor, als Assistent mit ihm nach München zu gehen, wohin er einen Ruf erhalten hatte. Seine Aufforderung hätte mich beinahe bewogen, mich der inneren Medizin zu widmen. Dazu wäre es wahrscheinlich auch gekommen, wenn sich nicht inzwischen etwas ereignet hätte, das mich aller Zweifel in bezug auf meine spätere professionelle Laufbahn enthoben hätte.

Ich hatte zwar psychiatrische Vorlesungen und Klinik gehört, aber der damalige Lehrer der Psychiatrie war nicht gerade anregend, und wenn ich mich an die Wirkungen erinnerte, welche die Erfahrungen meines Vaters in der Irrenanstalt und mit der Psycbi


atrie im speziellen bei ihm hinterlassen hatten, so war das ebenfalls nicht dazu angetan, mich für letztere einzunehmen. Als ich mich auf das Staatsexamen vorbereitete, war daher bezeichnenderweise das psychiatrische Lehrbuch das letzte, das ich mir vornahm. Ich erwartete nichts davon. Doch erinnere ich mich noch, wie ich das Buch von Krafft -Ebing' aufschlug und dachte: Nun, jetzt wollen wir einmal sehen, was ein Psychiater über seinen Stoff zu sagen hat. - Vorlesungen und Klinik hatten bei mir nicht den geringsten Eindruck hinterlassen. Ich konnte mich nicht eines einzigen klinisch demonstrierten Falles erinnern, sondern nur an Langeweile und Überdruß.

Ich fing mit der Vorrede an, in der Absicht herauszufinden, wie ein Psychiater seinen Gegenstand einführt oder gewissermaßen seine Daseinsberechtigung überhaupt begründet. Zur Entschuldigung dieser Anmaßlichkeit muß ich nun allerdings erwähnen, daß in der damaligen ärztlichen Welt die Psychiatrie sehr niedrig im Kurs stand. Niemand wußte etwas Rechtes über Psychiatrie, und es gab keine Psychologie, die den Menschen als Ganzes betrachtet und auch seine krankhafte Abart mit in die Betrachtung eingeschlossen hätte. Wie der Direktor mit seinen Kranken in derselben Anstalt eingeschlossen war, so war auch diese für sich abgeschlossen und lag isoliert draußen vor der Stadt, wie ein altes Siechenhaus mit seinen Aussätzigen. Niemand blickte gern dorthin. Die Ärzte wußten beinahe ebenso wenig wie die Laien und teilten darum auch deren Gefühle. Die Geisteskrankheit war eine hoffnungslose und fatale Angelegenheit, und dieser Schatten fiel auch auf die Psychiatrie. Der Psychiater war eine sonderbare Figur, wie ich auch bald aus eigener Erfahrung lernen sollte.

Ich las also in der Vorrede: «Es ist wohl in der Eigenartigkeit des Wissensgebietes und der Unvollkommenheit seines Ausbaus begründet, daß psychiatrische Lehrbücher ein mehr oder weniger subjektives Gepräge an sich tragen.» Einige Zeilen weiter unten nannte der Autor die Psychosen «Krankheiten der Person». Da befiel mich plötzlich ein heftiges Herzklopfen. Ich mußte aufstehen und Atem schöpfen. Ich fühlte mich in stärkster Erregung, denn es war mir wie durch eine blitzartige Erleuchtung klar geworden, daß es für mich kein anderes Ziel geben konnte als Psychiatrie. Hier allein konnten die beiden Ströme meines Interesses zusam

' Lehrbuch der Psychiatrie. 4. Auflage, 1890. menfließen und durch ein vereintes Gefälle sich ihr Bett graben. Hier war das gemeinsame Feld der Erfahrung von biologischen und geistigen Tatsachen, welches ich überall gesucht und nicht gefunden hatte. Hier war endlich der Ort, wo der Zusammenstoß von Natur und Geist zum Ereignis wurde.

Meine heftige Reaktion setzte ein, als ich bei Krafft -Ebing vom «subjektiven Gepräge» des psychiatrischen Lehrbuches las. Also, dachte ich, ist das Lehrbuch zum Teil auch das subjektive Bekenntnis des Autors, der mit seinem Präjudiz, mit der Ganzheit seines So -Seins, hinter der Objektivität seiner Erfahrungen steht und auf die «Krankheit der Person» mit der Ganzheit seiner eigenen Persönlichkeit antwortet. Von meinen klinischen Lehrern hatte ich dergleichen nie gehört. Obwohl das in Frage stehende Lehrbuch sich von anderen Büchern der Art eigentlich nicht unterschied, so fiel doch von diesen wenigen Andeutungen ein verklärendes Licht auf das Problem der Psychiatrie, und sie zog mich unwiderruflich in ihren Bann.

Mein Entschluß war gefaßt. Als ich meinem Lehrer der Inneren Medizin davon Mitteilung machte, konnte ich von seinem Gesicht den Ausdruck der Enttäuschung und Verwunderung ablesen. Meine alte Wunde, das Gefühl von Fremdsein und Entfremdung, schmerzte wieder. Aber ich verstand jetzt besser, warum. Daß ich mich für diese Abseitswelt interessieren könnte, daran hatte niemand gedacht, nicht einmal ich selber. Meine Freunde waren erstaunt und befremdet und hielten mich für einen Narren, daß ich die Chance einer Karriere in Innerer Medizin, die so allgemein verständlich war und mir so verlockend und beneidet vor der Nase hing, gegen diesen psychiatrischen Unsinn vertauschen konnte.

Ich sah ein, daß ich offenbar wieder einmal auf ein Seitengeleise geraten war, auf dem mir niemand folgen wollte oder konnte. Aber ich wußte - und in dieser Überzeugung hätte mich niemand und nichts irre machen können -, daß mein Entschluß fest stand und ein Fatum war. Es war, wie wenn zwei Ströme sich vereinigt hätten und in einer großen Bewegung mich unwiderruflich zu fernen Zielen führten. Es war das hochgemute Gefühl «geeinter Zwie-natur», das mich wie auf magischer Woge durchs Examen trug, das ich als Bester bestand. Charakteristischerweise stellte mir der Pferdefuß, der hinter allen zu gut gelungenen Wundern herhinkt, sein Bein gerade in dem Fach, in welchem ich wirklich gut war,


nämlich in der pathologischen Anatomie. Es passierte mir der lächerliche Irrtum, daß ich in einem Präparat, das mir neben allerhand debris nur Epithelzellen zu enthalten schien, jene Ecke, in der sich Soorpilze befanden, übersah. In anderen Fächern hatte ich sogar im voraus die Intuition, worüber ich befragt werden würde. Dank diesem Umstande umging ich einige schwierige Klippen mit «wehender Fahne, Trommeln und Pfeifen». Aus Rache wurde ich dann dort, wo ich mich am sichersten fühlte, in einer geradezu grotesken Weise hineingelegt. Sonst hätte ich mein Staatsexamen mit dem Maximum bestanden.

Ein zweiter Kandidat erreichte dieselbe Punktzahl wie ich. Er war ein Alleingänger, eine für mich undurchsichtige, verdächtig banale Persönlichkeit. Man konnte mit ihm außer «Fachsimpeln» überhaupt nichts anfangen. Auf alles reagierte er mit einem enigmatischen Lächeln, das an das der aeginetischen Giebelfiguren erinnerte. Er hatte etwas Superiores und zugleich Unterlegenes oder Verlegenes an sich und paßte nie ganz in die Situation. Ich konnte mir nie einen Vers darauf machen. Das einzige, das an ihm positiv festgestellt werden konnte, war der Eindruck eines beinahe monomanen Strebers, der anscheinend an nichts Anteil nahm als an medizinischen Fakten und Kenntnissen. Wenige Jahre nach dem Abschluß seiner Studien erkrankte er an Schizophrenie. Ich erwähne diese Koinzidenz als ein charakteristisches Phänomen des Parallelismus der Geschehnisse. Mein erstes Buch war der Psychologie der Dementia praecox (Schizophrenie) gewidmet, in welchem das Präjudiz meiner Persönlichkeit auf die «Krankheit einer Person» antwortete: Psychiatrie im weitesten Sinne ist der Dialog einer krankenPsyche mit derals «normal» bezeichneten Psyche des Arztes, eine Auseinandersetzung der «kranken» Person mit der im Prinzip ebenso subjektiven Persönlichkeit des Behandelnden. Meine Bemühung war, darzulegen, daß Wahnideen und Halluzinationen nicht nur spezifische Symptome" der Geisteskrankheiten waren, sondern auch einen menschlichen Sinn hatten.

Am Abend nach der letzten Prüfung leistete ich mir den lange ersehnten Luxus, einmal - das erste Mal in meinem Leben - ins Theater zu gehen. Bis dahin hatten meine Finanzen eine derartige Extravaganz nicht erlaubt. Ich hatte aber noch etwas Geld übrig von dem Vertrieb der Antiquitätensammlung, welches mir nicht nur den Besuch der Oper, sondern auch eine Reise nach München und Stuttgart ermöglichte.

Bizet berauschte und überwältigte mich wie mit den Wogen eines unendlichen Meeres, und als mich am anderen Tag der Zug über die Grenze hinaus in eine weitere Welt trug, begleiteten mich die Melodien der Carmen. In München sah ich zum ersten Mal wirklich Antike, und diese im Verein mit Bizets Musik erzeugte in mir eine Atmosphäre, deren Tiefe und Bedeutungsschwere ich nur ahnen, aber nicht erfassen konnte. Es war eine frühlingshafte, hochzeitliche Stimmung, äußerlich aber eine trübe Woche zwischen dem l. und 9. Dezember 1900. In Stuttgart sah ich (zum letzten Mal) meine Tante, Frau Dr. Reimer-Jung. Sie war die Tochter aus der ersten Ehe meines Großvaters, des Professors C. G. Jung mit Virginie de Lassauix. Sie war eine bezaubernde alte Dame mit funkelnden blauen Augen und einem sprühenden Temperament. Ihr Mann war Psychiater. Sie schien mir umflossen von einer Welt ungreifbarer Phantasien und nicht heimzuweisender Erinnerungen -der letzte Hauch einer verschwindenden, nicht wiederzubringenden Vorwelt - ein endgültiger Abschied von der Nostalgie meiner Kindheit.

Am 10. Dezember 1900 trat ich meine Assistentenstelle im Burg -hölzli an. Ich ging gern nach Zürich, denn im Laufe der Jahre war mir Basel zu eng geworden. Für die Basler gab es nur ihre Stadt: nur in Basel war es «richtig», und jenseits der Birs fing das «Elend» an. Meine Freunde konnten nicht verstehen, daß ich wegging, und rechneten damit, daß ich binnen kurzem zurückkehren würde. Aber das war mir nicht möglich; denn in Basel war ich ein für alle Mal abgestempelt als Sohn des Pfarrers Paul Jung und Enkel meines Großvaters, des Professors Carl Gustav Jung. Ich gehörte sozusagen zu einer gewissen geistigen Gruppe und in einen bestimmten sozialen «set». Dagegen empfand ich Widerstände, denn ich wollte und konnte mich nicht festlegen lassen.

In geistiger Beziehung schien mir die Atmosphäre in Basel unübertrefflich und von einer beneidenswerten Weltoffenheit, aber der Druck der Tradition war mir zu viel. Als ich nach Zürich kam, empfand ich den Unterschied sehr stark. Die Beziehung von Zürich zur Welt ist nicht der Geist, sondern der Handel. Aber hier war die Luft frei, und das habe ich sehr geschätzt. Hier spürte man nirgends den braunen Dunst der Jahrhunderte, wenn man auch den reichen Hintergrund der Kultur vermißte. Für Basel habe ich heute noch immer ein schmerzliches faible, obwohl ich weiß, daß es


nicht mehr ist, wie es war. Ich erinnere mich noch der Tage, wo es einen Bachofen gab und einen Jakob Burckhardt, wo hinter dem Münster noch das alte Kapitelhaus stand und die alte Rheinbrücke zur Hälfte aus Holz war.

Für meine Mutter war es hart, daß ich Basel verließ. Aber ich wußte, daß ich ihr diesen Schmerz nicht ersparen konnte, und sie hat es tapfer getragen. Sie lebte mit meiner Schwester zusammen, die neun Jahre jünger war als ich, eine zarte und kränkliche Natur und in jeder Beziehung verschieden von mir. Sie war für das Leben einer alten Jungfer wie geboren und hat auch nicht geheiratet. Aber sie entwickelte eine bemerkenswerte Persönlichkeit, und ich habe ihre Haltung bewundert. Sie war eine geborene «Lady», und so ist sie auch gestorben. Sie mußte sich einer Operation unterziehen, die als harmlos galt, die sie jedoch nicht überlebte. Es machte mir einen tiefen Eindruck, als sich herausstellte, daß sie vorher alle ihre Angelegenheiten bis auf das letzte Pünktchen geordnet hatte. Im Grunde genommen war sie mir fremd, aber ich hatte großen Respekt vor ihr. Ich war viel emotionaler, sie hingegen war immer gelassen, obwohl in ihrer eigentlichen Natur sehr empfindsam. Ich hätte sie mir in einem Adeligen-Fräulein -Stift denken können, so wie auch die einzige, um etliche Jahre jüngere Schwester meines Großvaters Jung in einem solchen Fräuleinstift gelebt hatte 7.

Mit der Arbeit im Burghölzli begann mein Leben in einer ungeteilten Wirklichkeit, ganz nur Absicht, Bewußtheit, Pflicht und Verantwortung. Es war der Eintritt ins Weltkloster, und die Unterwerfung unter das Gelübde, nur das Wahrscheinliche, das Durchschnittliche, das Banale und das Sinnarme zu glauben, allem Fremden und Bedeutenden abzusagen und alles Ungewöhnliche auf das Gewöhnliche zu reduzieren. Es gab nur Oberflächen, die nichts ver

7 Unmittelbar nach dem Tode seiner Schwester schrieb Jung folgende Zeilen: «Bis 1904 lebte meine Schwester Gertrud mit ihrer Mutter in Basel. Dann siedelte sie mit dieser nach Zürich über, wo sie zuerst bis 1909 in Zollikon und von da an, bis zu ihrem Tode, in Küsnacht wohnte. Nach dem im Jahre 1923 erfolgten Tode ihrer Mutter lebte sie allein. Ihr äußeres Leben war still, zurückgezogen und verlief im engen Kreise verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Beziehungen. Sie war höflich, freundlich, gütig und versagte der Umwelt neugierige Blicke in ihr Inneres. So starb sie auch, klaglos, ihr eigenes Schicksal nicht erwähnend, in vollkommener Haltung. Sie legte ein Leben ab, das sich innerlich erfüllt hatte, unberührt von Urteil und Mitteilung.»

deckten, nur Anfänge ohne Fortsetzungen, Kontingenzen' ohne Zusammenhang, Erkenntnisse, die sich zu immer kleineren Kreisen verengerten, Unzulänglichkeiten, die Probleme zu sein beanspruchten, Horizonte von drangvoller Enge und die unabsehbare Wüste der Routine. Für ein halbes Jahr schloß ich mich in die Klostermauern ein, um mich an das Leben und den Geist einer Irrenanstalt zu gewöhnen und las mich durch die fünfzig Bände der «Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie» hindurch, seit ihrem Anfang, um die psychiatrische Mentalität kennenzulernen. Ich wollte wissen, wie der menschliche Geist auf den Anblick seiner eigenen Zerstörung reagiert, denn Psychiatrie erschien mir als ein artikulierter Ausdruck jener biologischen Reaktion, die den sogenannten gesunden Geist im Anblick der Geisteskrankheit befällt. Meine Fachkollegen erschienen mir ebenso interessant wie die Kranken. Ich habe deshalb in den folgenden Jahren eine ebenso geheime wie instruktive Statistik über die hereditären Vorbedingungen meiner schweizerischen Kollegen ausgearbeitet, zu meiner persönlichen Erbauung sowohl wie zum Verständnis der psychiatrischen Reaktion.

Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, daß meine Konzentration und meine selbstauferlegte Klausur meine Kollegen befremdete. Sie wußten natürlich nicht, wie sehr die Psychiatrie mich befremdete und wie viel mir daran lag, mich mit deren Geist bekannt zu machen. Das therapeutische Interesse lag mir damals fern, aber die pathologischen Varianten der sogenannten Normalität zogen mich mächtig an, da sie mir die ersehnte Möglichkeit zu einer tieferen Erkenntnis der Psyche überhaupt boten.

Unter diesen Voraussetzungen begann meine psychiatrische Laufbahn, mein subjektives Experiment, aus dem mein objektives Leben hervorging.

Ich habe weder die Lust noch die Fähigkeit, mich dermaßen außer mich selbst zu setzen, daß ich me in eigenes Schicksal wirklich objektiv betrachten könnte. Ich würde dem bekannten autobiographischen Fehler verfallen, entweder eine Illusion darüber, wie es hätte sein sollen, zu entwickeln, oder eine Apologie pro vita sua zu verfassen. Schließlich ist man ein Geschehnis, das sich nicht selber beurteilt, sondern vielmehr dem Urteil anderer - for better or worse - anheimfällt.

Psychiatrische Tätigkeit

Die Jahre am Burghölzli, der Psychiatrischen Universitätsklinik von Zürich, waren meine Lehrjahre. Im Vordergrund meines Interesses und meines Forschens stand die brennende Frage: was geht in den Geisteskranken vor? Das verstand ich damals noch nicht, und unter meinen Kollegen befand sich niemand, der sich um dieses Problem gekümmert hätte. Der PsychiatrieUnterricht war darauf angelegt, von der kranken Persönlichkeit sozusagen zu abstrahieren und sich mit Diagnosen, mit Symptombeschreibungen und Statistik 2u begnügen. Vom sogenannten klinischen Standpunkt aus, der damals vorherrschte, ging es den Ärzten nicht um den Geisteskranken als Menschen, als Individualität, sondern man hatte den Patienten Nr. X mit einer langen Liste von Diagnosen und Symptomen zu behandeln. Man «etikettierte» ihn, stempelte ihn ab mit einer Diagnose, und damit war der Fall zum größten Teil erledigt. Die Psychologie des Geisteskranken spielte überhaupt keine Rolle.

In dieser Situation wurde Freud wesentlich für mich, und zwar vor allem durch seine grundlegenden Untersuchungen über die Psychologie der Hysterie und des Traumes. Seine Auffassungen zeigten mir einen Weg zu weiteren Untersuchungen und zum Verständnis der individuellen Fälle. Freud brachte die psychologische Frage in die Psychiatrie, obwohl er selber kein Psychiater, sondern Neurologe war.

Ich erinnere mich noch gut an einen Fall, der mich damals sehr beeindruckte. Es handelte sich um eine junge Frau, die mit der Etikette «Melancholie» in die Klinik eingeliefert worden war und sich auf meiner Abteilung befand. Man machte die Untersuchungen mit der üblichen Sorgfalt: Anamnese, Tests, körperliche Untersuchungen usw. Diagnose: Schizophrenie, oder, wie man damals sagte, «Dementia praecox». Prognose: schlecht.

Ich wagte zuerst nicht, an der Diagnose zu zweifeln. Damals war ich noch ein junger Mann, ein Anfänger, und hätte es mir nicht zugetraut, eine abweichende Diagnose zu stellen. Und doch erschien mir der Fall merkwürdig. Ich hatte den Eindruck, es handle


sich nicht um eine Schizophrenie, sondern um eine gewöhnliche Depression, und nahm mir vor, die Patientin nach meinen eigenen Methoden zu untersuchen. Damals beschäftigte ich mich mit diagnostischen Assoziationsstudien, und so machte ich mit ihr das Assoziationsexperiment. Außerdem besprach ich mit ihr die Träume. Auf diese Weise gelang es mir, ihre Vergangenheit zu erhellen und Wesentliches zu erfahren, was durch die übliche Anamnese nicht aufgeklärt worden war. Ich erhielt die Informationen sozusagen direkt vom Unbewußten, und aus ihnen ergab sich eine dunkle und tragische Geschichte.

Bevor die Frau heiratete, hatte sie einen Mann gekannt, den Sohn eines Großindustriellen, für den sich alle Mädchen der Umgebung interessierten. Da sie sehr hübsch war, glaubte sie, ihm zu gefallen und einige Chancen bei ihm zu haben. Aber anscheinend interessierte er sich nicht für sie, und so heiratete sie einen anderen.


Fünf Jahre später besuchte sie ein alter Freund. Sie tauschten Erinnerungen aus, und bei dieser Gelegenheit sagte der Freund:


«Als Sie heirateten, war das für jemanden ein Schock - für Ihren Herrn X» (den Sohn des Großindustriellen). Das war der Moment ! In diesem Augenblick begann die Depression, und nach einigen Wochen kam es zur Katastrophe:

Sie badete ihre Kinder, zuerst ihr vierjähriges Mädchen und danach ihren zweijährigen Sohn. Sie lebte in einem Lande, wo die Wasserversorgung hygienisch nicht einwandfrei war; es gab reines Quellwasser zum Trinken und infektiöses Wasser aus dem Fluß zum Baden und Waschen. Als sie nun das kleine Mädchen badete, sah sie, wie es am Schwamm sog, aber sie hinderte es nicht daran. Ihrem kleinen Sohn gab sie sogar ein Glas des ungereinigten Wassers zu trinken. Das tat sie natürlich unbewußt oder nur halb bewußt; denn sie befand sich bereits im Schatten der beginnenden Depression.

Kurz darauf, nach der Inkubationszeit, erkrankte das Mädchen an Typhus und starb. Es war ihr Lieblingskind. Der Knabe war nicht infiziert worden. In jenem Augenblick wurde die Depression akut, und die Frau kam in die Anstalt.

Die Tatsache, daß sie eine Mörderin war, und viele Einzelheiten ihres Geheimnisses hatte ich aus dem Assoziationsexperiment ersehen, und es war mir klar, daß hier der zureichende Grund ihrer Depression lag. Es handelte sich in der Hauptsache um eine psychogene Störung.

Wie stand es mit der Therapie? Bisher hatte sie wegen ihrer Schlaflosigkeit Narkotika erhalten, und da Selbstmordverdacht vorlag, wurde sie überwacht. Aber sonst war nichts unternommen worden. Physisch ging es ihr gut.

Ich sah mich nun vor das Problem gestellt: soll ich offen mit ihr reden oder nicht? Soll ich die große Operation vornehmen? Das bedeutete für mich eine schwere Gewissensfrage, eine Pflichtenkol-lision sondergleichen. Aber ich mußte den Konflikt allein mit mir ausfechten; denn hätte ich meine Kollegen gefragt, so hätten sie mich wohl gewarnt: «Sagen Sie der Frau um Gotteswillen nicht solche Sachen. Sie werden sie nur noch verrückter machen.» Nach meiner Auffassung konnte aber die Wirkung auch umgekehrt sein. In der Psychologie gibt es ohnehin kaum eine eindeutige Wahrheit Eine Frage kann so oder anders beantwortet werden, je nachdem, ob man die unbewußten Faktoren mitberücksichtigt oder nicht. Natürlich war mir auch bewußt, was ich für mich riskierte: wenn die Patientin in des Teufels Küche kam, dann auch ich!

Trotzdem beschloß ich, eine. Therapie zu wagen, deren Ausgangspunkt sehr unsicher war. Ich sagte ihr alles, was ich durch das Assoziationsexperiment entdeckt hatte. Sie können sich denken, wie schwierig das war. Es ist nichts Geringes, jemandem einen Mord auf den Kopf zuzusagen. Und es war tragisch für die Patientin, es zu hören und anzunehmen. Aber der Effekt war, daß sie vierzehn Tage später entlassen werden konnte und nie wieder in eine Anstalt kam.

Noch andere Gründe hatten mich veranlaßt, vor meinen Kollegen zu schweigen: ich fürchtete, daß sie über den Fall diskutieren und womöglich irgendwelche legalen Fragen aufwerfen würden. Man konnte der Patientin zwar nichts nachweisen, und doch hätte eine solche Diskussion katastrophale Folgen für sie haben können. Es schien mir sinnvoller, daß sie ins Leben zurückkehrte, um im Leben ihre Schuld zu sühnen. Sie war vom Schicksal gestraft genug. Als sie entlassen wurde, ging sie mit einer schweren Last von dan-nen. Die mußte sie tragen. Ihre Buße hatte schon mit der Depression und der Internierung in der Anstalt begonnen, und der Verlust des Kindes war ihr ein tiefer Schmerz.

In vielen psychiatrischen Fällen hat der Patient eine Geschichte, die nicht erzählt wird, und um die in der Regel niemand weiß. Für mich beginnt die eigentliche Therapie erst nach der Erforschung dieser persönlichen Geschichte. Sie ist das Geheimnis des Patienten,


an dem er zerbrochen ist. Zugleich enthält sie den Schlüssel zu seiner Behandlung. Der Arzt muß nur wissen, wie er sie erfährt. Er muß die Fragen stellen, die den ganzen Menschen treffen und nicht nur sein Symptom. Die Exploration des bewußten Materials genügt in den meisten Fällen nicht. Unter Umständen kann das Assoziationsexperiment den Zugang öffnen, auch die Traumdeutung kann es, oder der .lange und geduldige menschliche Kontakt mit dem Patienten.

1905 habilitierte ich mich für Psychiatrie, und im gleichen Jahr wurde ich Oberarzt an der Psychiatrischen Klinik der Universität Zürich. Diese Stelle hatte ich vier Jahre lang inne. Dann (1909) mußte ich sie aufgeben, weil die Arbeit mir einfach über den Kopf wuchs. Im Laufe der Jahre war meine Privatpraxis so groß geworden, daß ich mit der Arbeit nicht mehr nachkam. Die Tätigkeit als Privatdozent behielt ich aber bis zum Jahr 1913 bei. Ich las über Psychopathologie und natürlich auch über die Grundlagen der Freudschen Psychoanalyse, sowie über die Psychologie der Primitiven. Das waren die Hauptgegenstände. In den ersten Semestern beschäftigte ich mich in den Vorlesungen vor allem mit Hypnose, sowie mit Janet und Flournoy. Später rückte das Problem der Freudschen Psychoanalyse in den Vordergrund.

Auch in den Kursen über Hypnose erkundigte ich mich nach der persönlichen Geschichte der Patienten, die ich den Studenten vorstellte. Ein Fall ist mir noch in guter Erinnerung:

Einmal erschien eine ältere Frau, etwa achtundfünfzig Jahre alt, anscheinend religiös eingestellt. Sie ging an Krücken, geführt von ihrer Magd. Seit siebzehn Jahren litt sie an einer schmerzhaften Lähmung des linken Beines. Ich setzte sie in einen bequemen Stuhl und fragte sie nach ihrer Geschichte. Sie fing an zu erzählen und zu jammern, und die ganze Geschichte ihrer Krankheit kam heraus, mit allem Drum und Dran. Schließlich unterbrach ich sie und sagte:


«Nun ja, jetzt haben wir keine Zeit mehr, so viel zu reden. Jetzt muß ich Sie hypnotisieren.» - Kaum hatte ich das gesagt, schloß sie die Augen und fiel in tiefe Trance - ohne jede Hypnose! Ich wunderte mich, ließ sie aber in Ruhe. Sie redete pausenlos und erzählte die merkwürdigsten Träume, welche eine ziemlich tiefgehende Erfahrung des Unbewußten darstellten. Das verstand ich jedoch erst viel später. Damals nahm ich an, es sei eine Art Delirium. Aber die Situation wurde mir etwas unbehaglich. Es waren


zwanzig Studenten da, denen ich eine Hypnose demonstrieren wollte!

Als ich die Patientin nach einer halben Stunde wieder wecken wollte, wachte sie nicht auf. Es wurd e mir unheimlich, und der Gedanke befiel mich, ich könnte am Ende an eine latente Psychose gerührt haben. Etwa zehn Minuten vergingen, bis es mir gelang, sie wieder aufzuwecken. Dabei durfte ich mir vor den Studenten nichts von meiner Angst anmerken lassen! Als die Frau zu sich kam, war sie schwindlig und konfus. Ich versuchte sie zu beruhigen: «Ich bin der Arzt, und alles ist in Ordnung.» Worauf sie rief: «Aber ich bin ja geheilt!», die Krücken fortwarf und gehen konnte. Ich bekam einen roten Kopf und sagte zu den Studenten:


«Jetzt haben Sie gesehen, was man mit Hypnose erreichen kann.» Ich hatte aber nicht die geringste Ahnung, was vor sich gegangen war.

Das war eine der Erfahrungen, die mich veranlaßten, die Hypnose aufzugeben. Ich verstand nicht, was eigentlich geschehen war, aber die Frau war tatsächlich geheilt und ging beglückt von dan-nen. Ich bat sie, mir von sich zu berichten, denn ich rechnete mit einem Rückfall spätestens nach vierundzwanzig Stunden. Aber die Schmerzen kehrten nicht zurück, und ich mußte trotz meiner Skepsis die Tatsache ihrer Heilung hinnehmen.

Bei der ersten Vorlesung im Sommersemester des nächsten Jahres erschien sie wieder. Diesmal klagte sie über heftige Rückenschmerzen, die sich erst vor kurzem eingestellt hatten. Ich hielt es nicht für ausgeschlossen, daß sie mit dem Wiederbeginn meiner Vorlesungen zusammenhingen. Vielleicht hatte sie die Ankündigung meiner Vorlesung in der Zeitung gelesen. Ich fragte, wann der Schmerz angefangen und was ihn verursacht habe. Sie konnte sich aber nicht erinnern, daß irgend etwas zu einer bestimmten Zeit vorgefallen sei und wußte einfach keine Erklärung. Schließlich brachte ich aus ihr heraus, daß die Schmerzen tatsächlich an dem Tag und zu der Stunde eingesetzt hatten, als ihr die Ankünd igung meiner Vorlesung in der Zeitung zu Gesicht gekommen war. Das bestätigte zwar meine Vermutung, aber ich begriff noch immer nicht, was die mirakulöse Heilung bewirkt haben konnte. Ich hypnotisierte sie wieder, d. h. sie fiel, wie damals, spontan in Trance und war nachher von ihrem Schmerz befreit.

Nach der Vorlesung behielt ich sie zurück, um Einzelheiten aus ihrem Leben zu erfahren. Dabei stellte sich heraus, daß sie einen schwachsinnigen Sohn hatte, der sich in der Klinik auf meiner Ab


teilung befand. Davon wußte ich nichts, weil sie den Namen ihres zweiten Mannes trug, während der Sohn aus erster Ehe stammte. Er war ihr einziges Kind. Natürlich hatte sie auf einen begabten und erfolgreichen Sohn gehofft und war schwer enttäuscht, als er schon in jungen Jahren psychisch erkrankte. Damals war ich noch ein junger Arzt und repräsentierte all das, was sie sich zum Sohne gewünscht hätte. Daher schlugen sich ihre ehrgeizigen Wünsche, die sie als Heldenmutter hegte, auf mich nieder. Sie adoptierte mich sozusagen als Sohn und verkündete ihre wundersame Heilung urbi et orbi.

Tatsächlich verdankte ich ihr meinen lokalen Ruhm als Zauberer, und da sich die Geschichte bald herumgesprochen hatte, auch meine ersten Privatpatienten. Meine psychotherapeutische Praxis begann damit, daß eine Mutter mich an die Stelle ihres geisteskranken Sohnes gesetzt hatte! Natürlich erklärte ich ihr die Zusammenhänge, und sie nahm alles mit großem Verständnis auf. Später hatte sie nie mehr einen Rückfall.

Das war meine erste wirklich therapeutische Erfahrung, ich könnte sagen: meine erste Analyse. Ich erinnere mich deutlich der Unterhaltung mit der alten Dame. Sie war intelligent und außerordentlich dankbar, daß ich sie ernst genommen und Anteil an ihrem Schicksal und dem ihres Sohnes gezeigt hatte. Das hatte ihr geholfen.

Im Anfang wandte ich auch in meiner Privatpraxis die Hypnose an, aber sehr bald gab ich sie auf, weil man damit im Dunkeln tappt. Man weiß nie, wie lange ein Fortschritt oder eine Genesung anhält, und ich hatte immer Widerstände dagegen, im Ungewissen zu wirken. Ebensowenig liebte ich es, von mir aus zu entscheiden, was der Patient tun sollte. Mir lag viel mehr daran, vom Patienten selber zu erfahren, wohin er sich natürlicherweis e entwickeln würde. Dazu brauchte es die sorgfältige Analyse der Träume und anderer Manifestationen des Unbewußten.

In den Jahren 1904/05 richtete ich ein Laboratorium für experimentelle Psychopathologie an der Psychiatrischen Klinik ein. Dort hatte ich eine Anzahl Schüler, mit denen ich psychische Reaktionen (i. e. Assoziationen) untersuchte. Franz Riklin sen. war mein Mitarbeiter. Ludwig Binswanger schrieb damals seine Doktor-Dissertation über das Assoziationsexperiment in Verbindung mit dem psychogalvanischen Effekt, und ich verfaßte meine Arbeit «Zur


psychologischen Tatbestandsdiagnostik»'. Es waren auch einige Amerikaner da, unter anderem Carl Peterson und Charles Ricksher. Ihre Arbeiten sind in amerikanischen Fachzeitschriften erschienen. Ich verdankte es den Assoziationsstudien, daß ich später, im Jahre 1909, an die Clark-University eingeladen wurde; dort sollte ich über meine Arbeiten referieren. Gleichzeitig und unabhängig von mir wurde Freud eingeladen. Wir erhielten beide den Doctor of Laws honoris causa.

Es waren ebenfalls das Assoziationsexperiment und das psycho-galvanische Experiment, durch welche ich in Amerika bekannt wurde; bald kamen zahlreiche Patienten von dort. Ich erinnere mich noch gut an einen der ersten Fälle:

Ein amerikanischer Kollege hatte mir einen Patienten geschickt. Die Diagnose lautete «Alkoholneurasthenie». Die Prognose bezeichnete ihn als «incurable». Dementsprechend hatte mein Kollege in vorsorglicher Weise dem Patienten auch schon den Rat erteilt, eine gewisse neurologische Autorität in Berlin aufzusuchen, in der Voraussicht, daß mein Versuch einer Therapie zu nichts führen würde. Er kam in die Sprechstunde, und nachdem ich mich ein wenig mit ihm unterhalten hatte, sah ich, daß der Mann eine gewöhnliche Neurose hatte, von deren psychischem Ursprung er nichts ahnte. Ich machte mit ihm das Assoziationsexperiment und erkannte bei dieser Gelegenheit, daß er an den Folgen eines for-midablen Mutterkomplexes litt. Er stammte aus einer reichen und angesehenen Familie, hatte eine sympathische Frau und sozusagen keine Sorgen - äußerlich. Nur trank er zu viel, und dies war ein verzweifelter Versuch, sich zu narkotisieren, um seine bedrÜkkende Situation zu vergessen. Natürlich kam er auf diese Weise nicht aus seinen Schwierigkeiten heraus.

Seine Mutter war Eigentümerin eines großen Unternehmens, und der ungewöhnlich begabte Sohn hatte darin eine führende Stellung inne. Eigentlich hätte er schon längst die drückende Unterordnung unter die Mutter aufgeben sollen, aber er konnte sich nicht entschließen, seine glänzende Position zu opfern. So blieb er an die Mutter gekettet, die ihm seine Stellung vermittelt hatte. Immer wenn er mit ihr zusammen war oder sich einer ihrer Einmischungen unterwerfen mußte, fing er an zu trinken, um seine Affekte zu be

( Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, Jahrg. XXVIII, 1905, in Ges. Werke I, 1966.

täuben, resp. sie los zu werden. Im Grunde wollte er aber gar nicht heraus aus dem warmen Nest, sondern ließ sich, gegen seinen eigenen Instinkt, von Wohlstand und Bequemlichkeit verführen.

Nach kurzer Behandlung hörte er auf zu trinken und hielt sich für geheilt. Aber ich sagte ihm: «Ich garantiere nicht, daß Sie nicht wieder in den gleichen Zustand hineingeraten, wenn Sie in Ihre frühere Situation zurückkehren.» Er glaubte mir aber nicht und fuhr guten Mutes heim nach Amerika.

Kaum war er wieder unter dem Einfluß der Mutter, fing das Trinken wieder an. Da wurde ich von ihr, als sie sich in der Schweiz aufhielt, zu einer Konsultation gerufen. Sie war eine*ge-scheite Frau, aber ein Machtteufel ersten Ranges. Ich sah, wogegen der Sohn stehen mußte, und wußte, daß er die Kraft zum Widerstand nicht aufbrachte. Er war auch körperlich eine etwas zarte Erscheinung und seiner Mutter einfach nicht gewachsen. So entschloß ich mich zu einem Gewaltstreich. Hinter seinem Rücken stellte ich der Mutter ein Zeugnis über ihn aus, daß er wegen seines Alkoholismus seine Stellung in ihrem Geschäft unmöglich länger versehen könne. Man solle ihn entlassen. Dieser Rat wurde auch befolgt, und natürlich geriet der Sohn in Wut gegen mich.

Hier hatte ich etwas unternommen, was sich normalerweise mit dem ärztlichen Gewissen nicht leicht vereinen läßt. Aber ich wußte, daß ich um des Patienten willen die Schuld auf mich nehmen mußte.

Und wie hat er sich weiter entwickelt ? Er war nun von der Mutter getrennt und konnte seine Persönlichkeit entfalten: Er machte eine glänzende Karriere


- trotz oder gerade wegen der Roßkur. Seine Frau war mir dankbar; denn ihr Mann hatte nicht nur den Alkoholismus überwunden, sondern ging nun seinen individuellen Weg mit größtem Erfolg.

Jahrelang hatte ich dem Patienten gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil ich das Zeugnis hinter seinem Rücken ausgestellt hatte. Ich wußte aber genau, daß nur ein Gewaltakt ihn losbringen könnte. Und damit war auch die Neurose erledigt.

Ein anderer Fall ist mir ebenfalls unvergeßlich geblieben. Eine Dame kam in meine Sprechstunde. Sie weigerte sich, ihren Namen zu nennen; er täte nichts zur Sache, denn sie wolle mich nur einmal konsultieren. Sie gehörte offenkundig zu den oberen Gesellschaftsschichten. Sie gab an, Ärztin gewesen zu sein. Was sie mir mitzu


teilen hatte, war eine Beichte: vor zwanzig Jahren hatte sie aus Eifersucht einen Mord begangen. Sie hatte ihre beste Freundin vergiftet, weil sie deren Mann heiraten wollte. Nach ihrer Ansicht spielte ein Mord für sie keine Rolle , wenn er nicht entdeckt würde. Wenn sie den Mann ihrer Freundin heiraten wolle, so könne sie sie einfach aus dem Wege räumen. Das war ihr Standpunkt. Moralische Bedenken kämen für sie nicht in Betracht.

Und nachher? Sie hat zwar den Mann geheiratet, aber er ist sehr bald, ziemlich jung, gestorben. In den folgenden Jahren ereigneten sich seltsame Dinge: die Tochter aus dieser Ehe strebte, sobald sie erwachsen war, von der Mutter weg. Sie heiratete jung und zog sich immer mehr zurück. Schließlich verschwand sie aus ihrem Gesichtskreis, und die Mutter verlor jeden Kontakt mit ihr.

Die Frau war eine leidenschaftliche Reiterin und besaß mehrere Reitpferde, die ihr Interesse in Anspruch nahmen. Eines Tages entdeckte sie, daß die Pferde anfingen, unter ihr nerv ös zu werden. Sogar ihr Lieblingspferd scheute und warf sie ab. Schließlich mußte sie das Reiten aufgeben. Sie hielt sich nunmehr an ihre Hunde. Sie besaß einen besonders schönen Wolfshund, an dem sie sehr hing. Der «Zufall» wollte es, daß gerade dieser Hund von einer Lähmung befallen wurde. Da war das Maß voll, und sie fühlte sich «moralisch erledigt». Sie mußte beichten, und zu diesem Zweck kam sie zu mir. Sie war eine Mörderin, aber darüber hinaus hatte sie sich auch selbst gemordet. Denn wer ein solches Verbrechen begeht, zerstört seine Seele. Wer mordet, ist schon selbst gerichtet. Hat jemand ein Verbrechen begangen und wird gefaßte so erreicht ihn die gerichtliche Strafe. Hat er es im Geheimen getan, ohne moralische Bewußtheit, und bleibt unentdeckt, so kann ihn die Strafe trotzdem erreichen, wie unser Fall zeigt. Es kommt doch an den Tag. Mitunter sieht es so aus, als ob auch die Tiere und Pflanzen es «wüßten».

Die Frau ist durch den Mord sogar den Tieren fremd geworden und in eine unerträgliche Einsamkeit geraten. Um ihre Einsamkeit loszuwerden, hat sie mich zu ihrem Mitwisser gemacht. Sie mußte einen Mitwisser haben, der kein Mörder war. Sie wollte einen Menschen finden, der ihre Beichte voraussetzungslos annehmen konnte;


denn damit würde sie gewis sermaßen wieder eine Beziehung zur Menschheit gewinnen. Es durfte aber kein professioneller Beichtvater, sondern mußte ein Arzt sein. Bei einem Beichtvater hätte sie vermutet, daß er sie von Amts wegen anhörte; daß er die Tatsachen


nicht als solche aufnähme, sondern zum Zwecke der moralischen Beurteilung. Sie hatte erlebt, daß Menschen und Tiere sie verließen, und war von diesem schweigenden Urteil dermaßen betroffen, daß sie keine weitere Verdammung mehr hät te ertragen können.

Ich habe nie erfahren, wer sie war; auch besitze ich keinen Beweis, daß ihre Geschichte der Wahrheit entsprach. Später fragte ich mich manchmal, wie ihr Leben wohl weiter gegangen sei. Denn damals war ihre Geschichte noch nicht zu Ende. Vielleicht kam es schließlich zu einem Suizid. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie in dieser äußersten Einsamkeit hätte weiterleben können.

Klinische Diagnosen sind wichtig, da sie eine gewisse Orientierung geben, aber dem Patienten helfen sie nichts . Der entscheidende Punkt ist die Frage der «Geschichte» des Patienten; denn sie deckt den menschlichen Hintergrund und das menschliche Leiden auf, und nur da kann die Therapie des Arztes einsetzen. Das zeigte mir auch ein ariderer Fall sehr deutlich.

Es handelte sich um eine alte Patientin auf der Frauenstation, eine fünfundsiebzigj ährige Frau, die seit vierzig Jahren bettlägerig war. Vor fast fünfzig Jahren war sie in die Anstalt gekommen, aber niemand konnte sich mehr an ihre Einlieferung erinnern; alle waren inzwischen gestorben. Nur eine Oberschwester, die seit fünf-unddreißig Jahren in der Anstalt arbeitete, wußte noch etwas über ihre Geschichte. Die Alte konnte nicht mehr sprechen und nur flüssige oder halbflüssige Nahrung zu sich nehmen. Sie aß mit den Fingern und schaufelte gewissermaßen die Nahrung in den Mund. Manchmal brauchte sie fast zwei Stunden für eine Tasse Milch. Wenn sie nicht gerade aß, machte sie merkwürdige, rhythmische Bewegungen mit Händen und Armen, deren Natur ich nicht verstand. Ich war tief beeindruckt vom Grade der Zerstörung, die eine Geisteskrankheit anrichten kann, wußte aber keine Erklärung. In den klinischen Vorlesungen wurde sie als katatonische Form der Dementia praecox vorgeführt, aber das sagte mir nichts, denn es enthielt nicht das Geringste über die Bedeutung und Entstehung der merkwürdigen Bewegungen.

Der Eindruck, den dieser Fall auf mich machte, charakterisiert meine Reaktion auf die damalige Psychiatrie. Ich hatte, als ich Assistent wurde, das Gefühl, überhaupt nichts von dem zu verstehen, was Psychiatrie zu sein vorgab. Ich fühlte mich höchst unbehaglich neben meinem Chef und den Kollegen, die so sicher auf


traten, während ich ratlos im Dunkeln tappte. Die Hauptaufgabe der Psychiatrie sah ich in der Erkenntnis der Dinge, die sich im Innern des kranken Geistes ereignen, und davon wußte ich noch nichts. Da stak ich nun in einem Beruf, in dem ich mich überhaupt nicht auskannte!


Eines Abends spät ging ich durch die Abteilung, sah die alte Frau mit ihren rätselhaften Bewegungen und fragte mich wieder einmal:


Warum muß das sein? Da ging ich zu unserer alten Oberschwester und erkundigte mich, ob die Patientin immer schon so gewesen sei. «Ja», antwortete sie, «aber meine Vorgängerin erzählte mir, sie habe früher Schuhe hergestellt.» Daraufhin konsultierte ich nochmals ihre alte Krankengeschichte, und dort hieß es, daß sie Bewegungen mache wie beim Schustern. Früher hielten die Schuster die Schuhe zwischen den Knien und zogen die Fäden mit ganz ähnlichen Bewegungen durch das Leder. (Bei Dorf schustern kann man das auch heute noch sehen). Als die Patientin bald darauf starb, kam ihr älterer Bruder zum Begräbnis. - «Warum ist Ihre Schwester krank geworden?» fragte ich ihn. Da erzählte er, sie habe einen Schuhmacher geliebt, der sie aber aus irgendeinem Grunde nicht heiraten wollte, und damals sei sie «übergeschnappt». - Die Schuhmacherbewegungen zeigten ihre Identität mit dem Geliebten, die bis zum Tode dauerte.

Damals erhielt ich eine erste Ahnung von den psychischen Ursprüngen der sogenannten «Dementia praecox». Von nun an widmete ich alle Aufmerksamkeit den Sinnzusammenhängen in der Psychose.

Ich erinnere mich gut der Patientin, an deren Geschichte mir die psychologischen Hintergründe der Psychose und vor allem der «unsinnigen Wahnideen» klar wurden. Ich verstand in diesem Falle zum erstenmal die bis dahin als sinnlos erklärte Sprache der Schizophrenen. Es war Babette S., deren Geschichte ich publiziert habe 2. 1908 hielt ich im Rathaus von Zürich einen Vortrag über sie.

Die Patientin stammte aus der Zürcher Altstadt, aus den engen und schmutzigen Gassen, wo sie in ärmlichen Verhältnissen zur Welt gekommen und aufgewachsen war. Die Schwester war eine Prostituierte, der Vater Trinker. Sie erkrankte mit neununddreißig

2 «Über die Psychologie der Dementia praecox», Halle 1907, und «Der Inhalt der Psychose», Wien 1908, in Ges. Werke I, 1966.

Jahren an der paranoiden Form der Dementia praecox mit charakteristischem Größenwahn. Als ich sie kennenlernte, befand sie sich schon zwanzig Jahre in der Anstalt. Viele Hunderte von Medizinstudenten erhielten bei ihr einen Eindruck von dem unheimlichen Prozeß der psychischen Zersetzung. Sie war eines der klassischen Demonstrationsobjekte der Klinik. Babette war vollkommen verrückt und sagte Dinge, die man überhaupt nicht verstehen konnte. In mühseliger Arbeit unternahm ich den Versuch, die Inhalte ihrer abstrusen Aussprüche zu verstehen. Z. B. sagte sie: «Ich bin die Loreley» und zwar darum, weil der Arzt, wenn er sich zu erklären versuchte, immer sagte: «Ich weiß nicht, was soll es« bedeuten.» Oder sie brachte Klagen hervor wie: «Ich bin die Sokrates-Vertretung», was - wie ich herausfand - bedeuten sollte: «Ich bin ebenso ungerecht angeschuldigt wie Sokrates.» Skurrile Aussprüche wie: «Ich bin das Doppelpolytechnikum unersetzlich», «Ich bin Zwetschgenkuchen auf Maisgriesboden», «Ich bin Germania und Helvetia aus ausschließlich süßer Butter», «Neapel und ich müssen die Welt mit Nudeln versorgen», bedeuteten Wertsteigerungen, d. h. Kompensationen eines Minderwertigkeitsgefühls.

Die Beschäftigung mit Babette und anderen, ähnlichen Fällen überzeugte mich, daß vieles, was wir bis dahin bei den Geisteskranken als sinnlos angesehen hatten, gar nicht so «verrückt» war, wie es schien. Ich erfuhr mehr als einmal, daß bei solchen Patienten im Hintergrund eine «Person» verborgen ist, die als normal bezeichnet werden muß und die gewissermaßen zusieht. Gelegentlich kann sie auch - meist via Stimmen oder Träume - ganz vernünftige Bemerkungen und Einwände machen, und es kann sogar vorkommen, daß sie z. B. bei physischer Erkrankung wieder in den Vordergrund rückt und den Patienten fast normal erscheinen läßt.

Ich hatte einmal eine alte Schizophrene zu behandeln, an der mir die hintergründige «normale» Person sehr deutlich wurde. Es war ein Fall, der nicht zu heilen, sondern nur zu betreuen war. Wie jeder Arzt hatte auch ich Patienten, die man ohne Hoffnung auf Heilung in den Tod begleit en muß. Die Frau hörte Stimmen, die über den ganzen Körper verteilt waren, und eine Stimme in der Mitte des Thorax war «Gottes Stimme». - «Auf sie müssen wir uns verlassen», sagte ich ihr - und staunte über meinen eigenen Mut. In der Regel machte diese Stimme sehr vernünftige Bemerkungen, und mit ihrer Hilfe kam ich mit der Patientin gut aus. Einmal sagte die Stimme: «Er soll dich abhören über die Bibel!» Sie


brachte eine alte zerlesene Bibel mit, und ich mußte ihr jedesmal ein Kapitel angeben, das sie zu lesen hatte. Das nächste Mal mußte ich sie darüber abhören. Das tat ich etwa sieben Jahre lang, alle vierzehn Tage einmal. Ich kam mir in dieser Rolle allerdings zunächst etwas sonderbar vor, aber nach einiger Zeit wurde mir klar, was die Übung bedeutete: auf diese Weise wurde die Aufmerksamkeit der Patientin wachgehalten, so daß sie nicht tiefer in den zersetzenden Traum des Unbewußten fiel. Das Resultat war, daß sich nach etwa sechs Jahren die früher überall verbreiteten Stimmen ausschließlich und genau auf die linke Körperhälfte zurückgezogen hatten, während die rechte völlig befreit war. Die Intensität des Phänomens auf der linken Seite war nicht etwa verdoppelt, sondern gleich stark wie früher. Man könnte sagen, daß die Patientin wenigstens «halbseitig geheilt» war. Das war ein unerwarteter Erfolg, denn ich hatte mir nicht vorgestellt, daß unsere Bibellektüre therapeutisch wirken könnte.

Durch die Beschäftigung mit den Patienten war mir klar geworden, daß Verfolgungsideen und Halluzinationen einen Sinnkern enthalten. Eine Persönlichkeit steht dahinter, eine Lebensgeschichte, ein Hoffen und ein Wünschen. Es liegt nur an uns, wenn wir den Sinn nicht verstehen. Es wurde mir zum ersten Mal deutlich, daß in der Psychose eine allgemeine Persönlichkeitspsychologie verborgen liegt, daß sich auch hier die alten Menschheitskonflikte wiederfinden. Auch in Patienten, die stumpf und apathisch oder verblödet wirken, geht mehr und Sinnvolleres vor, als es den Anschein hat. Im Grunde genommen entdecken wir im Geisteskranken nichts Neues und Unbekanntes, sondern wir begegnen dem Untergrund unseres eigenen Wesens. Diese Einsicht war für mich damals ein mächtiges Gefühlserlebnis.

Es ist mir immer erstaunlich, wie lange es gebraucht hat, bis die Psychiatrie sich endlich den Inhalten der Psychose zuwandte. Man fragte sich nie, was die Phantasien der Patienten bedeuteten und warum der eine Patient eine ganz andere Phantasie hatte als der andere, warum z. B. der eine glaubte, von Jesuiten verfolgt zu sein, ein anderer, daß die Juden ihn vergiften wollten, oder ein dritter, die Polizei sei hinter ihm her. Man nahm die Inhalte der Phantasien nicht ernst, sondern sprach z. B. ganz allgemein von «Verfolgungsideen». Merkwürdig erscheint es mir auch, daß meine damaligen Untersuchungen heute fast vergessen sind. Ich habe schon zu


Anfang des Jahrhunderts Schizophrenien psychotherapeutisch behandelt. Diese Methode hat man nicht erst heute entdeckt. Aber es brauchte noch sehr viel Zeit, bis man anfing, die Psychologie in die Psychotherapie aufzunehmen.

Als ich noch in der Klinik war, mußte ich meine schizophrenen Patienten sehr diskret behandeln. Ich mußte sehr vorsichtig sein, wollte ich den Vorwurf der Phantasterei vermeiden. Schizophrenie, oder, wie es damals hieß, «Dementia praecox», galt als unheilbar. Wenn sich eine Schizophrenie mit Erfolg behandeln ließ, sagte man einfach, es sei eben keine gewesen.

Als Freud mich 1908 in Zürich besuchte, demonstrierte ich ihm den Fall der Babette. Nachher sagte er zu mir: «Wissen Sie, Jung, was Sie bei dieser Patientin herausgefunden haben, ist ja sicher interessant. Aber wie haben Sie es bloß aushalten können, mit diesem phänomenal häßlichen Frauenzimmer Stunden und Tage zu verbringen?» - Ich muß ihn etwas entgeistert angeschaut haben, denn .dieser Gedanke war mir überhaupt nie gekommen. Mir war sie in einem gewissen Sinne ein freundliches altes Ding, weil sie so schöne Wahnideen hatte und so interessante Sachen sagte. Und schließlich trat auch bei ihr aus einer Wolke von groteskem Unsinn die menschliche Gestalt hervor. Therapeutisch ist bei Babette nichts geschehen, dazu war sie schon zu lange krank. Aber ich habe andere Fälle gesehen, bei welchen diese Art des so rgfältigen Eingehens eine nachhaltige therapeutische Wirkung hatte.

Von außen gesehen, erscheint bei den Geisteskranken nur die tragische Zerstörung, selten aber das Leben jener Seite der Seele, die uns abgewandt ist. Häufig trügt der äußere Anschein, wie ich zu meinem Erstaunen in dem Fall einer jungen katatonen Patientin erfuhr. Sie war achtzehnjährig und stammte aus einer gebildeten Familie. Mit fünfzehn Jahren wurde sie von ihrem Bruder verführt und von Schulkameraden mißbraucht. Vom sechzehnten Jahre an vereinsamte sie. Sie verbarg sich vor den Menschen und hatte schließlich nur noch eine Gefühlsbeziehung zu einem bösen Hofhund, der anderen Leuten gehörte, und den sie umzustimmen versuchte. Sie wurde immer merkwürdiger, und mit siebzehn Jahren kam sie ins Irrenhaus, wo sie anderthalb Jahre zubrachte. Sie hörte Stimmen, verweigerte die Nahrung und war völlig mutazistisch (d. h. sprach nicht mehr). Als ich sie zum ersten Mal sah, befand sie sich in einem typisch katatonen Zustand.

Im Laufe vieler Wochen gelang es mir, sie allmählich zum Sprechen zu bringen. Nach Überwindung heftiger Widerstände erzählte sie mir, daß sie auf dem Mond gelebt hätte. Dieser sei bewohnt, aber zuerst hätte sie nur Männer gesehen. Die hätten sie sofort mit sich genommen und in eine «untermondliche» Behausung gebracht, wo sich ihre Kinder und Frauen aufhielten. Auf den hohen Mondbergen hauste nämlich ein Vampyr, der Weiber und Kinder raubte und tötete, so daß das Mondvolk von Vernichtung bedroht war. Das war der Grund für die «untermondliche» Existenz der weiblichen Bevölkerungshälfte.

Meine Patientin beschloß nun, etwas für das Mondvolk zu tun und nahm sich vor, den Vampyr zu vernichten. Nach langen Vorbereitungen erwartete sie den Vampyr auf der Plattform eines Turmes, der zu diesem Zwecke gebaut worden war. Nach einer Reihe von Nächten sah sie ihn endlich von fern wie einen großen schwarzen Vogel heranschweben. Sie nahm ihr langes Opfermesser, verbarg es in ihrem Gewand und erwartete seine Ankunft. Plötzlich stand er vor ihr. Er hatte mehrere Flügelpaare. Sein Gesicht und seine ganze Gestalt waren von ihnen bedeckt, so daß sie nichts sehen konnte als seine Federn. Sie war verwundert, und Neugier packte sie zu erfahren, wie er aussähe. Sie näherte sich ihm, die Hand am Messer. Da öffneten sich plötzlich die Flügel, und ein überirdisch schöner Mann stand vor ihr. Mit eisernem Griff schloß er sie in seine Flügelarme, so daß sie sich des Messers nicht mehr bedienen konnte. Überdies war sie so gebannt von dem Blick des Vampyrs, daß sie gar nicht mehr imstande gewesen wäre, zuzustoßen. Er hob sie vom Boden auf und flog mit ihr davon.

Nach dieser Revelation konnte sie wieder ungehemmt sprechen, und nun kamen auch ihre Widerstände heraus: ich hätte ihr den Rückweg zum Mond versperrt, sie könne jetzt nicht mehr von der Erde weg. Diese Welt sei nicht schön, aber der Mond sei schön, und dort sei das Leben sinnreich. Etwas später hatte sie einen Rückfall in ihre Katatonie. Eine Zeitlang war sie tobsüchtig.

Als sie nach zwei Monaten entlassen wurde, konnte man wieder mit ihr reden, und allmählich sah sie ein, daß das Leben auf der Erde unvermeidlich war. Verzweifelt sträubte sie sich aber gegen diese Unvermeidlichkeit und ihre Konsequenzen und mußte nochmals in der Anstalt versorgt werden. Einmal besuchte ich sie in ihrer Zelle und sagte zu ihr: «Das nützt Ihnen alles nichts, auf den Mond können Sie nicht zurück!» Das nahm sie schweigend und völlig teilnahmslos auf. Diesmal wurde sie schon nach kürzerer Zeit entlassen und fügte sich resigniert in ihr Schicksal.

Sie nahm eine Stelle als Pflegerin in einem Sanatorium an. Dort war ein Assistenzarzt, der sich ihr etwas unvorsichtig anzunähern versuchte, was sie mit einem Revolverschuß quittierte. Glücklicherweise bewirkte er nur eine leichte Verletzung. Sie hatte sich also einen Revolver verschafft! Schon früher hatte sie einen geladenen Revolver bei sich getragen. In der letzten Stunde, zum Schluß der Behandlung, hatte sie ihn mir mitgebracht. Auf meine erstaunte Frage antwortete sie: «Damit hätte ich Sie niedergeschossen, wenn Sie versagt hätten!»

Als sich die Aufregung wegen des Schusses gelegt hatte, kehrte sie wieder in ihre Heimat zurück. Sie heiratete, hatte mehrere Kinder und überstand zwei Weltkriege im Osten, ohne je wieder einen Rückfall zu erleiden.

Was läßt sich zur Deutung ihrer Phantasien sagen? Durch den Inzest, den sie als junges Mädchen erlitten hatte, fühlte sie sich in den Augen der Welt erniedrigt, im Reiche der Phantasie aber erhöht: sie wurde sozusagen in ein mythisches Reich versetzt; denn der Inzest ist traditionsgemäß eine Prärogative des Königs und der Götter. Dadurch trat aber eine völlige Entfremdung von der Welt ein, der Zustand der Psychose. Sie wurde sozusagen extramundan und verlor den Kontakt mit den Menschen. Sie geriet in kosmische Entfernung, in den Himmelsraum, wo sie dem geflügelten Dämon begegnete. Seine Gestalt übertrug sie in der Behandlung, der Regel entsprechend, auf mich. Damit war ich automatisch mit dem Tod bedroht, wie jeder, der sie zum normalen menschlichen Dasein hätte überreden können. Sie hatte durch ihre Erzählung den Dämon gewissermaßen an mich verraten und sich dadurch an einen irdischen Menschen gebunden. Daher konnte sie ins Leben zurückkehren und sogar heiraten.

Ich selber habe seither das Leiden der Geisteskranken mit anderen Augen angesehen, denn ich wußte nun auch um die bedeutenden Ereignisse ihres inneren Erlebens.

Ich werde oft nach meiner psychotherapeutischen oder analytischen Methode gefragt. Darauf kann ich keine eindeutige Antwort geben. Die Therapie ist bei jedem Fall verschieden. Wenn ein Arzt mir sagt, daß er strikte die eine oder andere «Methode befolge», so bezweifle ich den therapeutischen Effekt. Man spricht in der


Literatur so viel vom Widerstand des Patienten, daß es beinahe aussieht, als wolle man ihm etwas aufnötigen, während das Heilende doch aus ihm natürlich wachsen sollte. - Die Psychotherapie und die Analysen sind so verschieden wie die menschlichen Individuen. Ich behandle jeden Patienten so individuell wie möglich, denn die Lösung des Problems ist stets eine individuelle. Allgemeingültige Regeln lassen sich nur cum grano salis aufstellen. Eine psychologische Wahrheit ist nur dann gültig, wenn man sie auch umkehren kann. Eine Lösung, die für mich nicht in Frage käme, kann für jemand anderen gerade die richtige sein.

Natürlich muß ein Arzt die sogenannten «Methoden» kennen. Aber er muß sich davor hüten, sich auf einen bestimmten routinemäßigen Weg festzulegen. Theoretische Voraussetzungen sind nur mit Vorsicht anzuwenden. Heute sind sie vielleicht gültig, morgen können es andere sein. In meinen Analysen spielen sie keine Rolle. Sehr mit Absicht bin ich nicht systematisch. Für mich gibt es dem Individuum gegenüber nur das individuelle Verstehen. Für jeden Patienten braucht man eine andere Sprache. So kann man mich in einer Analyse auch adlerianisch reden hören oder in einer anderen freudianisch.

Der entscheidende Punkt ist, daß ich als Mensch einem anderen Menschen gegenüberstehe. Die Analyse ist ein Dialog, zu dem zwei Partner gehören. Analytiker und Patient sitzen einander gegenüber - Äug in Auge. Der Arzt hat etwas zu sagen, aber der Patient auch.

Da es in der Psychotherapie nicht darum geht, eine «Methode anzuwenden», genügt das psychiatrische Studium allein nicht. Ich selber hatte noch lange zu arbeiten, bis ich das Rüstzeug für die Psychotherapie besaß. Schon 1909 sah ich ein, daß ich latente Psychosen nicht behandeln kann, wenn ich deren Symbolik nicht verstehe. Damals fing ich an, Mythologie zu studieren.

Bei gebildeten und intelligenten Patienten braucht der Psychiater mehr als ein bloßes Fachwissen. Er muß, frei von allen theoretischen Voraussetzungen, verstehen, was den Patienten in Wirklichkeit bewegt, sonst erregt er überflüssige Widerstände. Es handelt sich ja nicht darum, daß eine Theorie bestätigt wird, sondern daß der Patient sich selber individuell begreift. Dies ist allerdings nicht möglich, ohne Vergleich mit kollektiven Anschauungen, über die der Arzt unterrichtet sein sollte. Hiefür genügt eine bloße medizinische Ausbildung nicht, denn der Horizont der menschlichen


Seele umfaßt unendlich viel mehr als den Gesichtskreis des ärztlichen Konsultationszimmers.

Die Seele ist bedeutend komplizierter und unzugänglicher als der Körper. Sie ist sozusagen die eine Hälfte der Welt, die es nämlich nur insofern gibt, als man sich ihrer bewußt wird. Darum is t die Seele nicht nur ein persönliches, sondern ein Weltproblem, und der Psychiater hat es mit einer ganzen Welt zu tun.

Heute kann man es sehen wie nie zuvor: die Gefahr, die uns allen droht, kommt nicht von der Natur, sondern vom Menschen, von der Seele des Einzelnen und der Vielen. Die psychische Alteration des Menschen ist die Gefahr! Alles hängt davon ab, ob unsere Psyche richtig funktioniert oder nicht. Wenn heutzutage gewisse Leute den Kopf verlieren, dann explodiert eine Wasserstoffbombe!

Der Psychotherapeut muß aber nicht nur den Patienten verstehen; ebenso wichtig ist es, daß er sich selbst versteht. Darum ist die conditio sine qua non der Ausbildung die eigene Analyse, die sogenannte Lehranalyse. Die Therapie des Patienten beginnt sozusagen beim Arzt; nur wenn er es versteht, mit sich und seinen eigenen Problemen umzugehen, kann er das auch dem Patienten beibringen. Aber nur dann. In der Lehranalyse muß der Arzt lernen, seine Seele zu erkennen und ernst zu nehmen. Wenn er das nicht kann, lernt es der Patient auch nicht. Damit verliert er aber ein Stück seiner Seele, so wie auch der Arzt das Stück seiner Seele, das er nicht kennen lernte, verloren hat. Es genügt daher nicht, daß der Arzt sich in der Lehranalyse ein Begriffs System aneignet. Als Ana-lysand muß er realisieren, daß die Analyse ihn selber angeht, daß sie ein Stück wirkliches Leben ist und keine Methode, die man auswendig (in wörtlichem Sinne!) lernen kann. Der Arzt oder Therapeut, der das in seiner Lehranalyse nicht begreift, wird später teuer dafür bezahlen müssen.

Es gibt zwar auch die sogenannte «kleine Psychotherapie», aber in der eigentlichen Analyse ist der ganze Mensch in die Schranken gerufen, Patient und Arzt. Es gibt viele Fälle, die man nicht heilen kann, ohne sich selber dranzugehen. Wenn es an die bedeutenden Dinge geht, ist es entscheidend, ob der Arzt sich selbst als einen Teil des Dramas begreift, oder ob er sich in seine Autorität hüllt. In den großen Krisen des Lebens, in den supremen Augenblicken, wo es sich um Sein oder Nicht-Sein handelt, da helfen die kleinen suggestiven Kunststücke nicht, da ist der Arzt mit seinem ganzen Sein herausgefordert.

Der Therapeut muß sich jederzeit Rechenschaft darüber ablegen, wie er selber auf die Konfrontation mit dem Patienten reagiert. Man reagiert ja nicht nur mit dem Bewußtsein, sondern man muß sich immer auch fragen: wie erlebt mein Unbewußtes die Situation? Man muß also seine Träume zu verstehen suchen, auf das Genaueste aufpassen und sich selber ebenso beobachten wie den Patienten, sonst kann unter Umständen die ganze Behandlung schief gehen. Ich will Ihnen ein Beispiel dafür erzählen.

Ich hatte einmal eine Patientin, eine sehr intelligente Frau, die mir aber aus verschiedenen Gründen etwas zweifelhaft erschien. Zuerst ging die Analyse gut, aber nach einer Weile schien es mir, als ob ich in der Traumdeutung nicht mehr das Richtige träfe, und ich glaubte auch eine Verflachung des Gespräches zu bemerken. So beschloß ich, mit meiner Patientin darüber zu reden, denn ihr war es natürlich auch nicht entgangen, daß etwas nicht richtig funktionierte. In der Nacht vor ihrem nächsten Besuch hatte ich folgenden Traum:

Ich wanderte auf einer Landstraße durch ein Tal im Abendson-nenschein. Rechts war ein steiler Hügel. Oben stand ein Schloß, und auf dem höchsten Turm saß eine Frau auf einer Art Balustrade. Um sie richtig sehen zu können, mußte ich den Kopf weit zurückbeugen. Ich erwachte mit einem Krampfgefühl im Nacken. Noch im Traume hatte ich erkannt, daß die Frau meine Patientin war.

Die Deutung war mir sogleich klar: wenn ich im Traum auf diese Weise zu meiner Patientin hinaufschauen mußte, hatte ich in Wirklichkeit wahrscheinlich auf sie herabgeschaut. Träume sind ja Kompensationen der bewußten Einstellung. Ich teilte ihr den Traum und meine Deutung mit. Das bewirkte eine sofortige Veränderung der Situation, und die Behandlung kam wieder in Fluß.

Als Arzt muß ich mich immer fragen, was mir der Patient für eine Botschaft bringt. Was bedeutet er für mich? Wenn er nichts für mich bedeutet, habe ich keinen Angriffspunkt. Nur wo der Arzt selber getroffen ist, wirkt er. «Nur der Verwundete heilt.» Wo aber der Arzt einen Persona-Panzer hat, wirkt er nicht. Ich nehme meine Patienten ernst. Vielleicht bin ich genauso vor ein Problem gestellt wie sie. Oft passiert es ja, daß der Patient gerade das richtige Pflaster für die schwache Stelle des Arztes ist. Daraus können schwierige Situationen entstehen, auch für den Arzt, oder gerade für ihn.

Jeder Therapeut sollte eine Kontrolle haben durch eine Drittperson, damit er noch einen anderen Gesichtspunkt erhält. Selbst der Papst hat einen Beichtvater. Ich rate den Analytikern immer:


«Habt einen »Beichtvater' oder eine »Beichtmutter'!» Die Frauen sind dafür nämlich sehr begabt. Sie haben oft eine ausgezeichnete Intuition und eine treffende Kritik und können den Männern, und unter Umständen auch deren Anima-Intrigen, wohl in die Karten sehen. Sie sehen Seiten, die der Mann nicht sieht. Darum war noch keine Frau davon überzeugt, daß ihr Mann der Übermensch sei!

Wenn jemand eine Neurose hat, ist es verständlich, daß er eine Analyse durchmacht; wenn er aber «normal» ist, besteht kein Zwang dazu. Aber ich kann Ihnen versichern, mit der sogenannten Normalität habe ich erstaunliche Erfahrungen gemacht: Einmal bin ich nämlich einem ganz «normalen» Schüler begegnet. Er war Arzt und kam zu mir mit den besten Empfehlungen eines alten Kollegen. Er war sein Assistent gewesen und hatte seine Praxis übernommen. Er hatte normalen Erfolg, eine normale Praxis, eine normale Frau, normale Kinder, wohnte in einem normalen kleinen Haus in einer normalen kleinen Stadt, er hatte ein normales Einkommen und wahrscheinlich auch eine normale Ernährung! Er wollte Analytiker werden. Ich sagte ihm: «Wissen Sie, was das heißt ? Das heißt: Sie müssen zuerst sich selber kennenlernen. Das Instrument sind Sie selber. Wenn Sie nicht richtig sind, wie kann dann der Patient richtig werden? Wenn Sie nicht überzeugt sind, wie können Sie ihn überzeugen? Sie selber müssen der wirkliche Stoff sein. Aber wenn Sie es nicht sind, dann helfe Ihnen Gott! Dann werden Sie die Patienten in die Irre führen. Sie müssen also erst einmal die Analyse selber auf sich nehmen.» - Der Mann war einverstanden, sagte mir aber gleich: «Ich habe Ihnen nichts Problematisches zu erzählen!» Das hätte mich warnen sollen. Ich sagte: «Nun gut, dann können wir Ihre Träume betrachten.» Er sagte: «Ich habe keine Träume.» Ich: «Sie werden bald welche haben.» Ein anderer hätte wahrscheinlich schon in der nächsten Nacht geträumt. Er konnte sich aber an keinen Traum erinnern. Das ging so etwa vierzehn Tage lang, und es wurde mir etwas unheimlich.

Endlich kam ein eindrucksvoller Traum. Er träumte, daß er in der Eisenbahn fuhr. Der Zug hatte in einer bestimmten Stadt zwei Stunden Aufenthalt. Da der Träumer diese Stadt nicht kannte


und sie gern kennenlernen wollte, machte er sich auf den Weg ins Stadtzentrum. Dort fand er ein mittelalterliches Haus, wahrscheinlich das Rathaus, und ging hinein. Er wanderte durch lange Korridore und kam in schöne Räume, an deren Wänden alte Bilder und schöne Gobelins hingen. Kostbare alte Gegenstände standen herum. Plötzlich sah er, daß es dunkle r geworden und die Sonne untergegangen war. Er dachte: Ich muß ja zurück zum Bahnhof! -In diesem Augenblick entdeckte er, daß er sich verlaufen hatte und nicht mehr wußte, wo der Ausgang war. Er erschrak und realisierte gleichzeitig, daß er in diesem Haus keinem Menschen begegnet war. Es wurde ihm unheimlich, und er beschleunigte seine Schritte, in der Hoffnung, irgend jemandem zu begegnen. Aber er begegnete niemandem. Dann kam er zu einer großen Tür und dachte erleichtert: Da ist der Ausgang! - Er öffnete die Tür und entdeckte, daß er in einen riesigen Raum geraten war. Er war so dunkel, daß der Träumer nicht einmal die gegenüberliegende Wand deutlich erkennen konnte. Er erschrak zutiefst und rannte durch den leeren weiten Raum, denn er hoffte, die Ausgangstür an der anderen Seite der Halle zu finden. Da sah er - genau in der Mitte des Raumes - etwas Weißes am Boden, und als er näher kam, entdeckte er, daß es ein idiotisches Kind von etwa zwei Jahren war. Das saß auf einem Nachttopf und hatte sich mit Faeces angeschmiert. In diesem Augenblick erwachte er mit einem Schrei und in Panik.

Nun wußte ich genug: das war eine latente Psychose! Ich kann Ihnen sagen, ich schwitzte, als ich versuchte, ihn aus dem Traum herauszuführen. Ich mußte den Traum so harmlos wie möglich darstellen. Auf Details ging ich überhaupt nicht ein.

Was der Traum erzählt, ist ungefähr folgendes: die Reise, mit der er beginnt, ist die Reise nach Zürich. Dort bleibt er aber nur kurze Zeit. Das Kind im Zentrum ist eine Gestalt seiner selbst als ein zweijähriges Kind. Für kleine Kinder sind solch schlechte Manieren zwar etwas ungewöhnlich, aber immerhin möglich. Faeces ziehen ihr Interesse an, denn sie sind farbig und riechen! Wenn ein Kind in der Stadt aufwächst, womöglich noch in einer strengen Familie, kann so etwas leicht einmal vorkommen.

Aber jener Arzt, der Träumer, war kein Kind, er war ein Erwachsener. Und darum ist das Traumbild im Zentrum ein nefastes Symbol. Als er mir den Traum erzählte, wurde mir klar, daß seine Normalität e ine Kompensation war. Ich hatte ihn im letzten Moment erwischt, denn. um ein Haar wäre die latente Psychose aus


gebrochen und manifest geworden. Das mußte verhindert werden. Es ist mir schließlich mit Hilfe eines seiner Träume gelungen, ein plausibles Ende für die Lehranalyse zu finden. Für dieses Ende waren wir beide einander sehr dankbar. Ich hatte ihn von meiner Diagnose nichts wissen lassen, aber er hatte wohl bemerkt, daß eine fatale Panik im Anzug war, als ein Traum ihm mitteilte, daß ein gefährlicher Geisteskranker ihn verfolge. Gleich darauf kehrte der Träumer in seine Heimat zurück. Das Unbewußte hat er nie mehr angerührt. Seine Tendenz zur Normalität entsprach einer Persönlichkeit, die durch die Konfrontation mit dem Unbewußten nicht entwickelt, sondern nur gesprengt worden wäre. Diese latenten Psychosen sind die «betes noires» des Psychotherapeuten, da sie oft sehr schwer zu erkennen sind. In diesen Fällen ist es besonders wichtig, die Träume zu verstehen.

Damit kommen wir auf die Frage der Laienanalyse. Ich setzte mich dafür ein, daß auch Nichtmediziner Psychotherapie studieren und sie ausüben, aber bei den latenten Psychosen können sie leicht daneben greifen. Deshalb befürworte ich, daß Laien als Analytike r arbeiten, aber unter Kontrolle eines Facharztes. Sobald sie im ^geringsten unsicher werden, sollten sie ihn zu Rate ziehen. Schon für Ärzte ist es oft schwer, eine latente Schizophrenie zu erkennen und zu behandeln, umsomehr für Laien. Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht: die Laien, die sich jahrelang mit Psychotherapie befaßt haben und die selber in Analyse waren, wissen etwas und können auch etwas. Dazu kommt, daß es gar nicht genug Ärzte gibt, die Psychotherapie anwenden. Dieser Beruf bedarf einer sehr langen und gründlichen Ausbildung und einer allgemeinen Bildung, die nur die wenigsten haben.

Die Beziehung zwischen Arzt und Patient kann, besonders wenn eine Übertragung des Patienten oder eine mehr oder weniger unbewußte Identifikation von Arzt und Patient hineinspielt, gelegentlich zu Erscheinungen parapsychologischer Natur führen. Dies habe ich öfters erlebt. Besonders eindrücklich ist mir der Fall eines Patienten, den ich aus einer psychogenen Depression herausgeholt hatte. Darauf kehrte er nach Hause zurück und heiratete, aber die Frau gefiel mir nicht. Als ich sie zum ersten Mal sah, hatte ich ein unheimliches Gefühl. Ich merkte, daß ich ihr, wegen meines Einflusses auf ihren Mann, der mir dankbar war, ein Dorn im Auge war. Es ko mmt häufig vor, daß Frauen, die den Mann


nicht wirklich lieben, eifersüchtig sind und seine Freundschaften zerstören. Sie wollen, daß er ihnen ganz gehört, weil nämlich sie selber ihm nicht gehören. Der Kern jeder Eifersucht is t ein Mangel an Liebe.

Die Einstellung der Frau bedeutete für den Patienten eine ungewohnte Belastung, welcher er nicht gewachsen war. Ein Jahr nach der Hochzeit geriet er unter diesem Druck wieder in eine Depression. Ich hatte mit ihm abgemacht - in Voraussicht dieser Möglichkeit - daß er sich sofort melde, wenn er ein Absinken seiner Stimmung bemerke. Das hat er aber unterlassen, nicht ohne das Zutun seiner Frau, welche seine Verstimmung bagatellisierte. Er ließ nichts von sich hören.

Zu jener Zeit mu ßte ich einen Vortrag in B. halten. Etwa um Mittemacht kam ich ins Hotel - ich hatte nach dem Vortrag noch mit ein paar Freunden zusammengesessen - und ging sogleich zu

Bett. Ich lag aber noch lange wach. Etwa gegen zwei Uhr - ich muß gerade eingeschlafen sein - erwachte ich mit Schrecken und war überzeugt, daß jemand in mein Zimmer gekommen sei; es war

mir auch, als ob die Türe hastig geöffnet worden wäre. Ich machte sofort Licht, aber da war nichts. Ich dachte, jemand hätte sich in der Tür geirrt und schaute in den Korridor, doch da war Totenstille. «Merkwürdig», dachte ich, «es ist doch jemand ins Zimmer gekommen!» Dann versuchte ich mich zurückzuerinnern, und es fiel mir ein, daß ich an einem dumpfen Schmerz erwacht war, wie wenn etwas an meine Stirn geprallt und dann an der hinteren Schädelwand angestoßen wäre. - Am anderen Tag erhielt ich ein Telegramm, daß jener Patient Suizid begangen hätte. Er hatte sich erschossen. Später erfuhr ich, daß die Kugel an der hinteren Schädelwand steckengeblieben war.

Bei diesem Erlebnis handelte es sich um ein echtes synchronistisches Phänomen, wie es nicht selten im Zusammenhang mit einer archetypischen Situation - hier dem Tod - beobachtet wird. Durch die Relativierung von Zeit und Raum im Unbewußten ist es möglich, daß ich etwas wahrgenommen hatte, was sich in Wirklichkeit ganz woanders abspielte. Das kollektive Unbewußte ist allen gemeinsam, es ist das Fundament dessen, was das Altertum als «Sympathie aller Dinge» bezeichnet hat. In diesem Fall hat mein Unbewußtes um den Zustand meines Patienten gewußt. Ich hatte mich schon den ganzen Abend merkwürdig unruhig und nervös gefühlt, sehr im Gegensatz zu meiner gewohnten Stimmung.

Ich versuche nie, einen Patienten zu etwas zu bekehren, und übe keinen Zwang aus. Es liegt mir alles daran, daß der Patient zu seiner eigenen Auffassung kommt. Ein Heide wird bei mir ein Heide und ein Christ ein Christ, ein Jude ein Jude, wenn es seinem Schicksal entspricht.

Ich erinnere mich gut an den Fall einer Jüdin, die ihren Glauben verloren hatte. Es begann mit einem Traum von mir, in welchem ein junges, mir unbekanntes Mädchen als Patientin zu mir kam. Sie trug mir ihren Fall vor, und während sie erzählte, dachte ich: Ich verstehe sie ja gar nicht. Ich verstehe nicht, um was es geht! Aber plötzlich fiel mir ein, daß sie einen ungewöhnlichen Vaterkomplex habe. - Das war der Traum.

Am nächsten Tag stand in meiner Agenda: Konsultation, vier Uhr. Ein junges Mädchen erschien. Eine Jüdin, Tochter eines reichen Bankiers, hübsch, elegant und sehr intelligent. Sie hatte bereits eine Analyse durchgemacht, aber der Arzt bekam eine Übertragung auf sie und flehte sie schließlich an, nicht mehr zu ihm zu kommen, sonst zerstöre sie seine Ehe.

Das Mädchen litt seit Jahren an einer schweren Angstneurose, die sich nach diesen Erfahrungen natürlich noch verschlimmerte. Ich begann mit der Anamnese, konnte aber nichts Besonderes entdecken. Sie war eine angepaßte westliche Jüdin, aufgeklärt bis in die Knochen. Zuerst konnte ich ihren Fall nicht verstehen. Plötzlich fiel mir mein Traum ein, und ich dachte: Herrgott, das ist ja diese kleine Person! Da ich aber keine Spur von einem Vaterkomplex bei ihr feststellen konnte, fragte ich sie, wie ich das in solchen Fällen zu tun pflege, nach dem Großvater. Da sah ich, wie sie einen kurzen Augenblick lang die Augen schloß und wußte sofort: hier liegt es! Ich bat sie also, mir von diesem Großvater zu erzählen und erfuhr, er sei ein Rabbi gewesen und hätte einer jüdischen Sekte angehört. Ich fragte: «Meinen Sie die Chassidim?» -Sie bejahte. - Ich fragte weiter: «Wenn er ein Rabbi war, war er vielleicht sogar ein Zaddik?» - Sie: «Ja, man sagt, er sei eine Art Heiliger gewesen und habe auch das zweite Gesicht besessen. Aber das ist alles Blödsinn! So etwas gibt es ja gar nicht!»

Damit hatte ich die Anamnese abgeschlossen und verstand die Geschichte ihrer Neurose, die ich ihr erklärte: «Jetzt werde ich Ihnen etwas sagen, was Sie vielleicht nicht akzeptieren können:


Ihr Großv ater war ein Zaddik. Ihr Vater ist dem jüdischen Glauben abtrünnig geworden. Er hat das Geheimnis verraten


und hat Gott vergessen. Und Sie haben Ihre Neurose, weil Sie an der Furcht Gottes leiden!» - Das schlug in sie ein wie ein Blitz!

In der folgenden Nacht hatte ich wieder einen Traum: Es fand ein Empfang in meinem Hause statt, und siehe da, diese kleine Person war auch da. Sie kam auf mich zu und fragte mich: «Haben Sie nicht einen Regenschirm? Es regnet so stark.» Ich fand auch wirklich einen Schirm, fummelte daran herum, um ihn zu öffnen, und wollte ihn ihr geben. Aber was geschah stattdessen? Ich überreichte ihn ihr auf den Knien, wie einer Gottheit!

Diesen Traum erzählte ich ihr, und in acht Tagen war die Neurose verschwunden3. Der Traum hatte mir gezeigt, daß sie nicht nur eine oberflächliche Person war, sondern daß dahinter eine Heilige stand. Aber sie hatte keine mythologischen Vorstellungen, und darum fand das Wesentliche in ihr keinen Ausdruck. Alle ihre Intentionen gingen auf Flirt, Kleider und Sexualität, weil sie gar nichts anderes wußte. Sie kannte nur den Intellekt und lebte ein sinnloses Leben. In Wirklichkeit war sie ein Kind Gottes, das Seinen geheimen Willen hätte erfüllen sollen. Ich mußte mythologische und religiöse Vorstellungen in ihr wachrufen, denn sie gehörte zu den Menschen, von denen geistige Betätigung gefordert ist. Dadurch erhielt ihr Leben Sinn, und von Neurose keine Spur mehr!

Bei diesem Falle wandte ich keine «Methode» an, sondern ich hatte die Präsenz des Numen gesehen. Das erklärte ich der Patientin, und das hat die Heilung bewirkt. Hier gab es keine Methode, hier galt die Furcht Gottes. Ich habe oft gesehen, daß Menschen neurotisch werden, wenn sie sich mit ungenügenden oder falschen Antworten auf die Fra


gen des Lebens begnügen. Sie suchen Stellung, Ehe, Reputation und äußeren Erfolg und Geld und bleiben unglücklich und neurotisch, auch wenn sie erlangt haben, was sie suchten. Solche Menschen stecken meist in einer zu großen geistigen Enge. Ihr Leben hat keinen genügenden Inhalt, keinen Sinn. Wenn sie sich zu einer umfassenderen Persönlichkeit entwickeln können, hört meist auch die Neurose auf. Darum war für mich von Anfang an der Entwicklungsgedanke von höchster Bedeutung.

3 Der Fall unterscheidet sich von den meisten anderen Fällen dieser Art durch die Kürze der Behandlungsdauer. A. J.

Der Großteil meiner Patienten bestand nicht aus gläubigen Menschen, sondern aus solchen, die ihren Glauben verloren hatten. Zu mir kamen die «verlorenen Schafe». Der gläubige Mensch hat auch heute Gelegenheit, in der Kirche die Symbole zu leben. Man denke an das Erlebnis der Messe, der Taufe, an die Imitatio Christi und vieles andere. Aber ein solches Leben und Erleben des Symbols setzt die lebendige Anteilnahme des Gläubigen voraus, und die fehlt dem heutigen Menschen sehr oft. Beim neurotischen Menschen fehlt sie meistens. In solchen Fällen sind wir darauf angewiesen zu beobachten, ob nicht das Unbewußte spontan Symbole heraufbringt, welche das Fehlende ersetzen. Dann bleibt aber immer noch die Frage offen, ob ein Mensch, der entsprechende Träume oder Visionen hat, imstande sei, ihren Sinn zu verstehen und die Konsequenzen auf sich zu nehmen.

Ich habe einen solchen Fall in «Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten»4 beschrieben. Ein Theologe hatte einen Traum, der sich öfters wiederholte. Er träumt, er stehe an einem Abhang, von wo aus er eine schöne Aussicht auf ein tiefes Tal mit dichten Wäldern hat. Er weiß, daß ihn bisher immer etwas davon abgehalten hatte, dorthin zu gehen. Dieses Mal aber will er seinen Plan durchführen. Wie er sich dem See nähert, wird es unheimlich, und plötzlich huscht ein leiser Windstoß über die Fläche des Wassers, das sich dunkel kräuselt. Er erwacht mit einem Angstschrei.

Der Traum erscheint zunächst unverständlich; aber als Theologe hätte sich der Träumer eigentlich an den «Teich» erinnern sollen, dessen Wasser von einem plötzlichen Wind bewegt wurde, und in den man die Kranken tauchte den Teich Bethesda. Ein Engel kommt hernieder und berührt das Wasser, welches dadurch Heilkraft erlangt. Der leise Wind ist das Pneuma, das weht, wo es will. Und das macht dem Träumer Höllenangst. Es wird eine unsichtbare Präsenz angedeutet, ein Numen, das aus sich lebt, und vor welchem den Menschen ein Schauer überfällt. Den Einfall vom Teich Bethesda gab der Träumer sich nur unwillig zu. Er wollte ihn nicht haben, denn dergleichen Dinge kommen nur in der Bibel und allenfalls noch am Sonntagvormittag m der Predigt vor. Mit Psychologie haben sie gar nichts zu tun. Vom Hl. Geist vollends spricht man nur bei feierlichen Gelegenheiten, aber er ist beileibe kein Phänomen der Erfahrung.

4 «Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten», 1935, in Ges. Werke IX/1, 1976.

Ich weiß, daß der Träumer den Schrecken hätte überwinden und sozusagen hinter seine Panik gelangen sollen. Aber ich insistiere nie, wenn jemand nicht gewillt ist, den eigenen Weg zu gehen und die Verantwortung mit zu übernehmen. Ich bin nicht bereit zu der billigen Annahme, daß es sich um «nichts als» gewöhnliche Widerstände handle. Widerstände - namentlich wenn sie hartnäckig sind ^•verdienen Beachtung, weil sie oft soviel wie Warnungen bedeu-ten, die nicht übersehen sein wollen. Das Heilende kann ein Gilt sein, das nicht jedermann erträgt, oder eine Operation, die tödlich wirkt, wenn sie kontraindiziert ist.

Wenn es um das innere Erleben geht, um das Allerpersönlichste, dann wird es den meisten Menschen unheimlich, und viele laufen davon. So auch dieser Theologe. Ich bin mir natürlich bewußt, daß die Theologen in einer schwierigeren Lage sind als andere. Einerseits sind sie dem Religiösen näher, andererseits aber auch enger gebunden durch die Kirche und das Dogma. Das Risiko des Innern Erlebens, das geistige Abenteuer, ist den meisten Menschen fremd. Die Möglichkeit, daß es psychische Wirklichkeit sein könnte, ist Anathema. Es muß «übernatürlich» oder wenigstens «historisch» begründet sein, aber psychisch? Angesichts dieser Frage bricht oft plötzlich eine ebenso ungeahnte wie profunde Verachtung der Seele durch.

In der heutigen Psychotherapie wird oft gefordert, daß der Arzt oder Psychotherapeut mit dem Patienten und dessen Affekten sozusagen «mitzugehen» habe. Ich halte das nicht immer für das Richtige. Manchmal bedarf es auch des aktiven Eingriffes von sei-ten des Arztes.

Einmal kam eine Dame aus dem Hochadel zu mir, die ihre Angestellten inclusive ihre Ärzte - zu ohrfeigen pflegte. Sie litt an einer Zwangsneurose und war zur Behandlung in einer Klinik gewesen. Natürlich hatte sie dem Chefarzt bald die obligate Ohrfeige verabreicht. In ihren Augen war er ja auch nur ein besserer valet de chambre. Sie zahlte ja! Er schickte sie dann zu einem anderen Arzt, und dort passierte wieder das gleiche. Da die Dame nicht eigentlich verrückt, wohl aber mit Handschuhen zu behandeln war, geriet er in einige Verlegenheit und schickte sie zu mir.

Sie war eine sehr stattliche Persönlichkeit, sechs Fuß hoch - die konnte hauen, sage ich Ihnen! Sie erschien also, und wir haben uns sehr gut unterhalten. Dann kam der Augenblick, wo ich ihr


etwas Unangenehmes sagen mußte. Wütend sprang sie auf und drohte, mich zu schlagen. Ich war auch aufgesprungen und sagte zu ihr: «Gut, Sie sind die Dame, Sie hauen zuerst - Ladies first! Aber dann haue ich!» - und meinte es auch. Sie fiel in ihren Stuhl zurück und sank direkt zusammen. «Das hat mir noch niemand gesagt», klagte sie. Aber von diesem Augenblick an wurde die Therapie erfolgreich.

Was diese Patientin brauchte, war die männliche Reaktion. In diesem Falle wäre es ganz falsch gewesen, «mitzugehen». Das hätte ihr gar nichts genützt. Sie hatte eine Zwangsneurose, weil sie sich moralisch nicht selber beschränken konnte. Solche Leute werden von der Natur beschränkt - eben durch die Zwangssymptome.

Ich habe vor Jahren einmal eine Statistik angefertigt über die Resultate meiner Behandlungen. Genau weiß ich die Zahlen nicht mehr, aber vorsichtig gesagt waren ein Drittel wirklich geheilt, ein Drittel weitgehend gebessert und ein Drittel nicht wesentlich beeinflußt. Aber gerade die nicht gebesserten Fälle sind schwer zu beurteilen, weil manches erst nach Jahren realisiert und verstanden wird und auch dann erst wirken kann. Wie oft ist es mir passiert, daß ehemalige Patienten mir schrieben: «Ich habe erst zehn Jahre, nachdem ich bei Ihnen gewesen bin, realisiert, was eigentlich gewesen ist.»

Ich habe wenige Fälle gehabt, die mir davongelaufen sind, ganz selten mußte ich einen Patienten fortschicken. Aber auch darunter gab es einige, die mir später positive Berichte schickten. Darum ist die Beurteilung des Erfolges einer Behandlung oft schwierig.

Im Leben eines Arztes ist es eine Selbstverständlichkeit, daß ihm in seiner praktischen Tätigkeit Menschen begegnen, die auch für ihn selber von Bedeutung sind. Er begegnet Persönlichkeiten, welche zu ihrem Glück oder Unglück nie das Interesse der Öffentlichkeit erregt und trotzdem oder gerade deshalb ein ungewöhnliches Ausmaß besitzen, oder Entwicklungen und Katastrophen durchlaufen haben, die ihresgleichen suchen. Manchmal sind es außergewöhnliche Begabungen, für die ein anderer in unerschöpflichem Enthusiasmus sein ganzes Leben opfern könnte, die aber in eine so seltsam ungünstige psychische Disposition eingepflanzt sind, daß man nicht weiß, ob man es mit einem Genie oder einer fragmentarischen Entwicklung zu tun hat. Nicht selten auch blühen


unter unwahrscheinlichen Umständen Reichtümer der Seele, welchen im sozialen Flachland zu begegnen man nie vermutet hätte. Der für die psychotherapeutische Wirkung notwendige Rapport erlaubt es dem Arzt nicht, sich den großen Eindrücken von den Höhen und Tiefen des leidenden Menschen zu entziehen. Der Rapport besteht ja in beständiger Vergleichung und Angleichung, in der dialektischen Auseinandersetzung der einander gegenübergesetzten psychischen Tatsächlichkeiten. Wirken diese Eindrücke aus irgendwelchem Grunde beim einen oder anderen nicht, so bleibt auch der psychotherapeutische Prozeß wirkungslos, und es kommt zu keiner Wandlung. Wird nicht der eine dem anderen zum Problem, so wird auch keine Antwort gefunden.

Unter den sogenannten neurotischen Patienten unserer Tage gibt es nicht wenige, die in früheren Zeiten nicht neurotisch, d. h. entzweit mit sich selber, geworden wären. Hätten sie in einer Zeit und in einem Milieu gelebt, wo der Mensch noch durch den Mythus mit der Ahnenwelt und dadurch mit der erlebten und nicht bloß von außen gesehenen Natur verbunden war, so wäre ihnen das Uneinswerden mit sich selber erspart geblieben. Es handelt sich um Menschen, die den Verlust des Mythus nicht ertragen und weder den Weg zu einer nur äußeren Welt, d. h. zum Weltbild der Naturwissenschaft, finden, noch sich am intellektuellen Phantasiespiel mit Wörtern, das mit Weisheit nicht das Geringste zu tun hat, sättigen können.

Diese Opfer der seelischen Spaltung unserer Zeit sind bloße «Fakultativneurotiker», von denen das anscheinend Krankhafte in dem Moment abfällt, wo die Lücke, die zwischen dem Ich und dem Unbewußten klafft, geschlossen wird. Wer diese Spaltung selber zutiefst erfahren hat, ist auch am ehesten in der Lage, sich ein besseres Verständnis der unbewußten seelischen Vo rgänge zu erwerben und jene typische, dem Psychologen drohende Gefahr der Inflation zu vermeiden. Wer die numinose Wirkung der Archetypen nicht aus eigener Erfahrung kennt, der wird kaum dieser negativen Wirkung entgehen, wenn er in praxi mit ihr konfrontiert ist. Er wird überschätzen oder unterschätzen, da er nur einen intellektuellen Begriff, nicht aber ein empirisches Maß besitzt. Hier beginnen - nicht nur für den Arzt - die bedenklichen Abwege, deren erster der intellektuelle Bemächtigungsversuch ist. Er dient dem heimlichen Zwecke, sich selber der archetypischen Wirkung und damit der wirklichen Erfahrung zu entziehen zugunsten einer anscheinend gesicherten künstlichen, aber bloß zweidimensionalen Begriffswelt, welche mit sogenannten klaren Begriffen die Wirklichkeit des Lebens zudecken möchte. Die Verschiebung ins Begriffliche nimmt der Erfahrung die Substanz und verleiht sie dem bloßen Namen, der nunmehr an die Stelle der Wirklichkeit gesetzt wird. Einem Begriff ist niemand verpflichtet, und das ist eben die gesuchte Annehmlichkeit, die Schutz vor der Erfahrung verspricht. Der Geist aber lebt nicht in Begriffen, sondern in Taten und Tatsachen. Mit bloßen Wörtern lockt man keinen Hund vom Ofen, trotzdem wiederholt man diese Prozedur ins Endlose.

Zu den schwierigsten und undankbarsten Patienten gehören daher, nach meiner Erfahrung, neben den habituellen Lügnern die sogenannten Intellektuellen; denn bei ihnen weiß die eine Hand n ie, was die andere tut. Sie kultivieren eine Psychologie ä comparti-ments. Mit einem durch kein Gefühl kontrollierten Intellekt läßt sich alles erledigen - und dennoch hat man eine Neurose.

Aus der Begegnung mit meinen Analysanden und der Auseinandersetzung mit dem seelischen Phänomen, das sie und meine Patienten mir in einer unerschöpflichen Abfolge von Bildern darstellten, habe ich unendlich viel gelernt, nicht etwa bloß Wissenschaft, sondern vor allem Einsicht ins eigene Wesen - und nicht zum wenigsten aus Irrtümern und Niederlagen. Ich hatte hauptsächlich weibliche Analysanden, die öfters außerordentlich gewis senhaft, verständnisvoll und intelligent auf die Arbeit eingingen. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, daß ich in der Therapie neue Wege gehen konnte.

Einige Analysanden sind zu meinen Schülern im eigentlichen Sinn geworden, die meine Gedanken in die Welt getragen haben. Unter ihnen habe ich Menschen gefunden, deren Freundschaft sich durch die Jahrzehnte bewährt hat.

Meine Patienten und Analysanden haben mir die Wirklichkeit des menschlichen Lebens so nahe gebracht, daß ich nicht umhin konnte. Wesentliches darüber in Erfahrung zu bringen. Das Zusammentreffen mit Menschen der verschiedensten Art und von verschiedenstem psychologischem Niveau war für mich von unvergleichlich höherer Bedeutung als ein abgerissenes Gespräch mit einer Zelebrität. Die schönsten und folgenreichsten Gespräche meines Lebens sind anonym.

Sigmund Freud'

Das Abenteuer meiner geistigen Entwicklung hatte damit begonnen, daß ich Psychiater wurde. In ahnungsloser Weise fing ich an, geisteskranke Patienten klinisch, von außen her, zu beobachten. Dabei stieß ich auf psychische Vorgänge auffallender Natur, die ich registrierte und klassifizierte, ohne das geringste Verständnis für ihre Inhalte, die als «pathologisch» genügend bewertet erschienen. Im Laufe der Zeit konzentrierte sich mein Interesse immer mehr auf solche Kranke, an denen ich etwas Verstehbares erlebte, d. h. auf paranoide Fälle, manis ch-depressives Irresein und psychogene Störungen. Von Anfang meiner psychiatrischen Laufbahn an gewährten mir die Breuer-Freudschen Studien neben den Arbeiten Pierre Janets reiche Anregung. Vor allem waren mir die Freudschen Ansätze zu einer Methode der Traumanalyse und Trauminterpretation hilfreich für das Verständnis schizophrener Ausdrucksformen. Bereits 1900 hatte ich Freuds «Traumdeutung» gelesen1. Ich hatte das Buch wieder weggelegt, weil ich es noch nicht begriff. Mit fünfundzwanzig Jahren fehlten mir die Erfahrungen, um die Theorien Freuds nachzuprüfen. Das kam erst später. 1903 nahm ich die «Traumdeutung» noch einmal vor und entdeckte den Zusammenhang mit meinen eigenen Ideen. Was mich an dieser Schrift vor allem interessierte, war die Anwendung des aus der Neurosenpsychologie stammenden Begriffes «Verdrängungsmechanismus» auf das Gebiet des Traumes. Dies war mir wichtig, weil mir Verdrängungen bei meinen Wortassoziationsexperimenten häufig entge


1 Das Kapitel kann nur als Ergänzung der zahlreichen Schriften C. G. Jungs über

Sigmund Freud und sein Werk aufgefaßt werden. Die meisten in Ges. Werke IV, 1969. Vgl. auch «Sigmund Freud als Kulturhistorische Erscheinung», 1932, und «Sigmund Freud: Ein Nachruf», 1939, in Ges. Werke XV, 1971.

2 In seinem Nachruf auf Freud (Basler Nachrichten, l. Oktober 1939; in Ges. Werke XV, 1971) bezeichnete Jung dieses Werk als «epochemachend» und «wohl den kühnsten Versuch, der je gemacht wurde, auf dem scheinbar festen Boden der Empirie die Rätsel der unbewußten Psyche zu meistern . . . Für uns damals junge Psychiater war es eine Quelle der Erleuchtung, während es für unsere älteren Kollegen ein Gegenstand des Spottes war.»

gengetreten waren: auf gewisse Reizworte wußten die Patienten entweder keine assoziative Antwort, oder sie gaben sie mit erheblich verlängerter Reaktionszeit. Wie sich nachträglich herausstellte, trat eine solche Störung jedesmal dann auf, wenn das Reizwort einen seelischen Schmerz oder Konflikt berührt hatte. Das war aber den Patienten meist unbewußt, und auf meine Fragen nach der Ursache der Störung antworteten sie oft auf eine merkwürdig gekün -stelte Art und Weise. Die Lektüre von Freuds «Traumdeutung» zeigte mir, daß hier der Verdrängungsmechanismus am Werke war, und daß die von mir beobachteten Tatsachen mit seiner Theorie übereinstimmten. Ich konnte seine Ausführungen nur bestätigen.

Anders stand es in bezug auf den Inhalt der Verdrängung. Darin konnte ich Freud nicht recht geben. Er sah als Ursache der Verdrängung das sexuelle Trauma an, und das genügte mir nicht. Aus meiner Praxis kannte ich zahlreiche Fälle von Neurosen, bei denen die Sexualität nur eine untergeordnete Rolle spielte und andere Faktoren im Vordergrund standen, z. B. das Problem der sozialen Anpassung, der Unterdrückung durch tragische Lebensumstände, der Prestige-Ansprüche usw. Später habe ich Freud solche Fälle vorgelegt; aber andere Faktoren als Sexualität ließ er als Ursache nicht gelten. Das war für mich sehr unbefriedigend.

Am Anfang ist es mir nicht leicht gefallen, Freud den richtigen Platz in meinem Leben zu geben, oder mich richtig zu ihm einzustellen. Als ich mit seinem Werk bekannt wurde, lag eine akademische Laufbahn vor mir, und ich stand vor dem Abschluß einer Arbeit, die mich an der Universität vorwärts bringen sollte. Freud war aber in der akademischen Welt jener Zeit ausgesprochen persona non grata, und die Beziehung zu ihm war daher jedem wissenschaftlichen Ruf abträglich. Die «wichtigen Leute» erwähnten ihn höchstens verstohlen, und bei den Kongressen wurde er nur in den Couloirs diskutiert, niemals im Plenum. So war es mir keineswegs angenehm, daß ich die Übereinstimmung meiner Assoziationsversuche mit Freuds Theorien feststellen mußte.

Einmal war ich in meinem Laboratorium mit diesen Fragen beschäftigt, als mir der Teufel einflüsterte, ich sei berechtigt, die Ergebnisse meiner Experimente und meine Schlußfolgerungen zu publizieren, ohne Freud zu erwähnen. Ich hatte ja meine Versuche ausgearbeitet, lange ehe ich etwas von ihm verstand. Aber da hörte ich die Stimme meiner zweiten Persönlichkeit: «Wenn du derglei


chen tust, als ob du Freud nicht kenntest, so ist das ein Betrug. Man kann sein Leben nicht auf eine Lüge stellen.» - Damit war der Fall erledigt. Von da an nahm ich offen für Freud Partei und kämpfte für ihn.

Die ersten Lanzen brach ich für ihn, als auf einem Kongreß in München über Zwangsneurosen referiert, sein Name aber geflissentlich verschwiegen wurde. 1906 schrieb ich im Anschluß daran einen Aufsatz für die «Münchner Medizinische Wochenschrift» über die Freudsche Neurosenlehre, die so Wesentliches zum Verständnis der Zwangsneurosen beigetragen hatte'. Auf diesen Artikel hin schrieben mir zwei deutsche Professoren Warnungsbriefe: wenn ich auf der Seite Freuds bliebe und fortführe, ihn zu verteidigen, sei meine akademische Zukunft gefährdet. Ich antwortete:


«Wenn das, was Freud sagt, die Wahrheit ist, dann bin ich dabei. Ich pfeife auf eine Karriere, wenn sie voraussetze daß man die Forschung beschneidet und die Wahrheit verschweigt» Und ich fuhr fort, für Freud und seine Gedanken einzutreten. Nur vermochte ich auf Grund eigener Erfahrungen immer noch nicht zuzugeben, daß alle Neurosen durch sexuelle Verdrängung oder sexuelle Traumata verursacht seien. Für gewisse Fälle traf das zu, für andere aber nicht. Immerhin hatte Freud einen neuen Forschungsweg aufgetan, und die damalige Empörung gegen ihn schien mir absurd. *

Ich hatte nicht viel Verständnis für die in «Die Psychologie der Dementia praecox» ausgedrückten Ideen gefunden, und meine Kollegen lachten mich aus. Aber durch diese Arbeit kam ich zu Freud. Er lud mich zu sich ein, und im Februar 1907 fand unsere erste Begegnung in Wien statt. Wir trafen uns um ein Uhr mittags, und dreizehn Stunden lang sprachen wir sozusagen pausenlos. Freud war der erste wirklich bedeutende Mann, dem ich begegnete. Kein anderer Mensch in meiner damaligen Erfahrung konnte sich mit ihm messen. In seiner Einstellung gab es nichts Triviales.

8 «Die Hysterielehre Freuds, eine Erwiderung auf die Aschaffenburg-sche Kritik», Ges. Werke, IV, 1969.


4 Nachdem Jung (1906) seine Arbeit über die «Diagnostischen Assoziationsstudien» Freud zugesandt hatte, setzte die Korrespondenz zwischen den beiden Forschern ein. Der Briefwechsel wurde bis zum Jahre 1913 weitergeführt. 1907 hatte Jung auch seine Schrift «Die Psychologie der Dementia praecox» an Freud gesandt. A. J.

Ich fand ihn außerordentlich intelligent, scharfsinnig und in jeder Beziehung bemerkenswert. Und doch blieben meine ersten Eindrücke von ihm unklar, zum Teil auch unverstanden.

Was er mir über seine Sexualtheorie sagte, machte mir Eindruck. Trotzdem konnten seine Worte meine Bedenken und Zweifel nicht beheben. Ich brachte sie mehr als einmal vor, aber jedesmal hielt er mir meinen Mangel an Erfahrung entgegen. Freud hatte recht: damals besaß ich noch nicht genügend Erfahrung, um meine Einwände zu begründen. Ich sah, daß seine Sexualtheorie ungeheuer bedeutsam für ihn war, im persönlichen wie im philosophischen Sinne. Das beeindruckte mich, aber ich konnte mir nicht darüber klar werden, inwieweit diese positive Bewertung mit subjektiven Voraussetzungen bei ihm zusammenhing und inwieweit mit beweiskräftigen Erfahrungen.

Vor allem schien mir Freuds Einstellung zum Geist in hohem Maße fragwürdig. Wo immer bei einem Menschen oder in einem Kunstwerk der Ausdruck einer Geistigkeit zutage trat, verdächtigte er sie und ließ «verdrängte Sexualität» durchblicken. Was sich nicht unmittelbar als Sexualität deuten ließ, bezeichnete er als «Psychosexualität». Ich wandte ein, daß seine Hypothese, logisch zu Ende gedacht, zu einem vernichtenden Urteil über die Kultur führe. Kultur erschiene als bloße Farce, als morbides Ergebnis verdrängter Sexualität. «Ja», bestätigte er, «so ist es. Das ist ein Schicksalsfluch, gegen den wir machtlos sind.» Ich war keineswegs bereit, ihm recht zu geben oder es dabei bewenden zu lassen. Doch fühlte ich mich einer Diskussion noch nicht gewachsen.

Noch etwas anderes wurde mir bei der ersten Begegnung bedeutsam. Es betrifft Dinge, die ich jedoch erst nach dem Ende unserer Freundschaft ganz durchdenken und verstehen konnte. Es war unverkennbar, daß die Sexualtheorie Freud in ungewöhnlichem Maße am Herzen lag. Wenn er davon sprach, wurde sein Ton dringlich, fast ängstlich, und von seiner kritischen und skeptischen Art war nichts mehr zu bemerken. Ein seltsam bewegter Ausdruck, dessen Ursache ich mir nicht erklären konnte, belebte dabei sein Gesicht. Das machte mir einen starken Eindruck: die Sexualität bedeutete ihm ein Numinosum. Mein Eindruck wurde bestätigt durch ein Gespräch, das etwa drei Jahre später (1910) wiederum in Wien stattfand.

Ich erinnere mich noch lebhaft, wie Freud zu mir sagte: «Mein lieber Jung, versprechen Sie mir, nie die Sexualtheorie aufzugeben.


Das ist das Allerwesentlichste. Sehen Sie, wir müssen daraus ein Dogma machen, ein unerschütterliches Bollwerk.» Das sagte er zu mir voll Leidenschaft und in einem Ton, als sagte ein Vater:


«Und versprich mir eines, mein lieber Sohn: geh jeden Sonntag in die Kirche!» Etwas erstaunt fragte ich ihn: «Ein Bollwerk -wogegen?» Worauf er antwortete: «Gegen die schwarze Schlammflut-» hier zög erte er einen Moment, um beizufügen: «des Okkul-tismus.» Zunächst war es das «Bollwerk» und das «Dogma», was mich erschreckte; denn ein Dogma, d. h. ein indiskutables Bekenntnis, stellt man ja nur dort auf, wo man Zweifel ein für alle Mal unterdrücken will. Das hat aber mit wissenschaftlichem Urteil nichts mehr zu tun, sondern nur noch mit persönlichem Machttrieb.

Es war ein Stoß, der ins Lebensmark unserer Freundschaft traf. Ich wußte, daß ich mich damit nie würde abfinden können. Was Freud unter «Okkult ismus» zu verstehen schien, war so ziemlich alles, was Philosophie und Religion, einschließlich der in jenen Tagen aufgekommenen Parapsychologie über die Seele auszusagen wußten. Für mich war die Sexualtheorie genau so «okkult», d. h. unbewiesene, bloß mög liche Hypothese, wie viele andere spekulative Auffassungen. Eine wissenschaftliche Wahrheit war für mich eine für den Augenblick befriedigende Hypothese, aber kein Glaubensartikel für alle Zeiten.

Ohne dies damals richtig zu verstehen, hatte ich einen Einbruch unbewußter religiöser Faktoren bei Freud beobachtet. Offenbar wollte er mich zu einer gemeinsamen Verteidigung gegen bedrohliche unbewußte Inhalte anwerben.

Der Eindruck dieses Gesprächs trug zu meiner Konfusion bei; denn ich hatte bis dahin der Sexualität nicht die Bedeutung einer schwankenden Angelegenheit beigemessen, der man die Treue wahren muß, weil sie in Verlust geraten könnte. Für Freud bedeutete die Sexualität anscheinend mehr als anderen Leuten. Sie war ihm eine «res religiöse observanda». Unter dem Eindruck solcher Fragen und Gedanken benimmt man sich in der Regel scheu und zurückhaltend. So fand das Gespräch nach einigen stammelnden Versuchen meinerseits bald ein Ende.

Ich war tief beeindruckt, verlegen und verwirrt. Ich hatte das Gefühl, einen Blick in ein neues, unbekanntes Land erhascht zu haben, woraus mir Schwärme von neuen Gedanken zuflogen. Eines war mir klar: Freud, der stets mit Nachdruck auf seine Irreligiosität

(Kirche)

hinwies, hatte sich ein Dogma zurechtgelegt, oder vielmehr, anstelle eines ihm verloren gegangenen, eifersüchtigen Gottes hatte sich ein anderes zwingendes Bild, nämlich das der Sexualität, unterschoben; ein Bild, das nicht weniger drängend, anspruchsvoll, gebieterisch, bedrohlich und moralisch ambivalent war. Wie dem psychisch Stärkeren und darum zu Fürchtenden die Attribute «göttlich» oder «dämonisch» zukommen, so hatte die «sexuelle Libido» bei ihm die Rolle eines deus absconditus, eines verborgenen Gottes, angenommen. Der Vorteil dieser Wandlung bestand für Freud anscheinend darin, daß das neue numinose Prinzip ihm als wissenschaftlich einwandfrei erschien und befreit von aller religiösen Belastung. Im Grunde genommen blieb aber die Numinosität als psychologische Eigenschaft der rational inkommensurablen Gegensätze - Jahwe und Sexualität - dieselbe. Bloß die Benennung hatte sich geändert und damit allerdings auch der Gesichtspunkt: nicht oben war das Verlorene zu suchen, sondern unten. Aber was macht es schließlich dem Stärkeren aus, ob man es so oder anders bezeichnet? Wenn es keine Psychologie gäbe, sondern nur konkrete Gegenstände, so hätte man tatsächlich den einen zerstört und den anderen an seine Stelle gesetzt. In Wirklichkeit, d. h. im Bereich der psychologischen Erfahrung, ist aber von der Dringlichkeit, Ängstlichkeit, Zwangshaftigkeit usw., überhaupt nichts verschwunden. Nach wie vor bleibt die Frage, wie man der Angst, dem bösen Gewissen, der Schuld, dem Zwange, der Unbewußtheit und der Triebhaftigkeit beikommt oder entrinnt. Geht es von der hellen, idealistischen Seite nicht, dann vielleicht von der dunkeln, biologischen.

Wie momentan aufzuckende Flammen fuhren mir diese Gedanken durch den Kopf. Viel später, als ich über Freuds Charakter nachdachte, wurden sie mir wichtig und enthüllten ihre Bedeutung. Es war vor allem ein Charakterzug, der mich beschäftigte: Freuds Bitterkeit. Schon bei unserer ersten Begegnung war sie mir aufgefallen. Lange blieb sie mir unverständlich, bis ich sie im Zusammenhang mit seiner Einstellung zur Sexualität sehen konnte. Für Freud bedeutete zwar die Sexualität ein Numinosum, aber in seiner Terminologie und Theorie kommt sie ausschließlich als biologische Funktion zum Ausdruck. Nur die Bewegtheit, mit der er über sie sprach, ließ darauf schließen, daß noch Tieferes in ihm anklang. Letzten Endes wollte er lehren - so wenigstens schien es mir - daß, von innen her betrachtet, Sexualität auch Geistigkeit umfasse,


oder Sinn enthalte. Seine konkretistische Terminologie war aber zu eng, um diesem Gedanken Ausdruck zu geben. So hatte ich von ihm den Eindruck, daß er im Grunde genommen gegen sein eigenes Ziel und gegen sich selbst arbeitete; und es gibt keine schlimmere Bitterkeit als die eines Menschen, der sein eigener ärgster Feind ist. Nach seinem eigenen Ausspruch fühlte er sich von einer «schwarzen Schlammflut» bedroht, er, der vor allen die schwarze Tiefe auszuschöpfen versucht hatte.

Freud hat sich nie gefragt, warum er ständig über den Sexus reden mußte, warum ihn dieser Gedanke so ergriffen hat. Es wurde ihm nie bewußt, daß sich in der «Monotonie der Deutung» eine Flucht vor sich selber ausdrückte, oder vor jener anderen, vielleicht als «mystisch» zu bezeichnenden Seite in ihm. Ohne Anerkennung dieser Seite konnte er jedoch nie in Einklang mit sich selber kommen. Er war blind gegenüber der Paradoxie und Doppeldeutigkeit der Inhalte des Unbewußten und wußte nicht, daß alles, was aus dem Unbewußten auftaucht, ein Oben und ein Unten, ein Innen und ein Außen hat. Wenn man über das Außen redet - und das tat Freud - so berücksichtigt man nur die eine Hälfte, und folgerichtig entsteht aus dem Unbewußten eine Gegenwirkung.

Gegen diese Einseitigkeit Freuds war nichts zu machen. Vielleicht hätte ihm eine eigene innere Erfahrung die Augen öffnen können; doch womöglich hätte sein Intellekt auch sie auf «bloße Sexualität» oder «Psychosexualität» reduziert. Er blieb dem einen Aspekt verfallen, und eben darum sehe ich in ihm eine tragische Gestalt; denn er war ein großer Mann und, was noch mehr ist, ein Ergriffener.

Nach jenem zweiten Gespräch in Wien verstand ich auch die Machthypothese Alfred Adlers, der ich bis dahin nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hatte: Adler hatte, wie viele Söhne, vom «Vater» nicht das gelernt, was dieser sagte, sondern was er tat Sodann fiel mir das Problem von Liebe - oder Eros - und Macht wie ein Zentnerstein aufs Gemüt. Freud hatte, wie er mir selber sagte, Nietzsche nie gelesen. Jetzt sah ich seine Psychologie als einen Schachzug der Geistesgeschichte, der Nietzsches Vergötterung des Machtprinzips kompensierte. Das Problem lautete offenbar nicht «Freud versus Adler», sondern «Freud versus Nietzsche». Es schien mir viel mehr zu bedeuten als einen Hausstreit in der Psy-chopathologie. Der Gedanke dämmerte mir, daß Eros und Macht


trieb wie entzweite Brüder und Söhne eines Vaters seien, einer motivierenden seelischen Kraft, die sich - wie die positive und negative elektrische Ladung in gegensätzlicher Form in der Erfahrung manifestiert: die eine als ein patiens, der Eros, und die andere als ein agens, der Machttrieb - und vice versa. Der Eros nimmt den Machttrieb ebenso sehr in Anspruch wie dieser den ersteren. Wo ist der eine Trieb ohne den anderen? Der Mensch unterliegt einerseits dem Triebe, andererseits versucht er, ihn zu bewältigen. Freud zeigt, wie das Objekt dem Trieb erliegt, und Adler, wie er diesen benutzt, um das Objekt zu vergewaltigen. Der seinem Schicksal ausgelieferte und erlegene Nietzsche mußte sich einen «Übermenschen» erschaffen. Freud, so schloß ich, muß so tief unter dem Eindruck der Macht des Eros stehen, daß er ihn wie ein religiöses Numen sogar zum Dogma - aere perennius - erheben will. Es ist kein Geheimnis, daß «Zarathustra» der Verkünder eines Evangeliunis ist, und Freud konkurriert sogar mit der Kirche in seiner Absicht, Lehrsätze zu kanonisieren. Er hat dies allerdings nicht allzu laut getan, dafür aber mich der Absicht verdächtigt, als Prophet gelten zu wollen. Er erhebt den tragischen Anspruch und verwischt ihn zugleich. So verfährt man meistens mit Numinosi-täten, und das ist richtig, denn sie sind in der einen Hinsicht wahr, in der anderen unwahr. Das numinose Erlebnis erhöht und erniedrigt zugleich. Wenn Freud die psychologische Wahrheit, daß die Sexualität numinos ist - sie ist ein Gott und ein Teufel - etwas mehr berücksichtigt hätte, so wäre er nicht in der Enge eines biologischen Begriffes stecken geblieben. Und Nietzsche wäre vielleicht nicht mit seinem Überschwang über den Rand der Welt hinausgefallen, wenn er sich mehr an die Grundlagen der menschlichen Exi stenz gehalten hätte.

Wo immer die Seele durch ein numinoses Erlebnis in heftige Schwingung versetzt wird, besteht die Gefahr, daß der Faden, an dem man aufgehängt ist, zerrissen wird. Dadurch fällt der eine Mensch in ein absolutes «Ja» und der andere in ein ebenso absolutes «Nein». «Nirdvandva» (frei von den Zweien) sagt der Osten. Das habe ich mir gemerkt. Das geistige Pendel schwingt zwischen Sinn und Unsinn und nicht zwischen richtig und unrichtig. Die Gefahr des Numinosen besteht darin, daß es zu Extremen verleitet, und daß dann eine bescheidene Wahrheit für die Wahrheit und ein kleiner Irrtum für eine fatale Verirrung gehalten wird. Tout passe - was gestern Wahrheit war, ist heute eine Täuschung, und was


vorgestern als Fehlschluß galt, kann morgen eine Offenbarung sein - vollends in psychologischen Dingen, von denen wir ja in Wirklichkeit noch sehr wenig wissen. Wir haben es uns längst nicht immer klar gemacht, was es heißt, daß überhaupt nichts existiert, wenn nicht ein kleines - oh so vergängliches Bewußtsein etwas davon gemerkt hat!

Das Gespräch mit Freud hatte mir gezeigt, daß er befürchtete, das numinose Licht seiner Sexualerkenntnis könnte durch eine ausgelöscht werden. Dadurch entstand eine mythologische Situation: der Kampf zwischen Licht und Dunkel. Das erklärt die Numinosität dieser Angelegenheit und die sofortige Zuhilfenahme eines religiösen Abwehrmittels, des Dogmas. In meinem nächsten Buch, das sich mit der Psychologie des Hel-denkampfes beschäftigte5, griff ich den mythologischen Hintergrund von Freuds seltsamer Reaktion auf.

Die sexuelle Interpretation einerseits und die Machtabsichten des «Dogmas» andererseits führten mich im Laufe der Jahre zum typo-logischen Problem, sowie zur Polarität und Energetik der Seele. Darauf folgte die über einige Jahrzehnte sich erstreckende Untersuchung der «schwarzen Schlammflut des Okkultismus»; ich versuchte, die bewußten und unbewußten historischen Voraussetzungen unserer gegenwärtigen Psychologie zu verstehen.

Es interessierte mich, Freuds Ansichten über Praekognition und über Parapsychologie im allgemeinen zu hören. Als ich ihn im Jahre 1909 in Wien besuchte, fragte ich ihn, wie er darüber dächte. Aus seinem materialistischen Vorurteil heraus lehnte er diesen ganzen Fragenkomplex als Unsinn ab und berief sich dabei auf einen dermaßen oberflächlichen Positivismus, daß ich Mühe hatte, ihm nicht allzu scharf zu entgegnen. Es vergingen noch einige Jahre, bis Freud die Ernsthaftigkeit der Parapsychologie und die Tatsächlichkeit «okkulter» Phänomene anerkannte.

Während Freud seine Argumente vorbrachte, hatte ich eine merkwürdige Empfindung. Es schien mir, als ob mein Zwerchfell aus Eisen bestünde und glühend würde - ein glühendes Zwerchfellgewölbe. Und in diesem Augenblick ertönte ein solcher Krach im Bücherschrank, der unmittelbar neben uns stand, daß wir beide furchtbar erschraken. Wir dachten, der Schrank fiele über uns zu

5 «Wandlungen und Symbole der Libido», 1912. Neuauflage: «Symbole der Wandlung», Ges. Werke V, 1973.

sammen. Genauso hatte es getönt. Ich sagte zu Freud: «Das ist jetzt ein sogenanntes katalytisches Exteriorisationsphänomen.» «Ach», sagte er, «das ist ja ein leibhaftiger Unsinn!» «Aber nein», erwiderte ich, «Sie irren, Herr Professor. Und zum Beweis, daß ich recht habe, sage ich nun voraus, daß es gleich nochmals so einen Krach geben wird!» - Und tatsächlich: kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, begann der gleiche Krach im Schrank!

Ich weiß heute noch nicht, woher ich diese Sicherheit nahm. Aber ich wußte mit Bestimmtheit, daß das Krachen sich wiederholen würde. Freud hat mich nur entsetzt angeschaut. Ich weiß nicht, was er dachte, oder was er schaute! Auf jeden Fall hat dieses Erlebnis sein Mißtrauen gegen mich geweckt, und ich hatte das Gefühl, ihm etwas angetan zu haben. Ich sprach nie mehr mit ihm darüber'.

Das Jahr 1909 wurde zu ein em entscheidenden Jahr für unsere Beziehung. Ich war eingeladen, an der Clark University (Wor-cester, Mass.) Vorträge über das Assoziationsexperiment zu halten. Unabhängig von mir hatte auch Freud eine Einladung erhalten, und wir beschlossen, zusammen zu reisen7. Wir trafen uns in Bremen, Ferenczi begleitete uns. In Bremen ereignete sich der viel diskutierte Zwischenfall, nämlich Freuds Ohnmacht. Sie wurde indirekt - durch mein Interesse an den «Moorleichen» provoziert. Ich wußte, daß in gewissen Gegenden Norddeutschlands sogenannte Moorleichen gefunden werden. Das sind z. T. aus der Prae-historie stammende Leichen von Menschen, die in den Sümpfen ertrunken oder dort begraben worden waren. Das Moorwasser enthält Humussäuren, welche die Knochen zerstören und zugleich die Haut gerben, so daß diese, wie auch die Haare, vollkommen erhalten bleiben. Es vollzieht sich also ein natürlicher Mumifizierungsprozeß, bei dem aber die Leichen durch das Gewicht des Moores vollständig platt gedrückt werden. Man findet sie gelegentlich beim Torfstechen in Holstein, Dänemark und Schweden.

Diese Moorleichen, über die ich gelesen hatte, fielen mir ein, als wir in Bremen waren, aber ich war etwas «durcheinander» und hatte sie mit den Mumien in den Bremer Bleikellern verwechselt!

• Vgl. Appendix pag. 370 ff. 7 Vgl. Appendix pag. 363 ff.

Mein Interesse ging Freud auf die Nerven. «Was haben Sie denn mit diesen Leichen?» fragte er mich mehrere Male. Er ärgerte sich in auffallender Weise und erlitt während eines Gespräches darüber bei Tisch eine Ohnmacht. Nachher sagte er mir, daß er überzeugt sei, dieses Geschwätz von Leichen bedeute, daß ich ihm den Tod wünsche. Von dieser Ansicht war ich mehr als überrascht. Ich war erschrocken und zwar über die Intensität seiner Phantasien, die ihm offenbar eine Ohnmacht verursachen konnten.

In einem ähnlichen Zusammenhang erlitt Freud noch einmal eine Ohnmacht in meiner Anwesenheit. Es war während des Psy-choanalytischen Kongresses in München 1912. Irgend jemand hatte das Gespräch auf Amenophis IV. gebracht. Es wurde hervorgehoben, daß er, infolge seiner negativen Einstellung zum Vater, dessen Cartouchen auf den Stelen zerstört habe, und daß hinter seiner großen Schöpfung einer monotheistischen Religion sein Vaterkomplex stünde. Das irritierte mich, und ich versuchte auseinanderzusetzen, daß Amenophis ein schöpferischer und tief religiöser Mensch gewesen sei, dessen Taten nicht aus persönlichen Widerständen gegen den Vater erklärt werden könnten. Er habe im Gegenteil das Andenken seines Vaters in Ehren gehalten, und sein Zerstörungseifer richtete sich nur gegen den Namen des Gottes Amon, den er überall tilgen ließ und darum wohl auch in den Cartouchen seines Vaters Amon-hotep. Überdies hätten auch andere Pharaonen die Namen ihrer wirklichen oder göttlichen Vorfahren auf Denkmälern und Statuen durch ihren eigenen ersetzt, wozu sie sich als In karnationen des gleichen Gottes berechtigt fühlten. Aber sie hätten weder einen neuen Stil noch eine neue Religion inauguriert.

In diesem Augenblick ist Freud ohnmächtig vom Stuhl gesunken. Alle standen hilflos um ihn herum. Da nahm ich ihn auf die Arme, trug ihn ins nächste Zimmer und legte ihn auf ein Sopha. Schon während ich ihn trug, kam er halb zu sich, und den Blick, den er mir zuwarf, werde ich nie vergessen. Aus seiner Hilflosigkeit heraus hat er mich so angeschaut, wie wenn ich sein Vater wäre. Was immer sonst noch zu dieser Ohnmacht beigetragen haben mag - die Atmosphäre war sehr gespannt - beiden Fällen ist die Phantasie vom Vatermord gemeinsam.

Freud hatte früher wiederholt Anspielungen mir gegenüber gemacht, daß er mich als seinen Nachfolger betrachte. Diese Andeutungen waren mir peinlich, denn ich wußte, daß ich nie imstande sein würde, seine Ansichten sozusagen korrekt, d. h. in seinem


Sinne, zu vertreten. Es war mir aber auch noch nicht gelungen, meine Einwände so herauszuarbeiten, daß er sie hätte würdigen können, und ich hatte zu großen Respekt vor ihm, als daß ich ihn zu einer endgültigen Auseinandersetzung hätte auffordern mögen. Der Gedanke, daß ich sozusagen über meinen Kopf hinweg mit einer Parteiführung belastet werden sollte, war mir aus vielerlei Gründen unangenehm. Etwas Derartiges lag mir nicht. Ich konnte meine geistige Unabhängigkeit nicht opfern, und dieser Zuwachs an Prestige war mir zuwider, weil er für mich nichts bedeutete als eine Ablenkung von meinen wirklichen Zielen. Es ging mir um die Erforschung der Wahrheit und nicht um persönliche Prestigefragen.

Unsere Reise nach den USA, die wir 1909 von Bremen aus antraten, dauerte sieben Wochen. Wir waren täglich zusammen und analysierten unsere Träume. Ich hatte damals einige wichtige Träume, mit denen Freud aber nichts anfangen konnte. Daraus machte ich ihm keinen Vorwurf, denn es kann dem besten Analytiker geschehen, daß er das Rätsel eines Traumes nicht zu lösen vermag. Das war ein menschliches Versagen und hätte mich nie veranlaßt, unsere Traumanalysen abzubrechen. Im Gegenteil, es lag mir sehr viel daran, und unsere Beziehung war mir überaus wertvoll. Ich empfand Freud als die ältere, reifere und erfahrenere Persönlichkeit und mich wie einen Sohn. Doch damals geschah etwas, das der Beziehung einen schweren Stoß versetzte.

Freud hatte einen Traum, über dessen Problem zu berichten ich nicht befugt bin. Ich deutete ihn, so gut ich konnte, fügte aber hinzu, daß sich sehr viel mehr sagen ließe, wenn er mir noch einige Details aus seinem Privatleben mitteilen wollte. Auf diese Worte hin sah mich Freud merkwürdig an - sein Blick war voll Mißtrauen - und sagte: «Ich kann doch meine Autorität nicht riskieren!» In diesem Augenblick hatte er sie verloren. Dieser Satz hat sich mir ins Gedächtnis gegraben. In ihm lag für mich das Ende unserer Beziehung bereits beschlossen. Freud stellte persönliche Autorität über Wahrheit.

Freud konnte, wie ich schon sagte, meine damaligen Träume nur unvollständig oder gar nicht deuten. Es handelte sich um Träume kollektiven Inhalts mit einer Fülle von symbolischem Material. Besonders einer war mir wichtig, denn er brachte mich zum ersten Mal auf den Begriff des «kollektiven Unbewußten» und bildete


darum eine Art Vorspiel zu meinem Buch «Wandlungen und Symbole der Libido».

Dies war der Traum: Ich war in einem mir unbekannten Hause, das zwei Stockwerke hatte. Es war «mein Haus». Ich befand mich im oberen Stock. Dort war eine Art Wohnzimmer, in welchem schöne alte Möbel im Rokokostil standen. An den Wänden hingen kostbare alte Bilder. Ich wunderte mich, daß dies mein Haus sein sollte und dachte: nicht übel! Aber da fiel mir ein, daß ich noch gar nicht wisse, wie es im unteren Stock aussähe. Ich ging die Treppe hinunter und gelangte in das Erdgeschoß. Dort war alles viel älter, und ich sah, daß dieser Teil des Hauses etwa aus dem 15. oder aus dem 16. Jahrhundert stammte. Die Einrichtung war mittelalterlich, und die Fußböden bestanden aus rotem Backstein. Alles war etwas dunkel. Ich ging von einem Raum in den anderen und dachte: Jetzt muß ich das Haus doch ganz explodieren! Ich kam an eine schwere Tür, die ich öffnete. Dahinter entdeckte ich eine steinerne Treppe, die in den Keller führte. Ich stieg hinunter und befand mich in einem schön gewölbten, sehr altertümlichen Raum. Ich untersuchte die Wände und entdeckte, daß sich zwischen den gewöhnlichen Mauersteinen Lagen von Backsteinen befanden; der Mörtel enthielt Backsteinsplitter. Daran erkannte ich, daß die Mauern aus römischer Zeit stammten. Mein Interesse war nun aufs höchste gestiegen. Ich untersuchte auch den Fußboden, der aus Steinplatten bestand. In einer von ihnen entdeckte ich einen Ring. Als ich daran zog, hob sich die Steinplatte, und wiederum fand sich dort eine Treppe. Es waren schmale Steinstufen, die in die Tiefe führten. Ich stieg hinunter und kam in eine niedrige Felshöhle. Dicker Staub lag am Boden, und darin lagen Knochen und zerbrochene Gefäße wie Überreste einer primitiven Kultur. Ich entdeckte zwei offenbar sehr alte und halb zerfallene Menschenschädel. - Dann erwachte ich.

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