Was Freud an diesem Traum vor allem interessierte, waren die beiden Schädel. Er kam immer wieder auf sie zu sprechen und legte mir nahe, in ihrem Zusammenhang einen Wunsch herauszufinden. Was ich denn über die Schädel dächte? Und von wem sie stammten? Ich wußte natürlich genau, worauf er hinauswollte: daß hier geheime Todeswünsche verborgen seien. Ja, was will er denn eigentlich? dachte ich bei mir. Wem soll ich denn den Tod wünschen ? - Ich empfand heftige Widerstände gegen eine solche Interpretation und hatte auch Vermutungen, was der Traum wirklich bedeuten könnte. Aber ich traute damals meinem Urteil noch nicht und wollte seine Meinung hören. Ich wollte von ihm lernen. So folgte ich seiner Intention und sagte: «Meine Frau und meine Schwägerin» - denn ich mußte doch jemanden nennen, dem den Tod zu wünschen sich lohnte!

Ich war damals noch jung verheiratet und wußte genau, daß nichts in mir war, das auf solche Wünsche hinwies. Doch hätte ich Freud meine eigenen Einfälle zu einer Deutung des Traumes nicht vorlegen können, ohne auf Unverständnis und heftigen Widerstand zu stoßen. Dem fühlte ich mich nicht gewachsen, und ich fürchtete auch, seine Freundschaft zu verlieren, wenn ich auf meinem Standpunkt beharrt hätte. Andererseits wollte ich wissen, was sich aus meiner Antwort ergeben und wie er reagieren würde, wenn ich ihn im Sinne seiner Doktrin hinters Licht führte. So erzählte ich ihm eine Lüge.

Ich war mir durchaus bewußt, daß mein Verhalten moralisch nicht einwandfrei war. Aber es wäre mir unmöglich gewesen, ihm einen Einblick in meine Gedankenwelt zu gewähren. Die Kluft zwischen ihr und der seinen war zu groß. In der Tat war Freud durch meine Antwort wie befreit. Ich erkannte daran, daß er solchen Träumen hilflos gegenüberstand und bei seiner Doktrin Zuflucht nahm. Mir aber lag daran, den wirklichen Sinn des Traumes herauszufinden.

Es war mir deutlich, daß das Haus eine Art Bild der Psyche darstellte, d. h. meiner damaligen Bewußtseinslage mit bis dahin unbewußten Ergänzungen. Das Bewußtsein war durch den Wohnraum charakterisiert. Er hatte eine bewohnte Atmosphäre, trotz des altertümlichen Stils.

Im Erdgeschoß begann bereits das Unbewußte. Je tiefer ich kam, desto fremder und dunkler wurde es. In der Höhle entdeckte ich Überreste einer primitiven Kultur, d. h. die Welt des primitiven Menschen in mir, welche vom Bewußtsein kaum mehr erreicht oder erhellt werden kann. Die primitive Seele des Menschen grenzt an das Leben der Tierseele, wie auch die Höhlen der Urzeit meist von Tieren bewohnt wurden, bevor die Menschen sie für sich in Anspruch nahmen.

Es wurde mir damals in besonderem Maße bewußt, wie stark ich den Unterschied zwischen Freuds geistiger Einstellung und der meinigen empfand. Ich war in der intensiv historischen Atmosphäre von Basel Ende des vorigen Jahrhunderts aufgewachsen


und hatte dank der Lektüre der alten Philosophen eine gewisse Kenntnis der Psychologiegeschichte erworben. Wenn ich über Träume und Inhalte des Unbewußten nachdachte, geschah es nie ohne historischen Vergleich; in meiner Studienzeit hatte ich mich dazu jeweils des alten Krugschen Lexikons der Philosophie bedient. Ich kannte vor allem die Autoren des 18., sowie diejenigen des angehenden 19. Jahrhunderts. Diese Welt bildete die Atmosphäre meines Wohnzimmers im ersten Stock. Demgegenüber hatte ich bei Freud den Eindruck, als ob seine «Geistesgeschichte» bei Büchner, Moleschott, Dubois -Reymond und Darwin begänne.

Zu meiner geschilderten Bewußtseinslage fügte der Traum nunmehr weitere Bewußtseinsschichten hinzu: das längst nicht mehr bewohnte Erdgeschoß im mittelalterlichen Stil, dann den römischen Keller und schließlich die praehistorische Höhle. Sie stellen verflossene Zeiten und überlebte Bewußtseinsstufen dar.

Viele Fragen hatten mich an den Vortagen des Traumes brennend beschäftigt: Auf welchen Prämissen beruht die Freudsche Psychologie? Zu welcher Kategorie des menschlichen Denkens gehört sie? In welchem Verhältnis steht ihr fast ausschließlicher Personalismus zu den allgemeinen historischen Voraussetzungen? Mein Traum gab die Antwort. Er ging offenbar zurück bis in die Grundlagen der Kulturgeschichte, einer Geschichte aufeinander folgender Bewußtseinslagen. Er stellte etwas wie ein Strukturdiagramm der menschlichen Seele dar, eine Voraussetzung durchaus unpersönlicher Natur. Diese Idee schlug ein, «it clicked», wie der Engländer sagt; und der Traum wurde mir zu einem Leitbild, das sich in der Folgezeit in einem mir unbekannten Maße bestätigte. Er gab mir die erste Ahnung eines kollektiven a priori der persönlichen Psyche, das ich zunächst als Spuren früherer Funktionsweisen auffaßte. Erst später, bei vermehrter Erfahrung und zuverlässigerem Wissen erkannte ich die Funktionsweisen als Instinktformen, als Archetypen.

Ich habe Freud nie recht geben können, daß der Traum eine «Fassade» sei, hinter der sich sein Sinn verstecke; ein Sinn, der schon gewußt ist, aber sozusagen boshafterweise dem Bewußtsein vorenthalten werde. Für mich sind Träume Natur, der keine Täuschungsabsicht innewohnt, sondern die etwas aussagt, so gut sie eben kann - wie eine Pflanze, die wächst, oder ein Tier, das seine Nahrung sucht, so gut sie es eben können. So wollen auch die Augen nicht täuschen, aber vielleicht täuschen wir uns,weil die Augen kurzsichtig sind. Oder wir hören falsch, weil die Ohren etwas taub sind, aber die Ohren wollen uns nicht täuschen. Lange bevor ich Freud kennen lernte, hatte ich das Unbewußte, sowie auch die Träume, dessen unmittelbaren Ausdruck, als einen Naturvorgang angesehen, dem keine Willkürlichkeit zukommt, und vor allem keine taschenspielerische Absicht. Ich kannte keine Gründe für die Annahme, daß die Listen des Bewußtseins sich auch auf die Naturvorgänge des Unbewußten erstreckten. Im Gegenteil belehrte mich die tägliche Erfahrung, welch hartnäckigen Widerstand das Unbewußte den Tendenzen des Bewußtseins entgegensetzt.

Der Traum vom Haus hatte eine eigenartige Wirkung auf mich: er rief meine alten archäologischen Interessen wach. Nach Zürich zurückgekehrt, nahm ich mir ein Buch über babylonische Ausgrabungen vor und las verschiedene Werke über Mythen. Dabei fiel mir die «Symbolik und Mythologie der alten Völker» von Friedrich Creuzer8 in die Hände, und das zündete! Ich las wie besessen und arbeitete mich mit brennendem Interesse durch einen Berg von mythologischem und schließlich auch gnostischem Material hindurch und endete in einer totalen Verwirrung. Ich befand mich in einem ähnlichen Zustand der Ratlosigkeit wie seinerzeit in der Klinik, als ich den Sinn psychotischer Geisteszustände zu verstehen suchte. Ich kam mir vor wie in einem imaginären Irrenhaus und begann, all die Kentauren, Nymphen, Götter und Göttinnen in Creuzers Buch zu «behandeln» und zu analysieren, als wären sie meine Patienten. Bei dieser Beschäftigung konnte ich nicht umhin, die nahe Beziehung der antiken Mythologie zur Psychologie der Primitiven zu entdecken, was mich zu einem intensiven Studium letzterer veranlaßte. Freuds gleichzeitige Interessen in dieser Hinsicht verursachten mir einiges Unbehagen, insofern ich darin ein Vorherrschen seiner Theorie gegenüber den Tatsachen zu erkennen glaubte.

Mitten in diesem Studium stieß ich auf das Phantasiematerial einer mir unbekannten jungen Amerikanerin, Miss Miller. Das Material war von meinem verehrten väterlichen Freunde Theodore Flournoy in den «Archives de Psychologie» (Genf) publiziert worden '. Ich war sofort vom mythologischen Charakter der Phantasien


beeindruckt. Sie wirkten wie ein Katalysator auf die in mir aufgestauten, noch ungeordneten Gedanken. Allmählich formte sich aus ihnen und aus der von mir erworbenen Kenntnis der Mythen das Buch über die «Wandlungen und Symbole der Libido». Während ich daran arbeitete, hatte ich bedeutsame Träume, welche schon auf den Bruch mit Freud hinwiesen. Einer der eind rucksvollsten spielte in einer bergigen Gegend in der Nähe der schweizerisch-österreichischen Grenze. Es war gegen Abend, und ich sah einen ältlichen Mann in der Uniform eines k. k. Zollbeamten. Etwas gebückt ging er an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Sein Gesichtsausdruck war griesgrämig, etwas melancholisch und verärgert. Es waren noch andere Menschen da, und jemand belehrte mich, der Alte sei gar nicht wirklich, sondern der Geist eines vor Jahren verstorbenen Zollbeamten. «Das ist einer von denen, die nicht sterben konnten», hieß es.

8 Leipzig und Darmstadt, 1810—1823. • Über Th. Flournoy vgl. Appendix pag. 378 f.

Dies ist der erste Teil des Traumes.


Als ich daran ging, ihn zu analysieren, fiel mir zum Zoll gleich die «Zensur» ein; zur Grenze einerseits diejenige zwischen Bewußtsein und Unbewußtem, andererseits die zwischen Freuds Ansichten und den meinen. Die Untersuchung - hochnotpeinlich - an der Grenze schien mir auf die Analyse anzuspielen. An der Grenze werden die Koffer geöffnet und auf Konterbande geprüft. Dabei werden unbewußte Voraussetzungen entdeckt. Der alte Zollbeamte hatte offenbar in seiner Tätigkeit so wenig Erfreuliches und Befriedigendes erlebt, daß seine Weltanschauung ein saures Gesicht dazu machte. Ich konnte die Analogie mit Freud nicht abweisen.


Freud hatte zwar damals (1911) für mich die Autorität in einem gewissen Sinne verloren. Aber er bedeutete mir nach wie vor eine überlegene Persönlichkeit, auf die ich den Vater projizierte, und diese Projektion war zur Zeit des Traumes noch längst nicht aufgehoben. Wo eine solche Projektion vorliegt, ist man nicht objektiv, sondern hat ein gespaltenes Urteil. Einesteils ist man abhängig, und andernteils hat man Widerstände. Zur Zeit, als der Traum stattfand, schätzte ich Freud noch hoch, auf der anderen Seite aber war ich kritisch. Diese geteilte Einstellung ist ein Anzeichen dafür, daß ich in dieser Situation noch unbewußt war und sie nicht reflektiert hatte. Das ist charakteristisch für alle Projektionen. Der Traum legte mir nahe, hierüber Klarheit zu gewinnen.


Unter dem Eindruck von Freuds Persönlichkeit hatte ich, soweit wie möglich, auf mein eigenes Urteil verzichtet und meine Kritik


zurückgedrängt. Das war die Voraussetzung, unter der ich mitarbeiten konnte. Ich sagte mir: «Freud ist viel gescheiter und erfahrener als du. Jetzt hörst du einfach auf das, was er sagt, und lernst von ihm.» Und dann träumte ich zu meinem Erstaunen von ihm als griesgrämigem Beamten der österreichischen k. k. Monarchie, als verstorbenem und noch «umgehendem» Zollinspektor. Sollte das der von Freud angedeutete Todeswunsch sein? Ich konnte niemanden in mir nachweisen, der einen derartigen Wunsch normalerweise hätte hegen können, denn ich wollte, sozusagen ä tout prix, kollaborieren und in ungescheut egoistischer Weise am Reichtum seiner Erfahrung teilnehmen, und an unserer Freundschaft lag mir viel. So hatte ich keinerlei Anlaß, ihn tot zu wünschen. ' Wohl aber konnte der Traum eine Korrektur sein, eine Kompensation meiner bewußten Schätzung und Bewunderung, die - mir unwillkommenerweise - offenbar zu weit ging. Der Traum empfahl eine etwas kritischere Einstellung. Ich war sehr bestürzt darüber, obwohl der Schlußsatz des Traumes mir eine Andeutung der Unsterblichkeit zu enthalten schien.


Der Traum war mit der Episode vom Zollbeamten noch nicht zu Ende, sondern nach einem Hiatus folgte ein zweiter, bemerkenswerter Teil. Ich befand mich in einer italienischen Stadt, und es war um die Mittagsstunde, zwischen zwölf und ein Uhr. Eine heiße Sonne brannte auf die Gassen. Die Stadt war auf Hügel gebaut und erinnerte mich an eine bestimmte Stelle in Basel, den Kohlenberg. Die Gäßchen, die von dort ins Birsigtal, das sich durch die Stadt zieht, hinunterführen, sind zum Teil Treppengäß-chen. Eine solche Treppe ging hinunter zum Barfüßerplatz. Es war Basel, und doch war es eine italienische Stadt, etwa wie Bergamo. Es war Sommer, die strahlende Sonne stand im Zenit, und alles war erfüllt von intensivem Licht. Viele Menschen kamen mir entgegen, und ich wußte, daß jetzt die Läden geschlossen wurden und die Leute zum Mittagessen heimstrebten. Mitten in diesem Menschenstrom ging ein Ritter in voller Rüstung. Er stieg die ^ Treppe hinauf, mir entgegen. Er trug einen Topfhelm mit Augenschlitzen und einen Kettenpanzer. Darüber ein weißes Obergewand, auf dem vorne und auf dem Rücken ein großes rotes Kreuz eingewoben war.


Sie können sich denken, was für einen Eindruck es auf mich machte, als plötzlich in einer modernen Stadt, mittags um die Stoßzeit des Verkehrs, ein Kreuzfahrer auf mich zukam! Vor allem


fiel mir auf, daß keiner von den vielen Menschen, die unterwegs waren, ihn wahrzunehmen schien. Niemand kehrte sich nach ihm um oder schaute nach ihm; es kam mir vor, wie wenn er für die anderen vollkommen unsichtbar wäre. Ich fragte mich, was die Erscheinung zu bedeuten habe, und da war es, wie wenn mir jemand antwortete - aber es war niemand da, der es sagte - «Ja, das ist eine regelmäßige Erscheinung. Immer zwischen zwölf und ein Uhr geht der Ritter hier vorbei, und dies seit sehr langer Zeit (ich hatte den Eindruck, seit Jahrhunderten), und jedermann weiß darum.»


Der Traum hat mich tief beeindruckt, aber damals verstand ich ihn keineswegs. Ich war bedrückt und bestürzt und wußte mir keinen Rat.


Der Ritter und der Zollbeamte waren einander entgegengesetzte Figuren. Der Zollbeamte war schattenhaft, wie jemand, der «noch nicht sterben konnte» - eine abklingende Erscheinung. Der Ritter hingegen war lebensvoll und völlig wirklich. Der zweite Teil des Traumes war in hohem Maße numinos, die Szene an der Grenze nüchtern und an sich nicht eindrucksvoll, erst die Überlegungen darüber hatten mich betroffen.


Über die rätselhafte Figur des Ritters habe ich mir in der Folgezeit viele Gedanken gemacht, ohne jedoch die Bedeutung voll erfassen zu können. Erst viel später, nachdem ich lange Zeit über den Traum meditiert hatte, konnte ich seinen Sinn einigermaßen verstehen. Schon im Traum wußte ich, daß der Ritter ins 12. Jahrhundert gehört. Das ist die Zeit, wo die Alchemie anfing und die Quest nach dem Hl. Gral. Die Gralsgeschichten spielten für mich von Jugend an eine große Rolle. Als ich fünfzehn Jahre alt war, hatte ich sie zum ersten Mal gelesen, und das war ein unverlierbares Erlebnis, ein Eindruck, der mich nie mehr losgelassen hat. Ich ahnte, daß dort noch ein Geheimnis verborgen lag. So schien es mir ganz natürlich, daß der Traum die Welt der Gralsritter und ihrer Quest wieder heraufbeschwor, denn das war im innersten Sinne meine Welt, die mit derjenigen von Freud kaum etwas zu tun hatte. Alles in mir suchte ein noch Unbekanntes, das der Banalität des Lebens einen Sinn verleihen könnte.


Ich fühlte eine tiefe Enttäuschung in mir, daß man mit aller Anstrengung des forschenden Verstandes anscheinend nichts anderes in den Tiefen der Seele entdecken konnte als das nur allzubekannte «Allzumenschliche». Ich bin auf dem Lande unter Bauern


aufgewachsen, und was ich nicht im Stalle lernen konnte, das erfuhr ich durch den Rabelaisischen Witz und die ungenierte Phantasie der Folklore unserer Bauern. Inzest und Perversitäten waren für mich keine bemerkenswerten Neuigkeiten und keiner besonderen Erklärung wert. Sie gehörten mit der Kriminalität zu jenem schwarzen Niederschlag, der mir den Geschmack am Leben verdarb, indem er mir die Häßlichkeit und Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz nur zu deutlich vor Augen führte. Es war mir eine Selbstverständlichkeit, daß der Kohl auf dem Mist gedeiht. Ich mußte mir gestehen, daß ich darin keine hilfreiche Einsicht entdecken konnte. Das sind halt alles Stadtleute, die von der Natur und dem Menschenstall nichts wissen, dachte ich, dieser Widerwärtigkeiten längst überdrüssig.


Natürlich sind Menschen, die von der Natur nichts wissen, neurotisch, denn sie sind an die Wirklichkeiten nicht angepaßt. Sie sind noch zu naiv, wie Kinder, und müssen sozusagen aufgeklärt werden darüber, daß sie Menschen sind wie alle anderen. Damit sind Neurotiker allerdings noch nicht geheilt, und gesund können sie nur werden, wenn sie aus dem Alltagsschlamm wieder herauskommen. Aber sie bleiben nur allzugern im vorher Verdrängten stecken, und wie sollten sie auch daraus herauskommen, wenn sie die Analyse nicht eines Anderen und Besseren bewußt macht? Wenn selbst die Theorie sie darin verhaftet und ihnen nur den rationalen oder «vernünftigen» Entschluß, die Kindereien endlich aufzugeben, als Lösungsmöglichkeit offen läßt? Das ist ja eben das, was sie offenbar nicht können, und wie sollten sie es können, wenn sie nicht etwas entdecken, auf dem sie stehen können ? Man kann keine Lebensform aufgeben, ohne eine andere dafür einzutauschen. Eine total vernünftige Lebensführung ist erfahrungsgemäß in der Regel unmöglich, besonders noch, wenn man sozusagen von Hause aus so unvernünftig ist wie ein Neurotiker.


Es wurde mir jetzt klar, warum mir Freuds persönliche Psychologie von brennendem Interesse war. Ich mußte unter allen Umständen wissen, wie es um seine «vernünftige Lösung» stand. Das war für mich eine Lebensfrage, für deren Beantwortung ich vieles zu opfern bereit war. Jetzt stand es mir klar vor den Augen. Er hatte selber eine Neurose und zwar eine wohl diagnostizierbare mit sehr peinlichen Symptomen, wie ich auf unserer Amerikareise entdeckte. Er hatte mich damals belehrt, daß alle Welt etwas neurotisch sei und man deshalb Toleranz üben müsse. Ich war aber


keineswegs gesonnen, mich damit zu begnügen, sondern wollte vielmehr wissen, wie man eine Neurose vermeiden konnte. Ich hatte gesehen, daß weder Freud noch seine Schüler verstehen konnten, was es für Theorie und Praxis der Psychoanalyse bedeutet, wenn nicht einmal der Meister mit der eigenen Neurose fertig wird. Als er dann die Absicht kundgab, Theorie und Methode zu identifizieren und zu dogmatisieren, konnte ich nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten, und es blieb mir nichts mehr übrig, als mich zurückzuziehen.


Als ich bei meiner Arbeit an «Wandlungen und Symbole der Libido» gegen den Schluß an das Kapitel über das «Opfer» kam, wußte ich zum voraus, daß es mich die Freundschaft mit Freud kosten würde. Es sollten darin meine eigene Auffassung des Inzestes, die entscheidende Wandlung des Libidobegriffes und noch andere Gedanken, in denen ich mich von Freud unterschied, zur Sprache kommen. Für mich bedeutet der Inzest nur in den allerseltensten Fällen eine persönliche Komplikation. Meist stellt er einen hochreligiösen Inhalt dar, weshalb er auch in fast allen Kosmogonien und zahlreichen Mythen eine entscheidende Rolle spielt. Aber Freud hielt an der wortwörtlichen Auffassung fest und konnte die geistige Bedeutung des Inzestes als eines Symbols nicht fassen. Ich wußte, daß er dies alles niemals würde annehmen können.


Ich sprach mit meiner Frau und teilte ihr meine Befürchtungen mit. Sie suchte mich zu beruhigen, denn sie war der Ansicht, daß Freud meine Auffassungen großzügig würde gelten lassen, auch wenn er sie für sich nicht akzeptieren könnte. Ich selber war davon überzeugt, daß er dazu nicht imstande wäre. Zwei Monate lang konnte ich keine Feder anrühren und war von dem Konflikt gequält: Soll ich verschweigen, was ich denke, oder soll ich die Freundschaft riskieren? Schließlich entschloß ich mich zu schreiben, und es hat mich Freuds Freundschaft gekostet.


Nach dem Bruch mit Freud fielen alle meine Freunde und Bekannten von mir ab. Mein Buch wurde als Schund erklärt. Ich galt als Mystiker, und damit war die Sache erledigt. Riklin und Maeder waren die beiden Einzigen, die bei mir blieben. Doch ich hatte meine Einsamkeit vorausgesehen und mir keine Illusionen über die Reaktionen meiner sogenannten Freunde gemacht. Das war ein Punkt, den ich mir gründlich überlegt hatte. Ich wußte, daß es ums Ganze ging, und daß ich für meine Überzeugung einstehen mußte. Ich sah, daß das Kapitel «Das Opfer» mein Opfer bedeu


tete. Mit dieser Einsicht konnte ich wieder schreiben, obwohl ich voraussah, daß niemand meine Auffassung begreifen würde.

Rückschauend kann ich sagen, daß ich der Einzige bin, der die zwei Probleme, die Freud am meisten interessiert haben, sinngemäß weitergeführt hat: das der «archaischen Reste» und das der Sexualität. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum zu meinen, ich sähe den Wert der Sexualität nicht. Im Gegenteil, sie spielt in meiner Psychologie eine große Rolle, nämlich als wesentlicher - wenn auch nicht einziger - Ausdruck der psychischen Ganzheit. Es war aber mein Hauptanliegen, über ihre persönliche Bedeutung und die einer biologischen Funktion hinaus ihre geistige Seite und ihren numinosen Sinn zu erforschen und zu erklären; also das auszudrücken, wovon Freud fasziniert war, was er aber nicht fassen konnte. Die Schriften «Die Psychologie der Übertragung» und «Mysterium Coniunctionis» enthalten meine Gedanken über dieses Thema. Als Ausdruck eines chthonischen Geistes ist die Sexualität von größter Bedeutung. Denn jener Geist ist das «andere Gesicht Gottes», die dunkle Seite des Gottesbildes. Die Fragen des chthonischen Geistes beschäftigten mich, seit ich mit der Gedankenwelt der Alchemie in Berührung gekommen war. Im Grunde genommen wurden sie in jenem frühen Gespräch mit Freud geweckt, als ich seine Ergriffenheit durch die Sexualität fühlte, ohne sie mir jedoch erklären zu können.

Freuds größte Leistung bestand wohl darin, daß er seine neurotischen Patienten ernst nahm und auf ihre eigentümliche und individuelle Psychologie einging. Er hatte den Mut, die Kasuistik sprechen zu lassen und auf diese Weise in die individuelle Psychologie des Kranken einzudringen. Er sah sozusagen mit den Augen des Patienten und gelangte auf diese Weise zu einem tieferen Verständnis der Krankheit, als es bis dahin möglich gewesen war. Hier besaß er Unvoreingenommenheit und Mut. Dies führte ihn dazu, eine Menge von Vorurteilen zu überwinden. Wie ein alttestament-licher Prophet hat er es unternommen, falsche Götter zu stürzen, den Vorhang wegzuziehen von einem Haufen von Unehrlichkeit und Heucheleien und mitleidlos die Fäulnis der zeitgenössischen Seele dem Tageslicht preiszugeben. Er hat es nicht gescheut, die Unpopularität eines solchen Unterfangens einzustecken. Der Antrieb, den er damit unserer Kultur gegeben hat, bestand in


seiner Entdeckung eines Zugangs zum Unbewußten. Mit der Anerkennung des Traumes als wichtigster Informationsquelle über die Vorgänge im Unbewußten hat er einen Wert der Vergangenheit und Vergessenheit entrissen, welcher unrettbar verloren schien. Er hat empirisch das Vorhandensein einer unbewußten Psyche bewiesen, die zuvor nur als ein philosophisches Postulat existiert hatte, nämlich in der Philosophie von Carl Gustav Carus und Eduard von Hartmann.

Man kann wohl sagen, daß das heutige Kulturbewußtsein, insofern es sich philosophisch reflektiert, die Idee des Unbewußten und deren Konsequenzen noch nicht aufgenommen hat, obwohl es seit mehr als einem halben Jahrhundert damit konfrontiert ist. Die allgemeine und grundlegende Einsicht, daß unsere psychische Exi stenz zwei Pole hat, bleibt noch immer eine Aufgabe der Zukunft.

Die Auseinandersetzung mit dem Unbewußten

Nach der Trennung von Freud hatte für mich eine Zeit innerer Unsicherheit, ja Desorientiertheit begonnen. Ich fühlte mich völlig suspendiert, denn ich hatte meinen eigenen Stand noch nicht gefunden. Vor allem lag es mir damals daran, eine neue Einstellung zu meinen Patienten zu gewinnen. So beschloß ich, zunächst einmal voraussetzungslos abzuwarten, was sie von sich aus erzählen würden. Ich stellte also darauf ab, was der Zufall brachte. Bald zeigte es sich, daß sie spontan ihre Träume und Phantasien berichteten, und ich stellte lediglich ein paar Fragen: «Was fällt Ihnen dazu ein?» Oder: «Wie verstehen Sie das?» «Woher kommt das?» Aus den Antworten und Assoziationen ergaben sich die Deutungen wie von selber. Theoretische Gesichtspunkte ließ ich beiseite und war den Patienten nur behilflich, die Bilder aus sich heraus zu verstehen.

Schon nach kurzer Zeit erkannte ich, daß es richtig war, die Träume tel quel als Grundlage der Deutung zu nehmen, denn so sind sie gemeint. Sie sind die Tatsache, von der wir auszugehen haben. Natürlich ergab sich durch meine «Methode» eine fast unübersehbare Vielfalt von Aspekten. Mehr und mehr stellte sich das Bedürfnis nach einem Kriterium ein, fast möchte ich sagen: das Bedürfnis nach einer ersten und anfänglichen Orientierung.

Damals erlebte ich einen Augenblick ungewöhnlicher Klarheit, in der ich meinen bisherigen Weg überschaute. Ich dachte: Jetzt besitzest du einen Schlüssel zur Mythologie und hast d ie Möglichkeit, alle Tore zur unbewußten menschlichen Psyche zu öffnen. Aber da flüsterte es in mir: «Warum alle Tore öffnen?» Und schon tauchte die Frage auf, was ich denn eigentlich zuwege gebracht hätte. Ich hatte die Mythen vergangener Völker erklärt, ich hatte ein Buch über den Helden geschrieben, über den Mythus, in dem der Mensch seit jeher lebte. «Aber in welchem Mythus lebt der Mensch heute?» «Im christlichen Mythus, könnte man sagen.» -«Lebst du in ihm?» fragte es in mir. «Wenn ich ehrlich sein soll, nein! Es ist nicht der Mythus, in dem ich lebe.» - «Dann haben wir keinen Mythus mehr ?» - «Nein, offenbar haben wir keinen Mythus


mehr.» - «Aber was ist denn dein Mythus? Der Mythus, in dem du lebst?» Da wurde es unangenehm, und ich hörte auf zu denken. Ich war an eine Grenze gekommen.

1912, um die Weihnachtszeit, hatte ich einen Traum. Ich befand mich auf einer prächtigen italienischen Loggia mit Säulen, Marmorboden und einer Marmorbalustrade. Dort saß ich auf einem goldenen Renaissancestuhl, vor mir ein Tisch von erlesener Schönheit. Er war aus grünem Stein, wie aus Smaragd. Ich saß und schaute ins Weite, denn die Loggia befand sich hoch oben am Turm eines Schlosses. Meine Kinder befanden sich ebenfalls am Tisch.

Mit einem Mal senkte sich ein weißer Vogel herab, eine kleine Möve oder eine Taube. Anmutig ließ sie sich auf dem Tisch nieder, und ich machte den Kindern ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten, damit sie den schönen weißen Vogel nicht verscheuchten. Alsbald verwandelte sich die Taube in ein kleines, etwa achtjähriges Mädchen mit goldblondem Haar. Es lief mit den Kindern davon, und sie spielten zusammen in den herrlichen Säulengängen des Schlosses.

Ich blieb in Gedanken versunken und dachte über das nach, was ich soeben erlebt hatte. Da kam das kleine Mädchen zurück und legte mir zärtlich den Arm um den Hals. Dann war es plötzlich verschwunden, die Taube war wieder da und sprach langsam mit menschlicher Stimme: «Nur in den ersten Stunden der Nacht kann ich mich in einen Menschen verwandeln, während der Tauber mit den zwölf Toten beschäftigt ist.» Damit entflog sie in die blaue Luft, und ich erwachte.

Das einzige, was ich über den Traum zu sagen wußte, war, daß er eine ungewöhnliche Belebung des Unbewußten anzeigte. Aber ich kannte keine Technik, um den inneren Vorgängen auf den Grund zu kommen. Was kann eine männliche Taube mit zwölf Toten zu schaffen haben ? Zum Smaragdtisch fiel mir die Geschichte der «tabula smaragdina» aus der alchemistischen Legende des Hermes Trismegistos ein. Er soll eine Tafel hinterlassen haben, auf der die Essenz der alchemistischen Weislieit in griechischer Sprache eingraviert war. Ich dachte auch an die zwölf Apostel, die zwölf Monate des Jahres, die Tierkreiszeichen. Aber ich fand keine Lösung des Rätsels. Schließlich mußte ich es aufgeben. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten, weiter zu leben und auf meine Phantasien zu achten.

Damals wiederholte sich eine erschreckende Phantasie: Es war etwas Totes da, das noch lebte. Z. B. wurden Leichen in Verbrennungsöfen getan, und dann zeigte es sich, daß noch Leben in ihnen war. Diese Phantasien gipfelten und lösten sich zugleich in einem Traum:

Ich war in einer Gegend, die mich an die Alyscamps bei Aries erinnerte. Dort befindet sich eine Allee von Sarkophagen, die bis auf die Merowingerzeit zurückgehen. Im Traum kam ich von der Stadt her und sah vor mir eine ähnliche Allee mit einer langen Reihe von Gräbern. Es waren Postamente mit Steinplatten, auf denen die Toten aufgebahrt waren. Dort lagen sie in ihren altertümlichen Kleidern und mit gefalteten Händen wie in alten Grabkapellen die Ritter in ihren Rüstungen, nur mit dem Unterschied, daß die Toten in meinem Traum nicht in Stein gehauen, sondern auf eine merkwürdige Weise mumifiziert waren. Vor dem ersten Grab blieb ich stehen und betrachtete den Toten. Es war ein Mann aus den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Interessiert schaute ich mir seine Kleider an. Plötzlich bewegte er sich und wurde lebendig. Er nahm die Hände auseinander, und ich wußte, daß das nur geschah, weil ich ihn anschaute. Mit einem unangenehmen Gefühl ging ich weiter und kam zu einem anderen Toten, der in das 18. Jahrhundert gehörte. Da geschah das gleiche: als ich ihn anschaute, wurde er lebendig und bewegte die Hände. So ging ich die ganze Reihe entlang, bis ich sozusagen in das 12. Jahrhundert kam, zu einem Kreuzfahrer im Kettenpanzer, der ebenfalls mit gefalteten Händen dalag. Seine Gestalt schien wie aus Holz geschnitzt. Lange schaute ich ihn an, überzeugt, daß er wirklich tot sei. Aber plötzlich sah ich, daß sich ein Finger der linken Hand leise zu regen begann.

Der Traum beschäftigte mich lange Zeit. Natürlich hatte ich ursprünglich Freuds Ansicht geteilt, daß sich im Unbewußten Relikte alter Erfahrungen befänden. Träume wie dieser und das wirkliche Erleben des Unbewußten führten mich zu der Einsicht, daß diese Relikte jedoch keine abgelebten Formen sind, sondern zur lebendigen Psyche gehören. Meine späteren Forschungen bestätigten diese Annahme, und im Laufe der Jahre entwickelte sich daraus die Archetypenlehre.

Die Träume beeindruckten mich, konnten mir aber über das Gefühl der Desorientiertheit nicht hinweghelfen. Im Gegenteil, ich lebte wie unter einem inneren Druck. Zeitweise war er so stark, daß


ich annahm, es müsse eine psychische Störung bei mir vorliegen. Zweimal ging ich darum mein ganzes Leben mit allen Einzelheiten durch, insbesondere die Kindheitserinnerungen; denn ich dachte, es läge vielleicht etwas in meiner Vergangenheit, das als Ursache der Störung in Betracht kommen könnte. Aber die Rückschau war ergebnislos, und ich mußte mir meine Unwissenheit eingestehen. Da sagte ich mir: «Ich weiß so gar nichts, daß ich jetzt einfach das tue, was mir einfällt.» Damit überließ ich mich bewußt den Impulsen des Unbewußten.

Als erstes tauchte eine Erinnerung aus der Kindheit auf, vielleicht aus dem zehnten oder elften Jahr. Damals hatte ich leidenschaftlich mit Bausteinen gespielt. Ich erinnerte mich deutlich, wie ich Häuschen und Schlösser gebaut und Tore mit Bögen über Flaschen gewölbt hatte. Etwas später verwendete ich natürliche Steine und Lehm als Mörtel. Diese Bauten hatten mich während langer Zeit fasziniert. Zu meinem Erstaunen tauchte diese Erinnerung auf, begleitet von einer gewissen Emotion.

«Aha», sagte ich mir, «hier ist Leben! Der kleine Junge ist noch da und besitzt ein schöpferisches Leben, das mir fehlt. Aber wie kann ich dazu gelangen?» Es schien mir unmöglich, die Distanz zwischen der Gegenwart, dem erwachsenen Mann, und meinem elften Jahr zu überbrücken. Wollte ich aber den Kontakt mit jener Zeit wieder herstellen, so blieb mir nichts anderes übrig, als wieder dorthin zurückzukehren und das Kind mit seinen kindlichen Spielen auf gut Glück wieder aufzunehmen.

Dieser Augenblick war ein Wendepunkt in meinem Schicksal, denn nach unendlichem Widerstreben ergab ich mich schließlich darein zu spielen. Es ging nicht ohne äußerste Resignation und nicht ohne das schmerzhafte Erlebnis der Demütigung, nichts anderes wirklich tun zu können als zu spielen.


So machte ich mich daran, passende Steine zu sammeln, teils am Ufer des Sees, teils im Wasser, und dann begann ich zu bauen:


Häuschen, ein Schloß - ein ganzes Dorf. Es fehlte noch die Kirche, und so machte ich einen quadratischen Bau mit einer sechseckigen Trommel darauf und einer quadratischen Kuppel. Zu einer Kirche gehört auch ein Altar. Aber ich scheute mich, ihn zu bauen.

Mit der Frage beschäftigt, wie ich diese Aufgabe lösen könnte, ging ich eines Tages wie gewöhnlich am See entlang und sammelte Steine im Uferkies. Plötzlich erblickte ich einen roten Stein: eine vierseitige Pyramide, etwa 4 cm hoch. Es war ein Steinsplitter, der


vom Rollen im Wasser und in den Wellen in diese Form geschliffen worden war - ein reines Zufallsprodukt. Ich wußte; das ist der Altar! So setzte ich ihn in die Mitte unter die Kuppel, und während ich das tat, fiel mir der unterirdische Phallus aus meinem Kindertraum ein. Dieser Zusammenhang erweckte in mir ein Gefühl der Befriedigung.

Jeden Tag baute ich nach dem Mittagessen, wenn das Wetter es erlaubte. Kaum war ich mit dem Essen fertig, spielte ich, bis die Patienten kamen; und am Abend, wenn die Arbeit früh genug beendet war, ging ich wieder ans Bauen. Dabei klärten sich meine Gedanken, und ich konnte die Phantasien fassen, die ich ahnungsweise in mir fühlte.

Natürlich machte ich mir Gedanken über den Sinn meines Spie -lens und fragte mich: «Was tust du eigentlich? Du baust eine kleine Siedlung auf und vollführst das wie einen Ritus!» Ich wußte keine Antwort, aber ich besaß die innere Gewißheit, daß ich auf "dem Weg zu meinem Mythus war. Das Bauen war nämlich nur ein Anfang. Er löste einen Strom von Phantasien aus, die ich später sorgfältig aufgeschrieben habe.

Dieser Typus des Geschehens hat sich bei mir fortgesetzt. Wann immer ich in meinem späteren Leben stecken blieb, malte ich ein Bild, oder bearbeitete ich Steine, und immer war das ein rite d'entree für nachfolgende Gedanken und Arbeiten. Alles, was ich dieses Jahr4geschrieben habe, also «Gegenwart und Zukunft», «Ein moderner Mythus», «Über das Gewissen», ist herausgewachsen aus der Steinarbeit, die ich nach dem Tod meiner Frau * machte. Die Vollendung meiner Frau, das Ende, und was mir dabei klar wurde, hatten mich ungeheuer aus mir selbst herausgerissen. Da brauchte es sehr viel, um mich wieder zu stabilisieren, und die Berührung mit dem Stein hat mir geholfen.

Gegen Herbst 1913 schien sich der Druck, den ich bisher in mir gefühlt hatte, nach außen zu verlegen, so als läge etwas in der Luft; tatsächlich erschien sie mir dunkler als zuvor. Es war, als ginge es nicht mehr um eine psychische Situation, sondern um konkrete Wirklichkeit. Dieser Eindruck verstärkte sich mehr und mehr.

1 1957. « 27. November 1955.

Im Oktober, als ich mich allein auf einer Reise befand, wurde ich plötzlich von einem Gesicht befallen: Ich sah eine ungeheure Flut, die alle nördlichen und tiefgelegenen Länder zwischen der Nordsee und den Alpen bedeckte. Die Flut reichte von England bis nach Rußland und von den Küsten der Nordsee bis fast zu den Alpen. Als sie die Schweiz erreichte, sah ich, daß die Berge höher und höher wuchsen, wie um unser Land zu schützen. Eine schreckliche Katastrophe spielte sich ab. Ich sah die gewaltigen gelben Wogen, die schwimmenden Trümmer der Kulturwerke und den Tod von ungezählten Tausenden. Dann verwandelte sich das Meer in Blut. Dieses Gesicht währte etwa eine Stunde, es verwirrte mich und machte mir übel. Ich schämte mich meiner Schwäche.

Es vergingen zwei Wochen, dann kehrte das Gesicht unter denselben Umständen wieder, nur die Verwandlung in Blut war noch schrecklicher. Eine innere Stimme sprach: «Sieh es an, es ist ganz wirklich, und es wird so sein; daran ist nicht zu zweifeln.»

Im Winter darauf fragte mich jemand, was ich über die nächste Zukunft des Weltgeschehens dächte. Ich sagte, ich dächte nichts, aber ich sähe Ströme von Blut. Das Gesicht ließ mich nicht los.

Ich fragte mich, ob die Visionen auf eine Revolution hinwiesen, konnte mir das aber nicht recht vorstellen. So zog ich den Schluß, daß sie mit mir selber zu tun hätten und nahm an, ich sei von einer Psychose bedroht. Der Gedanke an Krieg kam mir nicht.

Bald darauf, es war im Frühling und Frühsommer 1914, wiederholte sich dreimal ein Traum, daß mitten im Sommer eine arktische Kälte hereinbräche und das Land zu Eis erstarre. So sah ich z. B. die gesamte lothringische Gegend und ihre Kanäle gefroren. Alles Land war menschenleer, und alle Seen und Flüsse waren zu Eis erstarrt. Alles lebendig Grüne war erstarrt. Dieses Traumbild kam im April und Mai und das letzte Mal im Juni 1914.

Im dritten Traum war wieder eine ungeheure Kälte aus dem Weltraum hereingebrochen. Er hatte jedoch ein unvermutetes Ende: da stand ein blättertragender, aber früchteloser Baum (mein Lebensbaum, dachte ich), dessen Blätter sich durch die Einwirkung des Frostes zu süßen Weinbeeren voll heilenden Saftes verwandelt hatten. Ich pflückte die Trauben und schenkte sie einer großen harrenden Menge.

Ende Juli 1914 war ich von der British Medical Association nach Aberdeen eingeladen worden, wo ich an einem Kongreß einen


Vortrag halten sollte über «Die Bedeutung des Unbewußten in der Psychopathologie'». Ich war darauf gefaßt, daß etwas geschehen würde; denn solche Visionen und Träume sind Schicksal. In meinem damaligen Zustand' und bei meinen Befürchtungen schien es mir sogar wie Schicksal, daß ich gerade damals über die Bedeutung des Unbewußten sprechen mußte.

Am l. August brach der Weltkrieg aus. Jetzt stand meine Aufgabe fest: ich mußte zu verstehen suchen, was geschah, und inwiefern mein eigenes Erleben mit dem der Kollektivität zusammenhing. Darum hatte ich mich zuerst einmal auf mich selber zu besinnen. Den Anfang dazu bildete die Aufzeichnung der Phantasien, welche mir während des Bauspielens gekommen waren. Diese Arbeit trat nun in den Vordergrund.

Es war ein unaufhörlicher Strom von Phantasien, der dadurch ausgelöst wurde, und ich tat mein Möglichstes, um die Orientierung nicht zu verlieren und einen Weg zu finden. Ich stand hilflos in einer fremdartigen Welt, und alles erschien mir schwierig und unverständlich. Ich lebte ständig in einer intensiven Spannung, und es kam mir oft vor, als ob riesige Blöcke auf mich herunterstürzten. Ein Donnerwetter löste das andere ab. Daß ich es aushielt, war eine Frage der brutalen Kraft. Andere sind daran zerbrochen. Nietzsche und auch Hölderlin und viele andere. Aber es war eine dämonische Kraft in mir, und von Anfang an stand es für mich fest, daß ich den Sinn dessen finden mußte, was ich in den Phantasien erlebte. Das Gefühl, einem höheren Willen zu gehorchen, wenn ich dem Ansturm des Unbewußten standhielte, war unabweislich und blieb richtunggebend in der Bewältigung der Aufgabe4.

Ich war oft so aufgewühlt, daß ich die Emotionen durch Yoga-übungen ausschalten mußte. Da es aber mein Ziel war, zu erfahren, was in mir vorging, machte ich sie nur solange, bis ich mir Ruhe geschaffen hatte und die Arbeit mit dem Unbewußten wieder aufnehmen konnte. Sobald ich das Gefühl hatte, wieder ich selber zu sein, gab ich die Kontrolle auf und ließ den Bildern und inneren Stimmen erneut das Wort. Der Inder hingegen macht Yogaübun

3 Der Vortrag erschien englisch unter dem Titel «On the Importance of the Unconscious in Psychopathology» in dem «British Medical Journal», London II, 1914, in Ges. Werke III, 1968.

4 Als Jung von diesen Erinnerungen sprach, klang noch immer die Erregung nach. «Froh dem Tode entronnen 2u sein» (Odyssee) schlug er als Motto zu dem Kapitel vor. A. J.

gen zu dem Zweck, die Vielfalt der psychischen Inhalte und Bilder vollständig zu eliminieren.

In dem Maße, wie es mir gelang, die Emotionen in Bilder zu übersetzen, d. h. diejenigen Bilder zu finden, die sich in ihnen verbargen, trat innere Beruhigung ein. Wenn ich es bei der Emotion belassen hätte, wäre ich womöglich von den Inhalten des Unbewußten zerrissen worden. Vielleicht hätte ich sie abspalten können, wäre dann aber unweigerlich in eine Neurose geraten, und schließlich hätten mich die Inhalte doch zerstört. Mein Experiment verschaffte mir die Erkenntnis, wie hilfreich es vom therapeutischen Gesichtspunkt aus ist, die hinter den Emotionen liegenden Bilder bewußt zu machen.

Ich schrieb die Phantasien auf, so gut ich konnte und gab mir Mühe, auch den psychischen Voraussetzungen, unter denen sie aufgetaucht waren, Ausdruck zu verleihen. Doch konnte ich das nur in sehr unbeholfener Sprache tun. Zuerst formulierte ich die Phantasien, wie ich sie wahrgenommen hatte, meist in einer «gehobenen Sprache», denn sie entspricht dem Stil der Archetypen. Die Archetypen reden pathetisch und sogar schwülstig. Der Stil ihrer Sprache ist mir peinlich und geht gegen mein Gefühl, wie wenn jemand mit Nägeln an einer Gipswand oder mit dem Messer auf dem Teller kratzt. Aber ich wußte ja nicht, um was es ging. So hatte ich keine Wahl. Es blieb mir nichts übrig, als alles in dem vom Unbewußten selbst gewählten Stil aufzuschreiben. Manchmal war es, wie wenn ich es mit den Ohren hörte. Manchmal fühlte ich es mit dem Munde, wie wenn meine Zunge Worte formulierte;


und dann kam es vor, daß ich mich selbst Worte flüstern hörte. Unter der Schwelle des Bewußtseins war alles lebendig.

Von Anfang an hatte ich die Konfrontation mit dem Unbewußten als wissenschaftliches Experiment aufgefaßt, das ich mit mir selber anstellte und an dessen Ausgang ich vital interessiert war. Heute könnte ich allerdings auch sagen: es war ein Experiment, das mit mir angestellt wurde. Eine der größten Schwierigkeiten lag für mich darin, mit meinen negativen Gefühlen fertig zu werden. Ich überließ mich freiwillig den Emotionen, die ich doch nicht billigen konnte. Ich schrieb die Phantasien auf, welche mir oft wie Unsinn vorkamen und gegen die ich Widerstände empfand. Denn so lange man ihren Sinn nicht versteht, sind sie ein höllisches Gemisch von Erhabenem und Lächerlichem. Es hat mich viel gekostet durchzuhalten, aber ich wurde vom Schicksal dazu


herausgefordert. Nur mit höchster Anstrengung konnte ich mich schließlich aus dem Labyrinth befreien.

Um die Phantasien, die mich unterirdisch bewegten, zu fassen, mußte ich mich sozusagen in sie hinunterfallen lassen. Dagegen empfand ich nicht nur Widerstände, sondern ich fühlte auch ausgesprochene Angst. Ich fürchtete, meine Selbstkontrolle zu verlieren und eine Beute des Unbewußten zu werden, und was das heißt, war mir als Psychiater nur allzuklar. Ich mußte jedoch wagen, mich dieser Bilder zu bemächtigen. Wenn ich es nicht täte, riskierte ich, daß sie sich meiner bemächtigten. Ein wichtiges Motiv bei diesen Erwägungen bildete der Umstand, daß ich von meinen Patienten nichts erwarten konnte, was ich selber nicht zu tun wagte. Die Ausrede, daß neben dem Patienten ein Helfer stünde, wollte nicht verfangen. Ich wußte, daß der sogenannte Helfer, d. h. ich, die Materie noch nicht aus eigener Anschauung kannte, sondern daß ich höchstens einige theoretische Vorurteile von zweifelhaftem Wert darüber besaß. Der Gedanke, daß ich die abenteuerliche Unternehmung, in die ich mich verstrickte, schließlich nicht nur für mich persönlich, sondern auch für meine Patienten wagte, hat mir in mehreren kritischen Phasen mächtig geholfen.

Es war in der Adventszeit des Jahres 1913, als ich mich zum entscheidenden Schritt entschloß (12. Dez.). Ich saß an meinem Schreibtisch und überdachte noch einmal meine Befürchtungen, dann ließ ich mich fallen. Da war es mir, als ob der Boden im wörtlichen Sinne unter mir nachgäbe, und als ob ich in eine dunkle Tiefe sauste. Ich konnte mich eines Gefühls von Panik nicht erwehren. Aber plötzlich und nicht allzutief kam ich in einer weichen, stickigen Masse auf die Füße zu stehen - zu meiner großen Erleichterung. Jedoch befand ich mich in einer fast völligen Finsternis. Nach einiger Zeit gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, die nun einer tiefen Dämmerung glich. Vor mir lag der Eingang zu einer dunkeln Höhle, und dort stand ein Zwerg. Er erschien mir wie aus Leder, so als ob er mumifiziert wäre. Ich drängte mich an ihm vorbei durch den engen Eingang und watete durch knietiefes, eiskaltes Wasser zum anderen Ende der Höhle. Dort befand sich auf einem Felsband ein roter, leuchtender Kristall. Ich faßte den Stein, hob ihn auf und entdeckte, daß darunter ein Hohlraum war. Zunächst konnte ich nichts erkennen, aber schließlich erblickte ich strömendes Wasser in der Tiefe. Eine


Leiche schwamm vorbei, ein Jüngling mit blondem Haar, am Kopf verwundet. Ihm folgte ein riesiger schwarzer Skarabäus, und dann erschien, aus der Wassertiefe auftauchend, eine rote, neugeborene Sonne. Geblendet vom Licht, wollte ich den Stein wieder auf die Öffnung legen, da drängte sich jedoch eine Flüssigkeit durch die Öffnung. Es war Blut! Ein dicker Strahl sprang auf und ich empfand Übelkeit. Der Blutstrom währte, wie mir schien, unerträglich lange. Endlich versiegte er, und damit war die Vision zu Ende.

Ich war von den Bildern aufs Tiefste bestürzt. Natürlich sah ich, daß die piece de resistance ein Helden- und Sonnenmythus war, ein Drama von Tod und Wiedererneuerung. Die Wiedergeburt war verdeutlicht durch den ägyptischen Skarabäus. Am Ende hätte der neue Tag folgen sollen. Stattdessen kam der unerträgliche Blutstrom, ein durchaus abnormes Phänomen, wie mir schien. Da fiel mir aber meine Blutvision vom Herbst desselben Jahres ein, und ich gab jeden weiteren Versuch zu verstehen auf.

Sechs Tage später (18. Dezember 1913) hatte ich folgenden Traum: Ich fand mich mit einem unbekannten braunhäutigen Jüngling, einem Wilden, in einem einsamen, felsigen Gebirge. Es war vor Tagesanbruch, der östliche Himmel war schon hell, und die Sterne waren am Erlöschen. Da tönte über die Berge das Hörn Siegfrieds, und ich wußte, daß wir ihn umbringen müßten. Wir waren mit Gewehren bewaffnet und lauerten ihm an einem schmalen Felspfad auf.


Plötzlich erschien Siegfried hoch oben auf dem Grat des Berges im ersten Strahl der aufgehenden Sonne. Auf einem Wagen aus Totengebein fuhr er in rasendem Tempo den felsigen Abhang hinunter. Als er um eine Ecke bog, schössen wir auf ihn, und er stürzte, zu Tode getroffen.


Voll Ekel und Reue, etwas so Großes und Schönes zerstört zu haben, wandte ich mich zur Flucht, getrieben von Angst, man könnte den Mord entdecken. Da begann ein gewaltiger Regen niederzurauschen, und ich wußte, daß er alle Spuren der Tat verwischen würde. Der Gefahr, entdeckt zu werden, war ich entronnen, das Leben konnte weiter gehen, aber es blieb ein unerträgliches Schuldgefühl.


Als ich aus dem Traum erwachte, dachte ich über ihn nach, aber es war mir unmöglich, ihn zu verstehen. So versuchte ich wieder einzuschlafen, aber eine Stimme sagte: «Du mußt den Traum ver


stehen, und zwar sofort!» Das innere Drängen steigerte sich bis zu dem furchtbaren Augenblick, als die Stimme sagte: «Wenn du den Traum nicht verstehst, mußt du dich erschießen!» In meinem Nachttisch lag ein geladener Revolver, und es wurde mir angst. Da begann ich noch einmal nachzudenken, und plötzlich ging mir der Sinn des Traumes auf: «Das ist ja das Problem, das in der Welt gespielt wird!» Siegfried stellt das dar, was die Deutschen verwirklichen wollten, nämlich den eigenen Willen heldenhaft durchzusetzen. «Wo ein Wille, da ist ein Weg!» Dasselbe wollte auch ich. Aber das war nun nicht mehr möglich. Der Traum zeigte, daß die Einstellung, welche durch Siegfried, den Helden, v erkörpert war, nicht mehr zu mir paßte. Darum mußte er umgebracht werden.


Nach der Tat empfand ich ein überwältigendes Mitgefühl, so als sei ich selber erschossen worden. Darin drückte sich meine geheime Identität mit dem Helden aus, sowie das Leiden, das der Mensch erlebt, wenn er gezwungen wird, sein Ideal und seine bewußte Einstellung zu opfern. Doch dieser Identität mit dem Heldenideal mußte ein Ende gesetzt werden; denn es gibt Höheres, dem man sich unterwerfen muß, als der Ich-Wille.


Diese Gedanken genügten fürs erste, und ich schlief wieder ein.


Der braunhäutige Wilde, der mich begleitet und die eigentliche Initiative zur Tat ergriffen hatte, ist eine Verkörperung des primitiven Schattens. Der Regen zeigt an, daß die Spannung zwischen Bewußtsein und Unbewußtem sich löste.


Obwohl es mir damals noch nicht möglich war, den Sinn des Traums über die wenigen Andeutungen hinaus zu verstehen, wurden neue Kräfte frei, die mir halfen, das Experiment mit dem Unbewußten zu Ende zu führen.

Um die Phantasien zu fassen, stellte ich mir oft einen Abstieg vor. Einmal bedurfte es sogar mehrerer Versuche, um in die Tiefe zu gelangen. Das erste Mal erreichte ich sozusagen eine Tiefe von dreihundert Metern, das nächste Mal war es schon eine kosmische Tiefe. Es war wie eine Fahrt zum Mond, oder wie ein Abstieg ins Leere. Zuerst kam das Bild eines Kraters, und ich hatte das Gefühl, ich sei im Totenland. Am Fuß einer hohen Felswand erblickte ich zwei Gestalten, einen alten Mann mit weißem Bart und ein schönes junges Mädchen. Ich nahm meinen Mut zusammen und trat ihnen wie wirklichen Menschen gegenüber. Aufmerksam hörte ich auf das, was sie mir sagten. Der Alte erklärte, er sei Elias, und das versetzte mir einen Schock. Das Mädchen brachte mich fast noch mehr aus der Fassung, denn sie nannte sich Salome! Sie war blind. Was für ein seltsames Paar: Salome und Elias! Doch Elias versicherte, er und Salome gehörten von Ewigkeit her zusammen, und das verwirrte mich vollends. Mit ihnen lebte eine schwarze Schlange, die offensichtlich Zuneigung für mich an den Tag legte. Ich hielt mich an Elias, weil er der vernünftigste von den dreien zu sein und über einen guten Verstand zu verfügen schien. Salome gegenüber war ich mißtrauisch. Elias und ich führten ein längeres Gespräch, dessen Sinn ich aber nicht erfassen konnte.

Natürlich versuchte ich mir das Auftreten der biblischen Gestalten in meiner Phantasie dadurch plausibel zu machen, daß mein Vater Pfarrer gewesen war. Aber damit war noch nichts erklärt. Denn was bedeutet der Alte? Was bedeutet Salome? Warum sind sie zusammen? Erst Jahre später, als ich viel mehr wußte, erschien mir die Verbindung des alten Mannes mit dem jungen Mädchen durchaus natürlich.

In solchen Traumwanderungen begegnet man nämlich häufig einem alten Mann, der von einem jungen Mädchen begleitet ist, und in vielen mythischen Erzählungen finden sich Beispiele für dieses Paar. So ist nach gnostischer Überlieferung Simon Magus mit einem jungen Mädchen herumgezogen, das er in einem Bordell aufgelesen haben soll. Sie hieß Helena und galt als Reinkarnation der trojanischen Helena. Klingsor und Kundry, Laotse und die Tänzerin gehören ebenfalls hierher.

In meiner Phantasie befand sich, wie schon erwähnt, neben Elias und Salome noch eine dritte Figur, die große schwarze Schlange. In den Mythen ist die Schlange häufig Gegenspielerin des Helden. Es gibt zahlreiche Berichte über ihre Verwandtschaft. So heißt es z.B., der Held habe Schlangenaugen; oder er würde nach seinem Tode in eine Schlange verwandelt, und er wurde als solche verehrt; oder die Schlange sei seine Mutter usw. In meiner Phantasie kündet also die Anwesenheit der Schlange einen Heldenmythus an.

Salome ist eine Animafigur. Sie ist blind, weil sie den Sinn der Dinge nicht sieht. Elias ist die Figur des alten weisen Propheten und stellt das erkennende Element dar, Salome das erotische. Man könnte sagen, die beiden Gestalten seien Verkörperungen von Logos und Eros. Aber eine solche Definition wäre bereits zu intel


lektuell. Es ist sinnvoller, die Gestalten zunächst einmal als das zu belassen, was sie mir damals erschienen, nämlich als Verdeutlichungen unbewußter Hintergrundsvorgänge.

Bald nach dieser Phantasie tauchte eine andere Gestalt aus dem Unbewußten auf. Sie hatte sich aus der Figur des Ellas entwickelt. Ich nannte sie Philemon. Philemon war ein Heide und brachte eine ägyptischhellenistische Stimmung mit einer gnostischen Färbung herauf. Seine Gestalt erschien mir zuerst in einem Traum:

Es war blauer Himmel, aber er schien wie das Meer. Er war bedeckt - nicht von Wolken, sondern von braunen Erdschollen. Es sah aus, als ob die Schollen auseinanderbrächen und das blaue Wasser des Meeres dazwischen sichtbar würde. Das Wasser war aber der blaue Himmel. Plötzlich schwebte von rechts her ein geflügeltes Wesen herbei. Es war ein alter Mann mit Stierhörnern. Er trug einen Bund mit vier Schlüsseln und hielt den einen so, wie wenn er im Begriff stünde, ein Schloß aufzuschließen. Er war geflügelt, und seine Flügel waren wie diejenigen des Eisvogels mit ihren charakteristischen Farben.

Da ich das Traumbild nicht verstand, malte ich es, um es mir besser zu veranschaulichen. In den Tagen, als ich damit beschäftigt war, fand ich am Seeufer meines Gartens einen toten Eisvogel! Ich war wie vom Donner gerührt! Nur ganz selten sieht man Eisvögel in der Umgebung von Zürich. Darum war ich von diesem anscheinend zufälligen Zusammentreffen so betroffen. Die Leiche war noch frisch, höchstens zwei bis drei Tage alt, und wies keine äußeren Verletzungen auf.

Philemon und andere Phantasiegestalten brachten mir die entscheidende Erkenntnis, daß es Dinge in der Seele gibt, die nicht ich mache, sondern die sich selber machen und ihr eigenes Leben haben. Philemon stellte eine Kraft dar, die ich nicht war. Ich führte Phantasiegespräche mit ihm, und er sprach Dinge aus, die ich nicht bewußt gedacht hatte. Ich nahm genau wahr, daß er es war, der redete und nicht ich. Er erklärte mir, daß ich mit den Gedanken so umginge, als hätte ich sie selbst erzeugt, während sie nach seiner Ansicht eigenes Leben besäßen wie Tiere im Walde, oder Menschen in einem Zimmer, oder wie Vögel in der Luft: «Wenn du Menschen in einem Zimmer siehst, würdest du auch nicht sagen, du hättest sie gemacht, oder du seist für sie verantwortlich», belehrte er mich. So brachte er mir allmählich die psychische Objektivität, die «Wirklichkeit der Seele» bei.

Durch die Gespräche mit Philemon verdeutlichte sich mir die Unterschiedenheit zwischen mir und meinem gedanklichen Objekt. Auch er war mir sozusagen objektiv gegenübergetreten, und ich verstand, daß etwas in mir ist, was Dinge aussprechen kann, die ich nicht weiß und nicht meine, Dinge, die vielleicht sogar gegen mich gerichtet sind.

Psychologisch stellte Philemon eine überlegene Einsicht dar. Er war für mich eine geheimnisvolle Figur. Zu Zeiten kam er mir fast wie physisch real vor. Ich ging mit ihm im Garten auf und ab, und er war mir das, was die Inder als Guru bezeichnen.

Jedesmal, wenn sich eine neue Personifikation abzeichnete, empfand ich es beinahe als eine persönliche Niederlage. Es hieß: «Auch das hast du solange nicht gewußt!» und Angst beschlich mich, daß die Reihe solcher Gestalten vielleicht endlos sein und ich mich in Abgründe bodenloser Unwissenheit verlieren könnte. Mein Ich fühlte sich entwertet, obwohl reichliche äußere Erfolge mich eines «Besseren» hätten belehren können. Ich hätte mir damals in meinen «Finsternissen» (Horridas nostrae mentis purga tenebras, sagt die Aurora Consurgens8) nichts Besseres gewünscht als einen wirklichen, konkreten Guru, einen überlegen Wissenden und Könnenden, der mir die unwillkürlichen Schöpfungen meiner Phantasie entwirrt hätte. Diese Aufgabe übernahm Philemon, den ich in dieser Hinsicht nolens volens als Psychagogen anerkennen mußte. Er hat mir in der Tat erleuchtende Gedanken vermittelt.

Mehr als fünfzehn Jahre später besuchte mich ein älterer und hochgebildeter Inder, ein Freund Gandhis, und wir unterhielten uns über indische Erziehung, speziell über die Beziehung von Guru und Chelah. Ich fragte ihn zögernd, ob er mir vielleicht Auskunft geben könnte über Natur und Charakter seines eigenen Guru, worauf er in einem matter-of-fact-Ton antwortete: «Oh ja, es war Chankaracharya.»

«Sie meinen doch nicht den Kommentator der Veden?», bemerkte ich. «Der ist doch vor vielen Jahrhunderten gestorben.»


«Ja, den meine ich», sagte er zu meinem größten Erstaunen.


«Sie meinen also einen Geist ?» fragte ich.


«Natürlich war es ein Geist», bestätigte er.


In diesem Augenblick fiel mir Philemon ein.

' Eine alchemistische, dem Thomas von Aquin zugeschriebene Schrift. Übers.: Reinige die schrecklichen Finsternisse unseres Geistes.

«Es gibt auch geistige Gurus», fügte er bei. «Die meisten haben lebende Menschen als Gurus. Es gibt aber immer wieder solche, welche einen Geist zum Lehrer haben.»

Diese Nachricht war mir ebenso tröstlich wie erleuchtend. Ich war also keineswegs aus der Menschenwelt herausgefallen, sondern hatte nur das erfahren, was Menschen, die ähnlicher Bemühung obliegen, begegnen kann.

Später wurde Philemon relativiert durch das Heraufkommen einer anderen Gestalt, die ich als Ka bezeichnete. Im alten Ägypten galt der «Ka des Königs» als dessen irdische Form, als Gestaltseele. In meiner Phantasie kam die Ka-Seele von unten aus der Erde wie aus einem tiefen Schacht. Ich malte sie in ihrer erdhaften Gestalt, als eine Herme, deren Sockel aus Stein und deren Oberteil aus Bronze besteht. Ganz oben im Bild erscheint ein Flügel des Eisvogels, und zwischen ihm und dem Kopf des Ka schwebt ein runder, leuchtender Sternnebel. Der Ausdruck des Ka hat etwas Dämonisches, man könnte auch sagen: Mephistophelisches. In der einen Hand hält er ein Gebilde, ähnlich einer farbigen Pagode oder einem Reliquienschrein und in der anderen einen Stylus, mit dem er daran arbeitet. Er sagt von sich: «Ich bin der, der die Götter in Gold und Edelsteinen begräbt.»

Philemon hat einen lahmen Fuß, ist aber ein geflügelter Geist, während Ka eine Art Erd - oder Metalldämon darstellt. Philemon ist der geistige Aspekt, «der Sinn», Ka dagegen ein Naturgeist wie das Anthroparion der griechischen Alchemie, die mir damals allerdings noch nicht bekannt war'. Ka ist derjenige, der alles wirklich macht, der aber den Eisvogelgeist, den Sinn, verschleiert oder ihn durch Schönheit, den «ewigen Abglanz», ersetzt.

Mit der Zeit konnte ich beide Gestalten integrieren. Das Studium der Alchemie half mir dabei.

Während ich an den Phantasien schrieb, fragte ich mich einmal: «Was tue ich eigentlich? Bestimmt hat es mit Wissenschaft nichts zu tun. Also was ist es dann?» Da sagte eine Stimme in mir: «Es ist Kunst.» Ich war höchst erstaunt, denn es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, daß meine Phantasien etwas mit Kunst zu tun

* Anthroparion ist ein «Menschlein», eine Art Homunculus. In die Gruppe der Anthroparien gehören die Erzmännchen, die Daktylen der Antike, der Homunculus der Alchemisten. Auch der alchemistische Mercurius war,als Geist des Quecksilbers, ein Anthroparion. A. J.

haben könnten, sagte mir aber: «Vielleicht hat mein Unbewußtes eine Persönlichkeit geformt, die nicht Ich bin, und die mit ihrer eigenen Ansicht zu Worte kommen möchte.» Ich wußte, daß die Stimme von einer Frau stammte und erkannte sie als die Stimme einer Patientin, einer begabten Psychopathin, die eine starke Übertragung auf mich hatte. Sie war zu einer lebendigen Gestalt in meinem Innern geworden.

Natürlich war das, was ich tat, nicht Wissenschaft. Was anderes konnte es also sein als Kunst? Es schien auf der ganzen Welt nur diese zwei Möglichkeiten zu geben! Das ist die typisch weibliche Art zu argumentieren.

Mit Nachdruck und voller Widerstände erklärte ich der Stimme, daß meine Phantasien mit Kunst nichts zu tun hätten. Da schwieg sie, und ich fuhr fort zu schreiben. Dann kam eine nächste Attacke - die gleiche Behauptung: «Das ist Kunst.» Wiederum protestierte ich: «Nein, das ist es nicht. Im Gegenteil, es ist Natur.» Ich machte mich auf neuen Widerspruch und Streit gefaßt; als aber nichts erfolgte, überlegte ich, daß die «Frau in mir» kein Sprachzentrum besäße, und schlug ihr vor, sich meiner Sprache zu bedienen. Sie nahm den Vorschlag an und erklärte sogleich ihren Standpunkt in einer langen Rede.

Es interessierte mich außerordentlich, daß eine Frau aus meinem Innern sich in meine Gedanken einmischte. Wahrscheinlich, so dachte ich, handelt es sich um die «Seele» im primitiven Sinn, und ich fragte mich, warum die Seele als «anima» bezeichnet worden sei. Warum stellte man sie sich als weiblich vor? Später sah ich, daß es sich bei der weiblichen Figur in mir um eine typische oder archetypische Gestalt im Unbewußten des Mannes handelt, und ich bezeichnete sie als «Anima». Die entsprechende Figur im Unbewußten der Frau nannte ich «Animus».

Zuerst war es der negative Aspekt der Anima, der mich beeindruckte. Ich empfand Scheu vor ihr wie vor einer unsichtbaren Präsenz. Dann versuchte ich, mich anders auf sie zu beziehen und betrachtete die Aufzeichnungen meiner Phantasien als an sie gerichtete Briefe. Ich schrieb sozusagen an einen Teil meiner selbst, der einen anderen Standpunkt vertrat als mein Bewußtsein


- und erhielt überraschende und ungewöhnliche Antworten. Ich kam mir vor wie ein Patient in Analyse bei einem weiblichen Geist! Jeden Abend machte ich mich an meine Aufzeichnungen; denn ich dachte: Wenn ich der Anima nicht schreibe, kann sie meine Phan


tasien nicht fassen. - Es gab aber noch einen anderen Grund für meine Gewissenhaftigkeit: das Geschriebene konnte die Anima nicht verdrehen, sie konnte keine Intrigen daraus spinnen. In dieser Beziehung macht es einen gewaltigen Unterschied, ob man lediglich im Sinn hat, etwas zu erzählen, oder ob man es wirklich niederschreibt. In meinen «Briefen» versuchte ich, so ehrlich wie möglich zu sein, der alten griechischen Weisung folgend: «Gib weg von dir, was du besitzest, und du wirst empfangen.»

Nur allmählich lernte ich, zwischen meinen Gedanken und den Inhalten der Stimme zu unterscheiden. Wenn sie mir z. B. Banalitäten unterschieben wollte, sagte ich: «Das ist richtig, so habe ich früher einmal gedacht und gefühlt. Aber ich bin nicht verpflichtet, mich bis an mein Lebensende dabei behaften zu lassen. Wozu diese Demütigung?»

Worauf es vor allem ankommt, ist die Unterscheidung zwischen dem Bewußtsein und den Inhalten des Unbewußten. Diese muß man sozusagen isolieren, und das geschieht am leichtesten, indem man sie personifiziert und dann vom Bewußtsein her einen Kontakt mit ihnen herstellt. Nur so kann man ihnen die Macht entziehen, die sie sonst auf das Bewußtsein ausüben. Da die Inhalte des Unbewu ßten einen gewissen Grad von Autonomie besitzen, bietet diese Technik keine besonderen Schwierigkeiten. Etwas ganz anderes ist es, sich überhaupt mit der Tatsache der Autonomie unbewußter Inhalte zu befreunden. Und doch liegt gerade hierin die Möglichkeit , mit dem Unbewußten umzugehen.

In Wirklichkeit übte die Patientin, deren Stimme in mir sprach, einen verhängnisvollen Einfluß auf Männer aus. Es war ihr gelungen, einem Kollegen von mir einzureden, er sei ein mißverstandener Künstler. Er hat's geglaubt und ist daran zerbrochen. Die Ursache für sein Versagen ? Er lebte nicht aus seiner eigenen Anerkennung, sondern von der Anerkennung der anderen. Das ist gefährlich. Es hat ihn unsicher und den Insinuationen der Anima zugänglich gemacht; denn was sie sagt, ist oft von einer verführerischen Kraft und einer abgründigen Schlauheit.

Wären mir die Phantasien des Unbewußten als Kunst erschienen, so hätte ich sie mit meinem inneren Auge betrachten oder wie einen Film abrollen sehen können. Es hätte ihnen nicht mehr Überzeugungskraft innegewohnt als irgendeiner Sinneswahrnehmung, und eine ethische Verpflichtung ihnen gegenüber wäre mir nicht erwachsen. Die Anima hätte auch mir einreden können, ich


sei ein mißverstandener Künstler, und mein soi-disant Künstlertum verleihe mir das Recht, die Realität zu vernachlässigen. Wäre ich aber ihrer Stimme gefolgt, so hätte sie mir höchst wahrscheinlich eines Tages gesagt: «Bildest du dir etwa ein, der Unsinn, den du betreibst, sei Kunst? Davon ist keine Rede.» Die Zweideutigkeit der Anima, Sprachrohr des Unbewußten, kann einen Mann in Grund und Boden vernichten. Ausschlaggebend ist letzten Endes immer das Bewußtsein, das die Manifestationen des Unbewußten versteht und ihnen gegenüber Stellung nimmt.

Aber die Anima hat auch einen positiven Aspekt. Sie ist es, welche die Bilder des Unbewußten dem Bewußtsein vermittelt, und darauf kam es mir hauptsächlich an. Während Jahrzehnten habe ich mich immer an die Anima gewandt, wenn ich fühlte, daß meine Affektivität gestört und ich in Unruhe versetzt war. Dann war etwas im Unbewußten konstelliert. In solchen Augenblicken fragte ich die Anima: «Was hast du jetzt wieder? Was siehst du? Ich möchte das wissen!» - Nach einigen Widerständen produzierte sie regelmäßig das Bild, das sie schaute. Sobald das Bild da war, verschwand die Unruhe oder die Bedrückung. Die gesamte Energie meiner Emotionen verwandelte sich in Interesse und Neugier für seinen Inhalt. Dann sprach ich mit der Anima über die Bilder; denn ich mußte sie so gut wie möglich verstehen, ebenso wie einen Traum.

Heute brauche ich die Gespräche mit der Anima nicht mehr, denn ich habe keine solchen Emotionen mehr. Aber wenn ich sie hätte, würde ich in gleicher Weise vorgehen. Heute sind mir die Ideen unmittelbar bewußt, weil ich gelernt habe, die Inhalte des Unbewußten anzunehmen und zu verstehen. Ich weiß, wie ich mich den inneren Bildern gegenüber verhalten muß. Ich kann den Sinn der Bilder direkt aus meinen Träumen ablesen und brauche darum keine Vermittlerin mehr.

Die Phantasien, die mir damals kamen, schrieb ich zuerst ins «Schwarze Buch», später übertrug ich sie in das «Rote Buch», das ich auch mit Bildern ausschmückte7. Es enthält die meisten meiner Mandalazeichnungen. Ich habe den untauglichen Versuch einer ästhetischen Elaboration meiner Phantasien im «Roten Buch» unter


7 Das «Schwarze Buch» umfaßt sechs in schwarzes Leder gebundene kleinere

Bände; das «Rote Buch», ein in rotes Leder gebundener Folioband, enthält die gleichen Phantasien in ausgearbeiteter Form und Sprache und in kalligraphischer gotischer Schrift, nach Art mittelalterlicher Handschriften. A.J.

nommen, doch ist er nie beendet worden 8. Es wurde mir bewußt, daß ich noch nicht die richtige Sprache sprach, daß ich sie noch übersetzen mußte. So habe ich das Ästhetisieren beizeiten aufgegeben und mich ernsthaft um das Verstehen bemüht. Ich sah, daß soviel Phantasie festen Bodens bedurfte, und daß ich zuerst ganz in die menschliche Wirklichkeit zurückkommen mußte. Diese Wirklichkeit war für mich das wissenschaftliche Verständnis. Aus den Einsichten, die mir das Unbewußte vermittelt hatte, mußte ich konkrete Schlüsse ziehen - und das ist der Inhalt meiner Lebensarbeit geworden.

Die ästhetisierende Elaboration im «Roten Buch» war notwendig, so sehr ich mich auch über sie geärgert habe; denn erst mit ihr kam die Einsicht in die ethische Verpflichtung den Bildern gegenüber. Sie hat meine Lebensführung entscheidend beeinflußt. Es wurde mir klar, daß keine noch so vollkommene Sprache das Leben ersetzt. Wenn sie das Leben zu ersetzen versucht, wird nicht nur sie, sondern auch das Leben verdorben. Um die Befreiung von der Tyrannei unbewußter Voraussetzungen zu erringen, braucht es beides: die Einlösung der intellektuellen sowohl wie der ethischen Verpflichtung.

Es ist natürlich eine Ironie, daß ich als Psychiater bei meinem Experiment sozusagen auf Schritt und Tritt demjenigen psychischen Material begegnet bin, das die Bausteine einer Psychose liefert, und das man darum auch im Irrenhaus findet. Es ist jene Welt unbewußter Bilder, die den Geisteskranken in fatale Verwirrung setzt, aber zugleich auch eine Matrix der mythenbildenden Phantasie, die unserem rationalen Zeitalter entschwunden ist. Die mythische Phantasie ist zwar überall vorhanden, aber sie ist ebensosehr verpönt wie gefürchtet, und es erscheint sogar als riskiertes Experiment oder als zweifelhaftes Abenteuer, sich dem unsicheren Pfad, der in die Tiefen des Unbewußten führt, anzuvertrauen. Er gilt als ein Pfad des Irrtums, der Zweideutigkeit und des Mißverständnisses. Ich denke an Goethes Wort: «Vermesse dich, die Pforten aufzureißen, an denen jeder gern vorüberschleicht...» Faust II ist jedoch mehr als ein literarischer Versuch. Er ist ein Glied in der Aurea Catena*,

8 Vgl. Appendix pag. 387 f.


9 «Aurea Catena» (Goldene Kette) ist eine Anspielung auf eine alche-tnistische Schrift «Aurea Catena Homeri» (1723). Es ist damit eine Kette weiser Männer gemeint, die, beginnend mit Hermes Trismegistos, Erde und Himmel verbinden. A. J.

welche, von den Anfängen der philosophischen Alchemie und des Gnostizismus bis zu Nietzsches Zarathustra - meist unpopulär, zweideutig und gefährlich - eine Entdeckungsreise zum ändern Pol der Welt darstellt.

Natürlich brauchte ich gerade in der Zeit, als ich an den Phantasien arbeitete, einen Halt in «dieser Welt», und ich kann sagen, das war mir die Familie und die Berufsarbeit. Es war mir vital notwendig, auch ein selbstverständliches rationales Leben zu führen, als Gegengewicht zu der fremden Innenwelt. Die Familie und der Beruf blieben für mich die Basis, zu der ich immer zurückkehren konnte, und die mir bewies, daß ich ein wirklich vorhandener gewöhnlicher Mensch war. Die Inhalte des Unbewußten konnten mich bisweilen außer Rand und Band bringen. Aber die Familie und das Wissen: ich habe ein Ärztediplom, ich muß meinen Patienten helfen, ich habe eine Frau und fünf Kinder, und ich wohne an der Seestraße 228 in Küsnacht das waren Tatsächlichkeiten, die mich anforderten. Sie bewiesen mir Tag für Tag, daß ich wirklich existierte und nicht nur ein vom Geistwind umgetriebenes Blatt war wie ein Nietzsche. Nietzsche hatte den Boden unter den Füßen verloren, weil er nichts anderes besaß als die innere Welt seiner Gedanken - die überdies ihn mehr besaß als er sie. Er war entwurzelt und schwebte über der Erde, und deshalb verfiel er der Übertreibung und der Unwirklichkeit. Diese Unrealität war für mich der Inbegriff des Grauens, denn ich meinte ja diese Welt und dieses Leben. Auch wenn ich noch so sehr versunken und umgetrieben war, wußte ich doch immer, daß alles, was ich erlebte, dieses mein wirkliches Leben meinte, dessen Umfang und Sinn ich zu erfüllen trachtete. Meine Devise war: Hic Rhodus, hic salta!

So waren meine Familie und mein Beruf immer eine beglückende Realität und eine Garantie, daß ich normal und wirklich existierte.

Ganz allmählich zeichnete sich in mir eine Wandlung ab. Im Jahre 1916 spürte ich einen Drang zur Gestaltung: Ich wurde sozusagen von innen her gezwungen, das zu formulieren und auszusprechen, was gewissermaßen von Philemon hätte gesagt werden können. So kamen die «Septem Sermones ad Mortuos» mit ihrer eigentümlichen Sprache zustande10.

10 Sieben Reden an die Toten. Vgl. Appendix pag. 388 ff.

Es begann damit, daß eine Unruhe in mir war, aber ich wußte nicht, was sie bedeutete, oder was «man» von mir wollte. Es war eine seltsam geladene Atmosphäre um mich herum, und ich hatte das Gefühl, als sei die Luft erfüllt von gespenstischen Entitäten. Dann fing es an, im Hause zu spuken: meine älteste Tochter sah in der Nacht eine weiße Gestalt durchs Zimmer gehen. Die andere Tochter erzählte - unabhängig von der ersten - es sei ihr zweimal in der Nacht die Decke weggerissen worden, und mein neunjähriger Sohn hatte einen Angsttraum. Am Morgen verlangte er von der Mutter Farbstifte, und er, der sonst nie ein Bild gemacht hatte, zeichnete den Traum. Er nannte es «Das Bild vom Fischer». Durch die Mitte des Bildes läuft ein Fluß, ein Fischer mit einer Angelrute steht am Ufer. Er hat einen Fisch gefangen. Auf dem Kopf des Fischers befindet sich ein Kamin, aus dem Feuer schlägt und Rauch aufsteigt. Von der anderen Seite des Ufers kommt der Teufel durch die Luft geflogen. Er flucht, daß ihm die Fische gestohlen würden. Aber über dem Fischer schwebt ein Engel, der sagt: «Du darfst ihm nichts tun: er fängt nur die bösen Fische!» Dieses Bild hatte mein Sohn an einem Samstagmorgen gezeichnet.

Am Sonntag gegen fünf Uhr nachmittags läutete es an der Haustür Sturm. Es war ein heller Sommertag, und die zwei Mädchen waren in der Küche, von der man den offenen Platz vor der Haustür übersehen kann. Ich befand mich in der Nähe der Glocke, hörte sie und sah, wie der Klöppel sich bewegte. Alle liefen sofort an die Tür, um nachzuschauen, wer da sei, aber es war niemand da! Wir haben uns nur so angeschaut! Die Luft war dick, sage ich Ihnen! Da wußte ich: Jetzt muß etwas geschehen. Das ganze Haus war angefüllt wie von einer Volksmenge, dicht voll von Geistern. Sie standen bis unter die Tür, und man hatte das Gefühl, kaum atmen zu können. Natürlich brannte in mir die Frage: «Um Gottes willen, was ist denn das?» Da riefen sie laut im Chor: «Wir kommen zurück von Jerusalem, wo wir nicht fanden, was wir suchten.» Diese Worte entsprechen den ersten Zeilen der «Septem Sermones ad Mortuos».

Dann fing es an, aus mir herauszufließen, und in drei Abenden war die Sache geschrieben. Kaum hatte ich die Feder angesetzt, fiel die ganze Geisterschar zusammen. Der Spuk war beendet. Das Zimmer wurde ruhig und die Atmosphäre rein. Bis zum nächsten Abend hatte sich wieder etwas angesammelt, und dann ging es von neuem so. Das war 1916.

Dieses Erlebnis muß man nehmen, wie es ist oder zu sein scheint. Wahrscheinlich hing es mit dem Zustand der Emotion zusammen, in dem ich mich damals befand, und in dem sich parapsychologische Phänomene einstellen können. Es war eine unbewußte Konstellation, und die eigentümliche Atmosphäre einer solchen Konstellation war mir als Numen eines Archetypus wohlbekannt. «Es eignet sich, es zeigt sich an!» Der Intellekt möchte sich natürlich eine naturwissenschaftliche Erkenntnis darüber anmaßen oder noch lieber das ganze Erlebnis als Regelwidrigkeit totschlagen. Was für eine Trostlosigkeit wäre eine Welt ohne Regelwidrigkeiten !

Kurz vor diesem Erlebnis hatte ich eine Phantasie aufgeschrieben, daß die Seele mir entflogen sei. Das war mir ein bedeutsames Ereignis. Die Seele, die Anima, schafft die Beziehung zum Unbewußten. In gewissem Sinne ist es auch eine Beziehung zur Kollektivität der Toten; denn das Unbewußte entspricht dem mythischen Totenland, dem Lande der Ahnen. Wenn also in einer Phantasie die Seele verschwindet, so heißt das, sie habe sich ins Unbewußte oder ins «Totenland» zurückgezogen. Das entspricht dem sogenannten Seelenverlust, einem Phänomen, das man bei den Primitiven relativ häufig antrifft. Im «Totenland» bewirkt die Seele eine geheime Belebung und gibt den anzestralen Spuren, den kollektiven Inhalten des Unbewußten, Gestalt. Wie ein Medium gibt sie den «Toten» die Möglichkeit, sich zu manifestieren. Darum erschienen sehr bald nach dem Verschwinden der Seele die «Toten» bei mir, und es entstanden die «Septem Sermones ad Mortuos».

Damals und von da an sind mir die Toten immer deutlicher geworden als Stimmen des Unbeantworteten, des Nicht-Gelösten und Nicht-Erlösten; denn da die Fragen und Anforderungen, die ich schicksalsmäßig zu beantworten hatte, nicht von außen an mich kamen, kamen sie eben aus der inneren Welt. So bildeten die Gespräche mit den Toten, die «Septem Sermones», eine Art Vorspiel zu dem, was ich der Welt über das Unbewußte mitzuteilen hatte: eine Art von Ordnungsschema und Deutung der allgemeinen Inhalte des Unbewußten.

Wenn ich heute zurückschaue und den Sinn dessen bedenke, was mir in der Zeit meiner Arbeit an den Phantasien widerfuhr, kommt es mir vor, als sei eine Botschaft mit Übermacht an mich gekommen. Es lagen Dinge in den Bildern, die nicht nur mich angingen,


sondern auch viele andere. Damit hat es angefangen, daß ich nicht mehr nur mir selber gehören durfte. Von da an gehörte mein Leben der Allgemeinheit. Die Erkenntnisse, um die es mir ging oder die ich suchte, waren in der Wissenschaft jener Tage noch nicht anzutreffen. Ich mußte selber die Urerfahrung machen und mußte überdies versuchen, das Erfahrene auf den Boden der Wirklichkeit zu stellen; sonst wäre es im Zustand einer nicht lebensfähigen subjektiven Voraussetzung geblieben. Damals stellte ich mich in den Dienst der Seele. Ich habe sie geliebt und habe sie gehaßt, aber sie war mein größter Reichtum. Daß ich mich ihr verschrieb, war die einzige Möglichkeit, meine Existenz als eine relative Ganzheit zu leben und auszuhalten.

Heute kann ich sagen: ich habe mich nie von meinen anfänglichen Erlebnissen entfernt. Alle meine Arbeiten, alles, was ich geistig geschaffen habe, kommt aus den Initialimaginationen und -träumen. 1912 fing es an, das sind jetzt fast fünfzig Jahre her. Alles, was ich in meinem späteren Leben getan habe, ist in ihnen bereits enthalten, wenn auch erst in Form von Emotionen oder Bildern.

Meine Wissenschaft war das Mittel und die einzige Möglichkeit, mich aus jenem Chaos herauszuwinden. Sonst hätte mir das Material angehaftet wie Kletten oder Sumpfpflanzen. Ich verwandte große Sorgfalt darauf, jedes einzelne Bild, jeden Inhalt zu verstehen, ihn - soweit dies möglich ist rational einzuordnen und vor allem im Leben zu realisieren. Das ist es, was man meistens versäumt. Man läßt die Bilder aufsteigen und wundert sich vielleicht über sie, aber dabei läßt man es bewenden. Man gibt sich nicht die Mühe, sie zu verstehen, geschweige denn die ethischen Konsequenzen zu ziehen. Damit beschwört man die negativen Wirkungen des Unbewußten herauf.

Auch wer die Bilder einigermaßen versteht, jedoch glaubt, es sei mit dem Wissen getan, erliegt einem gefährlichen Irrtum. Denn wer seine Erkenntnis nicht als ethische Verpflichtung anschaut, verfällt dem Machtprinzip. Es können daraus destruktive Wirkungen entstehen, die nicht nur andere zerstören, sondern auch den Wissenden selber. Mit den Bildern des Unbewußten ist dem Men-schen eine schwere Verantwortung auferlegt. Das Nicht-Verstehen sowie der Mangel an ethischer Verpflichtung berauben die Existenz ihrer Ganzheit und verleihen manchem individuellen Leben den peinlichen Charakter der Fragmenthaftigkeit.

In die Zeit der Beschäftigung mit den Bildern des Unbewußten fiel mein Entschluß, mich von der Zürcher Universität zurückzuziehen, an der ich acht Jahre lang als Privatdozent tätig gewesen war (seit 1905). Das Erlebnis und die Erfahrung des Unbewußten hatten mich intellektuell aufs äußerste gehemmt. Nach der Beendigung des Buches über die «Wandlungen und Symbole der Libido» (1911) " war es mir drei Jahre lang unmöglich, auch nur ein wissenschaftliches Buch zu lesen. So entstand das Gefühl, ich könne in der Welt des Intellektes nicht mehr mitmachen. Ich hätte auch über das, was mich wirklich beschäftigte, nicht reden können. Das aus dem Unbewußten zutage geförderte Material hatte mich sozusagen sprachlos gelassen. Ich konnte es damals weder verstehen noch irgendwie gestalten. An der Universität hatte ich aber eine exponierte Stellung, und ich fühlte, daß ich zuerst eine neue und ganz andere Orientierung finden müßte, und daß es unfair wäre, in einer aus lauter Zweifeln bestehenden Geistesverfassung junge Studenten zu lehren 12.

Damit sah ich mich vor die Alternative gestellt: entweder setze ich meine akademische Laufbahn, die mir damals offenstand, fort, oder ich folge meiner inneren Persönlichkeit, der «höheren Vernunft» und führe diese merkwürdige Aufgabe, das Experiment meiner Auseinandersetzung mit dem Unbewußten, weiter.

So gab ich bewußt meine akademische Karriere auf, denn bevor ich mit meinem Experiment nicht zu einem Ende gekommen war, konnte ich nicht vor die Öffentlichkeit treten 13. Ich spürte, es war etwas

Großes, das mir widerfuhr, und ich baute auf das, was mir sub specie aeternitatis als wichtiger erschien. Ich wußte, es würde

11 Revidierte Neuauflage: «Symbole der Wandlung.» Ges. Werke V, 1973.


12 Während dieser Zwischen2eit schrieb Jung nur wenig: einige englische Aufsätze und die Schrift «Das Unbewußte im normalen und kranken Seelenleben» (nach Umarbeitung unter dem Titel «Über die Psychologie des Unbewußten» erschienen, in Ges. Werke VII, 2. Aufl. 1974). Die Periode endete mit der Publikat ion des Buches «Psychologische Typen», 1921. A. J.


13 Erst im Jahre 1933 nahm Jung seine akademische Lehrtätigkeit wieder auf, und zwar an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. 1935 wurde er zum Titularprofessor ernannt. 1942 gab er dieses Amt aus Gesundheitsrücksichten auf, folgte aber 1944 der Berufung an die Universität Basel als Ordentlicher Professor im Rahmen eines für ihn gegründeten Ordinariates für Medizinische Psychologie. Nach der ersten Vorlesung mußte er jedoch wegen schwerer Erkrankung auch hier auf seine Lehrtätigkeit verzichten und ein Jahr später demissionieren. A. J.

mein Leben ausfüllen, und ich war um dieses Zieles willen zu jedem Wagnis bereit.

Was bedeutete es schon, ob ich Professor gewesen bin oder nicht? Es ärgerte mich natürlich, ich hatte sogar eine Wut auf das Schicksal, und es tat mir in vieler Hinsicht leid, daß ich mich nicht auf das Allgemeinverständliche einschränken konnte. Aber Emotionen dieser Art sind vorübergehend. Im Grunde wollen sie nichts heißen. Das andere hingegen ist wichtig, und wenn man sich auf das konzentriert, was die innere Persönlichkeit will und sagt, dann ist der Schmerz vorbei. Das habe ich immer wieder erlebt, nicht nur, als ich auf die akademische Laufbahn verzichtete. Die ersten Erfahrungen dieser Art machte ich schon als Kind. In meiner Jugend war ich jähzornig; aber immer, wenn die Emotion auf den Höhepunkt gelangt war, kippte sie um, und dann kam die Weltraumstille. Da war ich entfernt von allem, und was mich eben noch erregt hatte, schien einer fernen Vergangenheit anzugehören.

Die Konsequenz meines Entschlusses und meiner Beschäftigung mit Dingen, die weder ich noch andere verstehen konnten, war eine große Einsamkeit. Das wurde mir sehr bald klar. Ich trug Gedanken mit mir herum, über die ich zu niemandem sprechen konnte;


sie wären nur mißverstanden worden. In schärfster Weise_erlebte ich den Gegensatz zwischen der äußeren und der inneren Welt. Das Zusammenspiel beider Welten, um das ich heute weiß, konnte ich damals noch nicht erfassen. Ich sah nur einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen Innen und Außen.

Es war mir aber von Anfang an klar, daß ich den Anschluß an die äußere Welt und die Menschen nur finden würde, wenn ich mich aufs Intensivste bemühte zu zeigen, daß die Inhalte der psychischen Erfahrung «wirklich» sind, und zwar nicht nur als meine persönlichen Erlebnisse, sondern als kollektive Erfahrungen, die sich auch bei anderen Menschen wiederholen können. Das habe ich später in meiner wissenschaftlichen Arbeit nachzuweisen versucht. Zunächst aber tat ich alles, um den mir Nahestehenden eine neue maniere de voir beizubringen. Ich wußte, daß ich zu absoluter Einsamkeit verdammt wäre, wenn mir das nicht gelänge.

Erst gegen Ende des Ersten Weltkrieges kam ich allmählich aus der Dunkelheit heraus. Zwei Dinge waren es, die dazu beitrugen, die Luft zu klären: Ich brach die Beziehung zu der Dame ab, die mir suggerieren wollte, meine Phantasien hätten künstlerischen


Wert. Vor allem aber fing ich an, meine Mandalazeichnungen zu verstehen. Das war 1918/19. Das erste Mandala hatte ich 1916 gemalt, nachdem die «Septem Sermones ad Mortuos» geschrieben waren. Natürlich hatte ich es nicht verstanden.

1918/19 war ich in Chäteau d'Oex Commandant de la Region Anglaise des Internes de Guerre. Dort skizzierte ich jeden Morgen in ein Carnet eine kleine Kreiszeichnung, ein Mandala, welches meiner jeweiligen inneren Situation zu entsprechen schien. Anhand der Bilder konnte ich die psychis chen Wandlungen von Tag zu Tag beobachten. Einmal erhielt ich z. B. einen Brief jener ästhetischen Dame, in welchem sie wieder einmal hartnäckig die Ansicht vertrat, daß die dem Unbewußten entstammenden Phantasien künstlerischen Wert besäßen und darum Kunst bedeuteten. Der Brief ging mir auf die Nerven. Er war keineswegs dumm und darum insinuierend. Der moderne Künstler ist ja bestrebt, Kunst aus dem Unbewußten zu gestalten. Der aus den Zeilen des Briefes sprechende Utilitarismus und die Wichtigtuerei berührten einen Zweifel in mir, nämlich die Unsicherheit, ob die hervorgebrachten Phantasien wirklich spontan und natürlich und nicht am Ende meine eigene arbiträre Leistung seien. Ich war keineswegs frei von dem allgemeinen Vorurteil und der Hybris des Bewußtseins, daß jeder einigermaßen ansehnliche Einfall das eigene Verdienst sei, wogegen minderwertige Reaktionen nur zufällig entstünden, oder sogar aus fremden Quellen herrührten. Aus dieser Irritation und Uneinigkeit mit mir selber ging anderntags ein verändertes Mandala hervor: ein Teil der Rundung war herausgebrochen, und die Symmetrie war gestört.

Nur allmählich kam ich darauf, was das Mandala eigentlich ist: «Gestaltung - Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung». Und das ist das Selbst, die Ganzheit der Persönlichkeit, die, wenn alles gut steht, harmonisch ist, die aber keine Selbsttäuschungen erträgt.

Meine Mandalabilder waren Kryptogramme über den Zustand meines Selbst, die mir täglich zugestellt wurden. Ich sah, wie das Selbst, d. h. meine Ganzheit, am Werke war. Das konnte ich allerdings zuerst nur andeutungsweise verstehen; jedoch schienen mir die Zeichnungen schon damals hochbedeutsam, und ich hütete sie wie kostbare Perlen. Ich hatte das deutliche Gefühl von etwas Zentralem, und mit der Zeit gewann ich eine lebendige Vorstellung des Selbst. Es kam mir vor wie die Monade, die ich bin und die meine


Welt ist. Das Mandala stellt diese Monade dar und entspricht der mikrokosmischen Natur der Seele.

Ich weiß nicht mehr, wieviele Mandalas ich damals gezeichnet habe. Es waren sehr viele. Während ich daran arbeitete, tauchte immer wieder die Frage auf: «Wohin führt der Prozeß, in dem ich stehe? Wo liegt sein Ziel?» Ich wußte aus eigener Erfahrung, daß ich von mir aus kein Ziel hätte wählen können, das mir vertrauenswürdig erschienen wäre. Ich hatte erlebt, daß ich die Idee der Überordnung des Ich vollkommen aufgeben mußte. Daran war ich ja gescheitert: ich wollte die wissenschaftliche Durcharbeitung der Mythen fortsetzen, so wie ich sie in «Wandlungen und Symbole der Libido» begonnen hatte. Das war mein Ziel. Aber keine Rede davon! Ich wurde gezwungen, den Prozeß des Unbewußten selber durchzumachen. Ich mußte mich zuerst von diesem Strom mitreißen lassen, ohne zu wissen, wohin er mich führen würde. Erst als ich die Mandalas zu malen anfing, sah ich, daß alles, alle Wege, die ich ging, und alle Schritte, die ich tat, wieder zu einem Punkte zurückführten, nämlich zur Mitte. Es wurde mir immer deutlicher: das Mandala ist das Zentrum. Es ist der Ausdruck für alle Wege. Es ist der Weg zur Mitte, zur Individuation.

Während der Jahre zwischen 1918 bis ungefähr 1920 wurde mir klar, daß das Ziel der psychischen Entwicklung das Selbst ist. Es gibt keine lineare Entwicklung, es gibt nur eine Circumambula -tion des Selbst. Eine einsinnige Entwicklung gibt es höchstens am Anfang; später ist alles Hinweis auf die Mitte. Diese Erkenntnis gab mir Festigkeit, und allmählich stellte sich die innere Ruhe wieder ein. Ich wußte, daß ich mit dem Mandala als Ausdruck für das Selbst das für mich Letzte erreicht hatte. Vielleicht weiß ein anderer mehr, aber nicht ich.

Eine Bestätigung der Gedanken über das Zentrum und das Selbst erhielt ich Jahre später (1927) durch einen Traum. Seine Essenz habe ich in einem Mandala dargestellt, das ich als «Fenster in die Ewigkeit» bezeichnete. Das Bild ist in «Das Geheimnis der Goldenen Blüte» abgebildet14. Ein Jahr später malte ich ein zweites Bild, ebenfalls ein Mandala, welches im Zentrum ein goldenes Schloß darstellt18. Als es fertig war, fragte ich mich: «Warum ist das 14 Abb. 3. In Ges. Werke IX/1, 1976, Bild 6.

15 «Das Geheimnis der Goldenen Blüte», 10. Aufl. 1973, Abb. 10, in Ges. Werke IX/1, 1976, Bild 36.

so chinesis ch ?» - Ich war beeindruckt von der Form und Farbenwahl, die mir chinesisch erschienen, obwohl äußerlich nichts Chinesisches an dem Mandala war. Aber das Bild wirkte so auf mich. Es war ein seltsames Zusammentreffen, daß ich kurz darauf einen Brief von Richard Wilhelm erhielt. Er schickte mir das Manuskript eines chinesischen taoistischalchemistischen Traktates mit dem Titel «Das Geheimnis der Goldenen Blüte» und bat mich, ihn zu kommentieren. Ich habe das Manuskript sofort verschlungen; denn der Text brachte mir eine ungeahnte Bestätigung me'ner Gedanken über das Mandala und die Umkreisung der Mitte. Das war das erste Ereignis, das meine Einsamkeit durchbrach. Dort fühlte ich Verwandtes, und dort konnte ich anknüpfenle.

Zur Erinnerung an dieses Zusammentreffen, an die Synchroni-zität, schrieb ich damals unter das Mandala: «1928, als ich das Bild malte, welches das goldne wohlbewehrte Schloß zeigt, sandte mir Richard Wilhelm in Frankfurt den chinesischen, tausend Jahre alten Text vom gelben Schloß, dem Keim des unsterblichen Körpers.»

Ein Mandala stellte auch der Traum aus dem Jahr 1927 dar, auf den ich bereits hingewiesen habe:


Ich fand mich in einer Stadt, schmutzig, rußig. Es regnete und es war finster, es war Winter und Nacht. Das war Liverpool. Mit einer Anzahl, sagen wir einem halben Dutzend Schweizern ging ich durch die dunkeln Straßen. Ich hatte das Gefühl, wir kämen vom Meere her, vom Hafen, und die eigentliche Stadt stünde oben, auf den Cliffs. Dort hinauf gingen wir. Es erinnerte mich an Basel: der Markt liegt unten, und dann geht's durch das Totengäßchen hinauf zu einem oberen Plateau, zum Petersplatz und der großen Peterskirche. Als wir auf das Plateau kamen, fanden wir einen weiten, von Straßenlaternen schwach erleuchteten Platz, in den viele Straßen einmündeten. Die Stadtquartiere waren radiär um den Platz angeordnet. In der Mitte befand sich ein runder Teich und darin eine kleine zentrale Insel. Während alles von Regen, Nebel, Rauch und spärlich erhellter Nacht bedeckt war, erstrahlte die kleine Insel im Sonnenlicht. Dort wuchs ein einzelner Baum, eine Magnolie, übergossen von rötlichen Blüten. Es war, als ob der Baum im Sonnenlicht stünde und zugleich selbst Licht wäre.

1» Über Richard Wilhelm vgl. Appendix pag. 380 ff.

Meine Gefährten kommentierten das abscheuliche Wetter und sahen offenbar den Baum nicht. Sie sprachen von einem ändern Schweizer, der in Liverpool wohne, und wunderten sich, daß er sich gerade hier angesiedelt habe. Ich war von der Schönheit des blühenden Baumes und der sonnenbestrahlten Insel hingerissen und dachte: Ich weiß schon warum, und erwachte.

Zu einer Einzelheit des Traumes muß ich nachträglich noch eine Bemerkung beifügen: die einzelnen Quartiere der Stadt waren ihrerseits wieder radiär um einen Mittelpunkt angeordnet. Dieser bildete einen kleinen, offenen Platz, von einer größeren Laterne erhellt, und stellte dergestalt eine kleinere Nachbildung der Insel dar. Ich wußte, daß der «andere Schweizer» in der Nähe eines solchen sekundären Zentrums wohnte.

Dieser Traum stellte meine damalige Situation dar. Ich sehe jetzt noch die grau-gelben Regenmäntel, von der Feuchtigkeit des Regens glänzend. Alles war höchst unerfreulich, schwarz und undurchsichtig - so wie ich mich damals fühlte. Aber ich hatte das Gesicht der überirdischen Schönheit, und darum konnte ich überhaupt leben. Liverpool ist der «pool of life». «Liver», Leber, ist nach alter Auffassung der Sitz des Lebens.

Das Erlebnis des Traumes verband sich mir mit dem Gefühl des Endgültigen. Ich sah, daß hier das Ziel ausgedrückt war. Die Mitte ist das Ziel, und über sie kommt man nicht hinweg. Durch den Traum verstand ich, daß das Selbst ein Prinzip und ein Archetypus der Orientierung und des Sinns ist. Darin liegt seine heilbringende Funktion. Aus dieser Erkenntnis ergab sich mir eine erste Ahnung meines Mythus.

Nach dem Traum gab ich es auf, Mandalas zu zeichnen oder zu malen. Er drückte den Gipfel der Bewußtseinsentwicklung aus. Er befriedigte mich restlos, denn er gab ein vollständiges Bild meiner Situation. Ich hatte zwar gewußt, daß ich mit etwas Bedeutendem beschäftigt war, aber mir fehlte noch das Verständnis, und es war niemand in meiner Umgebung, der es verstanden hätte. Die Verdeutlichung durch den Traum gab mir die Möglichkeit, das, was mich erfüllte, objektiv zu betrachten.

Ohne eine solche Vision hätte ich vielleicht meine Orientierung verloren und meine Unternehmung aufgeben müssen. Aber hier war der Sinn ausgedrückt. Als ich mich von Freud getrennt hatte, wußte ich, daß ich in das Nicht-Gewußte, Unbekannte hinausfiel. Ich wußte ja nichts Eigentliches über Freud hinaus; aber ich hatte


den Schritt ins Dunkle gewagt. Wenn dann ein solcher Traum kommt, empfindet man ihn als einen actus gratiae.

Es hat mich sozusagen fünfundvierzig Jahre gekostet, um die Dinge, die ich damals erlebte und niederschrieb, in dem Gefäß meines wissenschaftlichen Werkes einzufangen. Als junger Mann war mein Ziel, etwas in meiner Wissenschaft zu leisten. Aber dann stieß ich auf diesen Lavastrom, und die Leidenschaft, die in seinem Feuer lag, hat mein Leben umgeformt und angeordnet. Das war der Urstoff, der's erzwungen hat, und mein Werk ist ein mehr oder weniger gelungenes Bemühen, diese heiße Materie in die Weltanschauung meiner Zeit einzubauen. Die ersten Imaginationen und Träume waren wie feurig -flüssiger Basalt, aus ihnen kristallisierte sich der Stein, den ich bearbeiten konnte.

Die Jahre, in denen ich den inneren Bildern nachging, waren die wichtigste Zeit meines Lebens, in der sich alles Wesentliche entschied. Damals begann es, und die späteren Einzelheiten sind nur Ergänzungen und Verdeutlichungen. Meine gesamte spätere Tätigkeit bestand darin, das auszuarbeiten, was in jenen Jahren aus dem Unbewußten aufgebrochen war und mich zunächst überflutete. Es

war der Urstoff für ein Lebenswerk.

Zur Entstehung des Werkes

Mit dem Beginn der zweiten Lebenshälfte hatte die Auseinandersetzung mit dem Unbewußten eingesetzt. Meine Arbeit daran zog sich lange Zeit hin, und erst nach etwa zwanzig Jahren war ich soweit, daß ich die Inhalte meiner Imaginationen einigermaßen verstehen konnte.

Zuerst mußte ich mir den Nachweis der historischen Präfigu-ration der inneren Erfahrungen erbringen, d. h. ich mußte die Frage beantworten: «Wo finden sich meine Voraussetzungen in der Geschichte?» Wenn mir ein solcher Nachweis nicht gelungen wäre, hätte ich meine Gedanken nie zu bestätigen vermocht. Hier wurde mir die Begegnung mit der Alchemie zum entscheidenden Erlebnis, denn erst durch sie ergaben sich die historischen Grundlagen, die ich bis dahin vermißt hatte.

Die analytische Psychologie gehört grundsätzlich zur Naturwis senschaft, unterliegt aber der persönlichen Voraussetzung des Beob-achters viel mehr als irgend eine andere Wissenschaft. Daher ist sie in hohem Maße auf historisch-dokumentarische Vergleiche angewiesen, um wenigstens die gröbsten Fehler in der Beurteilung auszuschalten.

Etwa von 1918 bis 1926 hatte ich mich ernsthaft mit den Gno-stikern beschäftigt, denn auch sie waren der Urwelt des Unbewußten begegnet. Sie hatten sich mit seinen Inhalten und Bildern befaßt, die offenkundig mit der Triebwelt kontaminiert waren. Auf welche Weise sie die Bilder verstanden, ist jedoch bei der Spärlichkeit der Nachrichten, die wir zudem meistens ihren Gegnern, den Kirchenvätern, verdanken, nur schwer zu sagen. Keinesfalls aber ist es wahrscheinlich, daß sie eine psychologische Auffassung hatten. Für meine Fragestellungen waren die Gnostiker zeitlich zu weit entfernt, als daß ich an sie hätte anknüpfen können. Die Tradition zwischen Gnosis und Gegenwart schien mir abgerissen, und lange Zeit war es mir nicht möglich, die Brücke vom Gnostizismus - oder Neuplatonismus - zur Gegenwart zu finden. Erst als ich anfing, die Alchemie zu verstehen, erkannte ich, daß sich durch sie die historische Verbindung zum Gnostizismus ergibt, daß durch die Alchemie die Kontinuität von der Vergangenheit zur Gegenwart hergestellt ist. Als eine Naturphilosophie des Mittelalters schlug sie eine Brücke sowohl in die Vergangenheit, nämlich zum Gnostizis -mus, als auch in die Zukunft, zur modernen Psychologie des Unbewußten.

Die Psychologie des Unbewußten war von Freud mit den klassischen gnostischen Motiven der Sexualität einerseits und der bösen Vaterautorität andererseits eingeführt worden. Das Motiv des gnostischen Jahwe und Schöpfergottes erschien aufs neue in Freuds Mythus vom Urvater und dem von diesem Vater abstammenden düsteren Über-Ich. jn Freuds Mythus offenbarte er sich als ein Dä-mon, der eine Welt von Enttäuschungen, Illusionen und Leid hervorgebracht hat. Aber die Entwicklung zum Materialismus, die schon in der Beschäftigung der Alchemie mit dem Geheimnis des Stoffes vorgezeichnet war, hatte dazu geführt, Freud den Ausblick auf einen weiteren wesentlichen Aspekt des Gnostizismus zu verwehren, nämlich auf das Urbild des Geistes als eines anderen, höheren Gottes. Laut gnostischer Tradition war es dieser höhere Gott, der den Krater (Mischgefäß), das Gefäß geistiger Wandlung, den Menschen zuhilfe gesandt hatte*. Der Krater ist ein weibliches Prinzip, das in der patriarchalischen Welt Freuds keinen Platz gefunden hat. Mit diesem Präjudiz steht Freud allerdings nicht allein. In der katholischen Geisteswelt hat nach jahrhundertelangem Zögern erst kürzlich die Gottesmutter und Braut Christi Aufnahme im göttlichen Thalamus und damit wenigstens eine approximative Anerkennung erfahren2. In der protestantischen und jüdischen Welt herrscht nach wie vor der Vater. Im Gegensatz dazu hat in der hermetischen Philosophie der Alchemie das weibliche Prinzip eine hervorragende und dem männlichen ebenbürtige Rolle gespielt. Eines der wichtigsten weiblichen Symbole in der Alchemie

* Der Krater bedeutete in den Schriften des Poimandres, der einer heid-nisch-gnosti sehen Sekte angehörte, ein Gefäß, das mit Geist gefüllt, vom Schöpfergott zur Erde gesandt wurde, damit diejenigen, die nach höherer Bewußtheit strebten, sich darin taufen lassen konnten. Er war eine Art Uterus der geistigen Erneuerung und Wiedergeburt. A. J.

* Hier spielte Jung auf die päpstliche Bulle von Pius XII. an, welche das Dogma der Assumptio Mariae verkündete (1950). Es heißt darin, daß Maria als die Braut mit dem Sohn und als Sophia mit der Gottheit im himmlischen Brautgemach (thalamus) vereinigt worden sei. Dadurch wurde das Prinzip des Weiblichen in nächste Nähe der männlichen Trinität gerückt. «Antwort auf Hiob», in Ges. Werke XI, 2. Aufl. 1973, pag. 492 ä.

war das Gefäß, in dem die Wandlung der Substanzen sich vollziehen sollte. Im Zentrum meiner psychologischen Entdeckungen steht wiederum ein Prozeß innerer Wandlung: die Individuation.

Bevor ich die Alchemie entdeckte, hatten sich wiederholt Träume eingestellt, bei welchen es sich immer um das gleiche Motiv handelte: neben meinem Haus stand noch ein anderes, d. h. ein anderer Flügel oder ein Anbau, der mir fremd war. Jedesmal wunderte ich mich im Traume, daß ich das Haus nicht kannte, obwohl es doch anscheinend immer schon dagewesen war. Schließlich kam ein Traum, in welchem ich in den anderen Flügel gelangte. Ich entdeckte dort eine wunderbare Bibliothek, die zum großen Teil aus dem 16. und aus dem 17. Jahrhundert stammte. Große dicke Folianten, in Schweinsleder gebunden, standen an den Wänden. Unter ihnen gab es etliche, die mit Kupferstichen von seltsamer Natur verziert waren und Abbildungen wunderlicher Symbole enthielten, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Ich wußte damals nicht, worauf sie sich bezogen, und erkannte erst sehr viel später, daß es alchemistische Symbole waren. Im Traume erlebte ich nur eine unbeschreibliche Faszination, die von ihnen und der ganzen Bibliothek ausging. Es war eine mittelalterliche Sammlung von Incuna-beln und Drucken des 16. Jahrhunderts.

Der mir unbekannte Flügel ist ein Teil meiner Persönlichkeit, ein Aspekt meiner selbst; er stellt etwas dar, das zu mir gehört, mir aber damals noch nicht bewußt war. Er und besonders die Bibliothek bezogen sich auf die Alchemie, die ich ebenfalls noch nicht kannte, deren Studium mir aber bevorstand. Etwa fünfzehn Jahre später hatte ich eine einigermaßen ähnliche Bibliothek in Wirklichkeit gesammelt.

Der entscheidende Traum, der meine Begegnung mit der Alchemie vorausnahm, kam etwa 1926:


Ich bin in Süd -Tirol. Es ist Krieg. Ich befinde mich an der italienischen Front und fahre aus der Frontzone zurück mit einem kleinen Mann, einem Bauern, auf seinem Pferdewagen. Ringsum schlagen Granaten ein, und ich weiß, daß wir so rasch wie möglich weiter müssen, denn es ist sehr gefährlich'.

8 Die Granaten, die vom Himmel fallen, sind als Geschosse zu verstehen, die von der «ändern Seite» kommen, vom Feinde her. Es sind also Wirkun-gen, die vom Unbewußten, von er Seite des Schattens ausgehen. Das Traumgeschehen deutet darauf hin, daß der Krieg, der sich einige Jahre

Wir müssen über eine Brücke hinweg durch einen Tunnel, dessen Gewölbe zum Teil durch Geschosse ze rstört ist. Am Ende des Tunnels angelangt, erblicken wir vor uns eine sonnige Landschaft, und ich erkenne die Gegend von Verona. Unter mir liegt die Stadt, alles strahlt in vollem Sonnenschein. Ich bin erleichtert, und wir fahren hinaus in die grüne, blühende lombardische Ebene. Der Weg führt durch die schöne Frühlingslandschaft, und wir sehen die Reisfelder, die Olivenbäume und die Reben. Da erblicke ich quer zur Straße ein großes Gebäude, einen Herrensitz von weiten Ausmaßen, etwa wie das Schloß eines oberitalienischen Fürsten. Es ist ein charakteristisches Herrenhaus mit vielen Dependancen und Seitengebäuden. Ähnlich wie im Louvre führt die Straße am Schloß vorbei durch einen großen Hof. Der kleine Kutscher und ich fahren durch ein Tor hinein und können von hier aus durch ein entferntes zweites Tor wieder hinaus in die besonnte Landschaft blicken. Ich schaue mich um: rechts ist die Front des Herrenhauses, links sind die Domestikenhäuser und die Ställe, die Scheunen und andere Nebengebäude, die sich weit hinstrecken.

Wie wir mitten im Hof angelangt sind, gerade vor dem Haupteingang, geschieht etwas Unerwartetes: Mit einem dumpfen Krach gehen beide Tore zu. Der Bauer springt vom Bock seines Wagens und ruft: «Jetzt sind wir im 17. Jahrhundert gefangen!» - Resigniert denke ich: Ja, das ist so! - Aber was ist da zu machen? Jetzt sind wir auf Jahre hinaus gefangen! - Aber dann kommt mir der tröstliche Gedanke: Einmal, nach Jahren, werde ich wieder herauskommen.

Nach diesem Traum wälzte ich dicke Bände über Welt-, Reli-gions- und Philosophiegeschichte, ohne irgend etwas zu finden, was ihn mir hätte erklären können. Erst sehr viel später verstand ich, daß der Traum sich auf die Alchemie bezog. Ihr Höhepunkt fällt in das 17. Jahrhundert. Merkwürdigerweise hatte ich ganz vergessen, was Herbert Silberer über Alchemie geschrieben hatte4. Zur Zeit, als sein Buch erschien, kam mir die Alchemie als etwas Abseitiges und Skurriles vor, so sehr ich auch Silberers anagogischen, d. h. konstruktiven Gesichtspunkt zu schätzen wußte. Ich stand damals in Korrespondenz mit ihm und habe ihm meine Zustimzuvor außen abgespielt hatte, noch nicht zu Ende ist, sondern innen, in der Psyche, weitergeht. Anscheinend liegt hier die Lösung der Probleme, welche außen nicht gefunden werden konnte. A. J. 4 «Probleme der Mystik und ihrer Symbolik», 1914.

mung ausgedrückt. Wie sein tragisches Ende zeigt, war jedoch seine Ansicht von keiner Einsicht gefolgt8. Silberer hatte hauptsächlich spätes Material benutzt, mit dem ich nicht viel anfangen konnte. Die späten alchemistischen Texte sind phantastisch und barock;


nur wenn man die Deutung weiß, erkennt man, daß auch in ihnen viel Wertvolles steckt.

Erst durch den Text der «Goldenen Blüte», der zur Chinesi schen Alchemie gehört, und den ich 1928 von Richard Wilhelm erhalten hatte, ist mir das Wesen der Alchemie näher gekommen. Damals entstand in mir der Wunsch, die Alchemisten kennen zu lernen. Ich beauftragte einen Münchner Buchhändler, mich darauf aufmerksam zu machen, falls alchemistische Bücher in seine Hände gelangen sollten. Bald darauf erhielt ich als erstes die «Artis Auri-ferae Volumina Duo» (1593), eine umfangreiche Sammlung lateinischer Traktate, unter denen sich eine Reihe von «Klassikern» befinden.

Dieses Buch blieb aber erst einmal beinahe zwei Jahre liegen. Gelegentlich schaute ich die Bilder an, und jedesmal dachte ich bei mir: Herrgott, was für ein Unsinn! Man kann das ja gar nicht verstehen. - Aber es ließ mich nicht los, und ich nahm mir vor, das Werk gründlich zu studieren. Im nächsten Winter fing ich damit an, und bald fand ich die Lektüre faszinierend und aufregend. Der Text erschien mir zwar immer wieder als ein eklatanter Unsinn, doch stieß ich häufig auf Stellen, die mir bedeutsam vorkamen, und gelegentlich fand ich sogar ein paar Sätze, die ich zu verstehen glaubte. Schließlich erkannte ich, daß es sich um Symbole handelte, die mir alte Bekannte waren. Das ist ja phantastisch, dachte ich, das muß ich verstehen lernen. - Ich war nun ganz davon gefesselt und vertiefte mich in die Bände, sooft es mir die Zeit erlaubte. Eines Nachts, als ich wieder die Texte studierte, fiel mir plötzlich der Traum ein, in welchem es hieß, daß ich «im 17. Jahrhundert gefangen war». Endlich verstand ich seinen Sinn und wußte: «Ja, das ist es! Jetzt bin ich verdammt, die ganze Alchemie von Anfang an zu studieren!»

Ich brauchte noch lange, um den Faden im Labyrinth der alchemistischen Gedankengänge zu finden, denn keine Ariadne hatte ihn mir in die Hand gedrückt. Im «Rosarium» bemerkte ich, daß gewisse seltsame Ausdrücke und Wendungen sich häufig wieder

' Silberer starb durch Suizid. holten6. Also z. B. «solve et coagula», «unum vas», «lapis», «prima materia», «Mercurius» usw. Ich sah, daß diese Ausdrücke immer wieder in einem bestimmten Sinn gebraucht wurden, den ich jedoch nicht mit Sicherheit erfassen konnte. So beschloß ich, mir ein Stichwörter-Lexikon mit crossreferences anzulegen. Im Laufe der Zeit habe ich viele Tausende von Stichwörtern gesammelt, und es entstanden Bände nur mit Exzerpten. Ich befolgte eine rein philologische Methode, wie wenn es darum gegangen wäre, eine unbekannte Sprache zu erschließen. Auf diese Weise ergab sich mir allmählich der Sinn der alchemistischen Ausdrucksweise. Es war eine Arbeit, die mich für mehr als ein Jahrzehnt in Atem hielt.

Sehr bald hatte ich gesehen, daß die Analytische Psychologie mit der Alchemie merkwürdig übereinstimmt. Die Erfahrungen der Alchemisten waren meine Erfahrungen, und ihre Welt war in gewissem Sinn meine Welt. Das war für mich natürlich eine ideale Entdeckung, denn damit hatte ich das historische Gegenstück zu meiner Psychologie des Unbewußten gefunden. Sie erhielt nun einen geschichtlichen Boden. Die Möglichkeit des Verg leichs mit der Alchemie, sowie die geistige Kontinuität bis zurück zum Gnostizismus gaben ihr die Substanz. Durch die Beschäftigung mit den alten Texten fand alles seinen Ort: die Bilderwelt der Imaginationen, das Erfahrungsmaterial, das ich in meiner Praxis gesammelt, und die Schlüsse, die ich daraus gezogen hatte. Jetzt begann ich zu erkennen, was die Inhalte in historischer Sicht bedeuteten. Mein Verständnis für ihren typischen Charakter, das sich schon durch meine Mythenforschungen angebahnt hatte, vertiefte sich. Die Urbilder und das Wesen des Archetypus rückten ins Zentrum meiner Forschungen, und ich erkannte, daß es ohne Geschichte keine Psychologie und erst recht keine Psychologie des Unbewußten gibt. Wohl kann sich eine Bewußtseinspsychologie mit der Kenntnis des persönlichen Lebens begnügen, aber schon die Erklärung einer Neurose bedarf einer Anamnese, die tiefer reicht als das Wissen des Bewußtseins; und wenn es in der Behandlung zu ungewöhnlichen Entscheidungen kommt, so melden sich Träume, deren Deutung mehr erfordert als persönliche Reminiszenzen.

In meiner Beschäftigung mit der Alchemie sehe ich meine innere Beziehung zu Goethe. Goethes Geheimnis war, daß er von dem


• «Rosarium Philosophorum». Anonyme Schrift, 1550. Enthalten in «Artis Auriferae». Vol. II, 1593.

Prozeß der archetypischen Wandlung, der durch die Jahrhunderte geht, ergriffen war. Er hat seinen «Faust» als ein opus magnum oder divinum verstanden. Darum sagte er richtig, daß «Faust» sein «Hauptgeschäft» war, und darum war sein Leben von diesem Drama eingerahmt. Man merkt in eindrucksvoller Weise, daß es eine lebendige Substanz war, die in ihm lebte und wirkte, ein überpersönlicher Prozeß, der große Traum des mundus archetypus.

Ich selber bin vom gleichen Traum ergriffen und habe ein Hauptwerk, das in meinem elften Jahre angefangen hat. Mein Leben ist durchwirkt und zusammengefaßt durch ein Werk und ein Ziel, nämlich: in das Geheimnis der Persönlichkeit einzudringen. Alles ist aus diesem zentralen Punkt zu erklären, und alle Werke beziehen sich auf dieses Thema.

Mit dem Assoziationsexperiment (1903) begann meine eigentliche wissenschaftliche Arbeit. Ich betrachte sie als meine erste Arbeit im Sinn einer naturwissenschaftlichen Unternehmung. Damals fing ich an, eigene Gedanken auszudrücken. Auf die «Diagnostischen Assoziationsstudien» folgten die beiden psychiatrischen Schriften «Über die Psychologie der Dementia praecox» und «Der Inhalt der Psychose». 1912 erschien mein Buch «Wandlungen und Symbole der Libido», durch welches die Freundschaft mit Freud zum Ende gekommen war. Damals nahm mein selbständiger Weg nolens volens - seinen Anfang.

Er begann damit, daß ich mich mit den Bildern meines eigenen Unbewußten beschäftigte. Diese Zeit dauerte von 1913 bis 1917, dann flaute der Strom der Phantasien ab. Erst als es ruhiger geworden und ich nicht mehr im Zauberberg gefangen war, konnte ich mich objektiv dazu einstellen und anfangen, darüber nachzudenken. Die erste Frage, die ich mir damals stellte, war: «Was tut man mit dem Unbewußten ?» Als Antwort entstanden «Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten». In Paris hielt ich über dieses Thema einen Vortrag (1916)7, der erst später (1928) in erweiterter Form als Buch auf deutsch erschienen ist. Ich beschrieb darin einige typische Inhalte des Unbewußten und wies nach, daß es durchaus nicht gleichgültig ist, wie das Bewußtsein sich zu ihnen einstellt.

7 Als Aufsatz zuerst erschienen in «Archives de Psychologie de la Suisse Romande», Genf, 1916. In Ges. Werke VII, 1964.

Gleichzeitig beschäftigte ich mich mit den Vorarbeiten zum Typenbuch8. Eine wichtige Rolle spielte bei seiner Entstehung die Frage: Wie unterscheide ich mich von Freud und wie von Adler? Welches sind die Unterschiede unserer Auffassungen ? Als ich darüber nachdachte, stieß ich auf das Typenproblem; denn es ist der Typus, der von vornherein das Urteil des Menschen bestimmt und beschränkt. Das Typenbuch behandelt vor allem die Auseinandersetzung des Individuums mit der Welt, seinen Bezug zu Menschen und Dingen. Es legt die verschiedenen Aspekte des Bewußtseins, die Möglichkeiten seiner Einstellung zur Welt dar und ist somit eine Darstellung der Psychologie des Bewußtseins, unter einem sozusagen klinischen Gesichtswinkel betrachtet. Ich habe viel Literatur hineinverarbeitet, wobei das Werk von Spitteler, insbesondere «Prometheus und Epimetheus», dann aber auch Schiller, Nietzsche und die antike und mittelalterliche Geistesgeschichte eine Rolle spielten. Als ich es wagte, Spitteler ein Exemplar meines Buches zu senden, hat er mir nicht geantwortet, aber kurz darauf einen Vortrag gehalten, in dem er versicherte, seine Werke «bedeuteten» nichts; er hätte z. B. anstelle des «Olympischen Frühlings» ebensogut singen können «der Mai ist gekommen» !

Das Typenbuch brachte die Erkenntnis, daß jedes Urteil eines Menschen durch seinen Typus beschränkt und jede Betrachtungsweise eine relative ist. Damit erhob sich die Frage nach der Einheit, die diese Vielheit kompensiert. Sie führte mich unmittelbar zum chinesischen Begriff des Tao. Von dem Zusammenspiel meiner inneren Entwicklung mit der Übersendung eines taoistischen Textes durch Richard Wilhelm habe ich bereits erzählt. 1929 entstand das mit ihm gemeinsam herausgegebene Buch «Das Geheimnis der Goldenen Blüte». Damals erreichte ich in meinem Nachdenken und meinen Forschungen den zentralen Punkt meiner Psychologie, nämlich die Idee des Selbst. Erst danach fand ich meinen Weg zurück in die Welt. Ich begann Vorträge zu halten und machte verschiedene kleinere Reisen. Zahlreiche Einzelaufsätze und Vorträge bildeten gewissermaßen das Gegengewicht zu der jahrelangen inneren Präokkupation; sie enthielten Antworten auf Fragen, die mir von meinen Lesern und meinen Patienten gestellt worden waren'.

8 «Psychologische Typen», 1921, in Ges. Werke VI, 2. Aufl. 1971.


9 Die Aufsätze sind enthalten in Ges. Werke X, 1974 und Ges. Werke XVI, 2. Aufl. 1976.

Ein Thema, das mir schon seit meinem Buch über «Wandlungen und Symbole der Libido» am Herzen lag, war die Theorie der Libido. Ich faßte die Libido als ein psychisches Analogon der physikalischen Energie auf, also als einen annähernd quantitativen Begriff und lehnte darum jede qualitative Wesensbestimmung der Libido ab. Es lag mir daran, von dem bis dahin bestehenden Konkretismus der Libidolehre loszukommen, also nicht meh r von Hunger-, Aggressions- oder Sexualtrieben usw. zu sprechen, sondern alle diese Erscheinungen als verschiedenartige Äußerungen der psychischen Energie zusammenzusehen.

Auch in der Physik spricht man von Energie und ihren Erscheinungsweisen als Elektrizität, Licht, Wärme usw. Genauso ist es in der Psychologie. Es handelt sich auch hier in erster Linie um Energie (d. h. um Intensitätswerte, um ein mehr oder weniger), und die Erscheinungsform kann sehr verschiedenartig sein. Durch die energetische Auffassung der Libido entsteht eine gewisse Einheitlichkeit der Anschauungen, während die oft kontroversen Fragen nach der Natur der Libido - ob sie Sexualität, Macht, Hunger, oder etwas anderes sei - in den Hintergrund treten. Es lag mir daran, eine Einheitlichkeit, wie sie in den Naturwissenschaften als eine allgemeine Energetik besteht, auch für die Psychologie herzustellen. Dies war das Ziel, das ich in dem Buch «Über die Energetik der Seele» (1928) verfolgte10. Ich betrachte z.B. die menschlichen Triebe als Manifestationsformen energetischer Vorgänge und damit als Kräfte analog der Wärme, dem Licht usw. Wie es dem heutigen Physiker nicht einfallen würde, alle Kräfte z. B. lediglich aus der Wärme abzuleiten, so wenig ist es in der Psychologie zulässig, alle Triebe dem Begriff der Macht oder demjenigen der Sexualität unterzuordnen. Dies war Freuds anfänglicher Irrtum;


später hat er ihn korrigiert durch die Annahme der «Ichtriebe», um noch später dem Über-Ich sozusagen die Suprematie zu verleihen.

In «Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten» hatte ich nur festgestellt, daß und wie ich mich auf das Unbewußte beziehe, aber über das Unbewußte selber noch nichts gesagt. Die Beschäftigung mit meinen Phantasien vermittelte mir eine Ahnung, daß es sich wandelt oder Wandlung bewirkt. Erst als ich die Alche-mie kennen lernte, wurde es mir klar, daß das Unbewußte ein Prozeß ist, und daß die Beziehung des Ich zu den Inhalten des Un


10 Die Aufsätze dieses Bandes sind enthalten in Ges. Werke VIII, 1967. bewußten eine eigentliche Wandlung oder Entwicklung der Psyche auslöst. Im individuellen Fall ist der Prozeß an den Träumen und Phantasien abzulesen. In der Welt des Kollektiven hat er seinen Niederschlag vor allem in den verschiedenen Religionssystemen und in der Wandlung ihrer Symbole gefunden. Durch das Studium der individuellen und der kollektiven Wandlungsvorgänge und durch das Verständnis der alchemistischen Symbolik, kam ich zum zentralen Begriff meiner Psychologie, dem Individuationsprozeß.

Es ist ein wesentlicher Punkt meiner Arbeiten, daß sie schon früh Weltanschauungsfragen berühren und die Konfrontation der Psychologie mit der religiösen Frage behandeln. Doch erst in «Psychologie und Religion» (1940), und anschließend in den «Paracelsica» (1942), habe ich mich ausführlich darüber geäußert. Namentlich der zweite Aufsatz «Paracelsus als geistige Erscheinung» ist in dieser Hinsicht bedeutsam. Die Schriften des Paracelsus enthalten eine Fülle origineller Gedanken, in denen die Fragestellung der Alchemie deutlich zum Ausdruck kommt, allerdings in einer späten und barocken Form. Die Beschäftigung mit Paracelsus war es, die mich schließlich veranlaßt hat, das Wesen der Alchemie darzustellen, und zwar in ihrem Verhältnis zur Re ligion und zur Psychologie, oder man könnte auch sagen: die Alchemie in ihrem Aspekt als religiöse Philosophie. Das tat ich in «Psychologie und Alchemie» (1944). Damit war ich endlich auf dem Boden angelangt, der meinen eigenen Erfahrungen der Jahre 1913 bis 1917 zugrundelag; denn der Prozeß, durch den ich damals gegangen war, entsprach dem alchemistischen Wandlungsprozeß, von dem in «Psychologie und Alchemie» die Rede ist.

Natürlich stellt sich mir immer wieder die Frage nach der Beziehung der Symbolik des Unbewußten zur christlichen Religion und auch zu anderen Religionen. Ich lasse der Christlichen Botschaft nicht nur eine Tür offen, sondern sie gehört ins Zentrum des westlichen Menschen. Allerdings bedarf sie einer neuen Sicht, um den säkularen Wandlungen des Zeitgeistes zu entsprechen;


sonst steht sie neben der Zeit und die Ganzheit des Menschen neben ihr. Dies habe ich mich bemüht, in meinen Schriften darzulegen. Ich gab eine psychologische Deutung des Trinitätsdogmas u sowie des Messetextes, den ich überdies mit dem Text des Zosi

" 1942. In Ges. Werke XI, 2. Aufl. 1973.

mos von Panopolis, eines Alchemisten und Gnostikers des dritten Jahrhunderts, verglich". Mein Versuch einer Konfrontation der Analytischen Psychologie mit den christlichen Anschauungen führte mich schließlich zur Frage nach Christus als einer psychologischen Gestalt. Schon in «Psychologie und Alchemie» (1944) hatte ich in der alchemistischen Zentralvorstellung des Lapis, des Steines, eine Parallelfigur zu Christus nachweisen können.

Im Jahre 1959 hielt ich ein Seminar über die «Exercitia Spiri-tualia» des Ignatius von Loyola. Gleichzeitig war ich mit den Studien zu «Psychologie und Alchemie» beschäftigt. Eines Nachts erwachte ich und sah in helles Licht getaucht den Crucifixus am Fußende des Bettes. Er erschien nicht ganz in Lebensgröße, war aber sehr deutlich, und ich sah, daß sein Leib aus grünlichem Golde bestand. Es war ein herrlicher Anblick, doch ich erschrak über das Geschaute. Visionen als solche sind mir sonst nichts Ungewöhnliches, denn ich sehe öfters plastische hypnagogische Bilder.

Damals hatte ich viel über die «Anima Christi», eine Meditation aus den «Exercitia», nachgedacht. Die Vision schien mir nahezulegen, daß ich bei meinem Nachdenken etwas übersehen hatte, und das war die Analogie Christi zum «aurum non vulgi» (dem nicht gewöhnlichen Golde) und der «viriditas» (der Grüne) der Alchemisten. Als ich verstand, daß das Bild auf diese zentralen alchemistischen Symbole hinwies, daß es sich also eigentlich um eine alchemistische Christus-Vision handelte, war ich getröstet.

Das grüne Gold ist die lebendige Qualität, die die Alchemisten nicht nur im Menschen sahen, sondern auch in der anorganischen Natur. Es ist Ausdruck für einen Lebensgeist, die «anima mundi», oder den «filius macrocosmi», den in der ganzen Welt lebendigen Anthropos. Bis in die anorganische Materie ist dieser Geist ausgegossen, er liegt auch im Metall und im Stein. So war meine Vision eine Verein igung des Bildes Christi mit seiner Analogie, die in der Materie liegt, nämlich dem filius macrocosmi. Wäre mir das grüne Gold nicht aufgefallen, so wäre ich versucht gewesen anzunehmen, daß an meiner «christlichen» Auffassung etwas Wesentliches fehle, mit anderen Worten, daß mein traditionelles Bild irgendwie ungenügend sei und ich deshalb noch ein Stück christlicher

12 «Das Wandlungssymbol in der Messe», 1942, in Ges. Werke XI, 2. Aufl. 1973.

Entwicklung nachzuholen hätte. Die Hervorhebung des Metalls aber zeigte mir die unverhohlene alchemistische Auffassung Christi als einer Vereinigung geistig -lebendiger und physisch-toter Materie an.

In «Aion» (1951) griff ich das Problem des Christus wieder auf. Hier ging es mir aber nicht um die Frage der geistesgeschichtlichen Parallelen, sondern um eine Konfrontation seiner Gestalt mit der Psychologie. Auch betrachtete ich Christus nicht als eine von allen Äußerlichkeiten befreite Gestalt, sondern ich wollte die sich durch die Jahrhunderte hinziehende Entwicklung des durch ihn dargestellten religiösen Inhalts aufzeigen. Es war mir auch wichtig, wie Christus astrologisch vorausgesagt werden konnte, und wie er aus dem Geiste seiner Zeit und im Verlauf der zweitausend Jahre christlicher Zeitrechnung verstanden wurde. Das war es, was ich darstellen wollte, zusammen mit all den merkwürdigen Randglossen, welche sich im Laufe der Zeiten um ihn angesammelt hatten.

Während der Arbeit ergab sich auch die Frage nach der historischen Gestalt, nach dem Menschen Jesus. Sie ist darum bedeutungsvoll, weil die kollektive Mentalität seiner Zeit - man könnte sagen:


der Archetypus, der damals konstelliert war, nämlich das Urbild des Anthropos - sich auf ihn, einen fast unbekannten jüdischen Propheten, niedergeschlagen hat. Die antike Anthropos-Idee, deren Wurzeln in der jüdischen Tradition einerseits und im ägyptischen Horus-Mythus andererseits liegen, hatte die Menschen zu Beginn der christlichen Aera ergriffen; denn sie entsprach dem Zeitgeist. Es ging um den «Menschensohn», den Sohn Gottes, der dem «divus Augustus», dem Herrscher dieser Welt, gegenüberstand. Dieser Gedanke machte das ursprünglich jüdische Problem des Messias zur Angelegenheit der Welt.

Es wäre aber ein schweres Mißverständnis, wollte man es als bloßen «Zufall» ansehen, daß Jesus, der Zimmermannssohn, das Evangelium verkündet hat und zum salvator mundi, zum Erlöser der Welt, geworden ist. Er muß eine Persönlichkeit von begnadetem Ausmaß gewesen sein, daß er imstande war, die allgemeine, wenn auch unbewußte Erwartung seiner Zeit so vollkommen auszudrücken und darzustellen. Niemand anderer hätte der Träger einer solchen Botschaft sein können als eben dieser Mensch Jesus.

Die alles erdrückende Macht Roms, verkörpert im göttlichen Caesar, hatte damals eine Welt geschaffen, in der nicht nur unzäh


lige Einzelne, sondern ganze Völker ihrer selbständigen Lebensform und ihrer geistigen Unabhängigkeit beraubt worden waren. Dem heutigen Individuum und den Kulturgemeinschaften steht eine ähnliche Drohung gegenüber, nämlich die Gefahr der Vermassung. Darum wird bereits vielerorts die Möglichkeit und die Hoffnung auf ein Wiedererscheinen Christi diskutiert, und es ist sogar ein visionäres Gerücht entstanden, welches eine Erlösungserwartung ausdrückt. Allerdings tritt sie heute in einer Form auf, die sich mit nichts in der Vergangenheit vergleichen läßt, sondern ein charakteristisches Kind des «Technischen Zeitalters» ist. Es ist die weltweite Verbreitung des UFO-Phänomens13.

Da es mein Ziel war, in vollem Umfang zu zeigen, inwiefern meine Psychologie eine Entsprechung der Alchemie ist - oder umgekehrt - ging es mir darum, neben den religiösen Fragen auch die speziellen Proble me der Psychotherapie im alchemistischen Werk aufzusuchen. Die zentrale Frage, das Hauptproblem der ärztlichen Psychotherapie, ist die Übertragung. Darin stimmten Freud und ich vollkommen überein. Auch hier konnte ich eine Entsprechung innerhalb der Alchemie nachweisen, nämlich in der Vorstellung der coniunctio (Vereinigung), deren hohe Bedeutung bereits Silberer aufgefallen war. Die Entsprechung hatte sich schon aus meinem Buch «Psychologie und Alchemie» ergeben. Meine Untersuchungen führten zwei Jahre später zu der Schrift «Die Psychologie der Übertragung» (1946) und schließlich zu meinem Werk «Mysterium Coniunctionis» (1955/56).

Wie fast alle Probleme, die mich menschlich oder wissenschaftlich beschäftigten, von Träumen begleitet oder vorweggenommen wurden, so auch dasjenige der Übertragung. In einem dieser Träume wurde es, zusammen mit dem Christusproblem, durch ein merkwürdiges und unerwartetes Bild angedeutet.

Ich träumte wiederum, mein Haus habe einen großen angebauten Flügel, in welchem ich noch nie gewesen war. Ich nahm mir vor, ihn anzusehen und schließlich ging ich hinein. Ich gelangte an eine große Flügeltüre. Als ich sie öffnete, befand ich mich in einem Raum, wo ein Laboratorium eingerichtet war. Vor dem Fenster stand ein Tisch, bedeckt mit vielen Gläsern und allen Para

13 Vgl. «Ein moderner Mythus. Von Dingen, die am Himmel gesehen werden», 1958. In Ges. Werke X, 1974.

phernalien eines zoologischen Laboratoriums. Das war der Arbeitsplatz meines Vaters. Er war aber nicht da. An den Wänden standen auf Schäften hunderte von Gläsern mit allen erdenklichen Sorten von Fischen. Ich war erstaunt: «Jetzt beschäftigt sich mein Vater mit Ichthyologie!»

Als ich da stand und mich umschaute, bemerkte ich einen Vorhang, der sich von Zeit zu Zeit aufbauschte, wie wenn ein starker Wind wehte. Plötzlich kam Hans, ein junger Mann vom Lande, und ich bat ihn, er möge nachsehen, ob im Raum hinter dem Vorhang ein Fenster offen stünde. Er ging hinüber, und als er nach einiger Zeit zurückkam, sah ich, daß er tief erschüttert war. Ein Ausdruck des Schreckens lag in seinen Zügen. Er sagte nur: «Ja, da ist etwas, da spukt es!»

Dann ging ich selbst hinüber und fand eine Tür, die in den Raum meiner Mutter führte. Kein Mensch war dort. Die Atmosphäre war unheimlich. In dem sehr großen Zimmer waren an der Decke zwei Reihen von je fünf Kästen, etwa zwei Fuß über dem Boden aufgehängt. Sie sahen aus wie kleine Gartenhäuschen von etwa zweimal zwei Metern Bodenfläche, und in jedem standen zwei Betten. Ich wußte, daß an diesem Ort meine Mutter, die in Wirklichkeit schon längst gestorben war, besucht wurde, und daßsie

hier Schlafgelegenheiten für Geister aufgeschlagen hatte. Es waren Geister, die paarweise kamen, sozusagen Geisterehepaare, die die Nacht oder auch den Tag dort zubrachtenl4.

Gegenüber dem Raum meiner Mutter befand sich eine Tür. Ich öffnete sie und kam in eine riesige Halle; sie erinnerte an die Halle eines großen Hotels mit Fauteuils, Tischchen, Säulen und aller dazugehörenden Pracht. Eine laute Blechmusik spielte. Ich hatte sie schon die ganze Zeit im Hintergrund gehört, ohne jedoch zu wis sen, woher sie kam. Niemand befand sich in der Halle, nur die «brassband» schmetterte ihre Weisen, Tänze und Märsche.

14 Dazu fielen mir die «Geisterfallen» ein, die ich in Kenya beobachtet hatte. Das sind kleine Häuschen, in denen die Leute kleine Betten aufstellen und auch etwas Proviant, «posho», dazulegen. Häufig liegt im Bett sogar das aus Lehm oder Ton hergestellte simulacrum eines Kranken, der geheilt werden soll. Ein oft kunstvoll mit kleinen Steinen gepflasterter Weg führt vom Fußpfad zu diesen Häuschen, damit die Geister dort einkehren und nicht im Kral, wo der Kranke liegt, den sie zu sich holen wollen. In der «Geisterfalle» verbringen die Geister dann die Nacht, um vor Tagesanbruch wieder in den Bambuswald, ihren eigentlichen Aufenthaltsort, zurückzukehren. C. G. J.

Die Blechmusik in der Hotelhalle deutet auf ostentative Fröhlichkeit und Weltlichkeit. Kein Mensch würde hinter dieser lauten Fassade die andere Welt geahnt haben, die sich auch noch im Haus befand. Das Traumbild der Halle ist sozusagen eine Karikatur meiner bonhomie oder weltlichen Jovialität. Das ist aber nur die Außenseite; dahinter liegt etwas ganz anderes, das sich jedenfalls bei Blechmusik nicht erörtern läßt: das Fischlaboratorium und die hängenden Geisterhäuschen. Beides waren eindrucksvolle Orte, in denen geheimnisvolle Stille herrschte. Ich hatte das Gefühl: hier lebte die Nacht, wäh rend die Halle die Tagwelt und ihre oberflächliche Weltlichkeit darstellte.

Die wichtigsten Bilder des Traumes waren der «Geisterempfangsraum» und das Fischlaboratorium. Ersterer drückt auf eine etwas skurrile Weise das Problem der coniunctio, oder der Übertragung aus; und das Laboratorium weist auf meine Beschäftigung mit Christus hin, der ja selber der Fisch (ichthys) ist. Beides waren Inhalte, die mich mehr als ein Jahrzehnt lang in Atem hielten.

Es ist merkwürdig, daß die Beschäftigung mit dem Fisch im Traum meinem Vater attribuiert ist. Er ist sozusagen ein Betreuer christlicher Seelen, denn diese sind nach alter Anschauung Fische, die im Netze Petri gefangen werden. Ebenso merkwürdig ist die Tatsache, daß meine Mutter als Hüterin abgeschiedener Seelen erscheint. So sind im Traum meine beiden Eltern belastet mit dem Problem der cura animarum, die doch eigentlich meine Aufgabe ist. Etwas war unvollendet geblieben und darum noch bei den Eltern, also noch latent im Unbewußten und damit der Zukunft vorbehalten. Noch hatte ich mich nämlich mit dem Hauptanliegen der «philosophischen» Alchemie, der coniunctio, nicht auseinandergesetzt und damit jene Frage nicht beantwortet, welche die Seele des christlichen Menschen an mich stellte, und noch war die große Arbeit an der Gralssage, die sich meine Frau zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hatte, nicht vollendet1B. Ich erinnere mich, wie oft mir die «Queste du St. Graal» und der Fischerkönig in den Sinn kamen, als ich am Ichthyssymbol in «Aion» arbeitete. Wenn mich die Rücksicht auf die Arbeit meiner Frau nicht gehindert hätte, so

18 Nach dem Tode meiner Frau, 1955, hat Dr. Marie-Louise von Franz die Arbeit am Gral aufgenommen und 1958 zu einem guten Ende geführt. Vergl. E. Jung und M.-L. v. Franz «Die Graalslegende in psychologischer Sicht». Studien aus dem C. G. JungInstitut, Band XII, Zürich 1960.

hätte ich die Gralssage unbedingt in meine Untersuchung der Al-chemie einbeziehen müssen.

Meine Erinnerung an meinen Vater ist die an einen Leidenden, der an einer Amfortaswunde litt, ein «Fischerkönig», dessen Wunde nicht heilen wollte das christliche Leiden, für welches die Akhemisten die Panacee (Heilmittel) suchten. Ich als ein «thum-ber» Parzival war Zeuge dieser Krankheit während der Jahre meiner Jugend, und wie jenem hatte mir die Sprache versagt. Ich ahnte bloß.

Mein Vater hat sich in Wirklichkeit nie mit der theriomorphen Christussymbolik beschäftigt, dafür aber das von Christus vorgezeigte und verheißene Leiden wortwörtlich bis zum Tode durchgelebt, ohne sich der Konsequenz der imitatio Christi klar bewußt zu werden. Er betrachtete sein Leiden als seine private Angelegenheit, über die man sich beim Arzte Rat holt, nicht aber als das Leiden des christlichen Menschen überhaupt. Das Wort Galat. II, 20, «Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir», ist ihm in seiner Bedeutungsschwere nicht deutlich geworden, denn in religiöser Hinsicht perhorreszierte er alles Denken. Er wollte sich mit dem Glauben begnügen, doch dieser brach ihm die Treue. Damit wird öfters das sacrificium intellectus belohnt. «Nicht alle fassen dieses Wort, sondern nur die, denen es gegeben ist... es gibt Verschnittene, die sich selbst verschnitten haben um des Reiches der Himmel willen. Wer es fassen kann, fasse es!» (Math. XIX, 11 ff.) Ein blindes Annehmen führt nie zur Lösung, sondern bestenfalls zum Stillstand, und geht zu Lasten der folgenden Generation.

Der Besitz an theriomorphen Attributen weist darauf hin, daß die Götter nicht nur in übermenschliche Regionen reichen, sondern auch in die untermenschlichen Bezirke des Lebens. Die Tiere stellen gewissermaßen ihren Schatten dar, welchen die Natur dem lichten Bilde beigesellt. Die «pisciculi Christianorum» zeigen, daß die, welche Christo nachfo lgen, selber Fische sind. Es sind Seelen unbewußter Natur, die der cura animarum bedürfen. Das Fischlaboratorium ist also ein Synonym für die kirchliche Seelsorge. Wie der Verwundende sich selber verwundet, so heilt der Heilende sich selber. Bezeichnenderweise wird im Traum die entscheidende Tätigkeit von Toten an Toten ausgeführt, nämlich im Jenseits des Bewußtseins, also im Unbewußten.

Ein wesentlicher Aspekt meiner Aufgabe war mir in der Tat damals noch keineswegs bewußt geworden, und ich wäre darum


auch nicht fähig gewesen, den Traum befriedigend zu deuten. Ich konnte seinen Sinn nur erahnen und hatte noch die größten inneren Widerstände zu überwinden, bis ich «Antwort auf Hiob» niederschreiben konnte.

Die innere Wurzel zu dieser Schrift lag bereits in «Aion». Dort hatte ich mich mit der Psychologie des Christentums auseinandergesetzt, und Hiob ist gewissermaßen eine Präfiguration Christi. Beide sind verbunden durch die Idee des Leidens. Christus ist der leidende Gottesknecht, und das war auch Hiob. Bei Christus ist es die Sünde der Welt, welche das Leiden verursacht, und das Leiden des christlichen Menschen ist dessen allgemeine Antwort. Das führt unweigerlich zu der Frage: Wer ist an dieser Sünde schuld? Letzten Endes ist es Gott, der die Welt und ihre Sünde geschaffen hat und. der in Christus das menschliche Schicksal selber erleiden muß.

In «Aion» finden sich Hinweise auf das schwierige Thema der hellen und dunkeln Seite des Gottesbildes. Ich habe den «Zorn Gottes» angeführt, das Gebot, Gott zu fürchten, das «Führe uns nicht in Versuchung». Das ambivalente Gottesbild spielt im biblischen Hiobbuch eine entscheidende Rolle. Hiob erwartet, daß Gott ihm gewissermaßen beistehe gegen Gott, wodurch dessen tragische Gegensätzlichkeit zum Ausdruck kommt. Diese wird zum Hauptthema in «Antwort auf Hiob».

Die äußere Wurzel zu dieser Schrift lag in meiner Umwelt. Viele Fragen aus dem Publikum und von Patienten hatten mich genötigt, mich deutlicher über die religiösen Probleme des modernen Menschen zu äußern. Ich hatte jahrelang gezögert, weil ich mir wohl bewußt war, was für einen Sturm ich entfesseln würde. Aber schließlich konnte ich nicht umhin, mich von der Dringlichkeit und Schwierigkeit des Problems ergreifen zu lassen, und sah mich gezwungen, eine Antwort zu geben. Ich tat es in der Form, in der es mir zugestoßen war, nämlich in der eines Erlebnisses, dessen Emotionen ich nicht unterdrückte. Diese Form hatte ich in einer bestimmten Absicht gewählt. Es lag mir daran, den Eindruck zu verhindern, daß ich eine «ewige Wahrheit» verkünden wollte. Meine Schrift sollte nur die Stimme und Frage eines Einzelnen sein, welche auf die Nachdenklichkeit des Publikums hofft oder sie erwartet. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, daß jemand meinen könnte, ich wollte eine metaphysische Wahrheit verkünden. Aber das werfen mir die Theologen vor, weil das theologische Denken


gewohnt ist, sich mit ewigen Wahrheiten zu befassen. Wenn der Physiker sagt, das Atom sei von der und der Beschaffenheit, und ein Modell davon entwirft, beabsichtigt er auch nicht, damit eine ewige Wahrheit auszudrücken. Aber die Theologen kennen das naturwissenschaftliche und insbesondere das psychologische Denken nicht. Das Material der analytischen Psychologie, ihre wesentlichen Tatsachen, sind menschliche Aussagen und zwar solche, die öfters und an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten übereinstimmend vorkommen.

Auch das Problem des Hiob hatte sich mit allen seinen Konsequenzen in einem Traum angekündigt. Es war ein Traum, in dem ich meinem längst verstorbenen Vater einen Besuch machte. Er wohnte auf dem Lande, unbekannt wo. Ich sah ein Haus im Stil des 18. Jahrhunderts. Es schien sehr geräumig, mit einigen größeren Nebengebäuden. Ursprünglich war es ein Gasthof in einem Badeort gewesen; ich erfuhr auch, daß im Laufe der Zeit viele große Persönlichkeiten, berühmte Leute und Fürstlichkeiten, dort abgestiegen waren. Weiter hieß es, einige seien gestorben, und in der Krypta, die auch zum Haus gehörte, stünden ihre Sarkophage. Über sie walte mein Vater als Kustos.

Mein Vater war aber, wie ich bald entdeckte, nicht nur Kustos, sondern, ganz im Gegensatz zu seinen Lebzeiten, ein großer Privatgelehrter. Ich traf ihn in seinem Studierzimmer, und merkwürdigerweise waren Dr. Y. - etwa in meinem Alter - und sein Sohn, beide Psychiater, auch da. Ich weiß nicht, hatte ich eine Frage gestellt, oder wollte mein Vater von sich aus etwas erklären, jedenfalls holte er eine große Bibel von einem Schaft herunter, einen dicken Folianten, ähnlich der Merianschen Bibel, die sich in meiner Bibliothek befindet. Die Bibel, die mein Vater hielt, war in glänzende Fischhaut eingebunden. Er schlug das Alte Testament auf - ich vermutete, es war in den Büchern Mosis - und fing an, eine gewisse Stelle zu interpretieren. Er tat das so rasch und so gelehrt, daß ich nicht imstande war zu folgen. Ich merkte nur, daß, was er sagte, eine Unmenge von Kenntnissen jeglicher Art verriet, deren Bedeutung ich zwar einigermaßen ahnte, aber weder ermessen noch erfassen konnte. Ich sah, daß Dr. Y. überhaupt nichts verstand und sein Sohn zu lachen anfing. Sie dachten, mein Vater befände sich in einer Art senilem Erregungszustand und ergehe sich in einem sinnlosen Redefluß. Es war mir aber ganz klar, daß es sich nicht um eine krankhafte Erregung handelte und erst recht nicht um Unsin


niges, sondern um ein dermaßen intelligentes und gelehrtes Argument, daß unsere Dummheit einfach nicht folgen konnte. Es ging um etwas sehr Wichtiges, das ihn faszinierte. Darum sprach er mit solcher Intensität, übernutet von tiefsinnigen Gedanken. Ich ärgerte mich und dachte, es sei doch schade, daß er vor uns drei Dummköpfen reden müsse.

Die beiden Psychiater vertreten einen beschränkten medizinischen Standpunkt, der mir als Arzt natürlich auch anhaftet. Sie stellen meinen Schatten sozusagen in erster und zweiter Auflage, als Vater und Sohn, dar.

Dann änderte sich die Szene: mein Vater und ich waren vor dem Hause, und gegenüber befand sich eine Art Scheune, wo offenbar Holzvorräte aufgestapelt waren. Dort hörte man lautes Poltern, wie wenn große Holzstücke herunter- oder herumgeworfen würden. Ich hatte den Eindruck, als ob mindestens zwei Arbeiter am Werke seien, aber mein Vater bedeutete mir, daß es dort spuke. Es waren also eine Art Poltergeister, die den Lärm vollführten.

Dann gingen wir ins Haus hinein, und ich sah, daß es sehr dicke Mauern hatte. Wir stiegen eine schmale Treppe hinauf in den ersten Stock. Dort bot sich uns ein seltsamer Anblick: eine Halle, die das genaue Abbild des Diwäni-kaas (Ratshalle) des Sultan Ak-bar in Fatehpur-Sikri darstellte. Es war ein hoher runder Raum mit einer Galerie der Wand entlang, von welcher vier Brücken zu dem wie ein Becken gestalteten Zentrum führten. Das Becken ruhte auf einer riesigen Säule und bildete den Rundsitz des Sultans. Von dort sprach er zu seinen Räten und Philosophen, die auf der Galerie den Wänden entlang saßen. Das Ganze war ein riesiges Mandala. Es entsprach genau dem Diwän-i-kaas, den ich in Indien gesehen hatte.

Im Traum sah ich plötzlich, daß vom Zentrum aus eine steile Treppe hoch an die Wand hinaufführte - das entsprach nicht mehr der Wirklichkeit. Oben war eine kleine Türe, und mein Vater sagte: «Nun werde ich dich in die höchste Gegenwart führen!» Es war mir, als ob er sagte: «highest presence». Dann kniete er nieder und berührte mit der Stirn den Boden, und ich machte es ihm nach und kniete ebenfalls nieder in großer Bewegung. Aus irgendeinem Grunde konnte ich die Stirn nicht ganz auf den Boden bringen. Es blieb vielleicht ein Millimeter zwischen Stirn und Boden. Aber ich hatte die Geste mitgemacht, und plötzlich wußte ich, vielleicht durch meinen Vater, daß hinter der Tür, oben in einem einsamen Gemach, Urias wohnte, der Feldherr König Davids. Dieser hatte


Urias um seines Weibes Bathseba willen schändlich verraten; er hatte seinen Kriegern befohlen, ihn im Angesicht des Feindes im Stich zu lassen.

Zu diesem Traum muß ich ein paar erläuternde Bemerkungen machen. Die Anfangsszene schildert, wie die mir unbewußte Aufgabe, die ich sozusagen meinem Vater, d. h. dem entsprechenden Unbewußten, überlassen hatte, sich auswirkt. Er ist offenbar mit der Bibel (Genesis?) beschäftigt und bestrebt, uns seihe Einsicht zu vermitteln. Die Fischhaut stempelt die Bibel zu einem unbewußten Inhalt, denn Fische sind stumm und unbewußt. Es gelingt meinem Vater nicht, sich verständlich zu machen, das Publikum ist teils unfähig, teils böswillig dumm.

Nach diesem Mißerfolg gehen wir über die Straße auf die «andere Seite», wo anscheinend Poltergeister am Werke sind. Poltergeistphänomene ereignen sich meist in der Umgebung von Jugendlichen vor der Pubertät; das heißt, ich bin noch unreif und zu unbewußt. Das indische Ambiente illustriert die «andere Seite». Als ich in Indien war, hatte mich die Mandalastruktur des Diwän-i-kaas als Darstellung eines auf ein Zentrum bezogenen Inhaltes stark beeindruckt. Das Zentrum ist der Sitz Akbars des Großen, der über einen Subkontinent herrscht, des «Herrn dieser Welt», wie etwa David. Aber höher noch als dieser steht sein schuldloses Opfer, sein treuer Feldherr Urias, den er dem Feinde preisgab. Urias ist eine Praefiguration Christi, des Gottmenschen, der von Gott verlassen wird. David hatte darüber hinaus noch das Weib des Urias «zu sich genommen». Ich verstand erst später, was diese Anspielung auf Urias bedeutete: nicht nur sah ich mich gezwungen, über das ambivalente Gottesbild des Alten Testamentes und dessen Konsequenzen öffentlich und sehr zu meinem Nachteil zu reden, sondern es wurde mir auch meine Frau durch den Tod entrissen.

Dies waren die Dinge, die im Unbewußten verborgen auf mich warteten. Diesem Schicksal mußte ich mich beugen und hätte eigentlich mit meiner Stirn den Boden berühren müssen, damit meine Unterwerfung vollständig sei. Etwas aber hat mich wenigstens um einen Millimeter daran verhindert. Etwas in mir sagte:


«Ja schon, aber nicht ganz.» Etwas in mir trotzt und will kein stummer Fis ch sein; und wenn dem im freien Menschen nicht so wäre, so wäre einige Jahrhunderte vor Christi Geburt kein Hiob verfaßt worden. Der Mensch behält sich einen Nachsatz vor, sogar gegenüber dem göttlichen Ratschluß. Wo wäre denn sonst seine


Freiheit? Und wo ihr Sinn, wenn sie nicht imstande wäre, ihren Bedroher zu bedrohen ?

Höher als Akbar wohnt Urias. Er ist sogar, wie der Traum sagt, «highest presence», ein Ausdruck, den man eigentlich nur von Gott braucht, abgesehen von Byzantinismen. Ich kann nicht umhin, hier an Buddha und sein Verhältnis zu den Göttern zu denken. Zweifellos ist für den gläubigen Asiaten der Tathagata das schlechthin Höchste. Man hat daher den HmayänaBuddhismus des Atheismus verdächtigt - sehr zu Unrecht. Vermöge der Macht der Götter ist der Mensch befähigt, eine Einsicht über seinen Schöpfer zu erlangen. Er besitzt sogar die Möglichkeit, die Schöpfung in ihrem wesentlichen Aspekt zu vernichten, nämlich im Weltbewußtsein des Menschen. Heute kann der Mensch jedes höhere Leben der Erde durch Radioaktivität auslöschen. Der Gedanke einer Weltvernichtung liegt als Ansatz schon bei Buddha vor: durch die Erleuchtung kann die Nidäna-Kette die Kausalzusammenhänge, die unweigerlich zu Alter, Krankheit und Tod führen - abbrechen, so daß die Illusion des Seins zum Ende kommt. Schopenhauers Verneinung des Willens weist prophetisch auf ein Problem der Zukunft hin, welches uns schon bedenklich nahe gerückt ist. Der Traum enthüllt einen Gedanken und eine Ahnung, die schon längst in der Menschheit vorhanden sind, die Idee vom Geschöpf, das den Schöpfer um ein Weniges, aber Entscheidendes überragt.

Nach dieser Abschweifung in die Welt der Träume kehre ich wieder zu meinen Büchern zurück: in «Aion» war noch ein anderer Problemkreis angeschnitten worden, der gesonderte Behandlung erforderte. Ich hatte versucht, die Gleichzeitigkeit zwischen dem Erscheinen Christi und dem Beginn eines neuen Aeon, des Weltenmonats der Fische, herauszustellen. Diese Gleichzeitigkeit zwischen dem Leben Christi und dem objektiven astronomischen Ereignis, nämlich dem Eintritt des Frühlingspunktes in das Zeichen der Fische, muß als eine Synchronizität bezeichnet werden. Christus ist daher der «Fisch» und tritt auf als Herr des neuen Aeon (wie Hammurabi als der Herr des Weltenmonats Widder). Aus diesen Fakten ergab sich mir das Problem der Synchronizität, das ich in der Schrift «Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge» dargestellt habe ".

17 1952. In Ges. Werke VIII, 1967.

Das in «Aion» behandelte Christus-Problem führte mich schließlich zu der Frage, wie sich die Erscheinung des Anthropos, des großen Menschen psychologisch: des «Selbst» - in der Erfahrung des Einzelnen ausdrückt. Die Antwort habe ich in «Von den Wurzeln des Bewußtseins» (1954) zu geben versucht. Hier handelt es sich um das Zusammenspiel von Unbewußtem und Bewußtsein, um die Entwicklung des Bewußtseins aus dem Unbewußten und um das Hineinwirken der größeren Persönlichkeit, des «inneren Menschen», in das Leben eines jeden.

Den Abschluß der Gegenüberstellung von Alchemie und meiner Psychologie des Unbewußten bildet «Mysterium Coniunctionis». In diesem Buch nahm ich noch einmal das Problem der Übertragung auf, vor allem aber folgte ich meiner ursprünglichen Absicht, den gesamten Umfang der Alchemie als eine Art Psychologie der Alchemie, oder als eine alchemistische Fundierung der Tiefenpsychologie darzustellen. Erst mit «Mysterium Coniunctionis» war meine Psychologie endgültig in die Wirklichkeit gestellt und als Ganzes historisch untermauert. Damit war meine Aufgabe erledigt, mein Werk getan, und nun kann es stehen. In dem Augenblick, wo ich den Boden erreichte, stieß ich gleichzeitig an die äußerste Grenze des mir wissenschaftlich Erfaßbaren, an das Transzendente, das Wesen des Archetypus an sich, worüber sich keine wissenschaftlichen Aussagen mehr machen lassen.

Der Überblick, den ich hier über mein Werk gegeben habe, ist natürlich nur summarisch. Eigentlich müßte ich viel mehr sagen oder viel weniger. Das Kapitel ist improvisiert und aus dem Augenblick geboren, wie alles, was ich Ihnen erzähle.

Meine Werke können als Stationen meines Lebens angesehen werden, sie sind Ausdruck meiner inneren Entwicklung, denn die Beschäftigung mit den Inhalten des Unbewußten formt den Menschen und bewirkt seine Wandlung. Mein Leben ist mein Tun, meine geistige Arbeit. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen.

Alle meine Schriften sind sozusagen Aufträge von innen her; sie entstanden unter einem schicksalshaften Zwang. Was ich schrieb, hat mich von innen überfallen. Den Geist, der mich bewegte, ließ ich zu Worte kommen. Ich habe nie mit einer starken Resonanz auf meine Schriften gerechnet. Sie stellen eine Kompensation zu meiner kontemporären Welt dar, und ich mußte das sagen, was niemand hören will. Deshalb bin ich mir, besonders am Anfang,


oft so verloren vorgekommen. Ich wußte, daß die Menschen ablehnend reagieren würden, weil es schwierig ist, die Kompensation zur bewußten Welt zu akzeptieren. Heute kann ich sagen: es ist sogar wunderbar, wieviel Erfolg ich hatte, mehr als ich je erwarten konnte. Die Hauptsache war mir aber immer, daß das, was ich sagen mußte, gesagt worden ist. Ich habe das Gefühl, das mir Mögliche getan zu haben. Selbstverständlich könnte es mehr und besser sein, aber nicht auf Grund meiner Fähigkeiten.

Der Turm

Durch die wissenschaftliche Arb eit stellte ich meine Phantasien und die Inhalte des Unbewußten allmählich auf den Boden. Wort und Papier waren mir jedoch nicht real genug; es gehörte noch etwas anderes dazu. Ich mußte meine innersten Gedanken und mein eigenes Wissen gewissermaßen in Stein zur Darstellung bringen, oder ein Bekenntnis in Stein ablegen. Das war der Anfang des Turmes, den ich mir in Bollingen baute. Es mag dies als eine absurde Idee erscheinen, aber ich habe es getan, und es bedeutete für mich nicht nur eine ungemeine Befriedigung, sondern auch eine Sinnerfüllung *.

Von Anfang an stand es für mich fest, daß ich am Wasser bauen würde. Der eigenartige Charme des Ufers am oberen Zürichsee hatte mich schon seit jeher fasziniert, und so kaufte ich 1922 das Land in Bollingen. Es liegt in der Landschaft des Hl. Meinrad und ist Gotteshausland, das früher zum Kloster St. Gallen gehörte.

Zuerst plante ich kein richtiges Haus, sondern nur einen einstöckigen Bau, mit dem Herd in der Mitte und den Schlaflagern an den Wänden, eine Art primitiver Wohnstätte. Dabei schwebte mir eine afrikanische Hütte vor, wo das Feuer, umhegt von ein paar Steinen, in der Mitte brennt, und die ganze Existenz der Familie sich um dieses Zentrum abspielt. Im Grunde genommen verwirklichen die primitiven Hütten eine Idee der Ganzheit - man könnte sagen, einer Familienganzheit, an der auch noch allerhand Kleinvieh teilhat. Etwas Ähnliches wollte ich bauen: eine Wohnstätte, welche den Urgefühlen des Menschen entspricht. Sie sollte das Gefühl des Geborgenseins vermitteln


- nicht nur im physischen, sondern auch im psychischen Sinne. Aber schon während der ersten Bauarbeiten änderte ich den Plan; er erschien mir zu

' Der Turm in Bollingen war für Jung nicht nur ein Ferienhaus; im Alter verbrachte er dort etwa die Hälfte des Jahres, arbeitend und ausruhend. «Ohne meine Erde hätte mein Werk nicht entstehen können.» Bis in sein hohes Alter fand Jung Entspannung bei Holzhacken, Spaten, Pflanzen und Ernten. In früheren Jahren war er leidenschaftlicher Segler und jedem Wassersport zugetan. A. J.

primitiv. Es wurde mir klar, daß ich ein veritables, zweistöckiges Haus bauen müsse, und nicht nur eine Hütte, die am Boden kauert. So entstand 1923 das erste runde Haus. Als es fertig war, sah ich, daß es ein richtiger Wohnturm geworden war.

Das Gefühl der Ruhe und Erneuerung, das sich mir mit dem Turm verband, war von Anfang an sehr stark. Er bedeutete für mich so etwas wie eine mütterliche Stätte. Allmählich erhielt ich jedoch den Eindruck, daß er noch nicht alles ausdrückte, was zu sagen war, daß noch etwas fehlte. So kam nach vier Jahren, 1927, der Mittelbau mit einem turmartigen Annex hinzu.

Nach einer gewissen Zeit hatte ich erneut das Gefühl der Un vollständigkeit. Auch in dieser Form schien mir der Bau noch zu primitiv. So wurde 1931 - es waren wieder vier Jahre vergangen -der turmartige Appendix zu einem richtigen Turm ausgebaut. In diesem zweiten Turm bestimmte ich einen Raum ausschließlich für mich. Dabei schwebten mir die indischen Häuser vor, in welchen sich meist ein Raum befindet - und sei es nur die durch einen Vorhang abgetrennte Ecke eines Zimmers - wohin sich die Menschen zurückziehen können. Dort meditieren sie, vielleicht für eine halbe oder eine Viertelstunde, oder machen Yogaübungen.

In dem abgeschlossenen Raum bin ich für mich. Den Schlüssel habe ich immer bei mir; niemand darf dort hinein, es sei denn mit meiner Erlaubnis. Im Laufe der Jahre habe ich die Wände ausgemalt und dabei all die Dinge ausgedrückt, die mich aus der Zeit in die Abgeschiedenheit, aus der Gegenwart in die Zeitlosigkeit versetzten. Es ist ein Winkel des Nachdenkens und der Imaginationen - oft sehr unangenehmer Imaginationen und schwierigsten Denkens, eine Stätte geistiger Konzentration.

1935 erwachte in mir der Wunsch nach einem Stück umhegter Erde. Ich brauchte einen größeren Raum, der dem Himmel und der Natur offensteht. Aus diesem Grunde fügte ich - es war wiederum ein Zeitraum von vier Jahren vergangen - einen Hof und eine Loggia am See hinzu. Sie formen den vierten Teil des Ganzen, abgetrennt von dem dreiheitlichen Hauptkomplex. Damit war eine Vierheit entstanden, vier verschiedene Gebäudeteile, und zwar im Laufe von zwölf Jahren.

Nach dem Tod meiner Frau, 1955, fühlte ich die innere Verpflichtung, zu dem zu werden, der ich selber bin. In der Sprache des Hauses von Bollingen: ich entdeckte plötzlich, daß der mittlere Gebäudeteil, der bisher so niedrig und verkrochen zwischen


den beiden Türmen lag, sozusagen mich selber oder mein Ich darstellte. Damals erhöhte ich ihn durch ein oberes Stockwerk. Vorher wäre ich dazu nicht imstande gewesen; ich hätte es lediglich als eine vermessene Selbstbetonung angesehen. In Wahrheit drückt es aber die im Alter erlangte Überlegenheit des Ego, oder des Bewußtseins, aus. Damit war, ein Jahr nach dem Tod meiner Frau, das Ganze vollendet. Der Bau des ersten Turmes hatte 1923, zwei Monate nach dem Tod meiner Mutter begonnen. Diese Daten sind sinnvoll, weil der Turm, wie wir sehen werden, mit den Toten verbunden ist.

Von Anfang an wurde der Turm für mich zu einem Ort der Reifung - ein Mutterschoß, oder eine mütterliche Gestalt, in der ich wieder sein konnte, wie ich bin, war und sein werde. Der Turm gab mir das Gefühl, wie wenn ich in Stein wiedergeboren wäre. Er erschien mir als Verwirklichung des vorher Geahnten und als eine Darstellung der Individuation. Ein Erinnerungszeichen aere peren-nius. Das hat in wohltuender Weise auf mich gewirkt, wie ein Jasagen zu meinem Sosein. Ich baute das Haus in einzelnen Abschnitten und folgte immer nur den jeweiligen konkreten Bedürfnissen. Die inneren Zusammenhänge habe ich mir nie überlegt. Man könnte sagen, daß ich den Turm in einer Art Traum gebaut habe. Erst später sah ich, was entstanden war, und daß sich eine sinnvolle Gestalt ergeben hatte: ein Symbol der psychischen Ganzheit. Es hatte sich entwickelt, wie wenn ein alter Same aufgegangen wäre.

In Bollingen bin ich in meinem eigentlichsten Wesen, in dem, was mir entspricht. Hier bin ich sozusagen der «uralte Sohn der Mutter». So heißt es sehr weise in der Alchemie, denn der «alte Mann», der «Uralte», den ich schon als Kind erfahren hatte, ist die Persönlichkeit Nr. 2, die schon immer gelebt hat und leben wird. Sie steht außerhalb der Zeit und ist Sohn des mütterlichen Unbewußten. In meinen Phantasien nahm der «Uralte» die Gestalt des Philemon an, und in Bollingen ist er lebendig.

Zuzeiten bin ich wie ausgebreitet in die Landschaft und in die Dinge und lebe selber in jedem Baum, im Plätschern der Wellen, in den Wolken, den Tieren, die kommen und gehen, und in den Dingen. Es gibt nichts im Turm, das nicht im Laufe der Jahrzehnte geworden und gewachsen ist und mit dem ich nicht verbunden bin. Alles hat seine und meine Geschichte, und hier ist Raum für das raumlose Reich des Hintergrunds.

Ich habe auf Elektrizität verzichtet und heize selber Herd und Ofen. Abends zünde ich die alten Lampen an. Es gibt auch kein fließendes Wasser, ich muß das Wasser selber pumpen. Ich hacke das Holz und koche das Essen. Diese einfachen Dinge machen den Menschen einfach; und wie schwer ist es, einfach zu sein!

In Bollingen umgibt mich Stille, und man lebt «in modest har-mony with nature 2». Gedanken tauchen auf, die in die Jahrhunderte zurückreichen und dementsprechend ferne Zukunft antizipieren. Hier mindert sich die Qual des Schaffens; das Schöpferische und das Spielerische sind nahe beisammen.

Im Jahre 1950 habe ich dem, was der Turm mir bedeutet, eine Art Denkmal aus Stein gesetzt. Es ist eine merkwürdige Geschichte, wie der Stein zu mir gekommen ist:

Als ich die Abgrenzungsmauer des sogenannten Gartens baute, brauchte ich Steine und bestellte sie im Steinbruch in der Nähe von Bollingen. In meiner Gegenwart hatte der Maurer alle Maße dem Besitzer des Steinbruchs diktiert, und dieser trug sie in sein Büchlein ein. Als dann die Steine mit dem Schiff kamen und ausgeladen wurden, stellte sich heraus, daß der soit -disant Eckstein ganz falsche Maße hatte: anstatt eines dreikantigen Steines hatte man einen Kubus gebracht. Es war ein vollkommener Würfel, von viel größeren Dimensionen als er bestellt worden war, mit einer Kante von etwa 50 Centimetern. Der Maurer war wütend und sagte den Schiffsleuten, sie könnten ihn sofort wieder mitnehmen.

Als ich aber den Stein erblickte, sagte ich: «Nein, das ist mein Stein - den muß ich haben!» Ich hatte nämlich gleich gesehen, daß er mir eben gerade paßte und daß ich etwas mit ihm tun wollte. Nur wußte ich noch nicht was.

Das erste, was mir einfiel, war ein lateinischer Vers des Alchemi-sten Arnaldus de Villanova (gest. 1313) und er war auch das erste, was ich in den Stein meißelte. Übersetzt lautet er:

«Hier steht der Stein, der unansehnliche.


Zwar ist er punkto Preis billig


Er wird von den Dummen verachtet,


Umso mehr aber von den Wissenden geliebt.»

Dieser Spruch bezieht sich auf den alchemistischen Stein, den lapis, der von den Unwissenden verachtet und verworfen wurde.


1 Titel eines alten Chinesischen Holzschnittes, auf dem sich ein kleiner alter Mann in einer heroischen Landschaft befindet. A. J.

Bald ergab sich etwas anderes. Auf der Vorderfläche sah ich in der natürlichen Struktur der Steinfläche einen kleinen Kreis, wie eine Art Auge, das mich anschaute. Auch das meißelte ich in den Stein, und ins Zentrum setzte ich ein kleines Männchen. Es ist das Püppchen, das der pupilla im Auge entspricht, eine Art Kabir, oder der Telesphoros des Aeskulap. Er ist in einen Kapuzenmantel gehüllt und trägt eine Laterne, wie er auf manchen antiken Darstellungen zu sehen ist. Zugleich ist er ein Wegeweiser! Ihm widmete ich ein paar Worte, die mir während der Arbeit eingefallen waren. Die Inschrift ist griechisch, die Übersetzung lautet:

«Die Zeit ist ein Kind - spielend wie ein Kind - ein Brettspiel spielend - das Königreich des Kindes. Dies ist Telesphoros, der durch die dunkeln Regionen dieses Kosmos wandert und wie ein Stern aus der Tiefe aufleuchtet. Er weist den Weg zu den Toren der Sonne und zum Land der Träume3.» Diese Worte kamen mir - eines nach dem anderen - während ich am Stein arbeitete.

Auf der dritten, dem See zugewandten Fläche ließ ich den Stein sozusagen selber in einer lateinischen Inschrift sprechen. Alle Sätze sind Zitate aus der Alchemie. Dies ist die Übersetzung:

«Ich bin eine Waise, allein; dennoch werde ich überall gefunden. - Ich bin Einer, aber mir selber entgegengesetzt. Ich bin Jüngling und Greis zugleich. Ich habe weder Vater noch Mutter gekannt, weil man mich wie einen Fisch aus der Tiefe herausnehmen muß. Oder weil ich wie ein weißer Stein vom Himmel falle. In Wäldern und Bergen streife ich umher, aber ich bin verborgen im innersten Menschen. Sterblich bin ich für jedermann, dennoch werde ich nicht berührt vom Wechsel der Zeiten.» Zum Schluß setzte ich unter den Spruch des Arnaldus de Villanova auf lateinisch die Worte: «In Erinnerung an seinen 75. Geburtstag hat C. G. Jung ihn aus Dankbarkeit gemacht und gesetzt im Jahre 195 O.»

Als der Stein fertig war, sah ich ihn immer wieder an, wunderte mich darüber und fragte mich, was es heiße, daß man so etwas überhaupt macht.

' Der erste Satz ist ein Fragment des Heraklit (H. Diels «Die Fragmente der Vorsokratiker», 1903, Fragment 52), der zweite Satz spielt auf die Mithrasliturgie an (A. Dieterich «Eine Mithrasliturgie», Leipzig und Berlin 1923, pag. 9), der letzte Satz auf Homer (Odyssee, Gesang 24, Vers 12). Für die anderen Inschriften vgl. Glossar «Alchemie». A. J.

Der Stein befindet sich außerhalb des Turms und ist wie eine Erklärung für ihn. Er ist eine Manifestation seines Bewohners, die für die Menschen jedoch unverständlich bleibt. Wissen Sie, was ich auf die Rückseite des Steines meißeln wollte? «Le cri de Merlin!» Denn was der Stein ausdrückt, erinnert mich an die Manifestation Merlins aus dem Walde, nachdem er schon aus der Welt verschwunden war. Die Menschen hören noch sein Rufen, so lautet die Sage, aber sie können es nicht verstehen oder deuten.

Merlin stellt den Versuch des mittelalterlichen Unbewußten dar, eine Parallelfigur zu Parzival zu gestalten. Parzival ist der christliche Held, und Merlin, als Sohn des Teufels und einer reinen Jungfrau, ist sein dunkler Bruder. In der Zeit des 12. Jahrhunderts, als die Sage entstand, gab es noch keine Voraussetzungen, um das, was er darstellte, zu verstehen. Darum endet er im Exil und darum «le cri de Merlin», der noch nach seinem Tod aus dem Wald ertönt. Dieses Rufen, das niemand verstehen konnte, zeigt, daß er in unerlöster Gestalt weiter lebte. Im Grunde genommen ist seine Geschichte auch heute noch nicht fertig, und er geht noch immer um. Man könnte sagen, daß das Geheimnis des Merlin von der Alchemie, vor allem in der Gestalt des Mercurius, weitergeführt worden ist. Dann ist er von meiner Psychologie des Unbewußten auf gegriffen worden und - bleibt noch heute unverstanden! Weil den meisten Menschen das Leben mit dem Unbewußten schlechthin unverständlich ist. Es ist eine meiner eindrücklichsten Erfahrungen, wie fremd es den Menschen ist.

Einmal war ich in Bollingen, als der erste Turm gerade fertig gebaut war. Es war im Winter 1923/24. Soviel ich mich erinnern kann, lag kein Schnee; es muß wohl schon im Vorfrühling gewesen sein. Ich war allein, vielleicht eine Woche lang, vielleicht etwas länger. Es herrschte eine unbeschreibliche Stille. Noch nie hatte ich sie so intensiv erlebt.

Eines Abends, ich kann mich noch genau erinnern, saß ich am Kaminfeuer und hatte einen großen Kessel aufgesetzt, um mir heißes Wasser zu machen zum Abwaschen. Dann begann das Wasser zu sieden, und der Kessel fing an zu singen. Es klang wie viele Stimmen oder wie Streichinstrumente, und es tönte wie ein vielstimmiges Orchester. Wie ganz polyphone Musik, die ich ja nicht leiden kann, die mir nun aber doch eigentümlich interessant erschien. Es war nämlich so, als ob sich ein Orchester innerhalb des


Turmes befände und ein anderes draußen. Bald herrschte das eine, bald das andere vor, als gäben sie sich gegenseitig Antwort.

Ich saß und lauschte fasziniert. Weit über eine Stunde hörte ich dem Konzert zu, dieser zauberhaften Naturmelodie. Es war eine leise Musik mit allen Disharmonien der Natur. Und das war richtig, denn die Natur ist nicht nur harmonisch, sondern auch furchtbar gegensätzlich und chaotisch. So war auch die Musik: ein Strömen von Klängen, wie die Natur des Wassers und des Windes - so wundersam, daß man es überhaupt nicht beschreiben kann.

Im Vorfrühling 1924 war ich wiederum in Bollingen. Ich war allein und hatte mir den Ofen angeheizt. Es war ein ähnlich stiller Abend. Nachts erwachte ich an leisen Schritten, die den Turm umkreisten. Es ertönte auch eine ferne Musik, die näher und näher kam, und dann hörte ich Stimmen Lachen und Reden. Ich dachte:


Wer geht denn da herum? Was ist denn das? Es gibt ja nur den kleinen Fußpfad längs des Sees, und der wird kaum je begangen! Während dieser Überlegungen war ich hell wach geworden und ging ans Fenster. Ich öffnete die Läden und - alles war still. Es waren keine Menschen zu sehen, und nichts war zu hören - kein Wind - nichts - gar nichts.

Das ist doch merkwürdig, dachte ich. Ich war überzeugt, das Getrappel, das Lachen und Sprechen seien wirklich gewesen! Aber anscheinend hatte ich nur geträumt. Ich ging wieder zu Bett und dachte darüber nach, wie man sich doch täuschen könne, und woher es käme, daß ich einen derartigen Traum hatte. Über diesen Gedanken schlief ich wieder ein, und - sofort begann derselbe Traum:


wieder hörte ich Schritte, Sprechen, Lachen, Musik. Dabei hatte ich die visuelle Vorstellung von mehreren hundert dunkel gekleideten Gestalten, vielleicht Bauernburschen in ihren Sonntagsgewändern, die von den Bergen hergekommen waren und von beiden Seiten den Turm umströmten, mit viel Getrappel, Lachen, Singen und Akkordeon-Spiel. Ärgerlich dachte ich: Das ist zum Teufelholen! Ich meinte, es sei ein Traum gewesen, und jetzt ist es doch Wirklichkeit! Mit dieser Emotion erwachte ich. Wieder sprang ich au f, machte Fenster und Läden auf, aber alles war gleich wie zuvor, eine totenstille Mondnacht. Da dachte ich: Das ist ja einfach Spuk!

Natürlich fragte ich mich, was es heiße, daß ein Traum dermaßen auf seiner Wirklichkeit und dem Wachsein insistierte. Das kommt sonst nur bei Spuk vor. Wachsein heißt Wirklichkeit wahr


nehmen. Der Traum stellt also eine der Wirklichkeit aequivalente Situation dar, in der er eine Art von Erwachtsein schafft. Diese Art Traum verrät, im Gegensatz zu den gewöhnlichen Träumen, die Tendenz des Unbewußten, dem Träumer einen ausgesprochenen Wirklichkeitseindruck zu vermitteln, der durch die Wiederholung noch unterstrichen wird. Als Quellen solcher Wirklichkeiten kennen wir einerseits Körperempfindungen, andererseits aber archetypische Gestalten.

In jener Nacht war alles so vollkommen real, oder schien wenigstens so, daß ich mich zwischen den zwei Realitäten kaum zurechtfand. Ich konnte mir keinen Vers darauf machen. Was bedeuten diese musizierenden Bauernburschen, die in langem Zug vorbeizogen? Es schien mir, als seien sie aus Neugier gekommen, um den Turm anzuschauen.

Nie mehr habe ich später etwas Derartiges erlebt oder geträumt. Aber jenes Erlebnis hat mich sprachlos gelassen, und ich konnte mich nicht erinnern, je etwas Ähnliches gehört zu haben. Einen Sinn erkannte ich erst viel später, als ich mit der Luzerner Chronik des Rennward Cysat aus dem 17. Jahrhundert bekannt wurde. Darin findet sich folgende Geschichte: Auf einer Alp am Pilatus, der besonders verschrien ist für Spuk - dort soll ja Wotan heute noch sein Wesen treiben! - wurde Cysat bei einer Pilatusbestei-gung nachts gestört durch einen Zug von Leuten, die mit Musik und Singen an beiden Seiten der Hütte vorbeiströmten - genauso, wie ich es im Turm erlebt hatte.

Am nächsten Tag fragte er den Senn, bei dem er übernachtet hatte, was das zu bedeuten hätte. Dieser wußte ohne weiteres Bescheid: das müßten die «sälig Lüt» gewesen sein, nämlich das Wotansheer der abgeschiedenen Seelen. Die pflegten in dieser Weise «umzugehen» und sich bemerkbar zu machen.

Als Erklärung meines Erlebnisses kann man sagen, es sei eine Einsamkeitserscheinung gewesen, bei der die äußere Leere und Stille durch das Bild einer Menge von Leuten kompensiert worden sei. Das würde den Halluzinationen der Einsiedler entsprechen, die ebenfalls Kompensationen darstellen Aber weiß man denn, auf was für Realitäten solche Geschichten zurückgehen? Man könnte sich auch denken, ich sei durch die Einsamkeit so sensibilisiert worden, daß ich den Zug der «sälig Lüt» wahrgenommen habe, der da vorbeizog.

Die Erklärung des Erlebnisses als eine psychische Kompensation hat mich nie ganz befriedigt, und zu sagen, es sei eine Halluzination, genügte mir nicht. Ich fühlte mich verpflichtet, den Realitätscharakter ebenfalls zu berücksichtigen. Besonders, da ein Parallelbericht aus dem 17. Jahrhundert vorliegt.

Am ehesten könnte es sich um ein synchronistisches Phänomen handeln. Diese Phänomene zeigen ja, daß Vorkommnisse, von denen wir zu wissen meinen, weil wir sie mit einem inneren Sinn wahrnehmen oder sie ahnen, sehr oft auch eine Entsprechung in der äußeren Realität haben. Nun gibt es tatsächlich eine konkrete Entsprechung zu meinem Erlebnis, denn im Mittelalter haben solche Züge von jungen Männern stattgefunden. Es sind die Reisläuferzüge, die - meist im Frühling - aus der Innerschweiz nach Locarno zogen, sich dort in der «Casa di Ferro» in Minusio versammelten und dann weiter nach Mailand marschierten. In Italien wurden sie Soldaten und kämpften in fremdem Sold. Es könnte also das Bild einer dieser Züge gewesen sein, die im Frühling regelmäßig stattfanden und mit Singen und Fröhlichkeit von der Heimat Abschied nahmen.

Meine Phantasie hat sich noch lange mit diesem sonderbaren Traumerlebnis beschäftigt.

Als wir 1923 anfingen, hier zu bauen, besuchte uns meine älteste Tochter und rief: «Was, du baust hier? Hier sind ja Leichen!» Ich dachte natürlich: Unsinn! Keine Rede davon! - Als wir aber vier Jahre später wiederum bauten, fanden wir tatsächlich ein Skelett Es lag in 2,20 m Tiefe. Auf dem rechten Ellbogen lag eine alte Flintenkugel. Man sah an der Lage der Knochen, daß die Leiche in wahrscheinlich stark verwestem Zustand in die Grube geworfen worden war. Sie gehörte zu den vielen Dutzenden französischer Soldaten, welche 1799 in der Linth ertranken und dann an den Ufern des Obersees angeschwemmt wurden. Dies geschah, nachdem die Österreicher die Brücke von Grynau, welche von den Franzosen gestürmt wurde, in die Luft gesprengt hatten. Eine Photo-graphie des offenen Grabes mit dem Skelett und dem Datum des Tages, an dem die Leiche gefunden wurde - es war der 22. August 1927 - befindet sich im Turm.

Ich veranstaltete damals auf meinem Grundstück ein regelrechtes Begräbnis für den Soldaten und schoß dreimal über das Grab. Dann setzte ich ihm einen Grabstein mit einer Inschrift. Meine Tochter hatte die Anwesenheit der Leiche gespürt. Ihr Ahnungs


vermögen ist ein Erbstück von meiner Großmutter mütterlicherseits her4.

Im Winter 1955/56 meißelte ich die Reihe meiner väterlichen Ahnen auf drei Steintafeln und brachte sie in der Loggia an. Die Decke bemalte ich mit Motiven aus meinem und meiner Frau Wappen, sowie aus denjenigen meiner Schwiegersöhne.

Die Familie Jung hatte ursprünglich einen Phönix als Wappentier, was offenbar mit «jung», «Jugend», «Verjüngung» zusammenhängt. Mein Großvater hat die Elemente des Wappens, wahrscheinlich aus Widerstand gegen seinen Vater, geändert. Er war ein begeisterter Freimaurer und Großmeister der Schweizerischen Loge. Diesem Umstande wohl ist die besondere Art seiner Wappenkorrektur zu verdanken. Ich erwähne diesen an sich unwesentlichen Punkt, weil er in den historischen Zusammenhang meines Denkens und Lebens gehört.

Mein Wappen enthält, entsprechend der großväterlichen Korrektur, nicht mehr den ursprünglichen Phönix, sondern oben rechts ein blaues Kreuz und unten links eine blaue Traube in goldenem Feld, dazwischen in blauem Balken einen goldenen Stern. Diese aufdringliche Symbolik ist freimaurerisch, beziehungsweise rosen-kreuzerisch. Wie Kreuz und Rose die rosenkreuzerische Gegensatzproblematik («per crucem ad rosam») darstellen, nämlich das Christliche und das Dionysische, so auch Kreuz und Traube, als Symbole des himmlischen und chthonischen Geistes. Das vereinigende Symbol ist durch den goldenen Stern dargestellt, das Aurum Philosophorum5.

Die Rosenkreuzer gingen aus der hermetischen, beziehungsweise alchemistischen Philosophie hervor. Einer ihrer Gründer war Michael Majer (1568-1622), ein bekannter Alchemist und jüngerer Zeitgenosse des unbekannten, aber bedeutenderen Gerardus Dor-neus (Ende des 16. Jahrhunderts), dessen Traktate den ersten Band des «Theatrum Chemicum» von 1602 füllen. Frankfurt, wo diese beiden lebten, scheint damals ein Zentrum alchemistischer Philosophie gewesen zu sein. Auf alle Fälle war Michael Majer als comes palatinus (Pfalzgraf) und als Hofarzt Rudolph II. eine lokal bekannte und g eachtete Persönlichkeit. Im benachbarten Mainz

4 Vgl. Appendix pag. 406. 6 Das Gold der Philosophen, d. h. der Alchemisten. A. J.

lebte damals Dr. med. et jur. Carl Jung (gest. 1654), von dem sonst nichts bekannt ist, da bei meinem zu Anfang des 18. Jahrhunderts geborenen Ururgroßvater, Sigismund Jung, einem civis Moguntinus (Bürger von Mainz), der Stammbaum abreißt. Der Grund hiefür liegt darin, daß die städtischen Archive von Mainz bei einer Belagerung im spanischen Erbfolgekrieg den Flammen zum Opfer gefallen sind. Es ist mehr als bloß wahrscheinlich, daß der offenbar gelehrte Dr. Carl Jung mit den Schriften der beiden Alchemisten bekannt war, denn die damalige Pharmakologie stand noch sehr unter paracelsischem Einfluß. Dorneus war ein ausgesprochener Paracelsist und hat sogar zu dem paracelsischen Traktat «De Vita Longa» einen umfangreichen Kommentar verfaßt. Er hat sich auch am meisten von allen Alchemisten mit dem Individuationsprozeß auseinandergesetzt. In Ansehung der Tatsache, daß ein großer Teil meiner Lebensarbeit der Erforschung der Gegensatzproblematik und insbesondere ihrer alchemistischen Symbolik gewidmet war, sind diese antizipierenden Ereignisse nicht ohne Reiz, weshalb ich sie auch meinen Lesern nicht vorenthalten wollte.

Als ich an den Ahnentafeln arbeitete, ist mir die merkwürdige Schicksalsverbundenheit deutlich geworden, die mich mit den Vorfahren verknüpft. Ich habe sehr stark das Gefühl, daß ich unter dem Einfluß von Dingen oder Fragen stehe, die von meinen Eltern und Großeltern und den weiteren Ahnen unvollendet und unbeantwortet gelassen wurden. Es hat oft den Anschein, als läge ein unpersönliches Karma in einer Familie, welches von den Eltern auf die Kinder übergeht. So schien es mir immer, als ob auch ich Fragen zu beantworten hätte, die bei meinen Ahnen schon schicksalsmäßig aufgeworfen, aber noch nicht beantwortet worden sind, oder als ob ich Dinge vollenden oder auch nur fortsetzen müsse, welche die Vorzeit unerledigt gelassen hat. Es ist dabei schwer auszumachen, ob diese Fragen mehr persönlicher oder mehr allgemeiner (kollektiver) Natur sind. Mir scheint das letztere der Fall zu sein. Ein kollektives Problem erscheint - solange es nicht als solches erkannt ist - stets als ein persönliches und erweckt dann gegebenenfalls die Illusion, es sei im Gebiet der persönlichen Psyche etwas nicht in Ordnung. Tatsächlich ist der persönliche Bereich ge-stört, aber nicht notwendigerweise primär, sondern vielmehr sekundär, infolge einer unzuträglichen Veränderung der sozialen Atmosphäre. Die Störungsursache ist daher in einem solchen Fall nicht


im persönlichen Umkreis, sondern vielmehr in der kollektiven Situation zu suchen. Diesem Umstand hat die bisherige Psychotherapie vie l zu wenig Rechnung getragen.

Wie jedermann, der einige Introspektion besitzt, es tun würde, nahm ich es zunächst als selbstverständlich an, daß der Zwiespalt meiner Persönlichkeit meine persönlichste Angelegenheit und Verantwortung sei. Faust hatte zwar das erlösende Wort «Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust» zu mir gesprochen, aber die Ursache der Zwiespältigkeit nicht erhellt. Faustens Einsicht schien gerade auf mich zu passen. Ich konnte ja damals, als ich mit «Faust» bekannt wurde, nicht ahnen, wie sehr Goethes seltsamer Heldenmythus kollektiv war und deutsches Schicksal prophetisch vorausnahm. Deshalb fühlte ich mich persönlich betroffen, und wenn Faust infolge seiner Hybris und Inflation den Mord an Philemon und Baucis veranlaßte, fühlte ich mich schuldig, etwa wie wenn ich in der Vergangenheit am Mord der beiden Alten teilgehabt hätte. Diese sonderbare Idee erschreckte mich, und ich sah es als meine Verantwortung an, diese Schuld zu sühnen, oder ihre Wiederholung zu verhindern.

Meine falsche Schlußfolgerung wurde noch unterstützt durch eine Neuigkeit, die ich in jenen Jugend jähren von dritter Seite erfuhr. Ich vernahm nämlich, daß von meinem Großvater Jung allgemein die Legende ging, er sei ein natürlicher Sohn Goethes. Diese ärgerliche Geschichte schlug bei mir insofern ein, als sie meine merkwürdigen Reaktionen auf «Faust» zugleich bekräftigte und zu erklären schien. Ich glaubte zwar nicht an Reinkarnation, wohl aber war mir jener Begriff, den der Inder Karma nennt, instinktiv vertraut. Da ich damals keine Ahnung von der Existenz des Unbewußten hatte, war mir ein psychologisches Verständnis meiner Reaktionen unmöglich. Ich wußte auch gar nichts davon - so wenig man es auch heute allgemein weiß - daß die Zukunft sich im Unbewußten auf lange Sicht vorbereitet und darum von Hellsichtigen auch schon lange vorher erraten werden kann. So rief z. B. Jakob Burckhardt beim Eintreffen der Nachricht von der Kaiserkrönung in Versailles aus: «Das ist der Untergang Deutschlands.» Schon pochten die Archetypen Wagners an die Tore, und mit ihnen kam das dionysische Erlebnis Nietzsches, das man besser dem Rauschgott Wotan zuschreibt. Die Hybris der Wilhelminischen Aera befremdete Europa und bereitete die Katastrophe von 1914 vor.

Von diesem Zeitgeist wurde ich in jungen Jahren (etwa 1893) unbewußt gefangen und hatte keine Mittel, mich ihm zu entziehen. «Faust» hat in mir eine Saite zum Erklingen gebracht und mich in einer Art und Weise getroffen, die ich nicht anders als persönlich verstehen konnte. Es war vor allem das Problem der Gegensätze von Gut und Böse, von Geist und Stoff, von Hell und Dunkel, das mich aufs tiefste berührte. Faust, der inepte, ahnungslose Philosoph, stößt mit seiner dunkeln Seite, mit seinem unheimlichen Schatten, Mephistopheles, zusammen. Trotz seiner verneinenden Natur stellt Mephistopheles gegenüber dem vertrockneten Gelehrten, der hart am Selbstmord vorbeigeht, den eigentlichen Lebensgeist dar. Meine inneren Gegensätze erschienen hier dramatisiert. Goethe hatte gewissermaßen eine Grundzeichnung und ein Schema meiner eigenen Konflikte und Lösungen gegeben. Die Zweiteilung Faust-Mephisto zog sich mir in einem einzigen Menschen zusammen, und der war ich. Mit anderen Worten, ich war betroffen und fühlte mich erkannt, und da es mein Schicksal war, so betrafen auch alle Peripetien des Dramas mich selber; ich mußte mit Leidenschaft hier bestätigen und dort bekämpfen. Keine Lösung konnte mir gleichgültig sein. Später knüpfte ich in meinem Werk bewußt an das an, was Faust übergangen hatte: die Respektierung der ewigen Menschenrechte, die Anerkennung des Alten und die Kontinuität der Kultur und der Geistesgeschichte '.

Sowohl unsere Seele wie der Körper bestehen aus Einzelheiten, die alle schon in der Ahnenreihe vorhanden gewesen sind. Das «Neue» in der individuellen Seele ist eine endlos variierte Rekombination uralter Bestandteile, Körper wie Seele haben daher einen eminent historischen Charakter und finden im Neuen, eben erst Entstandenen keine richtige Unterkunft, d. h. die anzestralen Züge sind darin nur zum Teil zu Hause. Wir sind mit Mittelalter und Antike und Primitivität noch längst nicht so fertig geworden, wie es unsere Psyche erfordert. Wir sind statt dessen in ein en Katarakt des Fortschritts hineingestürzt, der mit umso wilderer Gewalt vorwärts in die Zukunft drängt, je mehr er uns von unseren Wurzeln abreißt. Ist aber das Alte einmal durchbrochen, dann ist es meist

' Jungs Einstellung spricht aus der Inschrift, die er ursprünglich über das Eingangstor zu seinem Haus in Bollingen geschrieben hatte: «Phile-monis Sacrum — Fausti Poenitentia» (Der Schrein des Philemon — Fau-stens Sühne). Als die Stelle vermauert wurde, setzte er die Worte über den Eingang des zweiten Turmes. A. J.

auch vernichtet, und es gibt überhaupt kein halten mehr. Es ist eben gerade der Verlust dieses Zusammenhangs, die Wurzellosig -keit, die ein derartiges «Unbehagen in der Kultur» und eine solche Hast erzeugen, daß man mehr in der Zukunft und ihren chimärischen Versprechen eines goldenen Zeitalters lebt, anstatt in der Gegenwart, bei welcher unser ganzer entwicklungsgeschichtlicher Hintergrund überhaupt noch nicht einmal angelangt ist. Man stürzt sich hemmungslos ins Neue, getrieben von einem zunehmenden Gefühl des Ungenügens, der Unzufriedenheit und Rastlosigkeit. Man lebt nicht mehr aus Besitz, sondern aus Versprechen, nicht mehr im Lichte des gegenwärtigen Tages, sondern im Dunkel der Zukunft, wo man den richtigen Sonnenaufgang erwartet. Man will es nicht wahrhaben, daß alles Bessere durch ein Schlechteres erkauft wird. Die Hoffnung auf größere Freiheit wird durch vermehrte Staatssklaverei zunichte gemacht, nicht zu sprechen von den fürchterlichen Gefahren, denen uns die glänzendsten Entdeckungen der Wissenschaft aussetzen. Je weniger wir verstehen, wonach unsere Vater und "Vorväter gesucht haben, desto weniger verstehen wir uns selbst, und helfen mit allen Kräften, die Instinkt - und Wurzellosigkeit des Einzelmenschen zu vermehren, so daß er als Massenpartikel nur noch dem «Geist der Schwere» folgt.

Verbesserungen nach vorne, d. h. durch neue Methoden oder «gadgets» sind zwar unmittelbar überzeugend, aber auf die Dauer zweifelhaft und auf alle Fälle teuer bezahlt. Keinesfalls erhöhen sie das Behagen, die Zufriedenheit oder das Glück im großeii und ganzen. Sie sind meist hinfällige Versüßungen des Daseins, wie z. BTzei (verkürzende Maßnahmen, die unangenehmerweise bloß das Tempo beschleunigen und uns somit^ weniger Zeit lassen als je zuvor. Omnis festinatio ex parte diaboli est - alle Eile ist des Teufels - pflegten die alten Meister zu sagen.

Verbesserungen nach rückwärts indessen sind in der Regel weniger kostspielig und dazu dauerhaft, denn sie kehren zu den einfacheren und bewährten Wegen der Vergangenheit zurück und machen den sparsamsten Gebrauch von Zeitungen, Radio, T. V. und allen quasi zeitsparenden Neuerungen.

Ich spreche in diesem Buche viel über meine subjektive Anschauung, die jedoch keine Erklügelung der Vernunft darstellt. Vielmehr ist sie eine Schau, die sich ergibt, wenn man absichtlich mit halbgeschlossenen Augen und etwas tauben Ohren Gestalt und


Stimme des Seins zu sehen und zu hören unternimmt. Sehen und hören wir zu deutlich, dann sind wir auf Stunde und Minute des Heute eingeschränkt und spüren nichts davon, wie und ob unsere anzestralen Seelen das Heute vernehmen und verstehen, oder mit anderen Worten, wie das Unbewußte reagiert. So bleiben wir im Dunkel darüber, ob die Ahnenwelt mit urtümlichem Behagen an unserem Leben teilnimmt, oder umgekehrt, ob sie sich mit Abscheu davon abwendet. Unsere innere Ruhe und Zufriedenheit hängt in hohem Maße davon ab, ob die historische Familie, welche durch das Individuum personifiziert wird, mit den ephemeren Bedingungen unseres Heute übereinstimmt oder nicht.

In meinem Turm in Bollingen lebt man wie in vielen Jahrhunderten. Er wird mich überleben und weist durch Lage und Stil auf längst Vergangenes. Nur sehr wenig erinnert an das Heute.

Wenn ein Mann des 16. Jahrhunderts das Haus bezöge, so wären ihm nur Petroleumlampe und Zündhölzchen neu; mit allem anderen fände er sich ohne weiteres zurecht. Nichts stört die Toten, kein elektrisches Licht und kein Telephon. Meine Ahnenseelen sind aber auch unterhalten durch die geistige Atmosphäre des Hauses, denn ich gebe ihnen Antwort auf Fragen, die ihr Leben einstmals hinterlassen hat, recht und schlecht, wie es mir gelingen will. Ich habe sie sogar in Bildform an die Wände gezeichnet. Es ist, wie wenn eine stille größere Familie, die sich über Jahrhunderte erstreckt, das Haus bevölkerte. Ich lebe dort in der «zweiten Person» und sehe das Leben im Großen, das wird und vergeht.

Reisen

Nordafrika

Zu Beginn des Jahres 1920 teilte mir ein Freund mit, er habe eine Geschäftsreise nach Tunis 2u machen, ob ich ihn begleiten wolle? Ich sagte sofort zu. Im März reisten wir zunächst nach Algier. Der Küste folgend gelangten wir nach Tunis und von da nach Sousse, wo ich meinen Freund seinen Geschäften überließ '.

Ich war nun endlich dort, wohin ich mich oft gesehnt hatte, nämlich in einem nicht-europäischen Land, wo keine europäische Sprache gesprochen wurde und keine christlichen Voraussetzungen herrschten, wo eine andere Rasse lebte und eine andere historische Tradition und Weltanschauung das Gesicht der Menge prägte. Ich hatte mir oft gewünscht, den Europäer einmal von außen zu sehen, gespiegelt in einem in jeder Hinsicht fremden Milieu. Zwar beklagte ich aufs tiefste meine Unkenntnis der arabischen Sprache. aber umso aufmerksamer beobachtete ich die Leute und ihr Benehmen. Oft saß ich stundenlang in einem arabischen Cafehaus und lauschte den Unterhaltungen, von denen ich kein Wort verstand. Dabei studierte ich die Mimik und insbesondere die Affektäußerung der Leute aufmerksam, bemerkte die subtile Veränderung ihrer Gesten, wenn sie mit einem Europäer sprachen, und lernte dadurch einigermaßen mit anderen Augen sehen und den «weißen Mann» außerhalb seines eigenen Milieus beobachten.

Was der Europäer als orientalische Gelassenheit und Apathie empfindet, erschien mir als Maske, dahinter witterte ich eine Rastlosigkeit, ja Erregung, die ich mir nicht recht erklären konnte. Seltsamerweise hatte ich mit meinem Betreten maurischen Bodens eine mir unverständliche Präokkupation: das Land schien mir sonderbar zu riechen. Es war Blutgeruch, wie wenn der Boden mit Blut getränkt wäre. Das einzige, was mir dazu einfiel, war, daß dieser Erdstrich schon mit drei Zivilisationen fertig geworden ist, der

1 Vgl. Appendix pag. 373 ff.


panischen, der römischen und der christlichen. Was das technische Zeitalter mit dem Islam tun wird, bleibt abzuwarten.

Als ich Sousse verließ, fuhr ich nach Süden, nach Sfax und von da in die Sahara nach Tozeur, der Oasenstadt. Die Stadt liegt etwas erhöht auf dem Rande eines Plateaus, an dessen Fuß die lauen, leicht salzhaltigen Quellen in reichem Fluß zu Tage treten und in tausend kleinen Kanälen die Oase bewässern. Hochragende Dattelpalmen bildeten ein grünes, schattiges Dach, unter welchem Pfirsiche, Aprikosen- und Feigenbäume gediehen und darunter das unwahrscheinlich grüne Alfalfagras. Einige wie Juwelen schimmernde Eisvögel durchflitzten die Grüne. In dieser relativen Kühle grünen Schattens wandelten in Weiß gehüllte Gestalten, darunter auffallend viele zärtliche Paare, eng umschlungen in offenkundiger homosexueller Freundschaft. Ich fühlte mich plötzlich in die griechische Antike zurückversetzt, wo diese Neigung den Zement der Männergesellschaft und der in ihr wurzelnden Polis bildete. Es war mir klar, daß hier Männer zu Männern und Frauen zu Frauen sprachen. Ich begegnete nur wenigen nonnenhaft tiefverschleierten weiblichen Gestalten. Einige sah ich ohne Schleier. Es waren, wie mein Dragoman erklärte, Prostituierte. In den Hauptstraßen bestimmten Männer und Kinder das Bild.

Mein Dragoman bestätigte mir die durchgehende Häufigkeit und Selbstverständlichkeit der Homosexualität und unterbreitete mir sofort entsprechende Vorschläge. Der Gute konnte nicht ahnen, welche Gedanken mich wie ein Blitzlicht getroffen und meinen Standort erhellt hatten. Ich fühlte mich um viele Jahrhunderte zurückversetzt in eine unendlich naivere Welt von Adoleszenten, die eben anfingen, sich mit Hilfe eines spärlichen Koranwissens dem Zustand der anfänglichen und seit Urzeiten bestehenden Dämmerung zu entziehen und der Existenz ihrer selbst in Abwehr der von Norden drohenden Auflösung bewußt zu werden.

Während ich noch unter dem überwältigenden Eindruck unendlich langer Dauer und statischen Seins stand, entsann ich mich plötzlich meiner Taschenuhr und wurde an die beschleunigte Zeit des Europäers erinnert. Das war wohl die beunruhigende dunkle Wolke, die über den Köpfen dieser Ahnungslosen drohte. Sie kamen mir plötzlich vor wie Jagdtiere, die den Jäger nicht sehen, ihn aber mit unbestimmter Beklemmung wittern, den Zeitgott nämlich, der unerbittlich ihre noch an Ewigkeit erinnernde Dauer in Tage, Stunden, Minuten und Sekunden zerstückeln und zerkleinern wird.

Von Tozeur begab ich mich in die Oase von Nefta. Ich ritt mit meinem Dragoman am frühen Morgen kurz nach Sonnenaufgang weg. Unsere Reittiere waren große, schnelltrottende Maultiere, mit denen man rasch vorankam. Als wir uns der Oase näherten, kam uns ein einzelner, ganz in Weiß gehüllter Reiter entgegen, der in stolzer Haltung, ohne zu grüßen, auf einem schwarzen Maultier mit schönem, silberbeschlagenem Lederzeug an uns vorbeiritt. Es war eine eindrucksvolle, elegante Gestalt. Sicherlich besaß er noch keine Taschen-, geschweige denn eine Armbanduhr, denn er war offenkundig und ohne es zu wissen der, der schon immer gewesen war. Noch fehlte ihm jenes leicht Närrische, d as dem Europäer anhaftet. Der Europäer ist zwar überzeugt, nicht mehr das zu sein, was er vor Alters gewesen ist, weiß aber noch nicht, zu was er inzwischen geworden ist. Die Uhr sagt es ihm, daß sich seit dem sogenannten Mittelalter bei ihm die Zeit und ihr Synonym, der Fortschritt, eingeschlichen und ihm Unwiederbringliches weggenommen haben. Mit erleichtertem Gepäck setzt er seine Wanderung nach nebelhaften Zielen mit progressiver Beschleunigung fort. Den Verlust an Gewicht und das entsprechende «sentiment d'incomple -titude» kompensiert er durch die Illusion seiner Erfolge, wie Eisenbahnen, Motorschiffe, Flugzeuge und Raketen, die mittels ihrer Schnelligkeit immer mehr von seiner Dauer wegnehmen und ihn zunehmend in eine andere Wirklichkeit von Geschwindigkeiten und explosionsartigen Beschleunigungen versetzen.

Je weiter wir in die Sahara vordrangen, desto mehr verlangsamte sich meine Zeit und drohte sogar rückläufig zu werden. Die sich steigernde flimmernde Hitze trug kräftig zu meinem Traumzustand bei, und als wir die ersten Palmen und Häuser der Oase erreichten, da war alles so, wie es schon immer gewesen war.

Am anderen Morgen in der Frühe erwachte ich in meiner Herberge an vielfältigem, mir ungewohntem Geräusch vor dem Hause. Dort befand sich ein großer offener Platz, der abends zuvor leer gewesen, jetzt aber von Menschen, Kamelen, Maultieren und Eseln angefüllt war. Die Kamele stöhnten und bekundeten in mannigfachen Tonvarianten ihr chronisches Mißvergnügen, und die Esel wetteiferten in mißtönendem Geschrei. Die Leute liefen in offensichtlicher Erregung schreiend und gestikulierend herum. Sie sahen wild und wenig vertrauenerweckend aus. Mein Dragoman erklärte mir, daß heute ein großes Fest gefeiert werde. Es seien in der Nacht einige Wüstenstämme hereingekommen, um für den Marabout


zwei Tage Feldarbeit zu leisten. Der Marabout war gleichbedeutend mit der Armengutsverwaltung und besaß viele Felder in der Oase. Die Leute würden ein neues Feld und die dazugehörigen Bewässerungskanäle anlegen.

Am fernen Ende des Platzes erhob sich plötzlich eine Staubwolke, eine grüne Fahne entfaltete sich, und es wurde getrommelt. An der Spitze eines langen Zuges von Hunderten wilder Männer, die Bastkörbe und kurze breitschauflige Hacken trugen, erschien ein weißbärtiger würdevoller Alter, von unnachahmlicher und selbstverständlicher Würde, wie wenn er schon immer hundert Jahre alt gewesen wäre. Es war der Marabout auf einem weißen Maultier, umtanzt von Männern mit Handtrommeln. Überall herrschte Erregung, wildes, rauhes Geschrei, Staub und Hitze. In fanatischer, aufgeregter Intention wälzte sich der Zug vorüber, in die Oase hinaus, wie wenn es in die Schlacht ginge. Ich folgte diesem Tumult in gemessener Entfernung, von meinem Dragoman keineswegs zu größerer Annäherung ermutigt, bis wir an die Stelle gelangten, wo «gearbeitet» wurde. Hier herrschte wenn möglich eine noch größere Aufregung. Trommeln und wildes Geschrei ertönte von allen Seiten; die Arbeitsstätte glich einem aufgestörten Ameisenhaufen; alles geschah in größter Eile. Mit schweren Sandlasten in ihren Körben tanzten viele im Rhythmus der Trommeln, andere hieben in wütender Eile auf den Boden ein, zogen Gräben und schütteten Dämme auf. In diesem lärmenden Chaos ritt der Marabout auf seinem weißen Maultier herum, mit der würdevollen, milden und müden Geste des hohen Alters, offenbar Anweisungen erteilend. Wo immer er hinkam, steigerte sich Eile, Geschrei und Rhythmus, jenen Hintergrund bildend, vor dem sich die Gestalt des Heiligen aufs Wirkungsvollste abhob. Gegen Abend war die Menge sichtlich erschöpft und gedämpft, und die Männer fielen neben ihren Kamelen bald in tiefen Schlaf. In der Nacht, nach dem üblichen großen Hundekonzert, herrschte lautlose Stille, bis bei den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne die mich aufs tiefste berührende Invokation des Muezzin zum Morgengebet rief.

Das war für mich eine Lektion: Diese Leute leben aus ihren Affekten, d. h. sie werden von ihnen gelebt. Ihr Bewußtsein vermittelt einerseits die Orientierung im Raum und die von außen stammenden Eindrücke, andererseits ist es bewegt von inneren An. trieben und Affekten; aber es reflektiert nicht, und dem Ich fehlt jede Selbständigkeit.. Sehr viel anders verhält es sich beim Euro


päer auch nicht, aber ein wenig komplizierter sind wir doch. Jedenfalls verfügen wir über ein gewisses Maß an Willen und überlegter Absicht. Eher gebricht es uns an Intensität des Lebens.

Ich wünschte mir nicht zu tauschen, aber ich war psychisch infiziert, was sich äußerlich durch eine infektiöse Enteritis manifestierte, die ich nach einigen Tagen in landesüblicher Weise mit Reiswasser und Calomel kurierte.

Übervoll von Eindrücken und Gedanken reiste ich damals nach Tunis zurück, und in der Nacht vor unserer Einschiffung nach Marseiile hatte ich einen Traum, der nach meinem Gefühl einen Schlußstrich unter die Rechnung zog. Es gehörte sich so; denn ich hatte mich daran gewöhnt, immer zugleich auf zwei Ebenen zu leben, einer bewu ßten, die verstehen wollte und nicht konnte, und einer unbewußten, die es ausdrücken wollte und es nicht besser sagen konnte als in Form eines Traumes.

Ich träumte, ich sei in einer arabischen Stadt, und wie in den meisten arabischen Städten befand sich auch hier eine Zitadelle, die Kasba. Die Stadt lag in einer weiten Ebene, und eine Mauer zog sich um sie herum. Ihr Grundriß war viereckig, und es gab vier Tore.

Die Kasba im Inneren der Stadt war - was in jenen Gegenden jedoch nicht der Fall ist - umgeben von einem breiten Wassergraben. Ich stand vor einer Holzbrücke, die übers Wasser zu einem der hufeisenförmigen dunkeln Tore führte. Es stand offen. Begierig, die Zitadelle auch von innen zu sehen, beschritt ich die Brücke. Als ich mich etwa in der Mitte befand, kam mir aus dem Tor ein schöner dunkler Araber von eleganter, fast königlicher Gestalt entgegen, ein Jüngling in weißem Burnus. Ich wußte, daß er der dort residierende Fürst war. Wie er mir gegenüber stand, griff er mich an und wollte mich zu Boden schlagen. Wir kämpften und rangen miteinander. Im Kampf prallten wir gegen das Geländer; es gab nach und wir fielen beide in den Graben, wo er versuchte, meinen Kopf unters Wasser zu drücken, um mich zu ertränken. Nein, dachte ich, das geht zu weit - und drückte nun meinerseits seinen Kopf unters Wasser. Ich tat das, obwohl ich eine große Bewunderung für ihn empfand, aber ich wollte mich nicht umbringen lassen. Ich wollte ihn nicht töten, sondern bloß bewußtlos und kampfunfähig machen.

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