20. Kapitel

Viel später erwachte ich und stellte fest, daß der Boden wirklich hart und kalt war. Trotzdem fühlte ich mich dermaßen ausgeruht, daß das unangenehme Lager mir nichts ausmachte. Ich stand auf, rieb mir die Augen und stellte fest, daß mir nicht mehr hoffnungslos zumute war — nur hungrig war ich.

Der Tunnel war hell erleuchtet.

Noch immer warnte mich das Leuchtschild davor weiterzugehen, doch der Tunnel war nicht mehr schwarz; die Beleuchtung schien der in einem angenehm hellen Wohnzimmer zu entsprechen. Ich schaute mich nach der Lichtquelle um.

Langsam machte auch mein Gehirn wieder mit. Die einzige Lichtquelle war das Leuchtschild; dagegen hatten sich meine Augen während des Schlafens an die Umgebung angepaßt. Ich weiß, daß Menschen dasselbe Phänomen erleben, wahrscheinlich aber nicht in diesem Umfang.

Ich machte mich auf die Suche nach dem Schalter.

Dann aber hielt ich inne und griff vielmehr auf mein Gehirn zurück. Das ist anstrengender als jede Muskelbewegung, doch zugleich ruhiger und weniger kalorienaufwendig. Es ist die einzige Funktion die uns von den Affen unterscheidet, wenn auch nur knapp. Wenn ich ein versteckter Schalter wäre, wo würde ich mich befinden?

Die wesentlichen Parameter dieses Schalters sahen folgendermaßen aus: Er mußte so gut versteckt sein daß Eindringlinge ihn nicht fanden, trotzdem mußte er Janet und ihren Ehemännern das Leben retten. Washatte das zur Folge?

Das Ding durfte nicht so hoch liegen, daß Janet es nicht erreichen konnte; da wir etwa dieselbe Größe haben, folgerte daraus, daß ich den Schalter würde erreichen müssen. Der Schalter war folglich so angebracht, daß ich keinen Stuhl brauchte, um ihn zu bedienen.

Die schwebenden Leuchtbuchstaben befanden sich etwa drei Meter innerhalb der Tür. Der Schalter konnte nicht sehr weit dahinter liegen, denn Janet hatte mir gesagt, die zweite Warnung, die das Todesversprechen enthielt, werde gleich danach ausgelöst — sie hatte von „ein paar Metern“ gesprochen. „Ein paar“ — das sind selten mehr als zehn.

Andererseits würde Janet den Schalter nicht so gründlich verstecken, daß einer ihrer Männer auf der Flucht vor lebensgefährlichen Verfolgern sich genau daran erinnern müßte, wo er wäre. Die einfache Erkenntnis, daß es einen solchen Schalter gab, müßte als Hinweis für das Auffinden genügen. Ein Eindringling, der nicht weiß, daß ein Schalter existiert, darf ihn andererseits nicht zufällig bemerken.

Ich ging in den Tunnel herein, bis ich unter dem Leuchtschild stand, zu dem ich emporblickte. Das von dem Warnschild ausstrahlende Licht erhellte alles ziemlich klar — nur nicht das kleine Stück des Tunnelbogens unmittelbar über den Buchstaben.

Trotz meiner an die Dunkelheit gewöhnten und darüber hinaus gesteigerten Augen konnte ich die Decke direkt über dem Schild nicht erkennen.

Ich griff hinauf und betastete die Decke an den Stellen, wo ich sie nicht sehen konnte. Meine Finger stießen auf etwas, das sich wie ein Knopf anfühlte,womöglich das Ende eines Solenoiden. Ich drückte darauf.

Das Warnlicht erlosch; Deckenlampen gingen an und leuchteten tief in den Tunnel hinein.

Tiefkühlnahrung und eine Kochmöglichkeit, große Handtücher und heißes und kaltes fließendes Wasser und ein Terminal im Loch, das mir die neuesten Nachrichten und Zusammenfassungen alter Meldungen brachte … Bücher und Musik und Bargeld, das für den Notfall im Loch aufbewahrt wurde, dazu Waffen und Shipstone-Ladungen und Munition und Kleidung jeder Sorte, die mir paßte, weil sie für Janet ausgesucht war, und ein Uhrenkalender im Terminal der mir verriet, daß ich dreizehn Stunden geschlafen hatte, ehe die Härte des Beton-„Bettes“ mich weckte und ein weiches, bequemes Bett, das mich aufforderte, die Nacht abzuschließen, nachdem ich gebadet und gegessen und meinen Nachrichtenhunger gestillt hatte — ein Gefühl absoluter Sicherheit, das mir soweit Beruhigung verschaffte, daß ich keine Gedankenkontrolle mehr auszuüben brauchte, um meine echten Gefühle zu unterdrücken …

Aus den Nachrichten ging hervor, daß BritischKanada die Krise auf eine begrenzte Notlage zurückgenommen hatte. Die Grenze zum Imperium blieb geschlossen. Die Québec-Grenze wurde noch immer streng überwacht, doch bei legitimen Anliegen wurden bereits wieder Pässe ausgestellt. Der verbleibende Streitpunkt zwischen den beiden Nationen betraf die Frage, wieviel Québec an Reparationen zu zahlen hatte für einen militärischen Angriff, der inzwischen einem Irrtum oder militärischer Dummheit zuge-schrieben wurde. Der Internierungsbefehl galt immer noch, doch waren inzwischen neunzig Prozent der Québecois Internierten auf Ehrenwort freigelassen worden — und etwa zwanzig Prozent der Internierten aus dem Imperium. Ich war also gut beraten gewesen, den Kopf einzuziehen, denn natürlich war ich für die Behörden eine verdächtige Person, daran bestand kein Zweifel.

Es sah allerdings so aus, als könnte Georges nach Belieben hierher zurückkehren. Oder gab es hier Aspekte, die ich nicht richtig auszuloten wußte?

Der Überlebensrat kündigte eine dritte Welle „lehrreicher“ Hinrichtungen für zehn Tage plus-oderminus zwei Tage nach der letzten Aktion an. Die Stimulatoren folgten einen Tag später mit einer entsprechenden Aussage, in der zugleich der sogenannte Überlebensrat verurteilt wurde. Die Engel des Herrn meldeten sich diesmal nicht zu Wort — zumindest wurde von ihnen keine Ankündigung über das BritKan-Datanetz verbreitet.

Wieder kam ich zu vorläufigen Schlußfolgerungen die ausnahmslos auf tönernen Füßen standen: Die Stimulatoren waren eine Scheinorganisation, die ganz aus Propaganda bestand und gar keine Einsatzagenten unterhielt. Die Engel des Herrn waren ausgeschaltet oder auf der Flucht. Der Überlebensrat dagegen verfügte über Unterstützung aus ungeheuer reicher Ecke; jemand, der bereit war, Geld für weitere unausgebildete Akteure zu bezahlen, die bei weitgehend nutzlosen Anschlägen geopfert werden sollten — aber das war nur eine Vermutung, die aufzugeben ich gern bereit war, sollte die dritte Woge von Anschlägen wieder erfolgreich und professionell geplant ab-laufen — womit ich allerdings nicht rechnete, aber ich habe mich schon öfter geirrt.

Noch immer konnte ich mir nicht recht vorstellen wer hinter diesen dummen Schreckenstaten steckte.

Meiner Überzeugung nach konnte es sich nicht um eine Territorialnation handeln; es mochte ein Multi sein oder ein Konsortium, auch wenn ich darin keinen Sinn sah. Vielleicht tobten sich hier auch einer oder mehrere äußerst vermögende Einzelpersonen aus — wenn sie im Kopf nicht ganz dicht waren.

Unter „Rückholen“ tippte ich außerdem die Begriffe „Imperium“ und „Mississippi“ und „Vicksburg“ als Einzelbegriffe, je zwei zusammen und sämtliche drei. Negativ. Ich fügte die Namen der beiden Schiffe hinzu und probierte sämtliche Kombinationen durch.

Immer noch negativ. Anscheinend hatte das, was da mir und mehreren hundert anderen widerfahren war die Zensur nicht passieren dürfen. Oder hielt man solche Zwischenfälle für nicht erwähnenswert?

Vor dem Aufbruch schrieb ich für Janet noch einen Zettel, auf dem ich festhielt, welche Kleidung ich mitgenommen und wieviele Brit-Kan-Dollar ich kassiert hatte, eine Summe, die ich zu dem dazuzählte was sie mir selbst noch gegeben hatte, außerdem führte ich auf, was ich mit ihrer Visa-Karte bezahlt hatte: eine Kapselfahrt Winnipeg — Vancouver, eine Shuttle-Tour von Vancouver nach Bellingham, und das war’s auch schon. (Oder hatte ich die Fahrt nach San José ebenfalls auf ihre Karte genommen, oder hatte Georges zu dem Zeitpunkt schon das Heft an sich reißen wollen? Meine Spesenabrechnungen lagen auf dem Grund des Mississippi.)Nachdem ich genug Bargeld aus Janets Versteck genommen hatte, um (hoffentlich!) Britisch-Kanada zu verlassen, war ich in Versuchung, ihre Visa-Karte ebenfalls zurückzulassen. Eine Kreditkarte aber ist ein verführerisches Ding — ein kleines, billiges Stück Plastik … das aber riesige Stapel Gold aufzuwiegen vermag. Es lag an mir, diese Karte persönlich und um jeden Preis zu bewachen, bis ich sie Janet wieder in die Hand drücken konnte. Jede andere Handlungsweise wäre unehrenhaft gewesen.

Eine Kreditkarte ist wie eine Leine, an der man liegt. In der Welt der Kreditkarten gibt es für den Menschen keine Privatsphäre … oder man kann sie sich nur unter großer Mühe und mit viel Raffinesse bewahren. Weiß man außerdem, was ein Computersystem wirklich macht, wenn man die Karte in einen Schlitz steckt? Ich weiß es nicht. Bei Bargeld fühle ich mich viel sicherer. Mir ist noch nie zu Ohren gekommen, daß jemand beim Streit mit einem Computer gesiegt hätte. Oder vielmehr: Computer streiten nicht.

Sie kennen die Geschichte.

Kreditkarten scheinen mir ein Fluch zu sein. Aber ich bin kein Mensch und sehe diese Frage vermutlich nicht mit menschlichen Augen (und das gilt ebenso für viele, viele andere Bereiche).

Früh am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg; ich trug einen prächtigen dreiteiligen Hosenanzug in Hellblau (sicher fühlte sich auch Janet darin sehr schön, und so fühlte ich mich gut, auch ohne daß die Spiegel mir ein klares Bild vermittelten). Im nahegelegenen Stonewall wollte ich mir ein Transportmittel beschaffen und stellte fest, daß ich die Wahlhatte zwischen einem von Pferden gezogenen Omnibus oder einem AAF der Kanadischen Eisenbahn, die beide zur Tunnelstation Perimeter Road/McPhillips Street fuhren, wo Georges und ich unsere inoffizielle kleine Hochzeitsreise angetreten hatten. Obwohl mir Pferde normalerweise lieber sind, wählte ich diesmal das schnellere Beförderungsmittel.

Die Fahrt in die Stadt brachte mich allerdings nicht an das Gepäck heran, das noch immer am Flughafen im Zollverschluß lagerte. Wäre es möglich gewesen die Stücke aus dem Transitzoll zu holen, ohne als Fremde aus dem Imperium erkannt zu werden? Ich beschloß, mir das Gepäck von außerhalb BritischKanadas nachsenden zu lassen. Außerdem war dieses Gepäck in Neuseeland verschlossen worden. Wenn ich schon solange ohne die Sachen ausgekommen war, brauchte ich sie vielleicht gar nicht mehr. Wie viele Menschen sind schon umgekommen, bloß weil sie ihr Gepäck nicht aufgeben wollten?

Ich verfüge über einen einigermaßen tüchtigen Schutzengel, der mir über die Schulter blickt. Erst vor ein paar Tagen waren Georges und ich bis zu den Drehkreuzen marschiert, hatten Janets und Ians Kreditkarten in die Schlitze gesteckt, ohne uns Gedanken darüber zu machen, und waren fröhlich nach Vancouver gerauscht.

Diesmal wurde zwar gerade eine Kapsel abfahrbereit gemacht, doch stellte ich plötzlich fest, daß ich die Drehkreuze links liegen ließ und auf den Schalter des Brit-Kan-Touristenbüros zuhielt. Da viel Betrieb herrschte, war die Gefahr gering, daß ein Assistent mich überwachte — trotzdem wartete ich, bis eine EckKonsole frei war. Als jemand den Platz verließ, setzteich mich, tippte Informationen über Kapseln nach Vancouver ein und steckte Janets Karte in den Schlitz.

Mein Schutzengel war an diesem Tag auf der Hut; ich riß die Karte wieder heraus, ließ sie schleunigst verschwinden und hoffte, daß niemand den Geruch verbrannten Plastiks wahrgenommen hatte. Und ich verließ das Reisebüro schnellen Schrittes, den Kopf hoch erhoben.

Als ich am Drehkreuz eine Fahrkarte nach Vancouver verlangte, war der Beamte gerade mit der Sportseite der Winnipeg Free Press beschäftigt. Er senkte die Zeitung um einige Zentimeter und linste mich an.

„Warum nehmen Sie nicht wie alle anderen Ihre Karte?“

„Haben Sie Fahrkarten zu verkaufen? Ist dieses Geld gesetzliches Zahlungsmittel?“

„Darum geht es nicht.“

„Für mich schon. Bitte verkaufen Sie mir eine Fahrkarte! Und nennen Sie mir Ihren Namen und Ihre Nummer, wie es da auf dem Schild über Ihrem Kopf steht.“ Ich gab ihm das abgezählte Fahrgeld.

„Hier ist Ihre Fahrkarte.“ Er ignorierte meine Aufforderung, sich zu identifizieren, ich ignorierte den Umstand, daß er sich über seine Vorschriften hinwegsetzte. Ich wollte keinen Streit mit seinem Vorgesetzten haben; ich wollte lediglich von meinem auffälligen Beharren auf Bargeldzahlung ablenken, anstatt mit der Kreditkarte zu kommen.

Obwohl die Kapsel überfüllt war, brauchte ich nicht zu stehen; ein Sir Galahad, der aus dem letzten Jahrhundert übriggeblieben sein mußte, stand auf und bot mir seinen Sitz an. Er war nett und sah nicht übel aus und spielte offensichtlich den Kavalier, weiler in mir aus seiner Sicht entsprechende Vorzüge ausmachte.

Ich dankte ihm mit einem Lächeln, und dann stand er vor mir, und ich gab mir Mühe, ihm die kleine Mühe zu entlohnen, indem ich mich vorbeugte und ihn in meinen Ausschnitt starren ließ. Der junge Kavalier schien das auch dankbar anzunehmen — er wandte den Blick nicht ab. Das Ganze kostete mich nichts und machte mir keine Mühe. Ich wußte sein Interesse zu schätzen, das mir außerdem ein wenig Komfort verschaffte — sechzig Minuten können sich in der heftig beschleunigenden und abbremsenden Expreß-Kapsel ziemlich lange hinziehen.

Als wir in Vancouver ausstiegen, fragte er, ob ich zum Mittagessen etwas vorhätte? Wenn nicht, wüßte er ein wirklich gutes Restaurant, die BayshoreSchenke. Oder vielleicht äße ich lieber japanisch oder chinesisch …

Ich antwortete, es täte mir leid, aber ich müsse um halb eins in Bellingham sein.

Anstatt die Ablehnung hinzunehmen, erhellte sich sein Gesicht. „Das ist aber ein Zufall! Ich fahre auch nach Bellingham, aber ich wollte damit bis nach dem Mittagessen warten. Wir können also zusammen in Bellingham essen. Abgemacht?“

(Gibt es in den internationalen Gesetzen keine Klauseln gegen das Überschreiten von Grenzen zu unmoralischen Zwecken? Läßt sich das einfache, direkte Interesse dieses Jünglings tatsächlich als „unmoralisch“ bezeichnen? Eine Künstliche Person wird es niemals schaffen, den Verhaltenskodex der Menschen in sexuellen Dingen völlig zu begreifen; wir können ihn nur auswendig lernen und versuchen,nicht ins Fettnäpfchen zu treten. Das ist aber nicht leicht; in diesen Dingen gehen die Menschen Wege die so verschlungen sind wie Spaghetti auf einem Teller.)

Nachdem mein Versuch einer höflichen Ablehnung gescheitert war, mußte ich mir nun schnell überlegen ob ich grob werden oder auf seine klare Absicht eingehen sollte. Ich schalt mich selbst: Freitag, du bist doch längst ein großes Mädchen; du solltest es besser wissen!

Wenn du ihm von vornherein jede Hoffnung nehmen wolltest, dich ins Bett zu kriegen, dann hättest du gleich aussteigen sollen, als er dir seinen Sitz anbot.

Ich machte einen letzten Versuch. „Abgemacht“ antwortete ich, „wenn Sie es mir gestatten, die Rechnung zu bezahlen, ohne Widerrede!“ Ein schmutziger Trick meinerseits, was wir auch beide wußten, denn wenn er mich für das Mittagessen bezahlen ließ wurde damit seine Investition in mich aufgehoben die darin bestand, daß er eine Stunde lang gestanden und gegen das Ruckeln der Kapsel angefochten hatte.

Das Protokoll der Hackordnung ließ es aber nicht zu diese Investition zurückzufordern; sein Kavaliersakt sollte beiläufig, uninteressiert, ritterlich gewesen sein etwas, für das kein Lohn erwartet wurde.

Der schmutzige, heimtückische, raffinierte, scharfe Halunke setzte sich aber mühelos über das Protokoll hinweg.

„Einverstanden“, sagte er.

Ich unterdrückte mein Erstaunen. „Und später keine Widerrede? Ich bezahle?“

„›Keine Widerrede‹“, bestätigte er. „Offensichtlich wollen Sie nicht einmal um den Preis eines Mittagessens in der Schuld eines Mannes stehen, obwohl dieEinladung von mir ausging und ich daher das Vorrecht des Gastgebers genießen müßte. Ich weiß nicht womit ich Sie so verärgert habe, aber natürlich möchte ich Ihnen nicht die geringste Verpflichtung aufzwingen. Wenn wir in Bellingham ankommen gibt’s da im Erdgeschoß einen MacDonald; ich nehme einen Big Mäc und ein Cola. Sie bezahlen dafür. Dann können wir wenigstens als Freunde auseinandergehen.“

„Ich heiße Marjorie Baldwin“, antwortete ich. „Wie heißen Sie?“

„Trevor Andrews, Marjorie.“

„›Trevor‹. Das ist ein hübscher Name. Trevor, Sie sind ein gemeiner, heimtückischer, verachtenswerter Schweinehund. Führen Sie mich ins beste Restaurant von Bellingham, umschwärmen Sie mich mit gutem Likör und köstlichen Speisen, und bezahlen Sie die Rechnung! Ich räume Ihnen dafür die faire Chance ein, mir ihre niederträchtigen Absichten zu verkaufen. Aber ich glaube nicht, daß Sie mich ins Bett kriegen; mir ist nicht danach.“

Das war nun klar eine Lüge; mir war sogar sehr danach; hätte er meinen gesteigerten Geruchssinn besessen, wäre er seiner Sache sicher gewesen. So sicher wie ich wußte, daß er mich begehrte. Ein normaler Mann kann einer KP-Frau, die gesteigerte Sinne besitzt, nichts vormachen. Dies erfuhr ich, als bei mir die erste Regel einsetzte. Männliches Interesse kränkt mich aber nicht. Höchstens ahme ich das Verhalten einer normalen Frau nach, indem ich die Gekränkte spiele. Ich lasse mich aber nicht oft auf so etwas ein und versuche es zu vermeiden, denn so gut bin ich als Schauspielerin nicht.Von Vicksburg nach Winnipeg hatte ich kein Verlangen gespürt. Doch inzwischen hatte ich zwei Nächte lang schlafen können, hatte heiß gebadet, mit viel Seife, und hatte ausgiebig gegessen, und so war mein Körper zu seinem normalen Verhalten zurückgekehrt.

Weshalb belog ich also diesen harmlosen Fremden?

„Harmlos?“ Im vernünftigen Sinne schon. Ohne korrektive Operation bin ich steril. Ich neige nicht zu Erkältungen und bin besonders geschützt gegen die vier verbreitetsten Geschlechtskrankheiten. In der Krippe hatte man mich die Vorzüge des Gemeinschaftslebens gelehrt: essen, trinken, atmen, schlafen spielen, reden und kuscheln — all die angenehmen Bedürfnisse, die das Leben zur Freude machen können, anstatt es wie eine Last aussehen zu lassen.

Ich belog ihn, weil die menschlichen Regeln in diesem Punkt des Geschlechtertanzes eine Lüge vorschrieben — ich spielte das Menschenweibchen und wagte es nicht, ehrlich ich selbst zu sein.

Er blinzelte auf mich herab. „Sie sind der Meinung ich würde sinnlos investieren?“

„Ich fürchte ja. Tut mir leid.“

„Sie befinden sich im Irrtum. Nie versuche ich eine Frau ins Bett zu bekommen; wenn sie mich in ihrem Bett haben will, wird sie Mittel und Wege finden, mir das verständlich zu machen. Wenn sie mich nicht dort haben will, dann wäre ich auch nicht gern dort.

Ihnen scheint es aber nicht bewußt zu sein, daß sich die Ausgabe für ein gutes Mittagessen schon allein deswegen lohnt, weil ich dasitzen und Sie anschauen kann, während ich allerdings das dumme Gerede das Ihnen über die Lippen kommt, ignorieren muß.“

„›Gerede‹! Jetzt muß das Restaurant aber wirklicherstklassig sein. Nehmen wir das Shuttle!“

Ich hatte geglaubt, daß ich mich bei der Ankunft durch die Barriere reden müßte.

Der Einwanderungsbeamte aber schaute sich Trevors Ausweise gründlich an, ehe er seine Touristenkarte abstempelte, dann warf er nur einen kurzen Blick auf meine San-José-Master-Charge-Karte und winkte mich durch. Unmittelbar hinter der Zollkontrolle wartete ich auf Trevor und betrachtete das Schild DIE FRÜHSTÜCKSBAR mit einem seltsamen Gefühl des déjà vu.

Trevor holte mich ein. „Hätte ich die Goldkarte, mit der Sie da eben herumgeprotzt haben, früher gesehen“, sagte er bekümmert, „hätte ich mich nicht erboten, Ihr Mittagessen zu bezahlen. Sie sind ja eine reiche Erbin!“

„Nun hören Sie mal, mein Junge!“ sagte ich. „Abgemacht ist abgemacht. Sie haben mir gesagt, es lohne sich dazusitzen und mich anzusabbern. Trotz meines ›Geredes‹. Ich bin bereit, darauf einzugehen. Vielleicht mache ich auch einen oder zwei weitere Knöpfe meines Ausschnitts auf. Aber kneifen geht jetzt nicht mehr. Auch eine reiche Erbin möchte ab und zu mal was einfahren.“

„Ach, wie schade ist das alles!“

„Hören Sie auf zu jammern! Wo ist denn Ihr Feinschmeckerlokal?“

„Nun, also … Marjorie, ich muß zugeben, daß ich die Restaurants in dieser funkelnden Metropole überhaupt nicht kenne. Sagen Sie mir, wohin Sie möchten?“

„Trevor, Ihre Verführungskünste lassen zu wünschen übrig!“

„Das sagt meine Frau auch immer.“

„Dachte ich’s mir doch — Sie machten mir gleich den Eindruck, als wüßten Sie am Zügel zu gehen.

Zeigen Sie mir schon ihr Bild! Bin gleich zurück. Ich will nur mal feststellen, wo wir essen.“

Ich erwischte den Zollbeamten zwischen zwei Shuttles und fragte ihn nach dem Namen des besten Restaurants. Er musterte mich nachdenklich. „Wir sind hier nicht in Paris, müssen Sie wissen.“

„Aufgefallen war mir das schon.“

„Und auch nicht in New Orleans. Ich an Ihrer Stelle würde in den Speisesaal des Hilton gehen.“

Ich dankte ihm und kehrte zu Trevor zurück. „Wir essen im Speisesaal, zwei Stockwerke über uns. Es sei denn, Sie wollen erst einmal Ihre Spione ausschicken.

Jetzt möchte ich aber das Bild Ihrer Frau sehen.“

Er zeigte mir ein Bild in seiner Brieftasche. Ich betrachtete es eingehend und pfiff dann respektvoll durch die Zähne. Blondinen beeindrucken mich. Als kleines Mädchen hoffte ich, diese Farbe zu erreichen wenn ich nur energisch genug rubbelte. „Trevor wenn Sie ein solches Weib zu Hause haben, warum gabeln Sie sich dann leichte Mädchen von der Straße auf?“

„Sind Sie ein leichtes Mädchen?“

„Versuchen Sie nicht immer das Thema zu wechseln!“

„Marjorie, Sie würden mir nicht glauben und würden nur darüber plappern. Gehen wir in den Speisesaal, ehe die Martinis völlig trocken werden!“

Das Mittagessen war in Ordnung, doch Trevor besaß nicht Georges’ Phantasie, Kochkenntnisse und Ge-schicklichkeit im Einschüchtern von Oberkellnern.

Ohne Georges’ Flair war das Essen gut, übliche nordamerikanische Küche, in Bellingham nicht anders als in Vicksburg.

Ich war mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache; daß Janets Kreditkarte für ungültig erklärt worden war, bestürzte mich beinahe mehr als die schreckliche Enttäuschung, Ian und Janet nicht zu Hause anzutreffen. — Hatte Janet Ärger? — War sie tot?

Trevor hatte seinerseits ein wenig von der fröhlichen Begeisterung eingebüßt, die ein junger Hengst zeigen sollte, wenn das Spiel zügig weitergeht. Anstatt mich lüstern anzustarren, schien er ebenfalls düstere Gedanken zu wälzen. Was bedeutete dieser Wandel in seinem Verhalten? Lag es an meinem Wunsch, eine Aufnahme seiner Frau zu sehen? Hatte ich ihm damit den Wind aus den Segeln genommen?

Ich bin der Meinung, daß sich ein Mann erst auf die Jagd begeben sollte, wenn er sich mit seiner Frau oder Frauen so geeinigt hat, daß er die flotten Einzelheiten zu Hause zur allgemeinen Unterhaltung darbieten kann. Wie Ian. Ich erwarte von keinem Mann, daß er „meinen Ruf schützt“, weil das die Männer meines Wissens ohnehin nie tun. Wollte ich einen Mann davon abhalten, meine süße Ungeschicklichkeit im Bett mit anderen zu besprechen, gibt’s nur eine Möglichkeit: gar nicht erst mit ihm ins Bett zu gehen.

Außerdem hatte Trevor zuerst von seiner Frau angefangen, oder? — Ich ging das Gespräch noch einmal durch —, ja, hatte er.

Nach dem Essen wurde er wieder etwas munterer.

Ich sagte ihm, er könne nach seiner Geschäftsbesprechung zurückkehren, denn ich wolle mich hier alsGast registrieren lassen, um es gemütlich zu haben und auch allein zu sein, wenn ich einige Satellitentelefonate erledigte (was stimmte), außerdem bliebe ich vielleicht über Nacht (das stimmte ebenfalls), er könne also wiederkommen und mich anrufen, und dann würde ich mich mit ihm im Foyer treffen (das stimmte nicht unbedingt — ich war so verstört und einsam, daß ich ihn vermutlich bitten würde, gleich heraufzukommen.)

Er antwortete: „Ich rufe vorher an, damit Sie den Mann aus dem Zimmer schaffen können, dann aber komme ich gleich zu Ihnen ins Zimmer. Wäre doch sinnlos, den Weg zweimal zu machen. Den Champagner aber lasse ich schicken; ich habe keine Lust, ihn zu tragen.“

„Moment mal!“ sagte ich. „Noch haben Sie mich nicht auf Ihre niederträchtigen Absichten festgelegt.

Ich habe Ihnen nicht mehr und nicht weniger versprochen, als daß Sie mir Ihren Werbevortrag halten können. Im Foyer. Nicht in meinem Schlafzimmer.“

„Marjorie, Sie sind eine harte Frau.“

„Nein, Sie sind ein ehrgeiziger Mann. Ich weiß, was ich tue.“ Eine plötzliche Ahnung gab mir ein, daß ich es in der Tat genau wußte. „Sagen Sie mal, wie stehen Sie zu Künstlichen Personen? Hätten Sie etwas dagegen, wenn Ihre Schwester eine heiraten wollte?“

„Kennen Sie eine, die dazu bereit wäre? Meine Schwester wird allmählich ein bißchen alt; sie kann es sich nicht mehr leisten, wählerisch zu sein.“

„Weichen Sie mir nicht aus! Würden Sie eine heiraten?“

„Was würden die Nachbarn denken? Marjorie woher wollen Sie wissen, daß ich es nicht längst ge-tan habe? Sie haben doch das Photo meiner Frau gesehen. Artefakte geben angeblich die allerbesten Ehefrauen ab, horizontal wie vertikal.“

„Konkubinen, meinen Sie wohl. Es ist nicht nötig sie auch noch zu heiraten. Trevor, Sie sind nicht nur nicht mit einer KP verheiratet, Sie wissen auch nicht mehr darüber, als die allgemein verbreiteten Mythen — sonst würden Sie nicht von ›Artefakt‹ sprechen wenn wir uns in Wahrheit über ›Künstliche Personen‹ unterhalten.“

„Ich bin heimtückisch, hinterlistig und verachtenswert. Ich habe bewußt das falsche Wort gebraucht, damit Sie nicht darauf kommen, daß ich zu der Sorte gehöre.“

„Geplapper! Sie sind keine KP, sonst wüßte ich es.

Und Sie würden wohl mit einer ins Bett gehen, aber es fiele Ihnen nie im Traum ein, so eine zu heiraten.

Unsere Diskussion wird langsam sinnlos; hören wir auf damit! Ich brauche etwa zwei Stunden; seien Sie nicht überrascht, wenn mein Zimmerterminal besetzt ist. Lassen Sie eine Nachricht aufzeichnen und bestellen Sie sich einen schönen Drink; ich komme dann so schnell wie möglich runter.“

Ich tippte mich am Empfang ein und ging nach oben — diesmal nicht ins Brautzimmer — ohne Georges hätte mich diese süße Extravaganz nur traurig gestimmt —, sondern in ein nettes Zimmer mit weichem breitem Bett, ein Luxus, den ich mir im Hinblick auf meinen Verdacht bestellt hatte, daß Trevors zurückhaltende (beinahe negative) Art, sich zu verkaufen ihn letztlich doch dorthin bringen würde. Ein schwieriger Mensch.

Ich verdrängte den Gedanken und machte mich andie Arbeit. Zuerst rief ich im Vicksburg-Hilton an.

Nein, Mr. und Mrs. Perreault hatten sich abgemeldet.

Nein, eine Anschrift war nicht hinterlassen worden.

Tutunsleid!

Mir tat es auch leid, und darin war mir die synthetische Computerstimme kein Trost. Ich rief die McGill-Universität in Montréal an und brauchte zwanzig Minuten, um zu erfahren, daß Dr. Perreault in der Tat dem Lehrkörper der Universität angehörte sich im Augenblick aber in der Universität Manitoba aufhielte. Die einzige Neuigkeit bestand darin, daß der Montréal-Computer Englisch und Französisch mit gleicher Selbstverständlichkeit beherrschte und stets in der Sprache antwortete, in der er angesprochen worden war. Sehr clever, diese Elektronenbändiger — für meinen Geschmack zu clever!

Ich probierte es mit Janets (Ians) Komm-Kode in Winnipeg und erfuhr, daß das Terminal auf Veranlassung des Kunden abgemeldet worden sei. Ich fragte mich, wie es möglich war, daß ich noch bis heute früh auf diesem Terminal im Loch die Nachrichten empfangen hatte. Hieß „abgemeldet“ in diesem Falle nur, daß keine ankommenden Gespräche aufgenommen wurden? Gab es bei der KommGesellschaft solche feinen Unterschiede?

ANZAC Winnipeg jagte mich durch ein gehöriges Stück des dortigen Computers, bis ich endlich eine menschliche Stimme zu hören bekam, die mir einräumte, daß Captain Tormey wegen der Krise und der Unterbrechung im Flugverkehr in Neuseeland im Urlaub sei.

Ians Auckland-Kode antwortete mit Musik und der Aufforderung, eine Nachricht auf Band zu sprechen,was mich nicht weiter überraschte, da Ian nur dort sein konnte, wenn der SBR-Verkehr wieder aufgenommen wurde. Ich hatte aber gehofft, Freddie und/oder Betty zu erreichen.

Wie sollte ich nach Neuseeland gelangen, wenn die SBR nicht flogen? Mit den Seepferden zu fahren, ging nicht; sie sind zu klein. Und nahmen die großen Shipstone-getriebenen Schwimmfrachter jemals Passagiere mit? Ich glaubte nicht, daß Unterkünfte eingebaut waren. Hatte mir nicht jemand erzählt, daß einige dieser Schiffe nicht einmal Besatzungen hatten?

Ich glaubte mich auf den Reiserouten besser auszukennen als die regulären Reisebüros, denn als Kurier mußte ich zuweilen auf Beförderungsmittel zurückgreifen, die Touristen nicht zur Verfügung stehen und mit normaler Passagierbeförderung nichts zu tun haben. Nun bekümmerte mich die Erkenntnis daß ich mir nie überlegt hatte, wie ich gegen das Schicksal ankämpfen sollte, wenn alle SBR am Boden festlagen. Aber natürlich gab es eine Möglichkeit, es gab immer eine Möglichkeit. Ich ordnete die Frage als ein Problem ein, das zu lösen war — allerdings später.

Ich rief die Universität von Sydney an und sprach mit einem Computer. Endlich aber bekam ich doch eine menschliche Stimme in die Leitung, die zugab Professor Farnese zu kennen, der aber im Augenblick ein Studienjahr absolviere. Nein, Private KommKodes und Anschriften würden grundsätzlich nicht weitergegeben — tut mir leid. Vielleicht könnte die Auskunft mir weiterhelfen.

Der Informationscomputer von Sydney schien sich einsam zu fühlen, da er endlos mit mir plaudern wollte — nur wollte er nicht damit herausrücken, ob erFederico oder Elizabeth Farnese in seinem Netz sitzen hatte. Ich hörte mir Werbesprüche über die längste Brücke der Welt an (stimmt nicht) und über das großartigste Opernhaus der Welt (stimmt), verbunden mit der Aufforderung, nach Australien zu kommen und … Widerstrebend schaltete ich ab; ein freundlicher Computer mit australischem Akzent ist eine bessere Gesellschaft, als man sie manchmal ertragen muß, unter Menschen wie auch unter meinesgleichen.

Dann machte ich den Schritt, den zu vermeiden ich gehofft hatte: Christchurch. Es war anzunehmen, daß sich das HQ meines Chefs über meine frühere Familie mit mir hatte in Verbindung setzen wollen, als der Umzug stattfand — wenn es sich um einen Umzug und nicht um eine ungeordnete Auflösung gehandelt hatte. Es bestand außerdem die entfernte Möglichkeit daß Ian, der mich im Imperium nicht erreichen konnte, eine Nachricht an mein früheres Zuhause richten würde, in der Hoffnung, man würde sie weiterleiten. Ich erinnerte mich daran, daß ich ihm meinen Komm-Kode in Christchurch gegeben hatte, als er mir die Nummer für seine Wohnung in Auckland nannte. So rief ich denn mein früheres Zuhause an …

… und erlebte einen Schock vergleichbar dem Ruck der einen durchfährt, wenn man auf eine Stufe tritt die gar nicht vorhanden ist. „Das von Ihnen gewählte Terminal ist nicht angeschlossen. Anrufe werden nicht weitergeleitet. Im Notfall rufen Sie bitte Christchurch …“ Es folgte ein Kode, von dem ich wußte, daß er zu Brians Büro gehörte.

Unwillkürlich ging ich die Verschiebungen der Zeitzonen durch in der Hoffnung, auf eine Antwortzu stoßen, die einen Anruf sinnlos machte — aber dann riß ich mich zusammen. Wir hatten hier Nachmittag, eben fünfzehn durch, folglich war in Neuseeland der folgende Vormittag, kurz nach elf, die Zeit da Brian am wahrscheinlichsten im Büro anzutreffen war. Ich gab sein Signal ein, mußte im Satelliten nur wenige Sekunden warten und starrte dann in sein verblüfftes Gesicht. „Marjorie!“

„Ja“, gab ich ihm recht. „›Marjorie‹. Wie geht es dir?“

„Warum rufst du mich an?“

„Brian, bitte!“ sagte ich. „Wir waren sieben Jahre lang verheiratet. Können wir nicht wenigstens höflich miteinander sprechen?“

„Tut mir leid. Was kann ich für dich tun?“

„Es tut mir leid, dich bei der Arbeit stören zu müssen, aber ich habe im Haus angerufen und erfahren daß das Terminal nicht angeschlossen ist. Brian, wie du zweifellos aus den Nachrichten weißt, hat die Krise alle Verbindungen ins Chicago-Imperium unterbrochen. Die Morde. Der ›Rote Donnerstag‹, wie die Journalisten ihn nennen. Ein Ergebnis davon ist, daß ich mich in Kalifornien aufhalte; ich habe mein Ziel im Imperium nicht erreicht. Gibt es vielleicht Post oder Nachrichten für mich, die bei euch gelandet sind? An mich ist nichts weitergeleitet worden.“

„Ich wüßte nichts davon. Tut mir leid.“

„Kannst du mir nicht einmal sagen, ob etwas weitergeschickt werden sollte? Wenn ich nur wüßte, daß eine Nachricht für mich eingetroffen wäre, könnte mir das helfen, sie aufzuspüren.“

„Ich will mal überlegen. Da wäre zunächst das ganze Geld, das du abgezogen hast … Nein, die ent-sprechende Ziehung hast du ja mitgenommen.“

„Was für Geld?“

„Das Geld, das du von uns zurückverlangt hast — wenn wir nicht einen offenen Skandal riskieren sollten. Gut siebzigtausend Dollar. Marjorie, ich bin überrascht, daß du die Frechheit hast, dein Gesicht hier blicken zu lassen — wo doch dein Fehlverhalten deine Lügen, deine kalte Habgier unsere Familie zerstört haben.“

„Brian, wovon redest du da, um alles auf der Welt?

Ich habe niemanden belogen, ich finde auch nicht daß ich mich falsch verhalten habe, und ich habe keinen Pfennig aus der Familie abgezogen. ›Die Familie zerstört‹ — wie denn? Ich wurde aus der Familie verstoßen, aus heiterem Himmel, verstoßen und fortgeschickt, innerhalb weniger Minuten. Ich habe auf keinen Fall ›die Familie vernichtet‹. Erklär mir das bitte!“

Brian kam meiner Aufforderung nach und ließ keine schreckliche Einzelheit aus. Meine Untaten gingen natürlich Hand in Hand mit meinen Lügen, jener lächerlichen Behauptung, ich sei ein Lebendiger Artefakt und kein Mensch, eine Behauptung mit der ich die Familie gezwungen hatte, die Annullierung zu verlangen. Ich versuchte ihn daran zu erinnern, daß ich ihm ja meine gesteigerten Fähigkeiten vorgeführt hatte; aber er tat die Bemerkung ungeduldig ab. Meine Erinnerungen, seine Erinnerungen — das paßte nicht zueinander. Was das Geld betraf, so log ich natürlich wieder; er hatte die Quittung mit meiner Unterschrift gesehen.

Ich unterbrach ihn mit der Bemerkung, daß jede Unterschrift auf einem solchen Dokument, die wiedie meine aussah, eine Fälschung sein müsse, da ich keinen einzigen Dollar bekommen hätte.

„Damit klagst du Anita der Fälschung an. Das ist bisher deine unverschämteste Lüge.“

„Ich klage überhaupt nicht an. Aber ich habe von der Familie kein Geld erhalten!“

Natürlich beschuldigte ich Anita doch, und das wußten wir beide. Und vielleicht schloß ich Brian in meine Vorwürfe mit ein. Ich erinnerte mich an Vikkies Bemerkung, daß Anita nur dann harte Brustwarzen bekäme, wenn es um große Guthabenbeträge ginge — und ich hatte sie unterbrochen und aufgefordert, nicht frech zu sein. Aber auch von anderer Seite hatte ich Hinweise erhalten, daß Anita im Bett nicht sonderlich auftaute — ein Zustand, den eine KP nicht zu verstehen vermag. Im Rückblick erschien es denkbar, daß ihre Leidenschaften zur Gänze auf die Familie, auf ihren finanziellen Erfolg, ihr öffentliches Prestige und ihre Macht in der Gemeinde gerichtet waren.

Wenn das stimmt, mußte sie mich hassen. Ich zerstörte die Familie nicht, aber anscheinend war mein Ausschluß der erste Dominostein, der zum Zusammenbruch führte. Beinahe unmittelbar nach meiner Abreise fuhr Vickie nach Nuku’alofa — und beauftragte einen Anwalt damit, auf Scheidung und finanzielle Abfindung zu klagen. Dann verließen Douglas und Lisbeth Christchurch, heirateten separat und leiteten einen ähnlichen Prozeß ein.

Ein winziger Trost wurde mir zuteil. Ich erfuhr von Brian, daß die Abstimmung gegen mich nicht sechs zu null, sondern sieben zu null gewesen war. Eine Verbesserung? Ja. Anita hatte bestimmt, daß die Ent-scheidung nach den Anteilen vorgenommen werden müßte; die Haupt-Anteilseigner, Brian, Bertie und Anita, hatten als erste abgestimmt, sieben Stimmen gegen mich, eine klare Mehrheit für den Ausschluß woraufhin Douglas, Vickie und Lisbeth gar nicht erst abgestimmt hatten.

Doch eben nur ein winziger Trost, denn sie hatten sich gegen Anita nicht aufgelehnt, hatten nicht versucht, ihr Einhalt zu gebieten, hatten mich nicht einmal vor dem gewarnt, was da im Gange war. Sie enthielten sich der Stimme — dann blieben sie im Hintergrund und ließen das Urteil vollstrecken.

Ich erkundigte mich bei Brian nach den Kindern — und bekam die barsche Antwort zu hören, daß sie mich nichts angingen. Er fügte hinzu, er habe viel zu tun und müsse weitermachen, doch ich stellte ihm noch schnell eine Frage: „Was ist aus den Katzen geworden?“

Er sah aus, als würde er gleich explodieren. „Marjorie! Hast du denn überhaupt kein Herz? Nachdem deine Handlungsweise soviel Schmerz, soviel echte Tragik verursacht hat, erkundigst du dich nach etwas so Unwichtigem wie den Katzen?“

Ich bezwang meinen Zorn. „Ich möchte es wissen Brian.“

„Ich glaube, sie wurden dem Tierschutz überlassen.

Oder einer medizinischen Fakultät. Leb wohl! Bitte ruf mich nie wieder an!“

„Medizinische Fakultät …“ Mr. Stolperstein auf einen Operationstisch gebunden, während ein Medizinstudent ihn mit dem Skalpell auseinandernahm?

Ich bin kein Vegetarier und habe auch nichts gegen den Einsatz von Tieren in Forschung und Lehre. Aberwenn es denn schon geschehen muß, lieber Gott wenn es da überhaupt einen gibt, dann soll das nicht an Tieren geschehen, die dazu erzogen worden sind sich für Menschen zu halten!

Tierschutz oder medizinische Fakultät, Mr. Stolperstein und die jüngeren Katzen waren mit ziemlicher Sicherheit tot. Wären die SBR geflogen, hätte ich es wohl trotzdem riskiert, nach Britisch-Kanada zurückzukehren, um den nächsten Start nach Neuseeland zu erreichen, in der verlorenen Hoffnung, meinen alten Freund zu retten. Ohne moderne Transportmittel jedoch war Auckland weiter entfernt als Luna City.

Außerdem wäre das ganze Unterfangen mehr als hoffnungslos gewesen.

Energisch griff ich auf mein Kontrolltraining zurück und verdrängte Dinge aus meinen Gedanken die ich sowieso nicht mehr ändern konnte …

… und mußte feststellen, daß Mr. Stolperstein mir noch immer um die Beine strich.

Auf dem Terminal blinkte eine rote Lampe. Ich schaute auf die Uhr und stellte fest, daß ich ungefähr die angekündigten zwei Stunden benötigt hatte; das Licht war mit ziemlicher Sicherheit Trevor.

Also entscheide dich endlich, Freitag! Willst du dir das Gesicht waschen, hinuntergehen und dich von ihm beschwatzen lassen? Oder möchtest du ihn hochbitten, sofort ins Bett bugsieren und dich bei ihm ausweinen? Zumindest im Anfang? In diesem Augenblick fühlst du dich alles andere als scharf auf einen Mann — aber wenn du ein Weilchen an einer weichen, warmen Männerschulter gelegen hast, wenn du deine Gefühle ein wenig ausgetobt hast, dann wirddas Interesse schon zurückkehren. Das weißt du aus praktischer Erfahrung. Frauentränen gelten bei den meisten Männern als sehr anregend, eine Erkenntnis die du nur bestätigen kannst. (Ein verdeckter Sadismus? Machismo? Wen schert das? Es funktioniert.)

Laß ihn heraufkommen! Bestell Alkohol! Leg auch etwas Rouge und Lippenstift auf, damit du begehrenswert aussiehst. Nein, zum Teufel mit Lippenstift; der würde sowieso nicht lange vorhalten. Laß ihn heraufkommen! Nimm ihn mit ins Bett! Heitere dich auf, indem du dir größte Mühe gibst, ihn aufzuheitern! Gib ihm alles, was du zu bieten hast!

Ich holte ein Lächeln auf mein Gesicht und aktivierte das Terminal.

Und vernahm die Stimme des Hotelroboters: „Wir haben hier eine Schachtel Blumen für Sie. Sollen wir sie zu Ihnen hinaufschicken?“

„Aber ja.“ (Egal von wem, eine Schachtel Blumen ist besser als ein Schlag vor den Bauch mit einem nassen Fisch.)

Gleich darauf summte der Servicefahrstuhl. Ich ging hinüber und nahm ein Blumengebinde heraus das so groß war wie ein Kindersarg. Um es zu öffnen mußte ich es auf den Boden legen.

Langstielige rote Rosen! Ich nahm mir vor, Trevor mehr zu verwöhnen, als es Kleopatra in ihrer besten Zeit vermocht hatte.

Nachdem ich die Blumen bewundert hatte, öffnete ich den Umschlag, der dabeilag. Ich rechnete mit einer kurzen Bemerkung, der Aufforderung, ihn im Foyer anzurufen.

Nein, es war eine Nachricht, beinahe ein Brief: „Liebe Marjorie ich hoffe, diese Rosen sind Ihnen mindestens ebenso willkommen, wie ich es gewesen wäre. (… gewesen wäre?

Zum Teufel, was sollte das?)

Ich muß gestehen, daß ich ausgerissen bin. Es ergab sich etwas, das mich erkennen ließ, daß ich meine Versuche, Ihnen meine Gesellschaft aufzuzwingen, einstellen muß.

Ich bin nicht verheiratet. Ich habe keine Ahnung, wer die hübsche Dame ist; das Bild ist nur ein Requisit. Wie Sie selbst schon andeuteten, sind Leute meines Schlages nicht zum Heiraten geeignet. Liebe Dame, ich bin eine Künstliche Person. ›Meine Mutter war ein Reagenzglas, mein Vater ein Skalpell.‹ Eigentlich sollte ich mich menschlichen Frauen nicht aufdrängen. Ich gehe als Mensch durch, gewiß, aber ich möchte Ihnen lieber die Wahrheit sagen, als weiter mit Ihnen herumzuspielen, wo Sie doch die Wahrheit früher oder später sowieso herausbekämen. Denn irgendwann würde mein Stolz die Oberhand gewinnen, und ich würde es Ihnen sagen.

Also spreche ich es lieber jetzt aus, um Sie später nicht zu kränken.

Natürlich ist mein Familienname nicht ›Andrews‹, da Leute meines Schlages keine Familien haben.

Trotzdem aber bleibt in mir der Wunsch, Sie wären auch eine KP. Sie sind wirklich nett (und auch schrecklich begehrenswert), und Ihre Neigung, über Dinge zu plappern von denen Sie nichts verstehen, beispielsweise über KPs, ist sicher nicht Ihr Fehler. Sie erinnern mich an ein kleines Foxterrier-Weibchen, das ich mal besaß. Sie war wirklich niedlich und liebevoll, doch bereit, gegen die ganze Welt anzukämpfen, wenn sich das so ergab. Ich gestehe, daß mir Hunde und Katzen meistens besser gefallen als Menschen; sie werfen mir nie vor, daß ich kein Mensch bin.Viel Spaß mit den Rosen ›Trevor‹“

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, schnaubte mir die Nase, stürmte aus dem Zimmer und durch das Foyer in die Bar, dann ein Stockwerk tiefer in die Shuttle-Station. An den Drehkreuzen zu den abfahrenden Shuttles blieb ich stehen — und wartete und wartete und wartete noch ein bißchen länger, bis ein Polizist mich aufs Korn nahm und schließlich zu mir kam und sich erkundigte, was ich wollte und ob ich Hilfe brauchte.

Ich erzählte ihm die Wahrheit, einen Teil der Wahrheit, und er ließ mich in Ruhe. Ich blieb weitere anderthalb Stunden, und er ließ mich nicht aus den Augen. Schließlich baute er sich wieder vor mir auf und sagte: „Hören Sie, wenn Sie dies als Ihr Revier ansehen, muß ich Sie nach Ihrer Lizenz und Ihrem Gesundheitspaß fragen und Sie einbuchten, wenn keins von beiden in Ordnung ist. Ich habe keine Lust dazu; zu Hause habe ich eine Tochter, die etwa so alt ist wie Sie, und ich würde mir wünschen, daß ein Polizist ihr mal eine Chance gibt. Trotzdem sollten Sie nicht diesem Geschäft nachgehen; man sieht’s Ihnen doch schon am Gesicht an, daß Sie dazu nicht hart genug sind.“

Ich überlegte mir, ob ich ihm meine GoldKreditkarte zeigen sollte — es gibt sicher kein Straßenmädchen, das mit einer solchen Karte ausgestattet ist. Aber der alte Knabe dachte wirklich, er könne mir helfen, und ich hatte für heute schon genug Leute abgekanzelt. Ich dankte ihm und kehrte in mein Zimmer zurück.Die Menschen sind auf überhebliche Weise davon überzeugt, jede KP sofort zu erkennen — pah! Wir erkennen uns ja nicht mal gegenseitig! Trevor war bisher der einzige Mann in meinem Leben, den ich unbelasteten Gewissens hätte heiraten können — und ich hatte ihn vertrieben!

Er war aber auch viel zu empfindlich!

Wer ist hier zu empfindlich? Du, Freitag!

Aber, verdammt, die meisten Menschen sind nun mal gegen Wesen von unserer Art. Tritt man einen Hund oft genug, wird er übernervös. Seht euch doch nur meine nette EnEs-Familie an, diese Betrüger!

Vermutlich fühlte sich Anita völlig im Recht, als sie mich betrog — ich war ja kein Mensch.

Ergebnis des Tages zwischen Menschen und Freitag: 9 zu 0.

Wo ist Janet?

Загрузка...