6. Kapitel

Christchurch ist die hübscheste Stadt auf diesem Erdball.

Sogar die hübscheste unter der Sonne, weil es außerhalb der Erde noch keine wahrhaft hübsche Stadt gibt. Luna City ist unterirdisch angelegt, L-5 sieht von außen wie ein Schrottplatz aus und besteht vor allem aus einem Hohlraum, der sich nur von innen her gesehen ansprechend ausnimmt. Die marsianischen Städte gleichen Bienenstöcken, während die meisten irdischen Städte unter dem irrwitzigen Bemühen leiden, wie Los Angeles auszusehen.

Christchurch hat nicht die Pracht von Paris oder die Lage von San Francisco oder den Hafen von Rio, aber sie besitzt Aspekte, die die Stadt liebenswert erscheinen lassen: vor allem den Avon, der sich zwischen den Straßen des Zentrums hindurchwindet, die gedämpfte Schönheit des Platzes an der Kathedrale, den FerrierBrunnen vor dem Rathaus, die Pracht der weltberühmten botanischen Gärten mitten in der Stadt.

„Die Griechen preisen ihr Athen.“ Aber ich bin nicht einmal in Christchurch geboren (wenn man das bei einem Wesen meiner Herkunft überhaupt sagen kann), ich bin nicht einmal ein EnEs. Douglas lernte ich in Ecuador kennen (vor der Katastrophe am Quito-Himmelshaken). Uns überwältigte eine heftige Liebesaffäre, die zu gleichen Teilen von Pisco Sour und verschwitzten Laken bestimmt war, dann erschreckte mich sein Vorschlag, bis ich begriff, daß er noch gar keine amtlichen Maßnahmen meinte, sondern einen versuchsweisen Aufenthalt bei seiner S-Gruppe — um festzustellen, ob man mich mochte, und ich die Leute mochte.

Das war natürlich etwas anderes. Ich kehrte ins Imperium zurück, erstattete Bericht und sagte dem Chef, daß ich einen Teil meines aufgelaufenen Urlaubs in Anspruch nähme — oder wollte er lieber meine Kündigung auf dem Tisch haben? Er brummte, ich solle das nur machen und meine Hitze überwinden dann erwarte er mich dienstbereit zurück. Ich raste also nach Quito zurück, wo Douglas noch im Bett lag.

Damals gab es noch keinen direkten Weg von Ecuador nach Neuseeland — so fuhren wir mit der Tunnelbahn nach Lima und nahmen eine SBR über den Südpol zum westaustralischen Hafen Perth (der wegen der Coriolis-Kraft eine S-förmige Landebahn besitzt), dann ging es mit der Tunnelbahn nach Sydney, ein Hüpfer nach Auckland, mit dem Schwebefahrzeug nach Christchurch, und das Ganze kostete nahezu vierundzwanzig Stunden und riesige Umwege, nur um den Pazifik zu überqueren. Winnipeg und Quito sind von Auckland beinahe gleich weit entfernt — lassen Sie sich durch eine flache Landkarte nicht täuschen, sondern fragen Sie Ihren Computer — Winnipeg ist nur ein Achtel weiter.

Vierzig Minuten gegen vierundzwanzig Stunden …

Aber die längere Reise hatte mir nichts ausgemacht; ich war bei Douglas und schwebte vor Liebe ohnehin in den Wolken.

Vierundzwanzig Stunden später hatte ich mich in die ganze Familie verliebt.

Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte mich auf einen schönen Urlaub mit Douglas gefreut, und er hatte mir außer Sex auch ein bißchen Skisport ver-sprochen — nicht daß ich darauf bestanden hätte. Ich wußte, daß ich gewissermaßen dazu verpflichtet war mit seinen Gruppenbrüdern ins Bett zu gehen, sollten sie mich dazu auffordern. Das machte mir aber keine großen Sorgen, da eine Künstliche Person den Geschlechtsverkehr einfach nicht so ernst nehmen kann wie es anscheinend die meisten Menschen tun. Die meisten Weibchen aus meiner Krippenklasse waren ohnehin von Anfang an zu Liebesdiensten erzogen worden und wurden später bei dieser oder jener großen Baufirma als Begleitfrauen verpflichtet. Auch ich hatte die Grundausbildung in dieser Richtung erfahren, ehe der Chef auftauchte, meinen Eigentumskontrakt kaufte und mir einen neuen Weg wies. (Und ich brach den Vertrag und war mehrere Monate lang verschwunden — aber das ist eine andere Geschichte.)

Doch Sex in angenehmer Atmosphäre hätte mir selbst dann nichts ausgemacht, wenn ich in den Liebesdiensten nicht ausgebildet worden wäre; solcher Unsinn wird bei KPs nicht geduldet; wir bekommen solche Hemmungen nicht anerzogen.

Nichts dagegen erfahren wir über das Leben in einer Familie. Gleich am ersten Tag meines Aufenthalts verzögerte ich den nachmittäglichen Tee, indem ich mich mit sieben Kindern auf dem Teppich herumbalgte, im Alter von elf Jahren bis hinab zu einem Windelnässer — dazu zwei oder drei Hunde und ein junger Kater, der sich den Spitznamen „Mr. Stolperstein“ verdient hatte, weil er einem trotz der großen Wohnung stets zwischen die Beine zu laufen schien.

In meinem ganzen Leben hatte ich so etwas noch nicht mitgemacht. Von mir aus hätte es ewig so weitergehen können.Schließlich begleitete mich nicht Douglas, sondern Brian auf den Ski-Ausflug. Die Skihütten am Mount Hutt sind hübsch, aber in den Schlafzimmern gibt es abends nach zweitausendzweihundert keine Heizung mehr, und man muß sich schon aneinanderkuscheln wenn man nicht frieren will. Anschließend führte Vickie mich zu den Schafen der Familie, und ich lernte einen gesteigerten Hund kennen, der reden konnte, einen großen Collie namens „Lord Nelson“.

Lord hatte keine große Meinung von der Vernunft seiner Schafe, womit er meines Erachtens recht hatte.

Bertie fuhr mit mir zum Milford-Sund, und zwar mit dem Shuttle über Dunedin (das „Edinburgh des Südens“), wo wir über Nacht blieben — Dunedin ist zwar ganz nett, aber es ist nicht Christchurch. Wir bestiegen dort einen rundlichen kleinen Dampfer, der uns zu den Fjorden fahren sollte, ein Schiff mit winzigen Kabinen, die für zwei nur deshalb groß genug waren, weil es hier im Süden der Insel kalt ist. Wieder suchte und fand ich die nötige Wärme.

Nirgendwo gibt es einen Fjord, der sich mit dem Milford-Sund vergleichen läßt. O ja, die Reise zu den Lofoten-Inseln habe ich gemacht. Sehr hübsch. Aber meine Meinung steht.

Wenn Sie der Ansicht sind, ich sei von der Südinsel so blindlings begeistert wie eine Mutter von ihrem Erstgeborenen, so liegt das daran, daß es zutrifft; ich lasse mich nicht davon abbringen. Die Nordinsel ist ein hübsches Fleckchen Erde, mit all den heißen Quellen und dem Weltwunder der GlühwürmchenHöhlen. Und die Bucht der Inseln macht sich wie ein Märchenland aus. Die Nordinsel hat aber nicht die Alpen der südlichen — und nicht Christchurch.Douglas führte mich zur Molkerei, und ich sah zu wie riesige Fässer köstlich frischer Butter verpackt wurden. Anita stellte mich der Altargilde vor. Mir ging auf, daß man mich möglicherweise auffordern würde, meine Bande zur Familie dauerhaft zu gestalten. Und mußte feststellen, daß ich mich nicht mehr wie am Anfang fragte: O-Gott-was-tust-duwenn-sie-dich-fragen, und auch nicht mehr: O-Gottwas-tust-du-wenn-sie-dich-nicht-fragen, sondern mein Problem lautete jetzt schlicht und einfach: OGott-was-tust-du?

Sie müssen wissen, daß ich Douglas nicht offenbart hatte, daß ich kein Mensch bin.

Ich habe Menschen prahlen hören, sie würden eine Künstliche Person unweigerlich auf Anhieb erkennen. Das ist Unsinn. Natürlich kann jeder ein Lebendiges Artefakt ausmachen, das nicht mit einem menschlichen Äußeren ausgestattet ist — beispielsweise ein Menschengeschöpf mit vier Armen oder einen Zwergkobold. Wenn die genetischen Designer sich aber absichtlich auf das menschliche Erscheinungsbild beschränkt haben (und das ist technisch gesehen die Definition einer „Künstlichen Person“ gegenüber einem „Lebendigen Artefakt“), dann erkennt kein Mensch mehr den Unterschied — nein, nicht einmal ein anderer genetischer Techniker.

Ich bin gegenüber Krebs und den meisten Infektionskrankheiten immun. Aber ich trage kein Schild um den Hals, auf dem das steht. Ich verfüge über ungewöhnliche Reflexe. Aber ich gebe nicht an, indem ich mit Daumen und Zeigefinger eine vorbeihuschende Fliege packe. In Geschicklichkeitsspielen lasse ich mich nie auf Wettbewerbe mit Menschen ein.Ich besitze ein ungewöhnliches Gedächtnis, kann mir Zahlen, Raumkoordinaten und geometrische Darstellungen bestens merken, außerdem ist meine Sprachbegabung vorzüglich. Wenn Sie aber glauben daß der Intelligenzquotient eines Genies dabei herauskommt, muß ich anmerken, daß in der von mir besuchten Schule das Ziel eines IQ-Tests nicht darin bestand, mit der eigenen Schlauheit anzugeben, sondern eine vorherbestimmte Zahl exakt zu erreichen.

In der Öffentlichkeit wird mich keiner dabei erwischen, daß ich schlauer erscheine als meine Mitmenschen — es sei denn, ich befinde mich in einer Notlage die über den Erfolg einer Mission oder mein Leben entscheiden könnte.

Der Komplex dieser und anderer Steigerungen verbessert angeblich auch die Sexualität, doch zum Glück neigen die meisten Männer dazu, eine auffällige Steigerung auf diesem Gebiet als eigene Leistung anzusehen. (Aus logischer Sicht ist die männliche Eitelkeit eine Tugend und kein Laster. Behandelt man ihn richtig, ist der Mann viel umgänglicher. Was mich am Chef so aufregt, ist sein absoluter Mangel an Eitelkeit. Man kann bei ihm nicht den Hebel ansetzen!)

Ich brauchte nicht in Sorge zu leben, daß man mir auf die Spur kommen würde. Sämtliche Produktionsmerkmale waren von meinem Körper entfernt worden, sogar die Tätowierung, die sich oben in meiner Mundhöhle befand, und so läßt sich einfach nicht mehr feststellen, daß ich das Ergebnis eines Entwurfes bin und nicht des Roulettes von einer Milliarde Spermien, die blindlings nach einem Ei streben.

Von einer Frau in der S-Gruppe erwartete man aber, daß sie die Kinderhorde noch vergrößerte. Naja, warum nicht? Dagegen sprachen allerdings zahlreiche Gründe.

Ich war Kampfkurier in einer pseudomilitärischen Organisation. Stellen Sie sich vor, wie ich mit einem Überraschungsangriff fertigzuwerden versuche, während ich einen Achtmonatsbauch vor mir herschiebe.

Wir KP-Frauen werden in widerruflich sterilem Zustand ausgeliefert oder ›auf den Markt gebracht‹.

Für eine KP ist der Drang, Kinder zu haben, sie im Inneren des eigenen Körpers wachsen zu lassen, nicht ›natürlich‹, es kommt ihr eher lächerlich vor. Der Brutkasten mutet viel vernünftiger und sauberer und bequemer an als die Geburt aus dem Leib heraus. Ich war schon zu meiner jetzigen Größe herangewachsen als ich meine erste hochschwangere Frau zu Gesicht bekam — und ich dachte im ersten Moment, sie hätte eine schrecklich entstellende Krankheit. Als ich herausfand, was mit ihr nicht ›stimmte‹, wurde mir im ersten Augenblick beinahe schlecht. Als ich lange Zeit später in Christchurch darüber nachdachte, war mir noch immer nicht ganz wohl. Sollte ich es wie eine Katze tun, mit Blut und Schmerzen, bei Gott? Warum?

Und warum überhaupt? Obwohl wir den Himmel schon ziemlich vollgepfropft haben, gibt’s noch immer viel zu viele Bewohner auf diesem wackeligen Planeten. Warum also die Lage der Menschheit noch verschlimmern?

Bekümmert faßte ich den Entschluß, dem Thema Ehe dadurch aus dem Weg zu gehen, daß ich mich als steril bezeichnete — keine Kinder. Das stimmte durchaus, war aber nicht die ganze Wahrheit …

Man fragte mich nicht.

Nicht nach Kindern. In den nächsten Tagen genoßich das Familienleben in vollen Zügen; die gemütliche Annehmlichkeit fraulicher Gespräche während des Aufwaschens; das stürmische Herumtollen von Kindern und Haustieren; das stille Vergnügen leiser Gespräche während der Gartenarbeit — ich nahm dieses Gefühl der Zugehörigkeit mit jedem Atemzug begeistert in mich auf.

Eines Morgens forderte Anita mich auf, ihr in den Garten zu folgen. Ich dankte ihr mit dem Hinweis daß ich Vickie noch helfen müsse. Woraufhin man mich überstimmte. Gleich darauf saß ich neben Anita im hinteren Teil des Gartens. Die Kinder waren fortgeschickt worden.

„Liebe Marjorie“, sagte Anita — in Christchurch bin ich ›Marjorie‹ Baldwin, weil das gerade mein Name war, als ich Douglas in Quito kennenlernte. „Wir beide wissen, warum Douglas dich hierher eingeladen hat. Bist du bei uns glücklich?“

„Schrecklich glücklich!“

„So glücklich, daß du mit uns eine dauerhafte Bindung eingehen würdest?“

„Ja, aber …“ Ich hatte keine Chance zu sagen: Jaaber-ich-bin-steril; Anita unterbrach mich entschlossen:

„Vielleicht sollte ich dazu vorher einiges klarstellen. Wir müssen die Mitgift besprechen. Wenn ich das den Männern überließe, wäre von Geld nie die Rede; Albert und Brian sind so begeistert von dir wie Douglas, und ich kann das durchaus verstehen. Die Gruppe als Ganzes aber ist ein Familienunternehmen eine Art Firma, und nicht nur eine Ehe, und jemand muß sich um die Buchführung kümmern — aus diesem Grund bin ich Vorsitzende der Direktion; ich las-se mich nie soweit von meinen Gefühlen hinreißen daß ich unsere geschäftlichen Interessen außer acht lasse.“ Sie lächelte, und ihre Stricknadeln klapperten.

„Frag Brian — er nennt mich ›Ebenezer Scrooge‹ — aber bisher hat er sich noch nicht erboten, die Probleme allein zu tragen.

Du kannst natürlich als Gast bei uns bleiben, solange du willst. Was bedeutet es schon, wenn wir an unserem langen Tisch einen Mund mehr zu füttern haben? Nichts. Aber wenn du uns formell und auf Vertragsbasis beitreten willst, dann muß ich den Ebenezer Scrooge hervorkehren und mit dir besprechen welche Art Vertrag wir eingehen können. Denn ich lasse es nicht zu, daß das Familienvermögen ausgedünnt wird. Brian verfügt über drei Anteile, für die er auch Stimmrecht hat, Albert und ich je über zwei Douglas und Victoria und Lispeth haben je einen.

Wie du siehst, verfüge ich bei zehn Stimmen nur über zwei — doch sollte es einmal dazu kommen, daß ich meinen Rücktritt androhe, finde ich gewöhnlich sehr viel Unterstützung. Es wird eines Tages dazu kommen, daß man mich überstimmt. Dann kann ich den Posten abgeben und mich ruhig ans Feuer setzen.“

(Und noch am gleichen Tag wird die Beerdigung sein müssen.)

„Bis dahin versuche ich der Aufgabe gerecht zu werden. Die Kinder besitzen jeweils einen Anteil ohne Stimmrecht — und dieses Stimmrecht wird auch später nicht kommen, da der Anteil jedem Kind beim Verlassen seines Zuhauses in bar ausbezahlt und dann als Mitgift oder Kapital verwendet wird — möglicherweise auch verschwendet, was mir aber nicht so lieb wäre. Solche Kapitalminderungen müssen einge-plant werden; würden drei unserer Mädchen im gleichen Jahr heiraten, könnte das peinliche Folgen haben, wenn man sich nicht rechtzeitig darauf einstellt.“

Ich erwiderte, das klänge nach einem vernünftigen und sehr rücksichtsvollen Arrangement. So gut wären wohl die wenigsten Kinder versorgt. (Genaugenommen hatte ich von solchen Dingen nicht die geringste Ahnung.)

„Wir versuchen das Beste für sie zu tun“, meinte sie. „Schließlich sind Kinder der Sinn und Zweck einer Familie. Du wirst also einsehen, daß ein Erwachsener, der unserer Gruppe beitritt, einen Anteil kaufen muß, sonst funktioniert das System nicht mehr.

Ehen werden wohl im Himmel geschlossen, die Rechnungen aber sind hier auf der Erde zu zahlen.“

„Amen.“ (Mir war sofort klar, daß alle Probleme aus der Welt geräumt waren. Im negativen Sinne. Ich wußte nicht zu sagen, wie reich die DavidsonGruppenfamilie war. Sie hatte Vermögen, soviel war klar, obwohl diese Menschen ohne Dienstboten in einem nicht automatisierten, altmodischen Haus lebten.

Wie hoch die Summe auch sein mochte, ich konnte mir einen Anteil nicht leisten.)

„Douglas hat uns gesagt, er wisse nicht, ob du Geld hast oder nicht. Geld als Kapital, meine ich.“

„Nein.“

Sie ließ sich nichts anmerken. „Das war bei mir in deinem Alter ebenso. Du hast doch eine Anstellung oder? Könntest du nicht in Christchurch arbeiten und dir den Anteil aus deinem Gehalt erkaufen? Ich weiß daß die Arbeitssuche in einer fremden Stadt problematisch sein kann — aber ich habe da einige Verbindungen. Was machst du eigentlich beruflich? Du hastnie davon gesprochen.“

(Und daran wird sich auch nichts ändern!) Nachdem ich ihrer Frage ausgewichen war, indem ich geradeheraus antwortete, daß meine Arbeit geheim sei und ich ihr keinen Aufschluß über die Branche meines Arbeitgebers geben dürfe, stellte ich klar, daß ich mir in Christchurch keine Arbeit suchen könne, es gebe also keine Möglichkeit, die Sache durchzuziehen. Es sei ja herrlich gewesen, solange es dauerte, und ich hoffte …

Sie ließ mich nicht ausreden. „Meine Liebe, ich habe nicht Vollmacht, diesen Vertrag mit dir auszuhandeln, damit wir jetzt in einer Sackgasse enden. Es geht nicht, daß wir konstatieren, was unmöglich ist; ich muß feststellen, wie es sich einrichten läßt. Brian hat angeboten, dir einen seiner drei Anteile zu überlassen — und Douglas und Albert unterstützen diesen Vorschlag pro rata, wenn sie auch nicht in der Lage sind, ihn sofort zu bezahlen. Ich habe mich aber dagegen ausgesprochen; so etwas schafft einen unschönen Präzedenzfall, was ich auch deutlich zum Ausdruck gebracht habe, mit einem klaren Hinweis auf die Kapriolen junger Ziegenböcke im Frühling. Statt dessen akzeptiere ich einen von Brians Anteilen als Sicherheit für die Einhaltung deines Vertrages.“

„Aber ich habe keinen Vertrag!“

„Das kommt noch. Wenn du in deiner jetzigen Anstellung weitermachst, wieviel kannst du da im Monat zahlen? Beschneide dir die finanzielle Freiheit nicht zu sehr, aber zahle so viel wie möglich, da sich das wie eine Hypothek auswirkt. Ein Teil der Zahlung verzinst die verbleibende Schuld, ein anderer Teil mindert diese Schuld — es wäre also besser fürdich, wenn die Zahlung möglichst groß wäre.“

(Ich hatte noch nie Grundbesitz gekauft.) „Können wir das in Gold ausdrücken? Ich kann es natürlich in jede gewünschte Währung umwandeln, aber ich werde in Gold bezahlt.“

„›In Gold‹?“ Anita machte plötzlich einen hellwachen Eindruck. Sie griff in ihren Nähkorb und zog ein tragbares Relais zu ihrem Computerterminal heraus.

„Für Gold kann ich dir sogar ein besseres Geschäft vorschlagen.“ Sie tippte eine Weile, wartete und nickte. „Ein wesentlich besseres Geschäft. Obwohl ich im Grunde nicht darauf eingerichtet bin, mit Goldbarren zu handeln. Aber es läßt sich alles machen.“

„Ich sagte eben, daß ich umtauschen kann. Die Ziehungen lauten auf Gramm, 999er Feingold, gezogen auf die South Africa & Ceres Akzept Gesellschaft in Luna City. Der Betrag kann natürlich in NeuseelandWährung hierher gezahlt werden, per Dauerauftrag selbst wenn ich gerade nicht auf der Erde sein sollte.

Bank von Neuseeland, Büro Christchurch?“

„Nein, Canterbury Land-Bank. Ich bin dort Direktor.“

„Na, warum soll man das nicht auch in der Familie halten?“

Am nächsten Tag unterschrieben wir den Vertrag und gegen Ende der Woche heirateten sie mich, ganz legal nach den Vorschriften, in einer Nebenkapelle der Kathedrale — und ich trug sogar Weiß, stellen Sie sich das vor!

In der nächsten Woche kehrte ich in den Dienst zurück — ich fühlte mich glücklich und traurig zugleich.

In den nächsten siebzehn Jahren würde ich jeden Monat 858,13 NSL-Dollar zahlen, natürlich konnte ichdie Beträge steigern. Und wofür leistete ich diese Zahlungen? Ich konnte mir erst erlauben, zu Hause zu wohnen, wenn alles bezahlt war. Weshalb dann?

Nicht wegen des Sex. Wie ich Captain Tormey heute schon gesagt hatte, gibt es Sex überall; es wäre dumm, dafür zu zahlen. Vermutlich geht es mir um das Privileg, meine Hände in seifiges Abwaschwasser tauchen zu dürfen. Um das Privileg, mich auf dem Boden herumwälzen zu dürfen und dabei von jungen Hunden und Babies anpinkeln zu lassen.

Um das angenehme Gefühl zu wissen, daß es, egal wo ich mich auch aufhalten mochte, auf diesem Planeten einen Ort gab, wo ich ein Recht auf diese Dinge hatte, an den ich gehörte.

Es kam mir wie ein günstiges Geschäft vor.

Sobald das Shuttle weiterschwebte, rief ich an und meldete mich an. Vickie war am Apparat, und es dauerte einige Zeit, bis ich ihre Begeisterung soweit bremsen konnte, daß sie meine Ankunftszeit mitbekam. Ursprünglich hatte ich vom Warteraum der Kiwi-Linie in Auckland anrufen wollen, diese Zeit aber war von meinem lockigen Wolf, Captain Ian, in Anspruch genommen worden. Egal — das Shuttle bewegt sich zwar dicht unter der Schallgeschwindigkeit doch waren Aufenthalte in Wellington und Nelson vorgesehen, die wohl soviel Zeit kosten würden, daß man mich noch abholen konnte. Ich hoffte es jedenfalls.

Alle waren da. Nun ja, nicht alle. Wir hatten die Erlaubnis, ein AAF zu führen, weil wir Schafe und Rinder züchten und eine angetriebene Transportmöglichkeit brauchen. Eigentlich darf man so einFahrzeug aber nicht in der Stadt benutzen. Brian hatte sich darüber hinweggesetzt, und so ergoß sich nun die Mehrzahl unserer großen Familie über die Flanken des riesigen Farm-Schwebewagens.

Seit meinem letzten Besuch zu Hause war beinahe ein ganzes Jahr vergangen — gut doppelt so lange, wie ich sonst fernzubleiben pflegte. Das war nicht gut. In solcher Zeit können einem Kinder entwachsen. Ich gab mir größte Mühe mit den Namen und sorgte dafür, daß ich im Geiste keinen vergaß. Alle waren da außer Ellen, die kaum noch ein Kind zu nennen war — als ich einheiratete, war sie elf Jahre alt, jetzt aber eine junge Dame, die bereits zur Universität ging. Anita und Lispeth waren zu Hause und stellten hastig mein Willkommensmahl zusammen — und wieder einmal würde man mich milde schelten, weil ich keine Vorwarnung gegeben hatte, und zum wiederholten Male würde ich erklären, daß es bei meiner Arbeit zu Beginn des Urlaubs darauf ankam, sich die erste SBR zu schnappen, anstatt zuerst anzurufen — und brauchte ich eine Anmeldung, um in mein Heim zurückzukehren?

Es dauerte nicht lange, da lag ich wieder mit den Kindern am Boden. Mr. Stolperstein, den ich aus der Zeit unseres Kennenlernens als hageres junges Tier in Erinnerung hatte, wartete auf die Gelegenheit, mich auf eine Weise zu begrüßen, wie es seinem Status als Katzenpascha entsprach, alt, rund und gemütlich. Er musterte mich gründlich, streifte mein Bein und schnurrte. Ich war zu Hause.

Nach einer Weile fragte ich: „Wo ist Ellen? Noch immer in Auckland? Ich dachte, auf der Universität wä-ren jetzt Semesterferien?“ Bei diesen Worten schaute ich Anita an, doch sie schien nichts gehört zu haben.

Hatte sie Probleme mit den Ohren? Das war nicht anzunehmen.

„Marjie …“, meldete sich Brians Stimme, und ich drehte mich um. Er sagte nichts, und sein Gesicht blieb ausdruckslos. Unmerklich schüttelte er den Kopf.

(Ellen war als Thema tabu? Was soll das, Brian? Ich verkniff mir meine Fragen, bis ich ihn unter vier Augen sprechen konnte. Anita hat stets behauptet, sie liebe alle unsere Kinder gleichermaßen, seien es nun ihre Bio-Nachkommen oder nicht. Oh, gewiß! Außer daß ihr besonderes Interesse an Ellen jedem klar war der ihre Stimme hören konnte.)

Als das Haus später am Abend zur Ruhe kam und Bertie und ich ins Bett gehen wollten (nach einer Art Lottosystem, bei dem unsere neckischen Lieblinge stets den Verlierer als jenen sahen, der die Nacht mit mir verbringen mußte), klopfte Brian an die Tür und trat ein.

Bertie sagte: „Schon gut. Du kannst gehen. Ich erdulde meine Strafe mannhaft.“

„Hör auf, Bert! Hast du Marj von Ellen erzählt?“

„Noch nicht.“

„Dann solltest du sie informieren! Liebling, Ellen hat sich ohne Anitas Zustimmung verheiratet — und Anita ist fuchsteufelswild darüber. Es wäre also ratsam, Ellen nicht zu erwähnen, solange Anita dabei ist.

Mund halten, eh? Jetzt muß ich aber los, ehe sie mich vermißt.“

„Darfst du mir nicht einmal einen Gutenachtkuß geben? Oder hierbleiben, wenn du das wolltest? Bistdu nicht auch mein Mann?“

„Natürlich, mein Schatz. Aber Anita ist im Augenblick ziemlich gereizt. Es hat keinen Sinn, sie noch mehr aufzuregen.“

Brian küßte uns und ging. „Was soll das, Bertie?“ fragte ich. „Warum kann Ellen nicht heiraten, wen sie will? Sie ist doch alt genug, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.“

„Nun ja. Aber Ellen ist dabei nicht besonders geschickt verfahren. Sie hat einen Tonganer geheiratet und lebt jetzt in Nuku’alofa.“

„Ist Anita der Meinung, die beiden sollten hier wohnen? In Christchurch?“

„Wie? — Nein, nein! Sie hat etwas gegen die Ehe.“

„Stimmt denn mit dem Mann etwas nicht?“

„Marjorie, hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Er ist Tonganer!“

„Doch, ich hab’s gehört. Da er in Nuku’alofa lebt ist das ja auch anzunehmen. Ellen ist hier in einer der wenigen vollkommenen Klimazonen aufgewachsen und wird es dort schrecklich heiß finden. Aber das ist ihr Problem. Ich verstehe trotzdem nicht, warum Anita sich so aufregt. Es muß da doch etwas geben von dem ich nichts weiß.“

„Aber du weißt es doch! Oder vielleicht doch nicht.

Die Tonganer sind nicht wie wir. Es sind keine weißen Leute, sondern Barbaren.“

„Das stimmt doch nicht!“ Ich fuhr im Bett empor und unterbrach, was noch gar nicht richtig begonnen hatte. Sex und Auseinandersetzungen passen nicht zusammen — wenigstens nicht für mich. „Die Tonganer sind das zivilisierteste Volk in ganz Polynesien.

Warum wohl nannten die frühen Forscher die Grup-pe ›Freundschaftsinseln‹? Bist du je dort gewesen Bertie?“

„Nein, aber …“

„Ich aber. Abgesehen von der Hitze ist das ein himmlisches Fleckchen Erde. Wart’s nur ab, bis du es selbst mal erlebst. Dieser Mann … Was macht er von Beruf? Wenn er nur herumsitzt und Mahagonistatuen für Touristen schnitzt, könnte ich Anitas Unbehagen verstehen. Geht es darum?“

„Nein. Aber ich bezweifle, daß er sich eine Frau leisten kann. Und Ellen kann sich einen Mann nicht leisten; sie hat ihr Studium nicht abgeschlossen. Er ist Meeresbiologe.“

„Ich verstehe. Er ist nicht reich — und Anita respektiert nur Geld. Aber arm ist er auch nicht — wahrscheinlich wird er mal Professor in Auckland oder Sydney. Obwohl es heute durchaus vorkommen kann, daß ein Biologe reich wird. Vielleicht entwirft er eine neue Pflanze oder ein neues Tier, das ihm viel Geld einbringt.“

„Liebling, du verstehst noch immer nicht, worum es geht.“

„Da hast du wohl recht. Also sag’s mir!“

„Nun ja … Ellen hätte jemand von ihrer Art heiraten sollen.“

„Was soll das heißen — ›von ihrer Art‹, Albert? Jemand, der in Christchurch wohnt?“

„Das wäre sicher von Vorteil gewesen.“

„Reich?“

„Das ist nicht Voraussetzung. Obwohl die Dinge im allgemeinen glatter laufen, wenn sich die finanziellen Dinge nicht zu einseitig darstellen. Aber wenn ein polynesischer Strandfaulenzer eine weiße Frauaus reichem Hause heiratet, hat das immer einen unguten Beigeschmack.“

„Oh, oh! Er hat keinen Pfennig, und sie hat gerade ihren Familienanteil kassiert — ist das der Haken?“

„Nein, nicht genau. Verdammt, warum hat sie keinen Weißen heiraten können? Wir haben sie doch wirklich gut erzogen!“

„Bertie, um alles auf der Welt, was soll das? Du redest wie ein Däne, der sich über einen Schweden ausläßt. Ich hatte angenommen, daß Neuseeland von solchen Komplexen frei wäre. Ich weiß noch, wie Brian mich darauf aufmerksam machte, daß die Maori den Engländern in jeder Hinsicht politisch und gesellschaftlich gleichgestellt seien.“

„Und das stimmt auch. Aber … aber es ist nicht dasselbe.“

„Da muß es wohl irgendwo bei mir aussetzen!“

(Oder war Bertie der Dummkopf? Maori sind Polynesier, ebenso wie die Tonganer. Wo lag also das Problem?)

Ich ließ das Thema fallen. Ich hatte nicht den weiten Weg von Winnipeg zurückgelegt, um mich über die Verdienste eines Schwiegersohns zu streiten, den ich noch gar nicht kannte. „Schwiegersohn …“ — Was für eine seltsame Vorstellung! Ich fand es immer wieder entzückend, wenn die Kleinen mich mit „Mama“ und nicht mit „Marjie“ anredeten — aber über die Möglichkeit, daß ich einmal einen Schwiegersohn haben könnte, hatte ich noch nicht nachgedacht.

Dabei war er nach EnEs-Gesetz mein Schwiegersohn — und ich kannte noch nicht einmal seinen Namen. Ich hielt den Mund, versuchte alle störenden Gedanken auszuschalten und überließ es Bertie, mirein Gefühl des Willkommenseins zu vermitteln — darauf versteht er sich.

Nach einer Weile hatte ich genug damit zu tun ihm zu zeigen, wie sehr ich mich über meine Heimkehr freute — die störende Unterbrechung war vergessen.

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