8. Kapitel

Eine Stunde später ging ich an Bord der Shuttle nach Auckland und hatte nun endlich Zeit, über meine Torheit nachzudenken.

Beinahe drei Monate lang, seit dem Abend, da ich mit dem Chef darüber gesprochen hatte, war mir zum erstenmal in meinem Leben mein „menschlicher“ Status ganz problemlos vorgekommen. Er hatte mir versichert, ich sei „so menschlich wie Eva aus dem Paradies“ und ich könne getrost jedem sagen ich sei ein AP, weil niemand mir glauben würde.

Der Chef hatte beinahe recht. Aber er hatte nicht damit gerechnet, daß ich mir Mühe geben würde zu beweisen, daß ich nach EnEs-Gesetz kein „Mensch“ war.

Im ersten Moment hatte ich eine Anhörung vor dem vollen Familienrat verlangen wollen — mußte dann aber erfahren, daß mein Fall in diesem Gremium bereits abgehandelt und mit sechs zu null gegen mich entschieden worden war.

Ich kehrte nicht einmal ins Haus zurück. Der Anruf, den Anita während unseres Aufenthaltes im Botanischen Garten erhalten hatte, war die Nachricht daß meine persönlichen Habseligkeiten gepackt und in der Gepäckaufbewahrung der Shuttle-Station eingeliefert worden waren.

Trotzdem hätte ich noch auf eine offene Abstimmung im Haus bestehen können, anstatt Anitas (zweifelhaften) Äußerungen zu glauben. Aber mit welchem Ziel? Um eine Auseinandersetzung zu gewinnen? Um etwas zu beweisen? Oder um lediglichHaarspaltereien zu betreiben? Ich brauchte knapp fünf Sekunden, um zu erkennen, daß alles, was mir lieb und teuer gewesen war, nicht mehr existierte.

Verblaßt wie ein Regenbogen, geplatzt wie eine Seifenblase — ich gehörte nicht mehr dazu. Jene Kinder waren nicht die meinen, nie wieder würde ich mich mit ihnen auf dem Boden herumwälzen.

In tränenlosem Kummer dachte ich über diese Aspekte nach und verpaßte dabei beinahe, daß Anita sich mir gegenüber „großzügig“ verhalten hatte: In dem Vertrag, den ich mit der Familienfirma geschlossen hatte, stand im Kleingedruckten, daß das Gesamtkapital augenblicklich fällig sei wenn ich die Bedingungen des Vertrages überträte. Daß ich ein „Nichtmensch“ war — stellte das eine solche Übertretung dar? (Obwohl ich keinen Zahlungstermin versäumt hatte.) Sah man es aus meiner Sicht, so hatte ich mindestens achtzehntausend EnEs-Dollar zu fordern; aus anderer Sicht hatte ich nicht nur den bereits bezahlten Teil meiner Einlage verwirkt, sondern schuldete der Familie mehr als das Doppelte dieses Betrages.

Aber sie waren „großzügig“ — wenn ich ohne Aufsehen und unverzüglich verschwand, wollten sie ihre Forderung gegen mich nicht durchsetzen. Unausgesprochen blieb, was geschehen würde, wenn ich in der Stadt blieb und einen öffentlichen Skandal anzettelte.

Ich schlich mich davon.

Ich brauche keinen Psychologen, der mir erklärt daß ich das für mich selbst tat; dieser Umstand wurde mir klar, als mir Anita die schlechten Neuigkeiten offenbarte. Eine tieferzielende Frage ist schon: Warumhandelte ich so?

Ich hatte es nicht Ellen wegen getan, das konnte ich mir gar nicht erst einreden. Im Gegenteil — meine Torheit hatte es mir unmöglich gemacht, mich in irgendeiner Weise für sie einzusetzen.

Warum also hatte ich es getan?

Zorn?

Eine bessere Antwort fand ich nicht. Aus Zorn über die gesamte menschliche Rasse wegen der Ansicht daß ich und meinesgleichen keine Menschen sind und deshalb nicht gleich behandelt werden dürfen.

Eine Empörung, die sich seit dem Tag in mir aufgebaut hatte, da ich erfuhr, daß menschliche Kinder Privilegien genossen, die sie nur deswegen besaßen weil sie geboren worden waren, und die ich nie erringen konnte, nur weil ich kein Mensch im eigentlichen Sinne war.

Als Mensch durchzugehen überwindet in gewisser Weise die Hürde der Privilegien; damit endet aber nicht die Verstimmung gegenüber dem System. Der Druck baut sich um so mehr auf, als er keine Äußerung findet. Es kam der Tag, da es für mich wichtiger war herauszufinden, ob meine Familie mich als das akzeptieren konnte, was ich wirklich war, eine Künstliche Person, als die glücklichen Beziehungen aufrechtzuerhalten.

Und ich bekam meine Antwort. Kein einziger sprach sich für mich aus — so wie auch niemand für Ellen gewesen war. Ich glaube, ich wußte, daß man mich ausstoßen würde, als ich erfuhr, daß Ellen keine Unterstützung gefunden hatte. Das alles spielte sich aber in solchen tiefen Schichten meines Verstandes ab, daß ich mich damit nicht sehr gut auskenne — eshandelt sich da um jene dunklen Regionen, in denen sich nach Ansicht meines Chefs mein wirkliches Denken vollzieht.

Ich erreichte Auckland zu spät, um die tägliche SBR nach Winnipeg noch zu erreichen. Nachdem ich mir für den Start des nächsten Tages eine Koje reserviert und bis auf mein Handgepäck alles aufgegeben hatte überlegte ich, was ich mit den folgenden einundzwanzig Stunden anfangen sollte. Sofort fiel mir der lockige Wolf ein, Captain Ian. Nach seinen Äußerungen standen die Chancen, daß er in der Stadt sein würde, fünf zu eins gegen mich — doch in seiner Wohnung (wenn sie verfügbar war) mochte es gemütlicher sein als in einem Hotel. Ich suchte mir also ein öffentliches Terminal und gab seinen Kode ein.

Kurz darauf erhellte sich der Schirm; das fröhliche und ziemlich hübsche Gesicht einer jungen Frau erschien. „Hallo! Ich bin Torchy. Wer sind Sie?“

„Marj Baldwin“, antwortete ich. „Vielleicht habe ich mich vertippt. Ich möchte Captain Tormey sprechen.“

„Nein, Sie sind schon richtig, meine Liebe. Moment mal, ich lasse ihn aus seinem Käfig.“ Sie drehte sich um und entfernte sich vom Objektiv. Gleichzeitig rief sie: „Wuschel! Am Quatscher ist ’ne flotte Biene.

Kennt sogar deinen richtigen Namen.“

Als sie sich abwandte, fiel mein Blick auf bloße Brüste. Gleich darauf konnte ich das Mädchen zur Gänze sehen. Sie war nackt bis zu den Fersen. Ein gutgewachsener Körper — an der Basis vielleicht ein wenig breit, doch mit langen Beinen, schmaler Taille und Brüsten, die mir Konkurrenz machten — und ichhabe noch keine Klagen gehört.

Lautlos verfluchte ich meine Dummheit. Ich wußte sehr gut, warum ich den Captain angerufen hatte: Ich wollte drei treulose Männer vergessen, indem ich mich in die Arme eines vierten stürzte. Ich hatte ihn gefunden, doch es sah so aus, als wäre er bereits belegt.

Er tauchte auf und war ebenfalls nur leicht bekleidet — in einem kurzen Bademantel. Verwirrt starrte er mich an, dann erkannte er mein Gesicht. „He! Miß …

Baldwin! Richtig! Das ist ja toll! Wo stecken Sie?“

„Am Flughafen. Ich habe nur mal Ihre Nummer gewählt, um zu sehen, ob Sie da sind.“

„Bleiben Sie, wo Sie sind! Rühren Sie sich nicht von der Stelle, lassen Sie auch das Atmen sein! Es dauert sieben Sekunden, Hemd und Hosen anzuziehen dann hole ich Sie.“

„Nein, Captain. Ich wollte nur Hallo sagen. Ich steige nur mal wieder um.“

„Umsteigen? Wohin? Wann fliegen Sie weiter?“

Verdammt hoch drei — ich hatte mir meine Geschichte nicht zurechtgelegt. Nun ja, die Wahrheit ist oft besser als eine ungeschickt zusammengezimmerte Lüge. „Ich fliege nach Winnipeg zurück.“

„Aha! Dann steht Ihr Pilot vor Ihnen. Ich habe morgen den Mittagsstart. Sagen Sie mir genau, wo Sie sind, dann hole ich Sie in … äh … vierzig Minuten ab wenn ich schnell genug ein Taxi bekomme.“

„Captain, das ist wirklich sehr nett von Ihnen, aber das geht doch nicht. Sie haben doch längst Gesellschaft. Die junge Frau, die sich eben meldete — Torchy.“

„›Torchy‹ heißt sie nicht, so ist sie. Übrigens meineSchwester Betty aus Sydney. Wohnt hier, wenn sie in der Stadt ist. Wahrscheinlich habe ich schon von ihr gesprochen.“ Er drehte den Kopf und rief: „Betty komm her und stell dich vor! Aber zieh dir erst was Anständiges an!“

„Für den Anstand ist es wohl zu spät“, antwortete ihre fröhliche Stimme, und schon tauchte sie hinter seiner Schulter auf, sich der Kamera nähernd. Im Gehen legte sie sich ein Badetuch um die Hüften, womit sie Mühe zu haben schien, und ich vermutete, daß sie etwas getrunken hatte. „Ach, was soll’s! Mein Bruder möchte mich immer gern an die Kandare nehmen — mein Mann hat längst das Handtuch geworfen. Hören Sie, Schätzchen, ich habe genau gehört, was Sie gesagt haben. Ich bin seine verheiratete Schwester das stimmt. Es sei denn, Sie hätten die Absicht, ihn zu ehelichen — dann wäre ich seine Verlobte. Tragen Sie sich mit solchen Plänen?“

„Nein.“

„Gut. Dann können Sie ihn haben. Ich will gerade Tee machen. Trinken Sie Gin? Oder Whiskey?“

„Ich trinke dasselbe wie Sie und der Captain.“

„Der darf nichts von beidem; er startet in weniger als vierundzwanzig Stunden. Aber wir beide säuseln uns einen an.“

„Dann schließe ich mich Ihrer Wahl an. Alles außer Gift.“

Anschließend überzeugte ich Ian, daß es besser sei wenn ich mir am Flughafen eine Droschke suchte, wo ich schneller eine finden würde als er, der erst nach einem Wagen telefonieren müßte, um hin und her zu fahren.

Locksley Parade Nr. 17 ist ein neuer Wohnblockmit doppelter Außensicherung; mein Weg zu Ians Wohnung führte durch eine Art Schleusensystem, als befände ich mich an Bord eines Raumschiffes. Betty nahm mich zur Begrüßung in die Arme und küßte mich auf eine Weise, die mir bestätigte, daß sie getrunken hatte; anschließend nahm mich mein lockiger Wolf in Empfang und küßte mich auf eine Weise, die mir bestätigte, daß er nicht getrunken hatte, daß er aber erwartete, mich in naher Zukunft ins Bett zu bekommen. Nach meinen Ehemännern erkundigte er sich nicht; ich sagte auch von mir aus nichts über meine Familie — meine ehemalige Familie. Ian und ich verstanden uns gut, weil wir beide die Signale zu deuten wußten, weil wir uns richtig darauf einstellten und folglich den anderen nicht in die Irre führten.

Während Ian und ich in dieses wortlose Gespräch vertieft waren, verließ Betty das Zimmer und kehrte mit einem roten Wickelrock zurück. „Zeit zum Tee“ verkündete sie und stieß dabei verstohlen auf. „Also raus aus der Zivilkleidung. Ziehen Sie das an, meine Liebe!“

War das ihr Einfall? Oder der seine? Schon nach kurzer Zeit kam ich zu dem Schluß, daß sie es gewesen sein mußte. Ians einfaches, gesundes Begehren war zwar so deutlich spürbar wie ein Hieb ins Gesicht, doch war er im Grunde auf seine Art ziemlich kleinbürgerlich. Ganz im Gegensatz zu Betty, die wirklich über alle Stränge schlug. Mir war das gleichgültig, da dies im Augenblick die Richtung war, die auch ich einschlagen wollte. Nackte Füße können so aufregend sein wie nackte Brüste, obwohl die meisten Menschen das nicht zu wissen scheinen. Ein in einen Wickelrock gekleidetes Mädchen ist provokativer alsein ganz nackter Körper. Diese Party kam mir gerade recht, und sicher konnte ich mich darauf verlassen daß Ian die Aufsicht seiner Schwester im rechten Augenblick abschütteln würde. Durchaus möglich, daß Betty Eintrittskarten dafür verkaufen würde. Aber ich dachte nicht weiter darüber nach.

Ich betrank mich.

Wie gründlich ich dabei vorging, wurde mir erst am nächsten Morgen klar, als ich aufwachte und bei mir im Bett einen Mann entdeckte, der nicht Ian Tormey war.

Mehrere Minuten lang blieb ich reglos liegen und schaute ihm beim Schnarchen zu, während ich meine gin-verdunstete Erinnerung durchforschte und ein Plätzchen für ihn suchte. Im Grunde bin ich dafür daß eine Frau einem Mann zumindest vorgestellt wird, ehe sie die Nacht mit ihm verbringt. Hatte man uns formell bekanntgemacht? Hatten wir uns überhaupt begrüßt?

Stückweise fiel es mir wieder ein. Name: Professor Federico Farnese, wahlweise „Freddie“ oder „Chubby“ genannt. (Dabei war er gar nicht „chubby“ rundlich, sondern hatte nur ein kleines Bäuchlein von zuviel Schreibtischarbeit.) Bettys Ehemann, Ians Schwager. Ich erinnerte mich vage an ihn, wußte aber nicht mehr, wann er eingetroffen war oder warum er überhaupt fort gewesen war — wenn ich das überhaupt je gewußt hatte.

Sobald ich ihn untergebracht hatte, überraschte mich der Umstand, daß ich (anscheinend) die Nacht mit ihm verbracht hatte, nicht mehr sonderlich. In dem Gemütszustand, in dem ich mich gestern befunden hatte, wäre kein Mann vor mir sicher gewesen.Eine Frage aber machte mir zu schaffen: Hatte ich meinem Gastgeber den Laufpaß gegeben, um einem anderen Mann nachzujagen? Das wäre nicht sehr höflich, — Freitag — kein guter Stil.

Ich bohrte tiefer in meinem Gedächtnis nach. Nein mindestens einmal hatte ich Ian doch die Ehre erwiesen. Und diese Erkenntnis freute mich sehr. Und Ian hatte es auch Vergnügen bereitet, wenn seine Äußerungen ernst gemeint waren. Dann aber hatte ich ihm den Rücken zugekehrt, aber auf seine Bitte. Nein, ich hatte meinen Gastgeber nicht abblitzen lassen, und er war sehr nett zu mir gewesen — genau, was ich gebraucht hatte, um zu vergessen, wie übel Anitas Bande selbstgerechter Rassisten mich beschwindelt und verstoßen hatte.

Mir fiel ein, daß meinem Gastgeber später von dem Spätankömmling Hilfe zuteil geworden war. Es überrascht ja auch nicht, daß eine gefühlsmäßig aufgewühlte Frau mehr Trost braucht, als ein Mann allein ihr spenden kann — aber ich wußte nicht mehr, wie die Sache vor sich gegangen war. Ein Tausch auf Gegenseitigkeit? Sei nicht neugierig Freitag! Eine KP vermag sich auf die verschiedenen Tabus menschlicher Geschlechtlichkeit kaum einzustellen oder sie gar zu verstehen — allerdings hatte ich mir die vielen vielen verschiedenen Regeln während meiner erotischen Grundausbildung gut eingeprägt, und ich wußte, daß dieses Tabu zu den stärksten gehört, eine Sache, die die meisten verheimlichten, selbst wenn über alles andere offen gesprochen wurde.

So nahm ich mir vor, nicht das geringste Interesse daran zu zeigen.Freddie stellte das Schnarchen ein und öffnete die Augen. Er gähnte, streckte sich, dann sah er mich und zog ein verwirrtes Gesicht, schließlich grinste er und streckte den Arm nach mir aus. Ich beantwortete sein Lächeln und seine Bewegung und war bereit mitzumachen, als Ian das Zimmer betrat. „Guten Morgen Marj“, sagte er. „Freddie, tut mir leid, euch zu stören aber ich habe bereits eine Droschke warten. Marj muß aufstehen und sich anziehen. Wir fahren sofort ab.“

Freddie ließ mich nicht los. Er schnalzte lediglich mit der Zunge und zitierte:

„Setzt sich ein Gelbschnab’vogel fett Auf mein schmales Fensterbrett.

Und blitzt mich boshaft an und spricht:

›Du Schlafmütz, schämst du dich denn nicht? ‹“

„Captain, dein Pflichtgefühl und dein Bemühen um das Wohlergehen unseres Gastes spricht für dich.

Wann mußt du am Flughafen sein? Minus zwei Stunden? Und du startest genau um zwölf Uhr? Ja?“

„Ja, aber …“

„Wohingegen Helen — du heißt doch Helen, oder? — sich durchaus noch dreißig Minuten vor dem Start am Abflug einfinden kann. Dafür will ich gern sorgen. Aber vorher wollen wir …“

„Fred, ich will ja kein Spielverderber sein, aber es kann hier draußen bis zu einer Stunde dauern, eine Droschke zu bekommen, das weißt du so gut wie ich.

Ich habe einen Wagen vor der Tür stehen.“

„Da hast du recht. Droschkenkutscher gehen uns aus dem Weg; den Pferden liegt unser Hügel nicht.

Aus diesem Grund, mein lieber Schwager, habe ichschon gestern abend einen Wagen gemietet und dafür einen Sack voller Gold als Pfand hinterlassen. In diesem Augenblick steht die getreue alte Rosinante in einer Stallbox des Hausmeisters und stärkt sich mit köstlichem Mais für die bevorstehenden Mühen.

Wenn ich unten anrufe, wird besagter Hausmeister mit Schmiergeld gefügig gemacht, das liebe Tier anschirren und das Gespann zum Eingang geleiten.

Womit ich dann Helen nicht später als einunddreißig Minuten vor dem Start am Abflugsteig abliefern werde. Und dafür verpfände ich das Pfund Fleisch, das deinem Herzen am nächsten liegt.“

„Deinem Herzen, meinst du wohl.“

„Ich habe mir mit der Formulierung größte Mühe gegeben.“

„Nun also — Marj, was meinst du dazu?“

„Äh … wäre es dir recht, Ian? Ich habe eigentlich noch keine Lust, sofort aus dem Bett zu springen.

Andererseits möchte ich dein Schiff nicht verpassen.“

„Wirst du auch nicht. Freddie ist ganz zuverlässig; er sieht nur nicht danach aus. Aber brecht um elf Uhr auf; dann könntet ihr es notfalls auch zu Fuß schaffen. Ich kann deine Reservierung über die Abfertigungssperre hinaus offenhalten; ein Captain hat eben doch ein paar Privilegien. Nun denn, bumst ruhig weiter!“ Ian warf einen Blick auf seinen Uhrenfinger.

„Neun Uhr. Tschüs!“

„He! Bekomme ich keinen Abschiedskuß?“

„Warum? Ich sehe dich doch an Bord. Außerdem haben wir in Winnipeg eine Verabredung.“

„Küß mich, verdammt, oder ich verpasse dein blödes Schiff!“

„Dann lös dich doch von dem fetten Römer da undpaß auf, daß du mir die Uniform nicht fleckig machst!“

„Laß das lieber sein, alter Knabe. Ich küsse Helen für dich.“

Ian beugte sich herab und küßte mich gründlich und ich brachte ihm seine hübsche Uniform nicht durcheinander. Dann gab er Freddie einen Kuß auf die kahle Stelle seines Schädels. „Vergnügt euch Leute! Aber bring sie rechtzeitig zum Abflug. Bis dann!“ In diesem Augenblick schaute Betty durch die Tür; ihr Bruder legte einen Arm um sie und nahm sie mit.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Freddie zu. „Helen“, sagte er. „Jetzt geht’s los, mach dich bereit!“ Dieser Aufforderung kam ich nur zu gern nach während ich mir sagte, daß Ian und Betty und Freddie genau die richtige Medizin waren, um Freitag von den Folgen der puritanischen Heucheleien zu heilen mit denen ich zu lange hatte leben müssen.

Genau im richtigen Augenblick kam Betty mit dem Morgentee; vermutlich hatte sie gelauscht. Sie setzte sich im Schneidersitz auf das Bett und trank eine Tasse mit uns. Dann standen wir auf und frühstückten.

Ich verzehrte Haferbrei mit Sahne, zwei schöne Eier Canterbury-Schinken, ein Stück Schweinekotelett Bratkartoffeln, heiße Brötchen mit Erdbeermarmelade und die beste Butter der Welt und schließlich eine Apfelsine; dies alles spülte ich mit starkem schwarzen Tee mit Zucker und Milch hinunter. Wenn die ganze Welt so gut frühstückte, wie es in Neuseeland üblich war, würde es keine politischen Unruhen mehr geben.

Für das Frühstück legte sich Freddie ein Wickel-tuch um, doch Betty verzichtete darauf, und ich folgte ihrem Beispiel. In der Krippe begonnen, wird meine Ausbildung hinsichtlich menschlicher Angewohnheiten und Benehmensvorschriften nie komplett sein.

Allerdings weiß ich, daß sich ein weiblicher Gast im Ausmaß ihres Bekleidetseins — oder Unbekleidetseins — der Gastgeberin anpassen muß. Im Grunde bin ich es nicht gewöhnt, mich in der Gegenwart von Menschen nackt zu bewegen (in der Krippe war das etwas anderes), aber Betty ist eine denkbar umgängliche Person. Ich fragte mich, ob sie mich ablehnen würde wenn sie wüßte, daß ich kein Mensch war. Ich nahm es nicht an, doch lag mir nichts daran, die Probe aufs Exempel zu machen. Ein fröhliches Frühstück …

Freddie lieferte mich um elf Uhr zwanzig am Passagierausgang ab. Er ließ Ian kommen und verlangte eine Quittung. Feierlich schrieb ihm Ian ein Papier aus. Wieder schnallte mich Ian in der Beschleunigungskoje fest. Leise sagte er: „Du hast doch schon beim erstenmal keine Hilfe benötigt, oder?“

„Nein“, bestätigte ich. „Aber es freut mich, daß ich die Hilflose gespielt habe. Es war ein herrlicher Tag!“

„In Winnipeg werden wir uns ebenso vergnügen.

Ich habe während des Countdowns mit Janet gesprochen und ihr Bescheid gegeben, daß du zum Abendessen bei uns sein wirst. Ich soll dir ausrichten, daß du auch beim Frühstück an unserem Tisch sitzen wirst — es wäre doch blöd, Winnipeg mitten in der Nacht zu verlassen; beim Transfer könntest du überfallen werden. Und damit hat sie recht — die inoffiziellen Einwanderer, die aus dem Imperium über die Grenze kommen, würden dich schon wegen einerKleinigkeit umbringen.“

„Ich bespreche das mit ihr, wenn wir dort sind.“

(Captain Ian, du Honigtiger, du hast mir gesagt, du würdest niemals heiraten, weil du frei sein müßtest wie die Wildgänse. Ob du dich daran erinnerst? Ich glaube nicht.)

„Abgemacht. Mag sein, daß sich Janet auf meinen Frauengeschmack nicht verläßt — sie meint, ich wäre voller Vorurteile; von niedrigen Beweggründen geleitet. Aber sie verläßt sich auf Betty — und die dürfte inzwischen mit ihr gesprochen haben. Sie kennt Betty länger als ich; sie waren Zimmergenossen in McGill.

Und dort lernte ich Janet kennen und Fred meine Schwester; wir vier waren Umstürzler — ab und zu erzeugten wir gehörig Wellen.“

„Betty ist ein Schatz. Ist Janet ihr ähnlich?“

„Ja und nein. Janet war der Motor unserer aufrührerischen Aktivitäten. Jetzt entschuldige mich aber bitte; ich muß den Captain spielen. In Wahrheit fliegt der Computer diese Blechkiste, doch bis zur nächsten Woche will ich das auch noch lernen.“ Er ließ mich allein.

Nach der heilsamen Katharsis meiner trunkenen Ausschweifung mit Ian und Freddie und Betty vermochte ich ruhiger über meine Ex-Familie nachzudenken. Hatte man mich wirklich betrogen?

Ich hatte den dummen Vertrag aus freien Stücken unterschrieben, einschließlich der Abbruchsklausel die mir jetzt im Magen lag. Hatte ich für Sex bezahlt?

Nein, es stimmt, was ich Ian gesagt hatte: Sex gibt es überall. Ich hatte für das angenehme Privileg der Zugehörigkeit bezahlt. Und zwar für die Zugehörigkeit zu einer Familie — und dabei war es mir besonders um die heimischen Freuden des Windelwech-selns, des Abwaschens und des Spielens mit den Haustieren gegangen. Mr. Stolperstein war mir dabei stets wichtiger gewesen als Anita — obwohl ich nie richtig darüber nachgedacht hatte. Ich hatte versucht sie alle zu lieben, bis das Problem mit Ellen die Scheinwerfer auch in einig schmutzige Ecken richtete.

Mal rechnen — ich wußte genau, wie viele Tage ich insgesamt bei meiner Ex-Familie hatte verbringen können. Da ließ sich schnell im Kopf ermitteln, daß ich (da meine gesamten Einzahlungen beschlagnahmt worden waren) für Kost und Logis während der beiden wunderschönen Urlaube etwas über vierhunderhundfünfzig EnEs-Dollar pro Tag auf den Tisch geblättert hatte.

Das wäre sogar in einem Luxushotel ein stolzer Preis gewesen … Die tatsächlichen Kosten, die die Familie für mich aufgewandt hatte, betrugen weniger als ein Vierzigstel dieser Summe. Zu welchen finanziellen Bedingungen waren die anderen der Familie beigetreten? Niemand hatte es mir gesagt.

Hatte Anita, die die Männer nicht davon abbringen konnte, mich zum Beitritt aufzufordern, das Arrangement so gestaltet, daß ich es mir nicht leisten konnte, meine Arbeit aufzugeben und zu Hause zu leben, und daß ich gleichwohl zu Bedingungen an die Familie gebunden war, die für sie recht vorteilhaft waren — das heißt: für Anita? Das ließ sich nicht mehr feststellen. Ich wußte so wenig über Ehen zwischen Menschen, daß ich mir darüber kein Urteil hatte erlauben können — und auch jetzt fehlte mir dazu die Grundlage.

Eins hatte ich jedoch gelernt — daß Brian sich gegen mich wandte, hatte mich überrascht. Ich hatte ihn fürdas ältere, klügere, erfahrenere Familienmitglied gehalten, für den Mann, der die Tatsache meiner biologischen Andersartigkeit hinnehmen und damit leben konnte.

Vielleicht wäre er dazu in der Lage gewesen, wenn ich mir für den Beweis eine andere gesteigerte Eigenart ausgesucht hätte, etwas, das weniger bedrohlich auf ihn gewirkt haben mußte.

Aber ich hatte ihn im Spiel der Kräfte überboten auf einem Gebiet, das ein Mann von Natur aus als seine ureigenste Domäne ansieht. Ich hatte seinen männlichen Stolz getroffen.

Wenn man ihn nicht gleich darauf umbringen will darf man einem Mann niemals zwischen die Beine treten. Nicht einmal symbolisch. Oder vielleicht erst recht nicht symbolisch.

Загрузка...