Am nächsten Abend
Betreff: Nordwind
Lieber Leo, ich weiß, es ist unverzeihlich. Dein »Schweigen« beweist es mir. Du fragst nicht. Nein, du fragst nicht einmal. Das ist die Lektion, die du mir erteilst. Kein Tobsuchtsanfall, kein Rettungsversuch, keine Verzweiflungsaktion. Du machst gar nichts. Du bleibst stumm. Du lässt das alles wortlos über dich ergehen. Du fragst erst gar nicht, warum. Du tust so, als wüsstest du es. Damit bestrafst du mich zusätzlich. Deine Enttäuschung kann nur halb so groß sein wie meine. Denn zu meiner Enttäuschung rechnet sich die Vorstellung über deine dazu.
Leo, ich sage dir, warum ich in letzter Sekunde - kein geflügeltes Wort, es war wirklich die letzte Sekunde -, ich sage dir, warum ich nicht zu dir gekommen bin. Schuld daran war ein Buchstabe, ein einziger falscher Buchstabe, an einem Ort, wo er nicht sein durfte, zum unglücklichsten aller Zeitpunkte. Und du, Leo, du hast mich noch gefragt: »Was wirst du Bernhard erzählen?« Erinnerst du dich an meine Antwort? - »Ich werde sagen: Ich treffe einen Freund.« - Genau das habe ich gesagt. »Er wird fragen: Kenne ich ihn?« - So hat er gefragt. »Ich werde antworten: Ich glaube nicht, ich habe kaum von ihm erzählt.« - Das habe ich ihm zur Antwort gegeben. »Dann werde ich noch sagen: Wir haben viel zu plaudern, es kann spät werden!« - Ja, exakt so habe ich es formuliert. »Und er wird sagen: Amüsiere dich gut.« - Ja, Leo, das hat er gesagt. Aber er hat noch ein Wort hinzugefügt. Er hat gesagt: »Amüsiere dich gut, EMMI.« Es war das gewohnte »Amüsiere dich gut«. Danach machte er eine Pause. Und dann kam dieses EMMI. Ein Hauch, nicht mehr als ein Hauch. Es ging mir durch Mark und Bein. Er nennt mich sonst »Emma«, immer nur Emma. »Emmi« hat er schon jahrelang nicht zu mir gesagt. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann er mich das letzte Mal so genannt hatte.
Leo, das »I« statt dem »A«, dieser einzige fremde Buchstabe hat einen Schock in mir ausgelöst. Ich mochte es nicht aus seinem Mund. ER durfte es nicht so aussprechen. Es klang so entlarvend, so desillusionierend, so zerstörerisch. Als würde er ahnen, wie es um mich bestellt ist, als hätte er mich durchschaut. Als wollte er mir sagen: »Ich weiß es doch, du willst >Emmi< sein, du willst endlich wieder >Emmi< sein. Also sei >Emmi< und amüsiere dich gut.« Und ich hätte ihm darauf etwas ganz Fürchterliches antworten müssen, ich hätte sagen müssen: »Bernhard, ich will nicht nur Emmi sein, ich BIN Emmi. Aber ich bin nicht deine Emmi. Ich bin die Emmi von jemand anderem. Er hat mich nie gesehen, aber er hat mich entdeckt. Er hat mich erkannt. Er hat mich aus meinem Versteck geholt. Ich bin seine Emmi. Für Leo bin ich Emmi. Glaubst du mir nicht? Ich kann es dir beweisen. Ich habe es schriftlich.«
Skrupel? Nein, Leo, ich hatte keine Skrupel gegenüber Bernhard. Ich hatte Angst vor mir.
Ich ging hinauf in mein Zimmer, wollte dir eine E-Mail schicken. Ich brachte nichts heraus. Da stand dieser jämmerliche Satz: »Mein lieber Leo, ich kann heute nicht zu dir kommen, mir wächst gerade alles über den Kopf.« Ich starrte ihn einige Minuten an, dann löschte ich ihn wieder. Ich war nicht fähig, dir abzusagen. Es wäre eine Absage an mich selbst gewesen.
Leo, es ist etwas geschehen. Mein Gefühl hat den Bildschirm verlassen. Ich glaube, ich liebe dich. Und Bernhard hat es gespürt. Mir ist kalt. Der Nordwind bläst mir entgegen. Wie tun wir weiter?
Zehn Sekunden später
AW:
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