Zwei Tage später
Betreff: Aufräumen
Hallo Emmi. Wie geht es Ihnen? Mir geht es nicht aufregend gut. Ich bin auch nicht gerade mächtig stolz auf mich. Ich hätte Mia nicht kennen lernen dürfen. Ich hätte wissen müssen, dass mich das in absurder Weise fester an Sie bindet, Emmi. Ich habe Ihnen den Vorwurf gemacht, dass das Ihr Ziel war. Das nehme ich zur Hälfte zurück. Ich glaube, es war unser beider Ziel. Wir haben nur bis heute nicht gewagt, es uns einzugestehen. Mia war eine Verbindungsperson zwischen uns. Sie haben sie auf mich angesetzt. Und ich habe mich mit ihr dafür revanchiert. Es war nicht unfair ihr gegenüber. Mias gesteigertes Interesse an mir entspricht ihrem gesteigerten Interesse an Ihnen, Emmi. Ich glaube, Sie sind es, die ein paar Schritte auf Ihre Freundin zugehen sollte. Und ich bin es, der ein paar Schritte zurückgehen sollte. Ich muss da ein bisschen aufräumen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Leo.
Eine Stunde später
RE:
Und was räumen Sie als nächstes auf, Leo? Mich?
Acht Minuten später
AW:
Ich dachte immer, E-Mails als solche sind aufgeräumt genug. Aber ich glaube, ich sollte auch hier langsam einmal die Bremse ziehen.
Vier Minuten später
RE:
Leo, der Zögerliche, ist wieder in seinem Element: »Ich glaube.« »Ich sollte.« »Langsam.« »Einmal.« »Die Bremse ziehen.« Macht es Ihnen Spaß, mich an Ihren kleinlaut angekündigten Rückschritten teilhaben zu lassen? Bitte, Leo: Ziehen Sie die Bremse, aber ziehen Sie sie ordentlich!!! Und quälen Sie mich nicht mit: Ich glaube, ich sollte, ich werde dann langsam einmal ... Das nervt langsam einmal!
Drei Minuten später
AW:
Okay, ich ziehe die Bremse.
40 Sekunden später
RE:
Endlich.
35 Sekunden später
AW:
Schon gezogen.
25 Sekunden später
RE:
Und jetzt?
Zwei Minuten später
AW:
Weiß noch nicht. Ich warte auf den Stillstand.
25 Sekunden später
RE:
Hier ist er. Nacht!
Zwei Tage später
Kein Betreff
Hallo Emmi, wie ist das, schreiben wir uns überhaupt nicht mehr?
Sieben Stunden später
RE:
Anscheinend nicht.
Am nächsten Tag
Kein Betreff
Tut gut, einmal keine E-Mails zu bekommen.
Zweieinhalb Stunden später
AW:
Ja, man könnte sich daran gewöhnen.
Vier Stunden später
RE:
Da sieht man erst, wie anstrengend das war.
Fünfeinhalb Stunden später
AW:
Stress. Purer Stress.
Am nächsten Tag
Kein Betreff Und wie geht's Mia?
Zwei Stunden später
AW:
Keine Ahnung, wir treffen uns nicht mehr.
Acht Stunden später
RE:
Ah so? Schade.
Drei Minuten später
AW:
Ja, schade.
Am nächsten Tag
Kein Betreff
Macht richtig Spaß mit Ihnen, Leo.
Neun Stunden später
AW:
Danke, dieses Kompliment kann ich nur zurückgeben.
Am nächsten Tag
Kein Betreff
Wie geht's eigentlich Marlene? Wieder einmal rückfällig geworden?
Drei Stunden später
AW:
Nein, bisher noch nicht, aber ich arbeite daran. Und was macht die Familie? Wie geht's dem Knie von Jonas?
Zwei Stunden später
RE:
Dem Arm.
Fünf Minuten später
AW:
Ja, richtig, Verzeihung, wie geht's dem Arm?
Dreieinhalb Stunden später
RE:
Sieht man nicht. Er ist eingegipst.
Eine halbe Stunde später
AW:
Ah so. Ah ja. Klar.
Zwei Tage später
Kein Betreff
Schon traurig, Emmi, wir haben uns nichts mehr zu sagen.
Zehn Minuten später
RE:
Vielleicht hatten wir uns nie was zu sagen.
Acht Minuten später
AW:
Dafür haben wir ganz schön viel miteinander geredet.
20 Minuten später
RE:
Wir haben stumm geredet. Alles leere Worte.
Fünf Minuten später
AW:
Wenn Sie es sagen, wird es wohl stimmen.
Zwölf Minuten später
RE:
Wie gut, dass Sie auf die Bremse gestiegen sind.
Drei Minuten später
AW:
Den Stillstand haben Sie angekündigt, Emmi!
Acht Minuten später
RE:
Und Sie sprechen ihn täglich aus.
Fünf Stunden später
AW:
Sollten wir ganz aufhören?
Drei Minuten später
RE:
Das haben wir ohnehin schon getan.
50 Sekunden später
AW:
Sie können einen ganz schön runterziehen.
Zwei Minuten später
RE:
Hab ich von Ihnen gelernt, Leo. Gute Nacht.
Drei Minuten später
AW:
Gute Nacht.
Zwei Minuten später
RE:
Gute Nacht.
Eine Minute später
AW:
Gute Nacht.
50 Sekunden später
RE:
Gute Nacht.
40 Sekunden später
AW:
Gute Nacht.
20 Sekunden später
RE:
Gute Nacht.
Zwei Minuten später
AW:
Es ist drei Uhr früh. Bläst der Nordwind? Gute Nacht.
15 Minuten später
RE:
Drei Uhr und 17 Minuten. Westwind, der lässt mich kalt. Gute Nacht.
Am nächsten Morgen
Betreff: Guten Morgen
Guten Morgen, Leo.
Drei Minuten später
AW:
Guten Morgen, Emmi.
20 Minuten später
RE:
Ich fliege heute Abend für zwei Wochen nach Portugal: Badeurlaub mit den Kindern. Leo, sind Sie noch da, wenn ich zurückkomme? Ich muss das wissen. Mit »da« meine ich ..., was meine ich eigentlich? Ich meine: einfach da. Sie verstehen schon, was ich meine. Ich habe Angst, dass Sie mir verloren gehen. Von mir aus Bremse. Von mir aus Stillstand. Von mir aus stumme, leere Worte. Aber stumme, leere Worte MIT Ihnen, nicht ohne Sie!
18 Minuten später
AW:
Ja, liebe Emmi, ich werde zwar nicht auf Sie warten. Aber ich werde da sein, wenn Sie zurückkommen. Ich bin immer da, für Sie, auch bei Stillstand. Wir werden sehen, wie es uns nach diesen vierzehn Tagen »Pause« gehen wird. Vielleicht tut sie uns gut. Ich finde, wir haben uns in den letzten Tagen schon recht schön darauf eingeschrieben. Alles Liebe, Leo.
Zwei Stunden später
RE:
Eines noch, bevor ich wegfliege, Leo. Bitte ehrlich! Haben Sie das Interesse an mir verloren?
Fünf Minuten später
AW:
Wirklich ehrlich?
Acht Minuten später
RE:
Ja, wirklich ehrlich. Ehrlich und bitte schnell! Ich muss mit Jonas zur Gipsabnahme.
50 Sekunden später
AW:
Wenn ich sehe, dass eine E-Mail von Ihnen einlangt, klopft mein Herz. Das ist heute so wie gestern und vor sieben Monaten.
40 Sekunden später
RE:
Trotz stummer, leerer Worte? Das ist schön!!!! Urlaub gerettet! Adieu.
45 Sekunden später
AW:
Adieu.
Acht Tage später
Kein Betreff
Hallo Leo, ich bin in einem Internetcafé in Porto. Ich schreibe nur schnell, damit Ihr Herz nicht stehen bleibt vor lauter »Nicht-Klopfen«. Uns geht es gut: Der Kleine hat seit Urlaubsbeginn Durchfall, die Große hat sich in einen portugiesischen Surflehrer verliebt. Nur noch sechs Tage! Ich freu mich auf Sie! (PS: Nichts mit Marlene anfangen!)
Sechs Tage später
Betreff: Hallo!
Lieber Leo, da bin ich wieder. Wie war die »Pause«? Was gibt es Neues? Sie haben mir gefehlt! Sie haben mir nicht geschrieben. Warum nicht? Ich habe Angst vor Ihrer ersten E-Mail. Noch größere Angst habe ich, dass Sie mich darauf warten lassen. Frage: Wie tun wir weiter?
15 Minuten später
AW:
Emmi, Sie brauchen keine Angst vor meiner ersten EMail zu haben. Hier ist sie, und sie ist ganz harmlos.
1.) Neues gibt es - nichts.
2.) Die Pause war - lang.
3.) Geschrieben habe ich Ihnen nicht, weil - Pause war.
4.) Gefehlt haben Sie mir - auch! (Vermutlich mehr als ich Ihnen. Sie hatten wenigstens eine sechzehnjährige Tochter gegen einen portugiesischen Surflehrer zu verteidigen. Wie ist die Geschichte ausgegangen?)
5.) Wie wir weiter tun? - Da gibt es exakt drei Möglichkeiten: Weiter wie bisher. Aufhören. Treffen.
Zwei Minuten später
RE
Zu 4.) Fiona wird nach Portugal auswandern und den Surflehrer heiraten. Sie ist nur noch einmal rasch mit uns heimgeflogen, um ihre Sachen zu packen. Glaubt sie. Zu 5.) Ich bin für - treffen!
Drei Minuten später
AW:
Letzte Nacht habe ich intensiv von Ihnen geträumt, Emmi.
Zwei Minuten später
RE:
Tatsächlich? Das ist mir auch schon passiert. Ich meine, dass ich intensiv von Ihnen geträumt habe. Was verstehen Sie eigentlich unter »intensiv«? War der Traum nur irgendwie intensiv oder wenigstens auch erotisch?
35 Sekunden später
AW:
Ja, hocherotisch!
45 Sekunden später
RE:
Ehrlich? Das passt ja gar nicht zu Ihnen.
Eine Minute später
AW:
Mich hat es auch gewundert.
30 Sekunden später
RE:
Und??? Details bitte! Was haben wir getan? Wie habe ich ausgesehen? Wie war mein Gesicht?
Eine Minute später
AW:
Vom Gesicht habe ich nicht viel mitbekommen.
Eineinhalb Minuten später
RE:
Hey, Leo, Sie sind mir einer! Vermutlich war ich die blonde Kaffeehaus-Emmi mit dem großen Busen, den es auszuloten galt.
50 Sekunden später
AW:
Was haben Sie immer mit dem großen Busen? Haben Sie ein Großer-Busen-Problem?
Zwei Minuten später
RE:
Das bewundere ich so an Ihnen, Leo. Sie wollen nicht etwa wissen, ob ich einen großen Busen habe. Sie wollen wissen, ob ich ein Großer-Busen-Problem habe. Das ist derart untypisch männlich, dass man meinen könnte, Sie haben ein ausgewachsenes Großer-Busen- Problem-Syndrom.
Drei Minuten später
AW:
Emmi, halten Sie mich ruhig für asexuell, aber ob groß, klein, dick, dünn, breit, flach, rund, oval, kantig oder eckig - irgendwie interessiert mich kein Busen, zu dem ich das Gesicht nicht kenne. Zumindest fehlt mir das Talent, mich abgesondert von allem anderen, was eine Frau ausmacht, mit dem Volumen ihres Busens zu beschäftigen.
Eine Minuten später
RE:
Ha, Sie widersprechen sich! Drei Mails vorher haben Sie mir von Ihrem hocherotischen Traum erzählt, in dem sie offenbar alles Männermögliche von mir gesehen haben dürften, nur nicht mein Gesicht. Sagen Sie bloß, mein Busen ist Ihnen dabei nicht untergekommen.
55 Sekunden später
AW:
Ich habe im Traum weder Gesicht noch Busen noch sonst etwas Ihnen zugehöriges Körperliches gesehen. Ich habe alles nur gefühlt.
Eineinhalb Minuten später
RE:
Wenn Sie nichts von mir gesehen haben, wieso wissen Sie dann, dass ich die Frau war, die Sie da blind abgegrapscht haben?
Eine Minute später
AW:
Weil es nur eine gibt, die sich so ausdrückt wie Sie: Sie!
Zweieinhalb Minuten später
RE:
Wir haben also geredet, während Sie mich blind abgegrapscht haben?
50 Sekunden später
AW:
Ich habe Sie nicht blind abgegrapscht, ich habe Sie gefühlt, das ist ein gravierender Unterschied. Und wir haben (unter anderem auch) geredet.
35 Sekunden später
RE:
Hocherotisch!
Eineinhalb Minuten später
AW:
Davon verstehen Sie nichts, Emmi. Sie denken sich in solchen Angelegenheiten offenbar zu sehr in »Ihre« Männer hinein.
Zwei Minuten später
RE:
Da »meine Männer«, und da - »the one and only« Leo, der Busenerhabene. Mit dieser edlen Differenzierung blenden wir uns für heute aus. Ich muss Schluss machen, habe noch einiges zu erledigen. Ich melde mich morgen. Bis bald, Emmi.
Am nächsten Tag
Betreff: Treffen
Also, Leo, treffen wir uns? Ich habe alle Zeit der Welt. Bernhard ist mit den Kindern eine Woche wandern. Ich bin allein.
Fünfeinhalb Stunden später
RE:
Hey Leo, hat es Ihnen die Rede verschlagen?
Fünf Minuten später
AW:
Nein, Emmi. Ich denke nur nach.
Zehn Minuten später
RE:
Das kann nichts Gutes bedeuten. Ich weiß genau, worüber Sie nachdenken. Leo, bitte, treffen wir uns! Versäumen wir nicht den vielleicht letzten sinnvollen Zeitpunkt dafür. Was riskieren Sie dabei? Was haben Sie zu verlieren?
Zwei Minuten später
AW:
1.) Sie
2.) Mich
3.) Uns
17 Minuten später
RE:
Leo, Sie haben panische Berührungsängste. Wir werden uns sehen, und wir werden uns mögen, und wir werden miteinander reden, wie wir immer schon miteinander geredet haben, nur eben mündlich. Wir werden uns vertraut sein von der ersten Minute an. Nach einer Stunde werden wir uns gar nicht mehr vorstellen können, wie es wäre, wenn wir einander noch nie gesehen hätten. Wir werden an einem kleinen Tisch in einem italienischen Restaurant sitzen. Ich werde vor Ihren Augen Spaghetti al Pesto essen. (Dürfen es auch »Vongole« sein?) Und ich werde meinen Kopf zur Seite drehen, sodass ich einen Luftzug erzeuge, den sie verspüren können, lieber Leo. Endlich ein echter, physischer, befreiender, antivirtueller Luftzug!!!
Eineinhalb Stunden später
AW:
Emmi, Sie sind nicht Mia. An Mia hatte ich keine Erwartungen gestellt - und umgekehrt. Mia und ich, wir hatten beim Start begonnen, wie das üblich ist, wenn sich zwei kennen lernen. Anders bei uns, Emmi: Wir starten von der Ziellinie weg, und es gibt nur eine Richtung: zurück. Wir steuern auf die große Ernüchterung zu. Wir können das nicht leben, was wir schreiben. Wir können die vielen Bilder nicht ersetzen, die wir uns voneinander ausmalen. Es wird enttäuschend sein, wenn Sie hinter der Emmi zurückbleiben, die ich kenne. Und Sie werden dahinter zurückbleiben! Sie werden deprimiert sein, wenn ich hinter dem Leo zurückbleibe, den Sie kennen. Und ich werde dahinter zurückbleiben! - Wir werden nach unserem ersten (und einzigen) Treffen ernüchtert auseinander gehen, träge, wie nach einem fetten Mahl, das uns nicht geschmeckt hat, dabei hatten wir uns ein Jahr mit Heißhunger darauf gefreut, hatten es Monate lang köcheln und brodeln lassen. Und dann? - Aus. Schluss. Gegessen. So tun, als wäre nichts gewesen? Emmi, wir haben dann für immer das entmythologisierte, aufgedeckte, entzauberte, enttäuschte, aufgesprungene Spiegelbild des anderen vor Augen. Wir werden nicht mehr wissen, was wir einander schreiben sollen. Wir werden nicht mehr wissen, wozu wir einander schreiben sollen. Und irgendwann später einmal werden wir uns im Kaffeehaus oder in der U-Bahn begegnen. Wir werden versuchen, einander nicht zu erkennen oder einander zu übersehen, wir werden uns schnell voneinander abwenden. Wir werden uns genieren, was aus unserem »uns« geworden ist, was davon geblieben ist. Nichts. Zwei einander fremde Menschen mit einer gemeinsamen Scheinvergangenheit, von der sie sich so lange so schamlos betrügen hatten lassen.
Drei Minuten später
RE:
Und täglich sterben Hunderte Tierarten aus.
Eine Minute später
AW:
Was soll das heißen?
55 Sekunden später
RE:
Leo, Sie jammern, jammern, jammern, jammern, jammern. Malen schwarz, malen schwarz, malen schwarz, malen schwarz.
25 Sekunden später
AW:
Malen schwarz.
40 Sekunden später
RE:
???
Eineinhalb Minuten später
AW:
Malen schwarz. (Eines haben Sie vergessen, fünfmal »jammern«, fünfmal »schwarz malen«. Oder viermal »jammern«, viermal »schwarz malen«, dann war ein »jammern« zu viel.)
Zwei Minuten später
RE:
Gut beobachtet, schön herausgearbeitet. Typisch Leo, ein bisschen krankhaft zwänglerisch, aber auf liebevolle Weise aufmerksam und korrekt. Und dazu möchte ich gern Ihre Augen sehen, Ihre echten Augen! Gute Nacht. Träumen Sie von mir! Und schauen Sie mich dabei vielleicht einmal an!
Drei Minuten später
AW:
Gute Nacht, Emmi. Tut mir Leid, ich bin so, wie ich bin, so, wie ich bin, so, wie ich bin.
Zwei Tage später
Betreff: Treffen »light«
Schönen Nachmittag, Emmi. Sind Sie (noch immer) beleidigt oder trinken wir heute Nacht wieder einmal ein paar Gläser Wein miteinander? Erwartungsvoll, Ihr Leo.
Eineinhalb Stunden später
RE:
Hallo Leo, heute Abend treffe ich mich »real« mit Mia. Wir haben uns vorgenommen, es »wie in alten Zeiten« anzugehen und in der letzten noch offenen Bar ausklingen, um nicht zu sagen ausufern zu lassen. Das heißt: Es kann locker fünf Uhr früh werden.
16 Minuten später
AW:
Alles klar. Ja, das gehört ausgenützt, wenn die Familie einmal außer Haus ist. Lassen Sie Mia von mir grüßen. Und schönen Abend.
Acht Minuten später
RE:
Das sind die wenigen Mails, wo ich lieber gar nicht wissen möchte, wie Sie dabei aussehen, wenn Sie so was schreiben. (Übrigens: Sie haben eine ziemlich biedere Vorstellung von einer Familie oder zumindest - von meiner Familie. Um bis fünf Uhr früh unterwegs zu sein, muss ich keineswegs warten, bis die Familie außer Haus ist. Ich kann das auch sonst tun, wann immer es mir beliebt.)
Drei Minuten später
AW:
Und mich könnten Sie auch treffen, wann immer es Ihnen beliebt? Egal ob Bernhard eine Woche mit den Kindern weit weg in den Bergen ist oder ob er daheim im Nebenzimmer verweilt (und jederzeit zu Besuch in Ihrem Zimmer auftauchen könnte)?
20 Minuten später
RE:
LEO, ENDLICH IST ES HERAUS!!! Sie hätten sich Ihren vorgestrigen dunkelgrauen Salm über die erschütternde, Spiegelbilder zerreißende Erstbegegnung zwischen uns sparen können. Das ist nämlich gar nicht Ihr Problem. Ihr Problem heißt Bernhard. Sie sind sich zu gut, der Zweite nach ihm zu sein. Sie wollen mich nicht treffen, weil Sie mich rein theoretisch gar nicht »kriegen« können, ganz egal, ob Sie das dann praktisch tatsächlich wollen oder nicht. Per E-Mail haben Sie mich ganz für sich allein, und in dieser Form kommen Sie mit mir ja blendend zurecht, da können Sie ganz nach Belieben von Distanz auf Nähe schalten und wieder zurück. Stimmt's?
45 Minuten später
AW:
Emmi, Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Würden Sie mich auch treffen (wollen), wenn Ihr Mann daheim im Nebenzimmer sitzt? Und (Zusatzfrage): Was würden Sie ihm sagen? Vielleicht: »Du, Schatz, ich treffe heute Abend einen Mann, mit dem ich seit einem Jahr korrespondiere, meistens täglich mehrmals, von >Guten Morgen< bis >Gute Nacht<. Oft ist er der Erste am Tag, der etwas von mir erfährt. Oft ist er der Letzte, dem ich noch etwas mitteile, bevor ich mich schlafen lege. Und in der Nacht, wenn ich nicht einschlafen kann, wenn der Nordwind bläst, dann komme ich nicht zur dir, Schatz. Nein, dann schreibe ich diesem Mann eine E-Mail. Und er schreibt mir zurück. Der Typ tut nämlich verdammt gut gegen Nordwind in meinem Kopf. Was wir uns so schreiben? Ach, nur Persönliches, nur über uns, wie das so wäre mit uns, wenn ich dich nicht hätte, Schatz, dich und die Kinder. Ja, und wie gesagt, heute Abend treffe ich ihn ... «
Fünf Minuten später
RE:
Ich sage niemals »Schatz« zu meinem Mann.
50 Sekunden später
AW:
Oh, Verzeihung, Emmi, Sie sagen natürlich: Bernhard. Das klingt respektvoller.
Vier Minuten später
RE:
Leo, nicht böse sein, Sie haben eine jämmerliche Vorstellung von einer gut funktionierenden Ehe. Wissen Sie, was ich zu Bernhard sage, wenn ich Sie abends treffen will? Ich sage: »Bernhard, ich gehe heute Abend fort. Ich treffe einen Freund. Es kann spät werden.« Und wissen Sie, was Bernhard darauf erwidern würde? »Viel Spaß, unterhaltet euch gut!« Und wissen Sie, warum er das sagen würde?
Eine Minute später
AW:
Weil ihm egal ist, was Sie machen?
40 Sekunden später
RE:
Weil er mir vertraut!
Eine Minute später
AW:
Vertraut worauf?
50 Sekunden später
RE:
Dass ich nichts tun werde, was mein Zusammenleben mit ihm in Frage stellt oder irgendwann einmal in Frage stellen könnte.
Neun Minuten später
AW:
Ach ja, richtig, Sie begeben sich ja nur in Ihre familiär vernachlässigbare »Außenwelt«. Die Innenwelt bleibt unangetastet. Emmi, angenommen Sie verlieben sich in mich und ich mich in Sie, angenommen wir haben eine Romanze, Affäre, Liebschaft ... nennen Sie es, wie Sie wollen, Emmi, machen Sie dann auch nichts, was Ihr Zusammenleben mit Bernhard in Frage stellt, oder irgendwann einmal in Frage stellen könnte?
Zwölf Minuten später
RE:
Leo, Sie gehen von falschen Voraussetzungen aus: Ich verliebe mich nicht in Sie!!!! Es entwickelt sich keine Romanze, Affäre, Liebschaft oder wie immer Sie es nennen wollen! Es ist einfach ein Treffen. Wie wenn man einen sehr guten alten Freund trifft, den man schon lange nicht gesehen hat. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass man ihn nicht schon lange nicht gesehen hat, sondern dass man ihn überhaupt noch nie gesehen hat. Statt »Leo, du siehst noch immer so aus«, sage ich: »Leo, so sehen Sie also aus!« So sieht's aus!
Acht Minuten später
AW:
Sie meinen, Sie würden sich damit zufrieden geben, würde nur ICH mich in SIE verlieben, einseitig sozusagen. Dann würde ich Ihnen bestimmt ein Leben lang glühend heiße, schwärmerische, herzzerreißende EMails schreiben. In weiterer Folge Gedichte, Lieder, vielleicht sogar Musicals und Opern, voll unerfüllter Leidenschaft. Dann könnten Sie zu sich oder zu Bernhard oder zu beiden sagen: Siehst du, war doch gut, dass ich ihn damals getroffen habe.
40 Sekunden später
RE:
Marlene muss einiges bei Ihnen angerichtet haben!
Viereinhalb Minuten später
AW:
Lenken Sie nicht ab, Emmi. Marlene hat mit dieser Angelegenheit ausnahmsweise einmal nicht das Geringste zu tun. Es ist effektiv eine Sache zwischen uns beiden, oder sagen wir: eine Sache zwischen uns dreien. Ihr Mann gehört nämlich peripher auch irgendwie dazu, da können Sie sich noch so verbissen dagegen wehren. Und ich glaube Ihnen einfach nicht, dass es Zufall ist, dass Sie mich ausgerechnet jetzt treffen wollen, wo Sie Ihren Mann weit weg in den Bergen wähnen.
Zwei Minuten später
RE:
Nein, es ist kein Zufall. Ich habe diese Woche einfach mehr Zeit für mich zur Verfügung. Zeit, die ich gerne mit Menschen verbringe, die ich mag. Zeit für Freunde, oder solche, die es noch werden könnten. Apropos Zeit: Es ist gleich acht Uhr. Ich muss weg, Mia wartet sicher schon. Schönen Abend, Leo.
Fünf Stunden später
RE: Leo?
Hallo Leo, sind Sie zufällig noch wach? Trinken Sie noch ein Glas Wein mit mir? Leo, Leo, Leo. Mir geht es gar nicht gut. Emmi.
Dreizehn Minuten später
AW:
Ja, ich bin noch wach. Das heißt: Ich bin schon wieder wach. Ich habe nämlich den Emmi-Weckruf aktiviert. Ich habe das Klangzeichen der Verkündigung des Einlangens einer neuen E-Mail auf volle Lautstärke gedreht und den Laptop neben meinen Kopfpolster gelegt. Soeben hat es mich aus dem Bett gehoben. Emmi, ich habe gewusst, dass Sie mir heute Nacht noch schreiben! Wie spät ist es eigentlich? - Ach, erst kurz nach Mitternacht. Lange haben Sie und Mia aber nicht durchgehalten! (Wein trinke ich nicht mehr. Ich habe schon Zähne geputzt. Und Wein auf Zahnpasta ist wie Nudelsuppe zum Frühstückskaffee.)
Zwei Minuten später
RE:
Leo, ich bin sooooooo froh, dass Sie sich melden!!! Wieso haben Sie gewusst, dass ich Ihnen noch schreibe?
Sieben Minuten später
AW:
1.) Weil Sie gerne Zeit mit Menschen verbringen, die Sie mögen. Zeit »mit Freunden oder solchen, die es noch werden könnten«.
2.) Weil Sie alleine zu Hause sind.
3.) Weil Sie sich einsam fühlen.
4.) Weil der Nordwind bläst.
Zwei Minuten später
RE:
Danke, Leo, dass Sie mir nicht böse sind. Ich habe Ihnen gestern fürchterlich nüchterne E-Mails geschrieben. Sie sind kein normaler Freund für mich. Sie bedeuten mir viel, viel mehr. Sie sind für mich. Sie sind. Sie sind. Sie sind der, der mir meine ungestellten Fragen beantwortet: Ja, ich fühle mich einsam, und deshalb schreibe ich Ihnen!
40 Sekunden später
AW:
Und wie war es mit Mia?
Zweieinhalb Minuten später
RE:
Es war grauenhaft! Sie mag nicht, wie ich über Bernhard rede. Sie mag nicht, wie ich über meine Ehe rede. Sie mag nicht, wie ich über meine Familie rede. Sie mag nicht, wie ich über meine E-Mails rede. Sie mag nicht, wie ich über meinen ... wie ich über Leo rede. Sie mag nicht, wie ich rede. Sie mag nicht, dass ich rede. Sie mag nicht. Sie mag mich nicht.
Eine Minute später
AW:
Warum reden Sie auch über solche Sachen? Ich dachte, Sie wollten mit ihr eine Bar-Tour machen, wie in alten Zeiten.
Drei Minuten später
RE:
Alte Zeiten kann man nicht wiederholen. Wie schon der Name sagt, sind diese Zeiten alt. Neue Zeiten können nie wie alte Zeiten sein. Wenn sie es versuchen, wirken sie alt und verbraucht, so wie diejenigen, die sie herbeisehnen. Man soll nie alten Zeiten nachtrauern. Wer alten Zeiten nachtrauert, der ist alt und trauert. Soll ich Ihnen etwas verraten? Ich wollte nichts wie nach Hause - zu Leo.
50 Sekunden später
AW:
Das ist schön, dass ich mitunter schon Ihr Zuhause bin!
Zwei Minuten später
RE:
Leo, ganz ehrlich, was halten Sie von mir und Bernhard, nach alldem, was Sie von mir und von Mia darüber gehört haben? Bitte, ganz ehrlich!
Vier Minuten später
AW:
Pfffff - ist das wirklich eine Frage für halb ein Uhr nachts? Und: Wollten Sie Ihr »Innenleben« nicht immer schon und gerade noch absolut fern von mir halten? Aber bitte, also gut: Ich glaube, Sie führen eine gut funktionierende Ehe.
45 Sekunden später
RE:
»Gut funktionierend«: War das abfällig? Ist das was Schlechtes? Warum vermitteln mir alle wichtigen Menschen, dass eine »gut funktionierende« Beziehung eine schlechte Beziehung ist?
Sechs Minuten später
AW:
Emmi, das war nicht abfällig. Wenn etwas gut funktioniert, kann es nicht so schlecht sein, oder? Schlecht ist es erst, wenn es nicht mehr gut funktioniert. Dann müsste man sich fragen: Warum funktioniert es nicht mehr so gut? Oder: Kann es überhaupt besser funktionieren? Aber Emmi, ich glaube, ich bin wirklich der Falsche, um mit Ihnen über Bernhard und Ihre Ehe zu diskutieren. Mia ist vermutlich ebenfalls die Falsche. Bernhard, ja Bernhard wäre der Richtige, denke ich.
13 Minuten später
AW:
Hey, Emmi, sind Sie schon eingeschlafen?
35 Sekunden später
RE:
Leo, ich möchte gerne Ihre Stimme hören.
25 Sekunden später
AW:
Wie bitte?
40 Sekunden später
RE:
Ich möchte gerne Ihre Stimme hören!
Drei Minuten später
AW:
Ja, tatsächlich? Wie hätten Sie sich's denn vorgestellt? Soll ich ein Demoband anfertigen und Ihnen zukommen lassen? Was wollen Sie von mir hören? Genügt eine Sprechprobe, »einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig«? Oder soll ich ein Lied singen? (Wenn ich einmal zufällig einen Ton erwische, dann entkommt er mir nicht mehr, dann klingt das gar nicht so schlecht.) Sie könnten mich auf Ihrem Piano begleiten ...
55 Sekunden später
RE:
Jetzt! LEO, ICH MÖCHTE JETZT GERNE IHRE STIMME HÖREN. Bitte erfüllen Sie mir diesen Wunsch. Rufen Sie mich an. 8317 433. Sprechen Sie mir auf den Anrufbeantworter. Bitte, bitte, bitte! Nur ein paar Worte.
Eine Minute später
AW:
Und ich würde gerne einmal hören, wie Sie solche Sätze aussprechen, die Sie in Ihren E-Mails mit Großbuchstaben schreiben. Schreien Sie die? Schrill? Kreischend?
Zwei Minuten später
RE:
Also okay, Leo, folgender Vorschlag: Sie rufen mich jetzt an und sprechen mir eine E-Mail aufs Band. Zum Beispiel: »Ja, tatsächlich? Wie stellen Sie sich das vor? Soll ich ein Demoband anfertigen und Ihnen zukommen lassen? Was wollen Sie von mir hören ...« Und so weiter. Und danach rufe ich Sie an und spreche: »Jetzt! LEO, ICH MÖCHTE GERNE IHRE STIMME HÖREN. Bitte erfüllen Sie mir ... « Und so weiter.
Drei Minuten später
AW:
Gegenvorschlag: Einverstanden, aber verlegen wir das Ganze auf morgen. Ich muss erst wieder zu Stimme kommen. Außerdem bin ich hundsmüde. Anrufbeantworter-Session heute Abend, gegen 21 Uhr - zu einem guten Glas Wein. Ist das okay?
Eine Minute später
RE:
Okay. Gute Restnacht, Leo. Danke, dass Sie da sind. Danke, dass Sie mich aufgefangen haben. Danke, dass es Sie gibt. Danke!
45 Sekunden später
AW:
Und jetzt werfe ich den Laptop aus meinem Bett! Gute Nacht.
Am nächsten Abend
Betreff: Unsere Stimmen
Hallo Emmi, machen wir es wirklich?
Drei Minuten später
RE:
Na sicher, ich bin schon ganz aufgeregt.
Zwei Minuten später
AW:
Und wenn Ihnen meine Stimme nicht gefällt? Wenn Sie erschüttert sind? Wenn Sie sich denken: So hat der Typ die ganze Zeit mit mir gesprochen? (Sehr zum Wohle! Ich trinke französischen Landwein.)
Eineinhalb Minuten später
RE:
Und umgekehrt? Wenn Sie meine Stimme nicht mögen? Wenn es Ihnen dabei die Zehennägel aufstellt? Wenn Sie sich mit mir danach gar nicht mehr unterhalten wollen? (Gin gin! Ich trinke Whiskey, wenn es erlaubt ist. Ich bin zu nervös für Wein.)
Zwei Minuten später
AW:
Nehmen wir die beiden soeben gesandten E-Mails. Einverstanden?
Drei Minuten später
RE:
Das sind aber schwierige E-Mails, die bestehen fast nur aus Fragen. Fragen sind schwer zu sprechen, wenn man das erste Mal zu jemandem spricht. Überhaupt für Frauen. Frauen sind bei Fragen stimmlich benachteiligt, weil sie beim Satzende mit der Stimme hinaufgehen müssen, also in noch höhere Lagen gezwungen werden. Wenn sie noch dazu nervös sind, dann könnten Gluckslaute herauskommen. Verstehen Sie, was ich meine? Gluckslaute klingen dämlich.
Eine Minute später
AW:
EMMI, WIR FANGEN JETZT AN! Ich spreche zuerst. In fünf Minuten sprechen Sie. Wenn wir fertig gesprochen haben, mailen wir uns. Und ERST DANACH hören wir uns die Bänder an. Alles klar?
30 Sekunden später
RE:
Halt!!! Ihre Telefonnummer, wenn ich bitten darf!
35 Sekunden später
AW:
Oh, Verzeihung. 45 20 737. Also, ich beginne jetzt.
Neun Minuten später
AW:
Bin schon fertig. Jetzt Sie!
Sieben Minuten später
RE:
Fertig! Wer hört es sich zuerst an?
50 Sekunden später
AW:
Beide gleichzeitig.
40 Sekunden später
RE:
Okay, danach melden wir uns.
14 Minuten später
RE:
Leo, warum melden Sie sich nicht? Wenn Ihnen meine Stimme nicht gefällt, können Sie es mir ruhig ins Gesicht (Mailbox) sagen. Ich finde, ich war in der Auswahl der EMails als Frau eklatant benachteiligt. Und das kratzende Nebengeräusch in meiner Stimme stammt nicht von mir, sondern vom Whiskey. Wenn Sie sich nicht sofort melden, trinke ich die ganze Flasche aus! Und bei einer Alkoholvergiftung verrechne ich Ihnen die Spitalskosten!
Zwei Minuten später
AW:
Emmi, ich bin sprachlos. Ich meine: Ich bin erstaunt. Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt. Sagen Sie: Sprechen Sie wirklich immer so? Oder haben Sie Ihre Stimme verstellt?
45 Sekunden später
RE:
Wie spreche ich?
Eine Minute später
AW:
Wahnsinnig erotisch! Wie eine Moderatorin einer Kuschelsex-Sendung.
Sieben Minuten später
RE:
Das klingt nett, damit kann ich leben! Sie sind aber auch nicht gerade schwach. Sie sprechen viel verwegener, als Sie schreiben. Sie haben eine richtig rauchige Stimme. Meine Lieblingspassage ist: »So hat der Typ die ganze Zeit mit mir gesprochen?« Vor allem die Worte: »Typ« und »gesprochen«. Bei »Typ« ist es das »Y«. Ihr »Y« ist wirklich sensationell, kein Ü und kein I, eigentlich überhaupt kein Laut. Eher ein Raunen, ein Hauchen, so, als würden Sie den Rauch eines Joints zwischen den Zähnen herauslassen. Leider verwendet man viel zu selten ein Ypsilon, nicht wahr? Aber Sie sollten sich, wo es nur geht, auf Worte mit »Y« verlegen! Bei »gesprochen« ist es das »Spro«, das sagen Sie unglaublich verrucht, richtig sexy, wie eine Herausforderung zum ... egal wozu, jedenfalls eine Herausforderung, die man annimmt. »Spro«, wie Sie es sprechen, könnte der Name einer neuen Potenzpille sein. Spro statt Viagra, nach akustischer Vorlage von Leo Leike, das käme echt gut.
Vier Minuten später
AW:
Mich verblüfft am meisten, wie Sie »Zehennägel« aussprechen, Emmi. So ein anmutiges, sanftes, dunkles, klares »Zehennägel« habe ich noch nie gehört und hätte ich Ihnen auch niemals zugetraut. Kein Kreischen, kein Gurgeln, kein Krähen. Ein richtig schönes, weiches, elegantes, geschmeidiges, samtfüßiges »Zehennägel«. Und: »Whiskey«, ja das hört sich auch sehr edel an. Das »Wh« - wie ein zum Schwingen gebrachtes Seil. Das »Key« wie ein Schlüssel zu Ihrem ... hmm ... Schlafzimmer. (Meine Flasche Rotwein geht dem Ende zu, merken Sie es?)
Eine Minute später
RE:
Leo, trinken Sie weiter! Ich liebe es, wenn Sie etwas getrunken haben. Das in Kombination mit Ihrer Stimme stimmt mich einigermaßen ...
20 Minuten später
RE:
Leo, wo sind Sie geblieben?
Zehn Minuten später
AW:
Moment. Ich mache nur noch eine Flasche Rotwein auf. Der französische Landwein ist gut, Emmi! Wir trinken alle viel zu selten französischen Landwein. Viel zu selten und viel zu wenig. Würden wir öfter und mehr französischen Landwein trinken, wären wir alle glücklicher, und wir könnten besser schlafen. Sie haben eine sehr erotische Stimme, Emmi. Ich mag Ihre Stimme. Marlene hatte auch eine sehr erotische Stimme, aber anders. Marlene ist viel kühler als Sie, Emmi. Marlenes Stimme ist tief, aber kalt. Emmis Stimme ist tief und warm. Und sie sagt: Whiskey. Whiskey. Whiskey. Trinken wir noch einen auf uns! Ich trinke französischen Rotwein. Emmi, ich werde alle Ihre E-Mails noch einmal lesen, und sie werden völlig anders klingen. Ich habe Ihre E-Mails bisher immer mit der falschen Stimme gelesen. Ich habe sie immer mit Marlenes Stimme gelesen. Emmi war für mich Marlene, Marlene ganz am Anfang, wo noch alles offen war. Da war nur Liebe und sonst gar nichts. Alles war möglich. Geht es Ihnen gut, Emmi?
Fünf Minuten später
RE:
Oh nein! Leo, müssen Sie so schnell trinken? Können Sie nicht ein bisschen länger durchhalten? Falls Sie mit der Stirn schon auf den Buchstaben liegen: Gute Nacht, mein Lieber. Es ist fantastisch mit Ihnen. Fantastisch, aber manchmal - und zwar immer dann, wenn es gerade spannend wird - eindeutig (alkoholbedingt) zu kurz. Na ja, wenigstens habe ich den Anrufbeantworter. Ich werde mir vor dem Schlafengehen noch ein paar Mal Leo »So hat der Typ die ganze Zeit mit mir gesprochen?« Leike geben. Das ist sicher gut gegen Nordwind.
Zwölf Minuten später
AW:
Emmi, noch nicht schlafen gehen! Ich bin noch munter, es geht mir gut. Emmi, kommen Sie zu mir! Trinken wir noch ein Glas. Flüstern Sie mir »Whiskey, Whiskey, Whiskey« ins Ohr. Sagen Sie: »Zehennägel.« Zeigen Sie hin. Ich sage: Das sind also die berühmten Emmi-Zehen der berühmten Emmi-Füße mit der berühmten Emmi-Schuhgröße 37. Ich verspreche: Ich werde nur meine Hand um Ihre Schulter legen. Nur eine Umarmung. Nur ein Kuss. Nur ein paar Küsse, sonst gar nichts. Ganz harmlose Küsse. Emmi, ich muss wissen, wie Sie riechen. Ich habe Ihre Stimme im Ohr, jetzt brauche ich Ihren Geruch in der Nase. Ganz im Ernst, Emmi: Kommen Sie zu mir. Ich bezahle das Taxi. Nein, das wollen Sie ja nicht. Egal, irgendwer wird das Taxi schon bezahlen. Hochleitnergasse 17, Top 15. Kommen Sie zu mir! Oder soll ich zu Ihnen kommen? Ich komme auch zu Ihnen! Nur einmal riechen. Nur einmal küssen. Kein Sex. Sie sind verheiratet, leider! Kein Sex, ich verspreche es. Bernhard, ich verspreche es! Ich will nur Ihre Haut riechen, Emmi. Ich will gar nicht wissen, wie Sie aussehen. Wir machen kein Licht an. Ganz im Dunklen. Nur ein paar Küsse, Emmi. Ist das was Böses? Ist das Betrug? Was ist Betrug? Eine E-Mail? Oder eine Stimme? Oder ein Geruch? Oder ein Kuss? Ich möchte jetzt bei Ihnen sein. Ich möchte mit Ihnen umschlungen sein. Nur eine Nacht mit Emmi verbringen. Ich mache die Augen zu. Ich muss nicht wissen, wie sie aussieht. Ich muss sie nur riechen und küssen und spüren, ganz nah. Ich lache vor Glück. Ist das Betrug, Emmi?
Fünf Minuten später
RE:
»So hat der Typ die ganze Zeit mit mir gesprochen?« Gute Nacht, Leo. Es ist schön mit Ihnen. Verblüffend schön. Wahnsinnig schön!!! Ich kann mich daran gewöhnen. Ich hab mich daran gewöhnt.