KAPITEL SECHS

Drei Tage später

Kein Betreff

Hallo Leo, geht's gut? Lieber Gruß, Emmi.


15 Minuten später

AW:

Hallo Emmi, ja, geht ganz gut. Und Ihnen? Leo.


Acht Minuten später

RE:

Auch ganz gut, danke. Bis auf die Hitze. Ist das normal? Wir haben Ende Mai. 35 Grad im Mai - hätte es das früher gegeben? Das hätte es früher nicht gegeben! Und sonst? So weit alles in Ordnung?


20 Minuten später

AW:

Ja, danke, Emmi, so weit alles bestens. Da haben Sie Recht: 35 Grad gab es früher Ende Juli, Anfang August, vielleicht ein, zwei Tage im Jahr, nicht mehr. Okay, sollen es vier, fünf Tage gewesen sein. Aber nicht im Mai, doch noch nicht im Mai! Ich sage Ihnen, das mit der Erderwärmung, das wird noch ein heißes Thema werden. Das ist keine Fadesse-Aktion der Klimaforscher. Wir werden uns an immer heißere Sommer gewöhnen müssen, denke ich.


Drei Minuten später

RE:

Ja, Leo, die Temperaturunterschiede werden immer extremer. Und wie verbringen Sie so diese ersten heißen Tage und Abende?


14 Minuten später

AW:

Und es wird immer mehr und heftigere Unwetter geben. Murenabgänge, Schlammlawinen, Überschwemmungen. Und dann wieder Dürreperioden. Wissen Sie, was das bedeutet? Die ökonomischen und ökologischen Folgen der Klimaveränderung sind noch gar nicht abzuschätzen.


Fünf Minuten später

RE:

Hawaiiananas in den Alpen. Schneekettenpflicht in Apulien. Reisfelder auf den Färöer-Inseln. Frostschutzmittelverkaufsstände in Damaskus. Kamelkolonien in Murmansk. Jachtklubs in der Sahara.


18 Minuten später

AW:

Und auf den Felsplatten im schottischen Hochland wird man bald ohne Feuer Spiegeleier braten können, sofern Hühner im Freiland nicht automatisch Grillhühner sind und selbst im Winter bestenfalls hart gekochte Eier legen.


Zwei Minuten später

RE:

Genug, Leo, ich will nicht mehr. Also gut, ich gebe auf: Wie war's? Und fragen Sie jetzt bitte, bitte, bitte nur ja nicht »Wie war was?« Sparen wir ein bisschen Buchstaben, ja?


13 Minuten später

AW:

Sie meinen das Sonntagstreffen mit Mia? Nett war's! Sehr nett sogar. Danke der Nachfrage.


Eine Minute später

RE:

Was heißt das »Sonntagstreffen«? Gab es vielleicht auch schon ein »Montagstreffen«?


Acht Minuten später

AW:

Ja, Emmi, witzigerweise haben wir uns gestern Abend gleich wieder getroffen. Wir waren italienisch essen. Kennen Sie das »La Spezia« in der Kenienstraße? Das hat so einen wunderschönen lauschigen Innenhof. - Bei dieser Hitze geradezu ideal. Und vor allem: sehr ruhig, dazu dezente, gute Musik und hervorragende Weine aus dem Piemont. Das »La Spezia« kann ich Ihnen wirklich empfehlen.


50 Sekunden später

RE:

Hat es gefunkt?


18 Minuten später

AW:

Gefunkt? Immer diese technischen Ausdrücke! Am besten, Sie fragen Mia selbst. Sie ist ja immerhin eine Ihrer besten Freundinnen. Sie sagt sogar: Sie ist Ihre beste Freundin. Emmi, ich muss für heute leider Schluss machen. Schreiben wir uns morgen wieder, ja? Gute Nacht.

Ich hoffe, Sie haben es nicht allzu drückend heiß in Ihrem Schlafzimmer.


Drei Minuten später

RE:

Ist ja noch gar nicht spät, Leo. Haben Sie noch was vor? Treffen Sie schon wieder Mia? Sollten Sie sie heute noch sehen, richten Sie ihr bitte aus, sie möge mich anrufen. Ich kann sie nämlich nicht erreichen. Schöne heiße Nacht, vergnügen Sie sich gut, Emmi. Und noch ein Tipp: Sie sollten unbedingt das Thema »Klimaerwärmung« zur Sprache bringen. Da kann Ihnen Mia sicher stundenlang zuhören, so spannend, wie Sie das darstellen.


Zwei Minuten später

AW:

Mia sehe ich erst morgen wieder. Heute bin ich einfach k.o. und lege mich zeitig nieder. Gute Nacht, ich drehe jetzt ab. Leo.


30 Sekunden später

RE:

Nacht.


Drei Tage später

Kein Betreff

Hallo Emmi, schauen Sie auch gerade beim Fenster raus? Gespenstisch, oder? Für mich ist ein Hagelsturm wie eine Brise Weltuntergang. Da hängt so ein seltsamer ockergelber Schleier über dem Himmel, plötzlich legt sich ein dunkelgrauer Vorhang darüber, und dann prasseln mit immenser Geschwindigkeit Abertausende dieser weißen Kieselsteinchen zu Boden. Wie heißt der Film, in dem es Kröten regnet, oder Frösche oder Hühner? Kennen Sie den zufällig? - Alles Liebe, Leo.


Eineinhalb Stunden später

RE:

Animal Farm. Froschkönig. Kentucky Fried Chicken. - Leo, solche stimmungsschwangeren NaturanimationsE-Mails nach drei Tagen nichts von Ihnen machen mich wahnsinnig! Bitte suchen Sie sich andere Empfänger dafür. Ich habe Ihnen nicht ein halbes Jahr in der Mailbox die Treue gehalten, habe nicht Wochen und Monate hindurch täglich zig Stunden mit Ihnen hier verbracht, damit wir jetzt beginnen, uns über Regengüsse und ockergelbe Schleier über dem Himmel zu unterhalten. Wenn Sie mir etwas von sich erzählen wollen, dann tun Sie es. Wenn Sie etwas von mir wissen wollen, dann fragen Sie. Aber für Dialoge über das Wetter bin ich mir zu schade. Hat Ihnen Mia so sehr den Kopf verdreht, dass Sie plötzlich nur noch Hagelkörner sehen können?

Und noch ein paar Fragen, weil wir schon gerade dabei sind: Haben Sie ihr gesagt, dass sie mir bis auf weiteres nichts von ihren Rendezvous mit Ihnen erzählen soll? Was soll diese pubertäre Informationssperre, diese blöde Geheimnistuerei? Was ist das für ein kindisches Spielchen? Das verdirbt mir echt die Freude, mich mit Ihnen noch weiter zu unterhalten, Leo, ich sage es Ihnen ehrlich. Guten Tag, Emmi.


Zwei Stunden später

AW:

Liebe Emmi, ich kenne Mia seit nicht einmal einer Woche. Wir haben uns viermal getroffen. Wir haben uns auf Anhieb gemocht. Wir verstehen einander blendend, in vielerlei Hinsicht. Aber es ist noch viel zu früh, um abschätzen zu können, wie sich die Dinge entwickeln werden. Und es ist noch viel zu früh, damit »hinaus«zugehen. Verstehen Sie, was ich meine? Mia und ich, wir müssen uns erst einmal über unsere Gefühle zueinander im Klaren sein: Was davon ist nur aus der Situation so entstanden, in der wir uns kennen gelernt haben? Was davon ist nur für den Augenblick bestimmt? Was aber könnte Bestand haben? - Das sind Fragen, die jeder nur einzeln für sich beantworten kann. Ich bitte Sie daher um Geduld, Emmi. In späteren Phasen werde ich Ihnen alles erzählen. Und was Mia betrifft: Ihr geht es vermutlich so ähnlich, gerade weil Sie ihre beste Freundin sind. Lassen Sie uns ein bisschen Zeit. Ich hoffe, Sie verstehen das. Lieber Gruß, Leo.


Zehn Minuten später

RE:

Lieber Leo, Sie können mich (jetzt) weder sehen noch hören, deshalb verrate ich Ihnen: Ich sage Nachfolgendes in absoluter Ruhe und Gelassenheit, langsam, bedächtig, gar kein bisschen aufgekratzt, kreischend oder aggressiv, nein, nein, ich lege meine vollwertige Friedfertigkeit und Andacht in die nächsten Worte: Leo, ich habe noch nie so eine beschissene E-Mail gelesen wie jene, die Sie mir soeben zugemutet haben. Und tschüss!


15 Minuten später

AW:

Das tut mir aufrichtig Leid für Sie, Emmi. Dann werde ich wohl besser eine E-Mail-Pause einlegen. Wenn Sie wieder gewillt sind, mit dem Sprachrohr Ihrer »Außenwelt« in Kontakt zu treten, dann melden Sie sich ruhig. Alles Liebe, Leo.


Fünf Tage später

Betreff: Ich sehne mich (...)

Hallo Leo, wie geht es Ihnen beim »Entwickeln der Dinge«? Haben Sie und Mia Ihre Gefühle schon ein bisschen auseinander sortiert? Wissen Sie schon, was »nur für den Augenblick« ist und was »Bestand« haben könnte? Haben Sie schon »jeder für sich« ein paar »Fragen einzeln beantwortet«?

Ach, ich sehne mich nach dem alten Leo, der gesagt hat, was zu sagen war, und der gefühlt hat, was zu fühlen war. Ich sehne mich so sehr nach ihm!!! Schönen Tag, Emmi.

(PS: Über mich und Mia sind Sie ja vermutlich informiert. Nachdem ich gemerkt habe, dass auch sie offensichtlich nicht mehr weiß, was sie mir sagen soll, habe ich sie gebeten, Leo Leike als Tabuthema zwischen uns zu betrachten.)


Drei Stunden später

AW:

Liebe Emmi, Ihre letzte Bemerkung war dezent untertrieben. Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie zu Ihrer Freundin Mia vor einigen Tagen am Telefon gesagt: »Entweder du erzählst mir alles über dich und Leo - oder gar nichts. Im zweiten Fall schlage ich vor, dass wir unserer langjährigen Freundschaft ein paar Monate verdienter Auszeit gönnen.« Emmi, was ist los mit Ihnen? Ich verstehe Sie nicht. SIE waren es doch, die Mia und mich zusammengebracht hat. SIE wollten unbedingt, dass ich sie kennen lerne. SIE haben in uns das Traumpaar gesehen. Warum sind Sie jetzt so zynisch und bösartig? Waren Sie sich Ihrer Ergänzung zum Innenleben, Ihres außerfamiliären Besitzes Leo zu sicher? Sind Sie jetzt verärgert, weil Sie glauben, Sie haben Ihr virtuelles Eigentum an Ihre beste Freundin verloren?

Emmi, ich war über Monate keinem Menschen näher als Ihnen. Und ich war (und bin) so froh, dass unsere Versuche, uns »physisch« zu begegnen, allesamt gescheitert sind. Es ist mir egal, wie Sie aussehen, solange ich Sie so sehen kann, wie ich Sie sehen will. Ich bin dankbar, dass ich nicht erfahren muss, dass Sie in Wirklichkeit eine andere sind als »meine Heldin Emmi aus meinem E-Mail-Roman«. Da sind Sie perfekt, die Schönste der Welt, da kommt keine an Sie heran. Aber Emmi, es gibt da eben keine Steigerung mehr für uns. Alles andere spielt sich außerhalb unserer beiden Bildschirme ab. Mia ist der beste Beweis dafür. Ich will ehrlich sein: Es hat mich zunächst ziemlich gekränkt, dass Sie mich mit ihr verkuppeln wollten. Mein erstes Treffen war eher eine Art Trotzreaktion an Ihre Adresse, Emmi. Aber dann habe ich schnell begriffen, was den Unterschied zwischen Ihnen und ihr ausmacht. Sie, Emmi, wagen nicht einmal, Ihr Piano zu beschreiben, weil es in meiner Welt so absolut nichts zu suchen hat. Mia aber beugt sich einen halben Meter von mir entfernt über einen winzigen Tisch und wickelt Spaghetti al Pesto über den Löffel. Wenn sie den Kopf zur Seite dreht, spüre ich den Luftzug, der dadurch entsteht. Ich kann sie gleichzeitig sehen, hören, angreifen, riechen. Mia ist Materie. Emmi ist Fantasie. Beides mit all seinen Vor- und Nachteilen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Ihr Leo.


30 Minuten später

RE:

Mein Piano ist schwarz, quaderförmig und besteht hauptsächlich aus Holz. Oben ragt ein Teil horizontal vor. Darauf befinden sich, klappt man eine schwarze, vorne abgerundete Platte hoch, Tasten, weiße und schwarze. Eigentlich müsste ich auswendig wissen, wie viele Tasten es sind, aber, leider, ich muss erst nachzählen. Darf ich Ihnen die genaue Anzahl später nachreichen, Leo? Jedenfalls sind die weißen Tasten größer, und es gibt mehr davon. Wenn ich auf eine Taste drücke, dann kommt oben im Klavier ein Ton heraus. Ganz genau weiß man nie, woher er kommt. Man kann auch nicht gut nachsehen, während man spielt. Aber viel entscheidender ist der Klang. Wenn ich eher eine Taste links wähle, dann ist der Ton eher tief. Je mehr rechts sich die Taste befindet, auf die ich drücke, desto höher wird das Geräusch. Drücke ich mehrmals hintereinander auf verschiedene schwarze Tasten, entsteht eine einfache chinesische Melodie, eine Art fernöstliches Kinderlied. Wenn ich Ihnen noch mehr über die weißen Tasten verraten soll, und was man mit Ihnen machen kann, lassen Sie es mich wissen, Leo. Ich glaube aber, Ihnen hiermit die wichtigsten Dinge von meinem Piano veranschaulicht zu haben. Ja, ich habe es gewagt, mein Piano zu beschreiben! Treuest ergeben, Ihre Emmi.


Fünf Minuten später

AW:

Das haben Sie schön gemacht, Emmi. Ich glaube jetzt, einen Begriff von Ihrem Piano zu haben. Ja, ich habe es geradezu plastisch vor mir. Und Sie, Emmi, sitzen davor und zählen Tasten. Danke für den Anblick! Gute Nacht.


Eine Stunde später

RE:

Hallo Leo, noch einmal ich. Ich bin noch nicht müde. Im Grunde weiß ich leider nicht, was ich sagen soll. Ich bin einfach nur traurig. Ich dachte, Mia wird uns beide auch physisch näher zueinander bringen. Doch sie bringt uns offensichtlich immer weiter auseinander. Und ich kann ihr deswegen nicht einmal böse sein, es war ja meine Idee. Ich möchte ehrlich sein:

Ich wollte zwar, dass Sie sie kennen lernen, aber ich wollte Sie beide nicht zusammenführen. Für mich waren (und sind!) Sie alles andere als ein »Traumpaar«. Ich war mir Ihrer tatsächlich zu sicher, Leo. Ich dachte, ich kenne Sie. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass Sie sich in sie verlieben. Mia ist zweifellos attraktiv. Aber sie ist so ungefähr das genaue Gegenteil von mir. Sie ist durch und durch Sportsfrau, kräftig, drahtig, sehnig. Jedes Muttermal ist bei ihr durchtrainiert. Bei ihr bestehen vermutlich sogar die Achselhaare aus Muskelmasse. Vor lauter Brustkorb sieht man die Brust nicht. Und ihre von der Sonne gezeichnete Haut ist eine einzige Kokosnussöl-Raffine- rie. Mia ist der personifizierte Fitnessgedanke. Sex muss für sie paarweises Liegestütz- und BeckenmuskelTraining mit Unterbrechung in Form von höhepunktuell bedingten Verschnaufpausen sein. Sie ist eine Frau fürs Surfbrett, für die Heilfastenkur, für den StadtMarathon in New York. Aber doch niemals eine Frau für Leo - dachte ich zumindest. Sie, Leo, habe ich ganz anders eingeschätzt. Mia zu begehren, heißt mich zurückzuweisen. Können Sie nachvollziehen, dass mich das deprimiert?


Zehn Minuten später

AW:

Wer sagt, dass ich Mia begehre? Wer sagt, dass sie mich begehrt?


Zwei Minuten später

RE:

Na hoppala: Sie! Sie! Sie sagen es! Und wie Sie es sagen! Sie sagen es grauenvoll! Grauenvoller als in Ihrer ekligen, widerlichen Wir-müssen-uns-über-unsere- Gefühle-klar-werden-E-Mail kann man es gar nicht sagen. Sie sagen: »Wir verstehen uns blendend, in vielerlei Hinsicht.« Iiiiiiiiihhhh - das hätte ich Ihnen niemals zugetraut, Leo!


Fünf Minuten später

AW:

Stimmt aber: Mia und ich verstehen uns blendend, in vielerlei Hinsicht. Da ist kein Wort davon gelogen. Zum Beispiel verstehen wir uns blendend, was unsere gemeinsamen Anschauungen, Betrachtungen und Einschätzungen Ihrer Person betrifft, werte Emmi Rothner!


Drei Minuten später

RE:

Sagen Sie bloß, Sie haben nicht mit ihr geschlafen.


Vier Minuten später

AW:

Emmi, Sie fühlen sich gerade wieder in einen Mann hinein, stimmt's? Bleiben Sie beim Thema. Ob ich mit Mia geschlafen habe oder nicht, ist absolut irrelevant.


55 Sekunden später

RE:

Irrelevant? Nicht für mich! Wer mit Mia schläft, schläft niemals mit mir, nicht einmal geistig. Darauf lege ich Wert.


Zwei Minuten später

AW:

Reduzieren Sie unser Verhältnis nicht immer wieder darauf, dass wir gelegentlich geistig miteinander geschlafen haben.


50 Sekunden später

RE:

Sie haben mit mir gelegentlich geistig geschlafen? Das höre ich so zum ersten Mal. Klingt aber gut!


Eine Minute später

AW:

Apropos schlafen. Diesmal ganz körperlich: Gute Nacht, Emmi. Es ist zwei Uhr morgens.


30 Sekunden später

RE:

Ja, herrlich. Wie in alten Zeiten! Gute Nacht. Emmi.


Am nächsten Morgen

Betreff: Kein Wort von Sex

Guten Morgen, Leo. Was waren das eigentlich für gemeinsame Betrachtungen zu meiner Person, die Sie mit Mia angestellt haben? Was hat Mia über mich erzählt? Wissen Sie jetzt, welche der drei Emmis mit Schuhgröße 37 ich bin? Bin ich wenigstens diejenige Emmi, von der Ihre Schwester behauptet hat: »In die würdest du dich verlieben«?


Eineinhalb Stunden später

AW:

Sie werden es nicht glauben, Emmi, aber wir haben Sie nicht äußerlich, sondern innerlich betrachtet. Ich habe Mia gleich von Anfang an zu verstehen gegeben, dass ich nicht wissen will, wie Sie aussehen. Sie hat darauf geantwortet: »Da versäumen Sie aber was!« (Sie ist wirklich eine gute Freundin.) Mia hat natürlich ebenfalls gewusst, dass Sie alles andere wollen, als dass ich mit ihr zusammenkomme. Wir waren uns der für uns bestimmten Rollen sofort im Klaren. Wir sind uns zehn Minuten gegenüber gesessen - und waren Verbündete in Angelegenheiten Emmi Rothner.


Zwölf Minuten später

RE:

Und dann haben Sie sich, mir zu Fleiß, ineinander verliebt.


Eine Minute später

AW:

Sagt wer?


Acht Minuten später

RE:

Sagt Leo Leike: »Mia aber beugt sich einen halben Meter von mir entfernt über einen winzigen Tisch und wickelt Spaghetti al Pesto über den Löffel.« Trief. »Wenn sie den Kopf zur Seite dreht, spüre ich den Luftzug, der dadurch entsteht.« Trief. »Ich kann sie gleichzeitig sehen, hören, angreifen, riechen.« Trief. »Mia ist Materie.« Schwülst. Wissen Sie Leo, bei Marlene verzeih ich es Ihnen. Sie war vor unserer Zeit und hat ältere Rechte. Aber Mias Luftzüge, wenn sie den Kopf zur Seite dreht, die sind für mich eine echte Zumutung. Ich will auch einmal den Kopf zur Seite drehen und dabei einen Luftzug verursachen, den Sie spüren, Meister Leo! (Okay, den »Meister« nehme ich zurück.) Was hat Mias Luftzug, was meiner nicht hat? Glauben Sie mir, ich kann wunderschöne Luftzüge erzeugen, wenn ich den Kopf zur Seite drehe.


20 Minuten später

AW:

Wir haben auch über Ihre Ehe geredet, Emmi.


Drei Minuten später

RE:

Ach ja? Kommen Sie wieder zu Ihrem Lieblingsthema? Und was sagt Mia? Hat sie Ihnen verraten, dass sie Bernhard nicht leiden kann?


15 Minuten später

AW:

Nein, das hat sie keineswegs. Sie hat nur positiv von ihm gesprochen. Sie sagt, Ihre Ehe ist die Vorbildehe schlechthin. Sie sagt, es ist gespenstisch, aber da passt wirklich alles. Sie sagt, seit Emmi mit Bernhard liiert ist, hat sie keine Schwachstellen mehr. Sie hat es effektiv verlernt, sich Blößen zu geben. Wenn sie mit Bernhard und den beiden Kindern wo auftaucht, dann glaubt man, die Traumfamilie ist eingetroffen. Alle lächeln, alle sind freundlich, alle sind glücklich. Zwischen Ihnen und Ihrem Mann bedarf es gar keiner Worte, es herrscht stille Harmonie. Ja, sogar die Geschwister sitzen nebeneinander und umarmen sich. - Absolute Idylle. Freunde, die die Rothners zu Gast haben, schieben danach besser ein paar Therapiestunden ein, meint Mia. Man glaubt plötzlich, alles falsch gemacht zu haben. Man fühlt sich wie ein Versager. Denn man hat einen Partner, der einem entweder nicht zur Seite steht - oder nicht mehr zu Gesicht. (Oder beides.) Oder man hat Kinder, die einen terrorisieren. Oder alles drei. Oder man hat weder dies noch das noch jenes - man hat niemanden. So wie Mia, sagt Mia. Und einzig und allein im Vergleich mit Emmi kommt ihr das manchmal erbärmlich vor.


18 Minuten später

RE:

Ja, ich weiß, wie Mia über mich, meine Ehe, mein Familienleben denkt. Sie mag Bernhard nicht, weil sie das Gefühl hat, er hat ihr etwas weggenommen: mich, ihre beste Freundin. Ja, verdammt, sie leidet darunter, dass es mir einfach nicht mehr so schlecht geht wie ihr. Nicht mehr schlecht genug, um mich bei ihr auszuweinen. Unsere Freundschaft ist einseitig geworden: Früher hatten wir gemeinsame Themen, gemeinsame Ärgernisse, gemeinsame Feinde - zum Beispiel Männer und ihre Makel. Das war ergiebig, da hatten wir uns Bände zu erzählen, da konnten wir aus dem Vollen schöpfen. Seit Bernhard ist das anders geworden. Ich kann beim besten Willen nichts Schlechtes über ihn sagen. Es hat keinen Sinn, mich künstlich über Lappalien aufzuregen, nur um Mia ein Gefühl der Solidarität vorzutäuschen. Wir befinden uns eben in grundverschiedenen Lebenssituationen. Das ist das Problem zwischen Mia und mir.


Fünf Minuten später

AW:

Mia sagt, es fällt ihr überhaupt nur eine einzige Sache ein, die nicht in das Bild der perfekten Rothner'schen Familienidylle passt. Zumindest kann sie sich keinen rechten Reim darauf machen. Obwohl sie schon öfters mit Ihnen darüber gesprochen hat.


50 Sekunden später

RE:

Worüber?


40 Sekunden später

AW:

Über mich.


30 Sekunden später

RE:

Über Sie?


15 Minuten später

AW:

Ja, über mich, über uns, Emmi. Mia versteht nicht, warum Sie mir schreiben, wie Sie mir schreiben, was Sie mir schreiben, wie oft Sie mir schreiben und so weiter. Sie versteht nicht, warum Ihnen der Kontakt zu mir so wichtig ist. Sie sagt: Der Emmi fehlt nichts, absolut nichts. Wenn sie Sorgen hat, dann weiß sie, dass sie jederzeit zu mir oder einer anderen Freundin gehen kann. Wenn sie Selbstbestätigung sucht, muss sie nur einmal durch die Fußgängerzone spazieren. Wenn sie flirten will, dann könnte sie auf der Promenierzeile Wartenummern ausgeben und die Typen der Reihe nach aufrufen. Für all das benötigt sie keinen zeitaufwändigen und kräfteraubenden Dauer-Intensiv-E- Mail-Partner. Ja, Mia weiß nicht, wofür Sie mich brauchen, wozu ich gut sein soll, Emmi.


Zwei Minuten später

RE:

Wissen Sie es auch nicht, Leo?


Neun Minuten später

AW:

Doch, ich denke schon, ich nehme Sie beim Wort. Ich hab Mia versucht zu erklären, dass ich für Emmi so eine Art »Außenstelle« bin, ein bisschen Ablenkung vom Familienalltag. Und einer, der sie schätzt und mag, so wie sie ist, ohne dass sie anwesend sein muss. Sie muss nur schreiben, sonst gar nichts. Für Mia reicht diese Erklärung allerdings nicht aus. Sie sagt: Emmi braucht keine Ablenkung. Für eine »Ablenkung« würde sie niemals Aufwand betreiben. Wenn Emmi Aufwand betreibt, dann »will« sie etwas. Und wenn Emmi etwas will, dann will sie nicht nur viel. Wenn Emmi etwas will, dann will sie alles.


Drei Minuten später

RE:

Vielleicht kennt mich Mia doch nicht so gut, Leo. Was »alles« soll ich von Ihnen wollen? Ich hab ja noch nicht einmal Spaghetti al Pesto mit Ihnen gegessen. Ich habe nicht ein Mal den Kopf zur Seite gedreht, sodass ich einen Luftzug erzeugt hätte, den Sie hätten verspüren können, lieber Leo. Darin ist mir Freundin Mia bekanntlich um einiges voraus. Ich will gar nicht wissen, wie viel Sie dem »Alles« bei Ihnen näher gekommen ist als ich.


Eine Minuten später

AW:

Freut mich, dass Sie es ausnahmsweise einmal nicht wissen wollen.


50 Sekunden später

RE:

Also wie nahe ist Mia dem »Alles« bei Ihnen gekommen?


Zwei Minuten später

AW:

Kommt immer darauf an, was »Alles« für jemanden bedeutet.


55 Sekunden später

RE:

Sehen Sie Leo, das sind jene berühmten Antworten von Ihnen, die den »Aufwand« rechtfertigen, den ich mit meiner Schreiberei betreibe. Das können Sie gerne meiner Freundin Mia ausrichten. Wann treffen Sie sie wieder? Heute?


Drei Minuten später

AW:

Nein, heute bin ich bei Kollegen zum Essen eingeladen. Ich sollte mich dann ohnehin bald fertig machen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Emmi.


45 Sekunden später

RE:

Und da nehmen Sie Mia gar nicht mit? Also ist sie dem »Alles« bei Ihnen offenbar doch noch nicht so nah.


Eine Minute später

AW:

So nah nicht, Emmi, wenn Sie das beruhigt.


40 Sekunden später

RE:

Das tut es!


50 Sekunden später

AW:

Emmi. Emmi. Emmi.


Am nächsten Tag

Betreff: Mia

Tag Leo, morgen treffe ich Mia! Gruß, Emmi.


Zehn Minuten später

AW:

Hallo Emmi, schön für Sie, schön für Mia. Ebenfalls Gruß, Leo.


50 Sekunden später

RE:

Mehr fällt Ihnen dazu nicht ein?


20 Minuten später

AW:

Was haben Sie sich vorgestellt, Emmi? Sollte ich Ihrer Meinung nach in Panik geraten? Emmi, wir haben nicht Elternsprechtag, ich habe nicht Schule geschwänzt, Mia ist nicht meine Lehrerin, und Sie, Emmi, sind nicht meine Mama. Ich habe also nichts zu befürchten.


Drei Minuten später

RE:

Leo, wenn Sie mit Mia - Sie wissen schon - dann würde ich das lieber heute von Ihnen erfahren als morgen von Mia. Also verraten Sie es mir?


Vier Minuten später

AW:

Ob ich mit Mia schlafe? - Vielleicht will Mia gar nicht, dass Sie es wissen, wenn es tatsächlich der Fall ist.


Eineinhalb Minuten später

RE:

SIE wollen nicht, dass ich es weiß. Aber Pech, Leo, ich weiß es! So wie Sie schreiben, so schreibt nur einer, der mit Mia schläft.


13 Minuten später

AW:

Und das wäre für Sie eine Katastrophe? Das würde Ihre gesamte »Außenwelt« in Unruhe versetzen? Oder ist es einfach das alte Spiel aus der Kindheit: Ich kann etwas nicht haben, also darf es meine beste Freundin erst recht nicht haben?


Vier Minuten später

RE:

Leo, Sie sind mir zu unreif für dieses Thema. Also lassen wir es. Verbringen Sie noch einen angenehmen Tag. Man liest sich, Emmi.


Zehn Minuten später

AW:

Sie waren auch schon einmal besser aufgelegt, meine Liebe. Ja, man liest sich, zweifellos.


Am nächsten Tag

Betreff: Mia

Hi Leo, ich habe Mia getroffen!


30 Minuten später

AW:

Ich weiß, Emmi, Sie hatten es angekündigt.


Zwei Minuten später

RE:

Wollen Sie nicht wissen, wie es war?

Vier Minuten später

AW:

Gute Frage. Ich kann jetzt zwischen zwei Antwortvarianten wählen. Entweder 1.) Mia wird es mir schon erzählen. Oder 2.) Sie, Emmi, werden es mir ohnehin gleich erzählen. Ich wähle: 2.)


Eine Minute später

RE:

Knapp daneben, mein Lieber. Fragen Sie Mia, wie es war. Angenehmen Nachmittag!


Sieben Stunden später

AW:

Gute Nacht, Emmi, das war heute eine eher schwache Performance.


Am nächsten Tag

Betreff: Emmi?

Meine liebe E-Mail-Partnerin, sind Sie beleidigt? Warum eigentlich? Hat Ihnen Mia etwas erzählt, was Sie nicht hören wollten?


Zweieinhalb Stunden später

RE:

Leo, Sie wissen genau, was mir Mia erzählt hat. Sie wissen auch genau, was mir Mia NICHT erzählt hat: »Ja, er ist sehr nett. Ja, wir verstehen uns gut. Ja, wir sehen uns öfter. Ja, es wird manchmal ziemlich spät (schmunzel, kicher). Ja, er ist wirklich schwer okay (grins). Ja, das wäre schon ein Mann (seufz), wo man sich vorstellen kann (schwärm)... Aber Emmi, es ist doch ganz egal, ob wir Sex miteinander haben! Das ist doch nicht das Entscheidende ... Ach, Emmi, warum musst du immer über Sex reden?« Und so weiter.

Guter Leo, das ist nicht Mia, wie sie ist. Mia, wenn sie ist, wie sie ist, redet stundenlang über Sex! Sie beschreibt dabei jeden Muskel, der beansprucht wird oder in irgendeiner Weise beteiligt ist, sei es auch nur als Zuschauer (oder Zuhörer). Mia kann einen einzigen, fünf Sekunden währenden Orgasmus aus sportmedizinischer Sicht in sieben Arbeitsschritte mit Kalorienverbrauchstabellen etc. unterteilen, die jeweils einstündige Referate erforderlich machen. Das ist Mia! Und wissen Sie, wer ganz und gar nicht Mia ist? - »Ach Emmi, warum musst du immer über Sex reden!« - Das ist null Mia, dafür hundert Prozent Leo Leike. Leo, was haben Sie aus Mia gemacht? Und warum? Um mich zu ärgern?


13 Minuten später

AW:

Hat Sie Mia nicht gefragt, warum Sie sich so wahnsinnig dafür interessieren, ob ich mit ihr Sex habe? Hat sie Ihnen nicht gesagt, dass sie Sie ja auch nicht fragt, wie oft Sie mit Ihrem Bernhard Sex haben? (Okay, das »Ihrem« vor »Bernhard« nehme ich zurück.) Hat Sie Mia nicht gefragt, was Sie von mir eigentlich wollen? Hat sie, stimmt's? Und was haben Sie darauf geantwortet, Emmi?


50 Sekunden später

RE:

E-Mails will ich von ihm! (Aber nicht solche.)


Eineinhalb Minuten später

AW:

Manchmal kann man sie sich nicht aussuchen.


Drei Minuten später

RE:

Ich will sie mir nicht aussuchen müssen. Ich will, dass sie von alleine schön sind. Früher, Leo, haben Sie mir so schöne E-Mails geschrieben. Seit Sie mit Mia Sex haben, reden Sie nur noch um den heißen Brei herum. Gut, ich bin ja selber schuld, ich hätte Sie nicht mit Mia zusammenbringen dürfen. Das war einfach ein Fehlgriff von mir.


Acht Minuten später

AW:

Liebe Emmi, ich verspreche Ihnen, dass Sie wieder einmal eine schöne E-Mail von mir erhalten werden, Mia hin oder her. Heute schaffe ich es nicht mehr. Wir gehen ins Theater. (Nein, nicht Mia und ich, sondern meine Schwester und ein paar Freunde und ich.) Schönen Abend, Leo. Und grüßen Sie mir Ihr Klavier.


Fünf Stunden später

RE:

Sind Sie schon zurück vom Theater? Ich kann heute nicht schlafen. Habe ich Ihnen eigentlich schon einmal vom Nordwind erzählt? Ich vertrage keinen Nordwind, wenn mein Fenster offen ist. Es wäre schön, wenn Sie mir noch ein paar Worte schreiben. Schreiben Sie einfach: »Dann schließen Sie das Fenster.« Dann werde ich Ihnen erwidern: Bei geschlossenem Fenster kann ich nicht schlafen.


Fünf Minuten später

AW:

Schlafen Sie mit dem Kopf zum Fenster?


50 Sekunden später

RE:

LEO!!! - Ja, ich schlafe mit dem Kopf schräg zum Fenster.


45 Sekunden später

AW:

Und wenn Sie sich um 180 Grad wenden und mit den Zehen schräg zum Fenster schlafen?


50 Sekunden später

RE:

Das geht nicht, da fehlt mir der kleine Nachttisch mit Leselampe.


Eine Minute später

AW:

Zum Schlafen brauchen Sie doch keine Leselampe.


30 Sekunden später

RE:

Nein, aber zum Lesen.


Eine Minute später

AW:

Dann lesen Sie - und danach drehen Sie sich um und schlafen mit den Zehen schräg zum Fenster ein.


40 Sekunden später

RE:

Wenn ich mich umdrehe, bin ich wieder wach und muss wieder lesen, damit ich einschlafen kann. Und dann fehlt mir das Nachtkästchen mit Leselampe.


30 Sekunden später

AW:

Ich hab's! Stellen Sie es einfach auf die andere Seite vom Bett.


35 Sekunden später

RE:

Geht nicht, das Kabel der Lampe ist zu kurz.


40 Sekunden später

AW:

Schade, ich hätte hier ein Verlängerungskabel.


25 Sekunden später

RE:

Mailen Sie es mir rüber!


45 Sekunden später

AW:

Okay, ich schicke es als Dokument.


50 Sekunden später

RE:

Danke, ich hab's erhalten. Tolles Kabel, ewig lang! Ich stecke es jetzt an.


40 Sekunden später

AW:

Passen Sie nur auf, dass Sie in der Nacht nicht darüber stolpern.


35 Sekunden später

RE:

Ach, ich werde so tief und fest schlafen, dank Ihnen und Ihrem Kabel!


Eine Minute später

AW:

Da kann der Nordwind jetzt blasen, wie er will.


45 Sekunden später

RE:

Leo, ich hab Sie sehr, sehr gern. Sie sind fantastisch gut gegen Nordwind!


30 Sekunden später

AW:

Ich habe Sie auch sehr gern, Emmi. Gute Nacht.


25 Sekunden später

RE:

Gute Nacht. Träumen Sie schön.


Am nächsten Abend

Kein Betreff

Guten Abend, Emmi. Heute haben Sie darauf gewartet, dass ich als Erster schreibe, stimmt's?


Fünf Minuten später

RE:

Leo, ich warte fast immer darauf, dass Sie als Erster schreiben, aber meistens vergeblich. Diesmal habe ich durchgehalten. Geht's Ihnen gut?


Drei Minuten später

AW:

Ja, mir geht es gut. Ich habe gerade mit Mia gesprochen. Und wir haben beschlossen, dass wir Ihnen alles über uns verraten, wenn Sie es überhaupt noch wissen wollen.


Acht Minuten später

RE:

Das weiß ich erst nachher, ob ich es wissen wollte. Jedenfalls haben Sie es so staatstragend angekündigt, dass ich es für gar nicht unwahrscheinlich halte, dass ich nachher weiß, dass ich es eigentlich nicht wissen wollte. Sollte es also eine Liebesgeschichte mit Schwangerschaft, Venedig-Reise und Hochzeitstermin werden, verschonen Sie mich besser damit. Ich hatte heute schon Streit mit einem Kunden. Außerdem kriege ich meine Tage.


Vier Minuten später

AW:

Nein, es ist keine Liebesgeschichte. Es war nie eine. Und mich wundert, dass und in welchem Ausmaß Sie daran gezweifelt haben. Vorher waren Sie sich Ihrer Sache ja ziemlich sicher. »Ihre Sache«, ja, das ist der Punkt. Soll ich ins Detail gehen?


Sechs Minuten später

RE:

Leo, das ist unfair! Ich war mir keiner Sache sicher. Da gab es keine »Sache«. Ich hatte vorher nicht überlegt, was geschehen könnte, wenn Sie meiner Freundin begegnen. Ich war einfach nur neugierig, was sie sagt - und was Sie sagen, Leo. Als Sie es dann sagten, beziehungsweise NICHT sagten, spürte ich erst, wie wenig mir das gefiel, was Sie sagten beziehungsweise NICHT sagten, Sie und Mia. Aber erzählen Sie ruhig weiter. Den wichtigsten Satz haben Sie ohnehin bereits geschrieben. (Ihr erster.) Jetzt kann nicht mehr viel passieren.


Eineinhalb Stunden später

AW:

Mia und ich haben uns an diesem Sonntagnachmittag im Kaffeehaus zum ersten Mal gesehen, und wir wussten sofort, warum wir da sitzen - nicht wegen uns, sondern wegen Ihnen. Wir hatten überhaupt keine Chance, uns näher zu kommen, uns vielleicht sogar ineinander zu verlieben. Wir waren so ungefähr das Gegenteil von füreinander bestimmt. Wir sind uns vom ersten Augenblick an wie Ihre Marionetten vorgekommen, wie Schachfiguren, die Sie, liebe Emmi, gerade gezogen haben. Nur das »Spiel« haben wir nicht verstanden. Und es ist bis heute nicht zu verstehen. Emmi, Sie wissen, dass Mia große Stücke auf Sie hält, dass sie Sie bewundert, ja, und auch beneidet. Sollte das mein Interesse an Ihnen noch steigern? Wenn ja, dann wozu? Soll ich wissen, wie perfekt und idyllisch Sie ein Familienleben führen können? Wozu? Was hat das mit unseren E-Mails zu tun? Hindert es den Nordwind, bei Ihrem Fenster hineinzublasen, so- dass Sie nicht einschlafen können?

Und Mia: Sie kennt sich bei Ihnen überhaupt nicht mehr aus. Sie hat nur eines gespürt, von Anfang an: Ich war tabu für sie. Ich trug eine Tafel um den Hals mit der Aufschrift: »Gehört Emmi! Berühren verboten!« Mia fühlte sich darauf reduziert, mich auszuhorchen. Sie sollte Ihnen detailreich von mir erzählen, sie sollte Ihnen die andere Ebene von mir servieren, die, die Sie nicht kennen, die physische, damit Sie ein rundes Bild von mir haben.

Nun gut, Emmi, Mia und ich waren nicht bereit, unseren uns zugedachten Rollen gerecht zu werden. Wir waren entschlossen, Ihnen Ihr seltsames Spiel zu vermasseln. Ja, wir waren trotzig, wir haben uns zwar nicht ineinander verliebt, aber wir haben miteinander geschlafen. Es hat uns gut getan, es hat Spaß gemacht, wir sind uns nichts schuldig geblieben. Es ging ganz ohne Herzklopfen, ohne große Begierde, ohne tiefe Leidenschaft. Uns beiden reichte, es Ihnen zu Fleiß zu machen. Es war die einfachste und ehrlichste Sache der Welt. Wir waren ehrlich sauer auf Sie! So machten wir uns unser eigenes Spiel im Spiel. Ja, eine Nacht funktionierte das, eine zweite nicht mehr. Man kann auf Dauer nur »miteinander« schlafen, nicht gegen einen gemeinsamen Dritten. Und es war klar, dass sich zwischen Mia und mir nichts aufbauen würde. Aber wir trafen uns weiter gern, es war nett miteinander zu plaudern, ja, wir mochten uns (und mögen uns) und es gefiel uns, Sie dabei auf Distanz zu halten, Emmi. Als kleine Strafe für Ihre Überheblichkeit. Das war die Geschichte. Ich bin gespannt, ob Sie sie verstehen - und wie Sie sie verdauen, meine liebe E-Mail-Partnerin. Es ist unterdessen Nacht geworden. Vollmond, wie ich sehe. Und der Nordwind ist abgeflaut. Sie können den Kopf beim Fester lassen. Gute Nacht!


Zwei Tage später

Kein Betreff

Liebe Emmi, man kommt sich ziemlich jämmerlich vor, wenn man zwei Tage so in der Luft hängt, wie ich in der Luft hänge, weil Sie mich in der Luft hängen lassen. Ich lade Sie deshalb höflich ein, mir zu antworten. Holen Sie mich ruhig unsanft auf den Boden, aber lassen Sie mich nicht in der Luft. Hochachtungsvoll, Ihr Leo.


Am nächsten Tag

Betreff: Verdauung

Hallo Leo, Jonas hat sich beim Volleyball den Arm ausgekegelt. Wir waren zwei Nächte im Spital. Das nur als kleiner Vorgeschmack zur Familienidylle. Jetzt zur Verdauung. Ich habe Ihre E-Mail mehrmals zu verdauen versucht, aber sie ist mir leider immer wieder hochgekommen. Jetzt ist es nur noch ein geschmacksneutraler Brei. Sie fragen, ob Sie von Mia erfahren sollten, wie perfekt und idyllisch ich ein Familienleben fuhren kann? Lieber Leo, da unterliegen Sie und Mia einem großen Irrtum. Mein Familienleben ist gut, aber keineswegs perfekt. »Familienleben« als solches hat mit Perfektion nichts zu tun, sondern mit Ausdauer, Geduld, Nachsicht und ausgekegelten Armen von Kindern. Darf ich hier ausnahmsweise auf meine langjährige Erfahrung verweisen, die ich - tut mir Leid - sowohl Mia als auch Ihnen abspreche? »Familienidylle« ist ein Oxymoron, ein Begriffspaar, das einander ausschließt: entweder Familie oder Idylle. So, und jetzt noch ein paar Worte zu Ihrem »Spiel im Spiel«. Sie sind also mit Mia ins Bett gegangen, weil Sie beide sauer auf mich waren? - So etwas Kindisches habe ich schon lange nicht gehört. Leo, Leo! Das gibt Punkteabzüge.

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