KAPITEL DREI

Am nächsten Tag

Betreff: Albtraum

Leo Leike, ich weiß es!! Ich bin gerade schweißgebadet aufgewacht. Ich bin dahinter gekommen! Das war ja wirklich perfekt eingefädelt. Sie waren von Anfang an todsicher, dass ich Sie nicht erkennen würde. Kein Wunder: SIE WAREN EIN KELLNER! Sie sind mit dem Chef befreundet, und der hat Ihnen erlaubt, für zwei Stunden Kellner zu spielen, stimmt's? Ich weiß auch, welcher Kellner Sie waren. Es kommt eigentlich nur einer in Frage, die anderen sind zu alt: Sie sind der dünne Kleine mit den schwarzen runden Hornbrillen!


15 Minuten später

AW:

Und? Enttäuscht? (Guten Tag übrigens.)


Acht Minuten später

RE:

Enttäuscht? Ernüchtert! Gekränkt! Verärgert! Verarscht! Sie haben mich hineingelegt. Ich fühle mich betrogen. Sie hatten dieses üble Spiel von Anfang an geplant. Von Ihnen kam ja der Vorschlag, das Messecafé Huber fürs Treffen zu wählen. Vermutlich hat sich die gesamte Belegschaft wochenlang auf meine Kosten amüsiert. Ich finde das schäbig, grauenhaft. Das ist nicht der Leo Leike, den ich kenne. Das ist nicht der Leo Leike, den ich kennen gelernt habe. Das ist nicht der Leo Leike, den ich kennen gelernt hätte! Das ist nicht der Leo, den ich auch nur einen Millimeter näher kennen lernen will. Mit dieser Aktion haben Sie alles, was wir über Monate aufgebaut haben, zunichte gemacht. Leben Sie wohl!


Neun Minuten später

AW:

Und gefalle ich Ihnen wenigstens, ich meine - optisch?


Zwei Minuten später

RE:

Wollen Sie eine ehrliche Antwort? Die gebe ich Ihnen gerne zum Abschluss.


45 Sekunden später

AW:

Wenn es Ihnen keine Umstände macht - das wäre schon nett.


30 Sekunden später

RE:

Ich finde Sie nicht schön. Ich finde Sie nicht einmal hässlich. Ich finde Sie absolut nichts sagend. Absolut langweilig. Völlig uninteressant. Einfach nur: Wääää- äääääääää!


Drei Minuten später

AW:

Wirklich? Das klingt ja echt brutal. Da kann ich nur froh sein, dass ich nicht in der Haut dieses Mannes stecke. Und dass ich auch nicht in seinem Kellnergewand gesteckt habe. Kurzum: Ich war nicht er, ich bin nicht er, und ich werde wohl auch niemals er sein. Ich war übrigens auch sonst kein Kellner. Ich war auch kein Zustelldienst oder Küchengehilfe. Ich war kein Polizist in Uniform. Ich war auch nicht die Klofrau. Ich war der ganz normale Leo Leike, Gast im Kaffeehaus Huber am Sonntag zwischen drei und fünf. Schade um Ihren Schlaf, liebe Emmi »Aussehen über alles« Rothner. Schade um Ihren verschwendeten Albtraum!


Zwei Minuten später

RE:

Leo, danke!!!!!! Jetzt brauche ich einen Whiskey.


15 Minuten später

AW:

Ich schlage vor: Reden wir besser von Ihnen, damit sich Ihre Nerven beruhigen. Ich schicke vorweg, dass mir das Äußere einer Frau, selbst wenn es mir noch so wichtig ist, offenbar nicht annähernd so wichtig sein kann wie Ihnen das Äußere eines Mannes. Dementsprechend entspannt durfte ich feststellen, dass sich zum gegebenen Zeitpunkt im Lokal auffallend viele interessante Frauen befanden, die es Wert gewesen wären, Emmi Rothner zu sein.

(Ich muss kurz unterbrechen, wir haben eine Konferenz, nebenberuflich arbeite ich nämlich. Das werde ich mir aber bald nicht mehr leisten können.) Ich melde mich in etwa zwei Stunden und setze dann fort, wenn es recht ist. Sie sollten übrigens langsam die Whiskeyflasche zur Seite stellen ...


Zehn Minuten später

RE:

1.) Ich fasse es noch immer nicht, dass einer, der beim Schreiben so eine Nähe aufbauen kann, dass er sogar fähig ist, Emmi in ihren intimsten Haltungen (beim Whiskeytrinken) aufzuspüren, ich fasse es nicht, dass einer, der so schreibt, gleichzeitig so aussieht wie einer von denen, die ich mit eigenen Augen im Café Huber gesehen habe! Deshalb frage ich Sie noch einmal, lieber Leo: Kann es nicht sein, dass ich Sie einfach übersehen habe? Bitte sagen Sie ja! Ich will nicht, dass Sie ein Mann aus einer der von mir gestern erwähnten Männerkategorien sind. Es wäre so schade um Sie!

2.) Vielleicht waren gar nicht so viele »auffallend interessante Frauen« im Lokal. Vielleicht interessiert sich nur Mister Leike auffallend für (auffallend viele) Frauen.

3.) Trotzdem würde ich gerne mit Ihnen tauschen. Sie können sich aus einem »auffallend interessanten« Angebot die Emmi Rothner Ihrer Lust, Laune und Fantasiekraft wählen. Während ich mich mit einem Leo Leike abfinden muss, den ich im absolut besten Falle übersehen habe, was ja auch nicht gerade ein Qualitätsmerkmal darstellt.

4.) Offensichtlich haben Sie keine Ahnung, wer ich bin.

So, jetzt dürfen Sie wieder, Leo!


Zwei Stunden später

AW:

Danke Emmi, endlich wieder ein Rothner'sches Punkteprogramm. Darf ich gleich zu Punkt 4.) schreiten? - Sie irren, wenn Sie meinen, dass ich keine Ahnung habe, wer Sie sind. Allerdings muss ich zugeben, dass ich nicht genau weiß, wer Sie sind. Es gibt exakt drei Möglichkeiten. Ich bin überzeugt davon, dass Sie eine der drei Frauen sind. Ist es Ihnen recht, wenn ich bei der Nummerierung der Typologie Buchstaben statt Zahlen verwende, damit das Ganze nicht nach einer Siegerehrung mit Podestplätzen aussieht? - Das sind also meine Rothner-Kandidatinnen:

A.) Der Prototyp, Ur-Emmi. Stand an der Bar, vierte von links. Etwa 1,65 groß, zierlich, kurze dunkle Haare. Knapp unter 40. Hektisch, nervös, schnelle Motorik, drehte ständig an ihrem Whiskeyglas(!!), Kopf erhaben, Blick von oben herab nach unten gerichtet. (Mit würdevoller Arroganz überspielte leichte Unsicherheit.) Hose, Jacke: modisch flippig. Witzige Filzhandtasche. Grüne Schuhe, die so aussahen, als wären sie aus einer persönlichen Auswahl von 100 Paaren als Sieger des Sonntagnachmittags hervorgegangen. (Schuhgröße etwa 37!!!) Beobachtete Männer so, wie man Männer beobachtet, die das nicht merken dürfen. Gesichtszüge: fein, ein bisschen unlocker. Gesicht: schön. Typ: burschikos, speedig, temperamentvoll. Also eine echte Emmi Rothner.

B.) Die Gegenprobe, Blond-Emmi. Wechselte dreimal den Platz, saß zuerst vorne rechts, dann ganz hinten, dann in der Mitte, zuletzt noch kurz an der Bar. Sehr souverän, etwas langsamer in den Bewegungen (als die Ur-Emmi). Blonde, strähnige Haare, gestylt auf 80er Jahre. Alter um die 35. Getränk: zunächst Kaffee, dann Rotwein. Rauchte eine Zigarette. (Sah dabei sehr genießerisch und gar nicht süchtig aus.) Körpergröße: gut 1,75. Schlank, lange Beine. Rote Markenturnschuhe. (Schuhgröße etwa 37!!!) Verwaschene Jeans, enges schwarzes T-Shirt (großer Busen, wenn ich mir diese Anmerkung erlauben darf). Beobachtete Männer perfekt beiläufig. Gesichtszüge: locker. Gesicht: schön. Typ: weiblich, selbstsicher, cool.

C.) Der Antityp, Überraschungs-Emmi. Machte immer wieder Streifzüge durch den Salon, stand mehrmals kurz an der Bar. Sehr schüchtern. Exotischer Teint, große, mandelförmige Augen, verschleierter Blick, scheinbar menschenscheu. Schulterlange, vorne stufige, brünette Haare. Alter um die 35. Getränke: Kaffee, Mineralwasser. Größe: etwa 1,70. Schlank, tolle schwarz-gelbe Hose (war sicher nicht billig), lässige, dunkle Stiefeletten. Markanter, eckiger Ehering! (Schuhgröße etwa 37!!!) Schaute suchend um sich, wirkte dabei verträumt, verklärt, melancholisch, traurig. Gesichtszüge: weich. Gesicht: schön. Typ: feminin, sinnlich, schüchtern, scheu. Und vielleicht gerade deshalb: Emmi Rothner.

So, liebe Emmi, die drei kann ich Ihnen anbieten. Vielleicht zum Abschluss noch eine Antwort auf Ihre drängende Frage 1.), ob Sie mich nicht übersehen haben konnten: Ja, selbstverständlich, Sie hätten mich übersehen können. Aber Sie haben mich nicht übersehen, tut mir Leid! Ihr Leo.


Fünf Stunden später

AW:

Liebe Emmi, krieg ich heute keine Mail mehr von Ihnen? Leiden Sie so sehr unter den Grenzen Ihrer optischen Vorstellungskraft? Ist es Ihnen nunmehr egal, ob ich mich nächtelang in den Plüschbars herumtreibe? (Und mit wem?) Gute Nacht, Leo.


Am nächsten Tag

Betreff: Rätselhaft

Mahlzeit, Leo. Sie reiben mich auf, ich kann an nichts anderes mehr denken! Die haben Sie ja ganz nett beschrieben, die drei! Ich bin verblüfft, Sie überraschen mich andauernd. Ach, hätte ich Sie nur nie gesehen!!! Leo, angenommen, ich bin tatsächlich eine der drei Frauen: Wie war es Ihnen möglich, die so genau zu beobachten, ohne als Beobachter sofort erkannt zu werden? Waren Sie mit einer Videokamera unterwegs? Oder andersrum: Sollte ich tatsächlich eine der drei gewesen sein, muss ich Sie ebenfalls sehr genau wahrgenommen haben. Habe ich Sie sehr genau wahrgenommen, bestätigt sich mein Verdacht, dass Sie einer von denen waren, die nicht Leo Leike sein dürfen, weil sie - Verzeihung - einfach stinklangweilig aussahen. Zweitens (heute keine Zahl, nur Worte. Sie haben ja mit Zahlen nur so herumgeworfen, da haben eigentlich nur noch die genauen Körpermaße gefehlt): Also warum gerade die drei?

Drittens: Welche der drei wäre Ihnen am liebsten?

Viertens: Sagen Sie, wer Sie waren. Bitte! Geben Sie mir wenigstens einen kleinen Hinweis.

In freundlicher, wenn auch wachsender Ungeduld, Ihre Emmi.


Eineinhalb Stunden später

AW:

Warum gerade die drei? - Emmi, für mich ist einfach schon seit längerem klar: Sie sind eine so genannte »verdammt gut aussehende Frau«. Denn, verdammt: Sie wissen, dass Sie gut aussehen. Sie lassen es sich nämlich anmerken, dass Sie wissen, dass Sie gut aussehen. Sie schreiben es immer wieder zwischen und manchmal sogar in den Zeilen selbst. Damit blufft keine Frau, die nicht hundertprozentig sicher ist, dass sie auf Männer gut wirkt. Sie sind sogar beleidigt, wenn Sie als »interessante Frau« nicht sofort alle anderen anwesenden Frauen hinter sich lassen und vergessen machen. Ich erinnere Sie an Ihren Punkt 2.) von gestern. Da schrieben Sie: »Vielleicht waren gar nicht so viele >auffallend interessante Frauen< im Lokal. Vielleicht interessiert sich nur Mister Leike auffallend für (auffallend viele) Frauen.« Sie halten sich also für die Interessanteste von allen und empfinden es beinahe als Frechheit, nicht sofort als diese erkannt zu werden. So hatte ich es leicht: Ich musste nur nach attraktiven Frauen Ausschau halten, die erstens suchend wirkten (wie gut oder schlecht auch immer getarnt) und die zweitens Schuhgröße 37 haben konnten. Und das waren exakt diese drei.

Zu Ihrem »Drittens«: Die Frage, welche der drei mir am liebsten wäre, stellt sich nicht. Alle drei sind auf ihre Art anziehend, aber alle drei sind für mich glücklich verheiratet, haben zwei Kinder und wenn schon nicht sechs Streifenhörnchen, so doch einen Kater namens Wurlitzer. Alle drei leben für mich in einer anderen Welt, in die ich nur virtuell hineinblicken darf, in die real zu treten ich aber unbefugt bin und bleibe. Ich habe schon mehrmals gesagt, dass ich mir meine Emmi Rothner lieber im Kopf (beziehungsweise auf dem Bildschirm) ausmale, statt ihr in der Wirklichkeit nachzujagen oder nachzutrauern. Ich will Ihnen aber verraten, dass mir Emmi Rothner, Nummer 1.), die UrEmmi, am authentischsten erscheint, dass diese der schreibenden Rothner, wie sie sich mir präsentiert, am nächsten kommt.

Zu Ihrem »Viertens«: Wenn Sie eingestehen, dass Sie identisch mit einer meiner drei Emmi-Kandidatinnen sind, dann gebe ich Ihnen einen Hinweis, wer ich gewesen sein könnte. Alles Liebe, Ihr Leo.


20 Minuten später

RE:

Also gut, Leo. Aber zuerst Ihr Hinweis, dann meine Bestätigung oder Fehlermeldung!


Drei Minuten später

AW:

Haben Sie Geschwister?


Eine Minute später

RE:

Ja, eine ältere Schwester, die lebt in der Schweiz. Wieso? War das der Hinweis?


40 Sekunden später

AW:

Ja, das war der Hinweis, Emmi.


20 Sekunden später

RE:

Der weist aber auf nichts hin!


Eine Minute später

AW:

Ich hab einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester.


30 Sekunden später

RE:

Spannend, Leo. Davon reden wir bitte ein andermal. Momentan bin ich nämlich mit meinem Kopf ganz beim möglichen Bruder des älteren Bruders und der jüngeren Schwester.


50 Minuten später

RE:

Hallo Leo, wo sind Sie? Ist das eine Folterspannpause?


Acht Minuten später

AW:

Meine Schwester Adrienne sehe ich sehr oft. Wir haben ein inniges Verhältnis. Wir erzählen uns alles. So, liebe Emmi, das war jetzt mehr als ein Hinweis. Den Rest müssen Sie sich selber zusammenreimen. Und jetzt verraten Sie mir: Waren Sie eine meiner drei »Emmis«?


40 Sekunden später

RE:

Leo, das ist kryptisch! EINE klare Andeutung, bitte! Dann sage ich es Ihnen.


30 Sekunden später

AW:

Fragen Sie mich, wie meine Schwester aussieht.

35 Sekunden später

RE:

Wie sieht Ihre Schwester aus?


25 Sekunden später

AW:

Sie ist groß und blond.


30 Sekunden später

RE:

Aha, schön, okay, ich gebe auf!

Lieber Leo, Sprachpsychologe, Menschenbeobachter: ICH BIN TATSÄCHLICH EINE VON DEN DREIEN. Aber unterschiedlicher können drei Frauen mit ein und derselben Schuhgröße ohnehin nicht sein, so, wie Sie sie beschreiben. Mich wundert, dass Sie alle drei gleichzeitig interessant und anziehend finden können. Aber so sind Männer eben.

Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend. Ich mache Leo-Pause. Ich muss mich einmal wieder mit anderen, essentielleren Dingen beschäftigen. Tschüss, Emmi.


Eine Stunde später

AW:

Jetzt waren Sie ganz Ur-Emmi, Nummer eins.


Fünf Stunden später

AW:

Meine Schwester ist Model. Gute Nacht!


Am nächsten

Tag Betreff: !!!!!!!!

NEIN!


45 Minuten später

AW:

Doch.


40 Sekunden später

RE:

Das langbeinige, blonde Vamp-Engel-Model?


25 Sekunden später

AW:

Ist meine Schwester!


Drei Minuten später

RE:

Und Sie waren der Typ, der mit ihr Händchen gehalten und sie so verliebt angesehen hat.


Eine Minute später

AW:

Das war nur Tarnung. Sie hat inzwischen die Frauen beobachtet und mir alle in Frage kommenden Emmis bis ins Detail beschrieben.


40 Sekunden später

RE:

Scheiße, ich weiß nicht mehr, wie Sie ausgesehen haben! Ich habe Sie nur ganz, ganz flüchtig gesehen.


15 Minuten später

AW:

Immerhin habe ich für Sie die Ehre der Männer dieses Nachmittags im Kaffeehaus gerettet. Wie sagten Sie doch gleich: »Ein sehr interessanter Typ, vielleicht der einzige überhaupt, stand mit so einem langbeinigen blonden Vamp-Engel-Model rechts hinten an der Theke«. Das drucke ich aus und rahme mir ein!


Zehn Minuten später

RE:

Darauf dürfen Sie sich nicht zu viel einbilden, mein Lieber. Ich habe im Grunde nur diese wirklich schöne kühle Blonde gesehen. Und ich dachte: Wer mit so einer Frau zusammen ist, muss wohl ein interessanter Typ sein. Von Ihnen weiß ich nur: Sie sind relativ groß, relativ schlank, relativ jung, relativ gut angezogen. Sie haben auch noch relativ Haare und relativ Zähne, soweit ich mich erinnern kann. Das wirklich Beeindruckende an Ihnen habe ich vom Gesicht Ihrer vermeintlichen Geliebten, Ihrer Schwester, abgelesen. Sie hat Sie so angesehen, wie man wen ansieht, den man wirklich innig mag und schätzt. Aber vielleicht war das ja auch nur gespielt, um Emmi Rothner abzuschütteln. Übrigens war das wirklich eine intelligente Aktion von Ihnen, dort mit Ihrer Schwester aufzukreuzen. Ich finde es auch nett, dass Sie mit ihr über mich reden. Da habe ich ein gutes Gefühl dabei. Ich glaube, Sie sind echt okay, Leo! (Und ich bin überglücklich, dass Sie weder der Zottelbär noch sonst wer aus Café Hubers Gruselkabinett sind.)


30 Minuten später

AW:

Und ich habe erst recht keine Ahnung, wie Sie aussehen, meine Liebe. Ich bin immer mit dem Rücken zu den von Adrienne aufgespürten EmmiKandidatinnen gestanden. Sie hat mir die Frauen aus »Frauensicht« beschrieben, deshalb auch die modischen Details. Persönliche Wahrnehmungen hatte ich gar keine.


Eine Stunde später

RE:

Eine Frage noch, Leo, bevor wir unser Partnerspiel so klug beenden, wie wir es begonnen haben: Welche »Emmi« würde Ihrer Schwester am besten gefallen, beziehungsweise welche glaubt sie, dass ich bin?


Zehn Minuten später

AW:

Bei einer hat sie gemeint: »Das könnte sie sein!« Bei einer hat sie gesagt: »Das ist sie wahrscheinlich!« Und von einer dritten hat sie behauptet: »In die würdest du dich verlieben!«


30 Sekunden später

RE:

IN WELCHE WÜRDEN SIE SICH VERLIEBEN????


40 Sekunden später

AW:

Liebe Emmi, das werde ich Ihnen mit hundertprozentiger Sicherheit NIEMALS verraten. Sparen Sie sich bitte jede Mühe, es aus mir herauspressen zu wollen. Schönen Abend noch. Danke für das aufregende »Spiel«. Ich mag Sie sehr gerne, Emmi! Ihr Leo.


25 Sekunden später

R.E:

In die Blonde mit dem großen Busen, stimmt's?


50 Sekunden später

AW:

Keine Chance, liebe Emmi!


Eine Minute später

RE:

Eine ausweichende Antwort ist auch eine Antwort. Also die Blonde mit dem großen Busen!


Am nächsten Abend

Betreff: Kein guter Tag

Lieber Leo, hatten Sie heute einen guten Tag? Ich hatte keinen guten Tag. Guten Abend, gute Nacht. Emmi.

(Übrigens: An welche Emmi denken Sie jetzt, wenn Sie an Emmi denken? Ich hoffe, dass Sie überhaupt noch an Emmi denken!)


Dreieinhalb Stunden später

AW:

Wenn ich an Emmi denke, dann denke ich an keine der drei von meiner Schwester beschriebenen Emmis, sondern an die vierte, an meine. Und: Ja, klar denke ich noch immer an Emmi. Warum hatten Sie keinen guten Tag? Was war das Schlechte daran? Gute Nacht, guten Morgen, Ihr Leo.


Am nächsten Tag

Betreff: Ein guter Tag!

Guten Morgen. Sehen Sie, lieber Leo, so beginnt ein guter Tag! Ich mache die Mailbox auf und es leuchtet mir eine Nachricht von Leo Leike entgegen. Gestern: schlechter Tag. Keine Mail von Leo. Kein gar nichts. Kein überhaupt nichts. Kein bisschen etwas von Leo. Was soll aus so einem Tag werden? Leo, ich sage Ihnen etwas: Ich glaube, wir sollten aufhören. Ich mache mich abhängig von Ihnen. Ich kann nicht den ganzen Tag darauf warten, eine E-Mail von einem Mann zu bekommen, der mir den Rücken zuwendet, wenn er mich trifft, der mich nicht kennen lernen will, der nur Mails von mir will, der meine Worte dazu benutzt, sich die Frau seiner Schöpfung zu basteln, weil er sich mit Frauen, die ihm wirklich begegnen, vermutlich bis über die Schmerzgrenze plagt. Ich kann so nicht weiter. Es ist unbefriedigend. Verstehen Sie das, Leo?


Zwei Stunden später

AW:

Okay, ich verstehe Sie. Dazu vier Fragen, ganz dem Rothner'schen Frageschema verpflichtet.

1.) Wollen Sie mich persönlich kennen lernen?

2.) Wozu?

3.) Wo soll das hinführen?

4.) Soll Ihr Mann davon wissen?


30 Minuten später

RE:

Zu 1.) Ob ich Sie persönlich kennen lernen will? Natürlich will ich Sie persönlich kennen lernen. Besser persönlich als unpersönlich, oder? Zu 2.) Wozu? Das weiß ich erst, wenn wir uns kennen gelernt haben.

Zu 3.) Wo es hinführen soll? Dort, wo es hinführt. Würde es nicht dort hinführen, dann soll es auch nicht dort hinführen. Also führt es ohnehin dort hin, wo es hinführen soll.

Zu 4.) Ob mein Mann davon wissen soll? Das weiß ich erst, wenn ich weiß, wo es hingeführt hat.


Fünf Minuten später

AW:

Sie würden also Ihren Mann betrügen?


Eine Minute später

RE:

Wer hat das gesagt?


40 Sekunden später

AW:

Das lese ich heraus.


35 Sekunden später

RE:

Passen Sie auf, dass Sie nicht zu viel herauslesen.


Zwei Minuten später

AW:

Was fehlt Ihnen an Ihrem Mann?


15 Sekunden später

RE:

Gar nichts. Überhaupt nichts. Wie kommen Sie auf die Idee, dass mir etwas an ihm fehlt?


50 Sekunden später

AW:

Das lese ich heraus.


30 Sekunden später

RE:

Woraus lesen Sie das? (Langsam nerven Sie ein bisschen mit Ihrer Herauslese-Sprachpsychologie.)


Zehn Minuten später

AW:

Ich lese es aus der Art, wie Sie mir zu verstehen geben, dass Sie irgendwas von mir wollen. Was es ist, können Sie zwar erst sagen, wenn Sie mich kennen gelernt haben. Aber DASS Sie etwas wollen, ist unumstritten. Oder anders: Sie suchen etwas. Nennen wir es Abenteuer. Wer ein Abenteuer sucht, erlebt gerade keines. Stimmt's?


Eineinhalb Stunden später

RE:

Ja, ich suche etwas. Ich suche dringend einen Geistlichen, der mir erklärt, was es heißt, seinen Mann zu betrügen. Oder zumindest, wie sich das ein Geistlicher so vorstellt, ein Geistlicher, der selbst noch nie betrogen hat, weil ihm nicht nur diejenige Frau fehlt, mit der er seine Frau betrügen könnte, sondern auch diejenige Frau, die er betrügen könnte, sieht man von der Muttergottes ab. Leo, bitte machen Sie nicht auf »Dornenvögel«! Ich suche kein »Abenteuer« mit Ihnen. Ich will einfach nur sehen, wer Sie sind. Ich will meinem Mail-Vertrauten einmal in die Augen schauen. Wenn das für Sie »betrügen« heißt, dann bekenne ich mich dazu, eine potenzielle Betrügerin zu sein.


20 Minuten später

AW:

Aber Ihrem Mann würden Sie sicherheitshalber trotzdem nichts davon erzählen.


15 Minuten später

RE:

Leo, ich mag es nicht, wenn Sie so moralinsauer unterwegs sind! Seien Sie es von mir aus in eigener Angelegenheit, aber nicht in meiner. Glücklich verheiratet zu sein bedeutet nicht, dass man dem Partner einen täglichen Rechenschaftsbericht über jedes seiner Treffen abzuliefern hat. Damit würde ich Bernhard auch zu Tode langweilen.


Zwei Minuten später

AW:

Also würden Sie Ihrem Bernhard nichts von unserem Treffen erzählen, weil Sie befürchteten, es würde ihn zu Tode langweilen?


Drei Minuten später

RE:

Schon wie Sie »Ihrem Bernhard« schreiben, Leo! Ich kann nichts dafür, dass mein Mann auch einen Namen hat. Das heißt noch lange nicht, dass er mir gehört, dass er täglich 24 Stunden angekettet an meiner Seite verbringt, wo ich ihn ununterbrochen streichle und dazu regelmäßig »Mein Bernhard!« gluckse. Leo, ich glaube, Sie haben wirklich keine Ahnung von einer Ehe.


Fünf Minuten später

AW:

Emmi, ich habe noch mit keinem einzigen Wort über Ehe gesprochen. Übrigens haben Sie meine letzte Frage nicht beantwortet. Aber wie sagten Sie kürzlich? - Eine ausweichende Antwort ist auch eine Antwort.


Zehn Minuten später

RE:

Lieber Leo, schließen wir das ab. Auf die entscheidende Frage bleiben nämlich SIE mir die Antwort schuldig. Ich spreche sie aber gerne noch einmal aus: Leo, wollen Sie mich treffen? Wenn ja, dann tun Sie es! Wenn nein, dann verraten Sie mir, was das Ganze soll, wie es weitergehen soll beziehungsweise ob es überhaupt weitergehen soll.


20 Minuten später

AW:

Warum können wir uns nicht schriftlich unterhalten, wie bisher?


Zwei Minuten später

RE:

Ich fasse es nicht: Er will mich einfach nicht kennen lernen! LEO, Sie Unverbesserlicher, vielleicht bin ich die Blonde mit dem großen Busen!!!


30 Sekunden später

AW:

Was hätte ich davon?


20 Sekunden später

RE:

Sie könnten hinstarren.


35 Sekunden später

AW:

Und das würde Ihnen gefallen?


25 Sekunden später

RE:

Mir nicht, aber Ihnen! Das gefällt jedem Mann, vor allem denen, die es nicht zugeben.


50 Sekunden später

AW:

Solche Dialoge gefallen mir viel besser.


30 Sekunden später

RE:

Aha, also doch ein verklemmter Verbalerotiker.


Drei Minuten später

AW:

Das war ein gutes Schlusswort, Emmi. Ich muss dann leider außer Haus. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend.


Vier Minuten später

RE:

Das waren heute 28 E-Mails zwischen uns beiden, Leo. Was ist dabei herausgekommen? Nichts. Was ist Ihr Motto? - Die Unverbindlichkeit. Was ist Ihr Schlusswort? - Sie wünschen mir einen »angenehmen Abend«. Da sind wir etwa auf der Stufe von »Frohe Weihnachten und ein gutes neue Jahr wünscht Emmi Rothner«. Kurzum: Wir sind uns in hundert E-Mails und einem professionell durchgezogenen Nur-ja-nicht-Kennenlern-Treffen keinen Millimeter näher gekommen. Was unsere »innige Unbekanntschaft« aufrecht hält, ist einzig der horrende Aufwand, den wir dafür betrieben haben und betreiben. Leo. Leo. Leo. Schade. Schade. Schade.


Eine Minute später

AW:

Wenn ich Ihnen einen Tag keine einzige E-Mail schicke, beschweren Sie sich. Und wenn ich Ihnen innerhalb von fünf Stunden 14 E-Mails schicke, beschweren Sie sich ebenfalls. Ich glaube, ich kann es Ihnen derzeit nicht recht machen, liebe Emmi.


20 Sekunden später

RE:

Nicht per E-Mail!!! Angenehmen Abend, Herr Leike.


Nach vier Tagen

Kein Betreff

Kuckuck! Lg, Emmi.


Am nächsten Tag

Kein Betreff

Leo, wenn das Taktik sein soll, ist es eine miese Taktik! Sie können mich gern haben. Ich schreibe Ihnen nicht mehr. Tschüss.


Fünf Tage später

Kein Betreff

Aber Strom haben Sie schon noch, Leo, oder?

Ich mache mir langsam Sorgen um Sie. Schreiben Sie wenigstens »Määäh!«


Drei Minuten später

AW:

Okay, Emmi, von mir aus treffen wir uns. Wollen Sie noch? Wann? Heute? Morgen? Übermorgen?


15 Minuten später

RE:

Sieh an, der Verschollene! - Und jetzt hat er es auf einmal ziemlich eilig, mich zu treffen. Ja, möglicherweise will ich noch. Aber zuerst erklären Sie mir, warum Sie sich eineinhalb Wochen nicht gemeldet haben. Und bitte erklären Sie es gut!!


Zehn Minuten später

AW:

Meine Mutter ist gestorben. Gut erklärt?


20 Sekunden später

RE:

Scheiße. Ehrlich? Woran?


Drei Minuten später

AW:

Alles in allem an ihrem Unglück. Im Spital sagen sie »bösartiger Tumor« dazu. Es ist zum Glück ziemlich schnell gegangen. Körperlich hat sie nur noch kurz gelitten.


Eine Minute später

RE:

Waren Sie bei ihr, als sie starb?


Drei Minuten später

AW:

Beinahe. Ich war mit meiner Schwester im Warteraum. Die Ärzte hatten gemeint, es sei jetzt nicht so günstig, sie zu sehen. Ich frage mich, wann es jemals »günstiger« gewesen wäre.


Fünf Minuten später

RE:

Hatten Sie eine starke Bindung zu ihr? (Verzeihen Sie, Leo, es sind immer die gleichen Fragen, die man da stellt.)


Vier Minuten später

AW:

Noch vor einer Woche hätte ich gesagt: Nein, ich hatte überhaupt keine Bindung zu ihr. Heute frage ich mich, was, wenn nicht »Bindung«, zerfrisst mir da den Magen. Ich will Sie aber nicht mit meiner Familiengeschichte langweilen, Emmi.


Sechs Minuten später

RE:

Das tun Sie überhaupt nicht, Leo. Wollen Sie mich treffen und darüber sprechen? Vielleicht bin ich genau die Richtige in dieser Situation. Ganz weit draußen aus Ihrem Leben - und doch irgendwie nah an Ihnen dran. Vergessen wir einmal alle Äußerlichkeiten - und treffen wir uns wie gute, alte, enge Freunde.


Zehn Minuten später

AW:

Ja gut, ich danke Ihnen Emmi! Treffen wir uns heute Abend? Ich warne Sie aber. Ich habe soeben einen neuen Höhepunkt meiner »Humorlosigkeit« erreicht.


Drei Minuten später

RE:

Lieber, lieber Leo, heute Abend geht es leider nicht. Aber morgen Abend! So gegen 19 Uhr? In einem Innenstadt-Café?


Acht Minuten später

AW:

Morgen ist das Begräbnis. Aber 19 Uhr müsste sich ausgehen. Ich schreibe Ihnen bis 17 Uhr eine E-Mail. Dann machen wir uns aus, wo genau wir uns treffen. Einverstanden?


Zehn Minuten später

RE:

Ja, Leo, machen wir es so. Ich würde Ihnen noch gerne etwas Tröstendes sagen. Aber das klingt dann vielleicht wie »Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr«. Also lasse ich es lieber. Ich bin ganz bei Ihnen. Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist. Ich wage jetzt nicht einmal, Ihnen »Gute Nacht« zu wünschen. Denn diese Nacht, die wird sicher nicht gut werden. Aber morgen Abend will ich Ihnen eine Stütze sein. Bis bald, Emmi! (Trotz der beklemmenden Umstände: Ich freue mich auf Sie!)


Fünf Minuten später

AW:

Ich freu mich auch! Leo.


Am nächsten Tag

Betreff: Absage

Liebe Emmi, ich muss für heute leider absagen. Ich erkläre Ihnen morgen, warum. Bitte nicht böse sein. Und danke, dass Sie für mich da gewesen wären. Das rechne ich Ihnen ganz hoch an! Liebe Grüße, Leo.


Zwei Stunden später

RE:

Ist gut. Emmi.


Am nächsten Tag

Betreff: Marlene

Liebe Emmi, ich habe den Abend gestern mit Marlene, meiner früheren Lebensgefährtin, verbracht. Sie war auch beim Begräbnis. Sie hatte meine Mutter sehr gemocht und umgekehrt. Es war mir wichtig, mit ihr über alles zu reden. Sie ist ein Schlüssel, sie kann Tore meiner sperrigen Familiengeschichte öffnen. Sie hatte auch den Zugang zu meiner Mutter, der mir immer fehlte. Marlene war gestern in schlechter Verfassung. Ich war derjenige, der sie trösten musste. Ich war glücklich über diese Rolle. Ich halte es nicht aus, bemitleidet zu werden. Lieber bemitleide ich jemanden. (Manchmal auch mich selbst, aber das behalte ich gern für mich.) Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, dass ich Sie »versetzt« habe. Ich dachte mir auch: Leo, warum musst du da eine Frau mit hineinziehen, die überhaupt nichts mit deiner vergangenen Geschichte zu tun hat? Und dann wollte ich auch nicht, dass Sie mich so sehen, wie ich derzeit anzusehen bin. Ich will, dass Sie mich in einer besseren Verfassung zu Gesicht bekommen. Ich hoffe, Sie verstehen mich, Emmi. Ich danke Ihnen noch einmal, dass Sie für mich da gewesen wären. Das war ein ganz großer Vertrauensbeweis. Alles Liebe, Leo.

Drei Stunden später

RE:

Ist schon okay. Lg, Emmi.


Fünf Minuten später

AW:

Nein, gar nichts ist schon okay, so wie Sie »Ist schon okay« schreiben! Also was ist es, Emmi? Fühlen Sie sich durch meine Absage in der Ehre gekränkt? Kommen Sie sich von mir benutzt (und dann eben doch nicht gebraucht) vor?


Zweieinhalb Stunden später

RE:

Nein, nein, Leo. Ich bin nur sehr beschäftigt und deshalb so kurz angebunden.


Acht Minuten später

AW:

Das glaube ich Ihnen nicht. Ich kenne Sie, Emmi. In gewisser Hinsicht kenne ich Sie. Seltsamerweise entwickle ich ein schlechtes Gewissen allein aufgrund der Vorstellung, Sie könnten auf mich beleidigt sein, wobei Sie selbst am allerbesten wissen, dass Sie absolut kein Recht dazu hätten.


Vier Minuten später

RE:

Reden Sie nicht herum, lieber Leo: Waren Sie wenigstens erfolgreich beim Trösten? Läuft wieder etwas mit Marlene?


Acht Minuten später

AW:

Ach, das ist es! Ja, natürlich! Leo Leike wagt es, nach dem Begräbnis der Mutter seine Exfreundin zu treffen. Emmi Rothner, die sonst keine Mühen scheut, Herrn Leike als Moraltheologen hinzustellen, wittert plötzlich den sittlichen Verfall. Da kann ich gleich noch eines drauflegen, liebe Emmi. Ich verrate Ihnen, dass ich sechs Stunden nach dem Begräbnis meiner Mutter um ein Haar mit meiner Exfreundin geschlafen hätte. Ich hoffe, Sie sind entsprechend schockiert! Guten Abend.


Drei Minuten später

RE:

Erklären Sie mir, wie man mit jemandem »um ein Haar« geschlafen haben kann. Und vor allem: Warum man es dann »um ein Haar« doch nicht getan hat. Ich bin überzeugt davon: Das schaffen nur Männer. Vermutlich hatten Sie geglaubt, Sie könnten Ihre angeschlagene Exfreundin »ins Bett trösten«. Aber knapp vorher hat sie es bemerkt und hat Ihnen ins Ohr geflüstert: »Leo, nein, das wäre jetzt nicht gut für uns. Das würde das ganze Vertrauen, das wir heute Abend neu aufgebaut haben, wieder zerstören.« Und Sie dachten: Schade, schade, um ein Haar ...


15 Minuten später

AW:

Wissen Sie, liebe Emmi, ich finde es schon sensationell, mit welcher Selbstverständlichkeit und Hartnäckigkeit Sie mir Erklärungen abringen wollen, in privaten Angelegenheiten, die kilometerweit davon entfernt sind, Sie etwas anzugehen. Und mit welcher Treffsicherheit Sie zum unglücklichsten aller Zeitpunkte Ihre Geschmacklosigkeiten von sich geben, mit denen Sie andere Menschen darauf zu reduzieren trachten, was Ihnen selbst offenbar immer gleich als Erstes einfällt: Sex. Sex. Sex. Da frage ich mich auch schön langsam, warum das bei Ihnen so ist.


Acht Minuten später

RE:

Lieber Leo, bei allem Respekt vor Ihrer Trauer: Wer hat damit geprahlt, dass er mit wem »um ein Haar« geschlafen hätte? Sie oder ich? Leo, es tut mir Leid, ich habe solche Ums-Haar-Schlaf-Szenen plastisch vor mir. Ich habe so etwas früher zu oft selbst erlebt, und ich habe zu viele Freundinnen, die es noch immer ständig erleben - und darunter leiden. Sollte bei Ihnen und Marlene alles ganz anders gewesen sein, so verzeihen Sie mir bitte. Im Übrigen sollte ein Mann mit Ihrer Sensibilität schon wissen, dass sich eine Frau mit meiner Sensibilität bei einer derartigen »Exfreundinmotivierten« Absage in letzter Minute empfindlich zurückgewiesen fühlen muss. Ja, Leo, ich fühle mich von Ihnen derb zurückgewiesen. Ich bin einfach nicht irgendwer, auch nicht für Sie. Hochachtungsvoll, Emmi.


Am nächsten Tag

Betreff: Emmi

Nein, Emmi Sie sind nicht irgendwer. Wenn irgendwer nicht irgendwer ist, dann sind es Sie. Schon gar nicht für mich. Sie sind wie eine zweite Stimme in mir, die mich durch den Alltag begleitet. Sie haben aus meinem inneren Monolog einen Dialog gemacht. Sie bereichern mein Innenleben. Sie hinterfragen, insistieren, parodieren, Sie treten in Widerstreit zu mir. Ich bin Ihnen so dankbar für Ihren Witz, für Ihren Charme, für Ihre Lebendigkeit, ja selbst für Ihre »Geschmacklosigkeiten«.

Aber Emmi, Sie dürfen nicht mein Gewissen werden wollen! Um bei einem Ihrer Lieblingsthemen zu bleiben: Es muss Ihnen egal sein, wann ich mit wem wie oft und auf welche Art Sex habe. Ich frage Sie ja auch nicht danach, wie das mit Ihnen und Ihrem Bernhard im Bett so funktioniert. Ehrlich gesagt: Es interessiert mich auch überhaupt nicht. Das bedeutet nicht, dass ich niemals erotische Vorstellungen habe, wenn ich an Sie denke. Aber die halte ich behutsam von Ihnen fern, die will ich Ihnen nicht zumuten. Die sind allein in mir und dort bleiben sie auch. Wir dürfen nicht beginnen, in die Privatsphäre des anderen einzudringen. Das kann zu nichts führen.

Emmi, diese paar scheinbar belanglosen Worte mit Ihnen über den Tod meiner Mutter, die haben mir wahnsinnig gut getan. Da war wieder diese zweite Stimme in mir, die mir »meine« fehlenden Fragen stellt, die mir »meine« ausstehenden Antworten gibt, die permanent meine Einsamkeit durchbricht und unterwandert. Ich hatte sofort den dringenden Wunsch, Sie noch näher an mich heranzulassen, Sie ganz nahe bei mir zu haben. Hätten Sie noch am selben Abend Zeit gehabt, wäre das auch geschehen. Es wäre heute alles anders zwischen uns. Alle Geheimnisse wären fort, alle Rätsel aufgelöst. Ich hätte Ihnen gleich nach der Begrüßung einen schweren Rucksack mit familiärem Ballast umgehängt, wir wären beide damit in die Knie gegangen. Kein Zauber mehr, keine Illusionen. Wir hätten geredet, geredet und geredet, bis wir uns »ausgeredet« hätten, und dann? - Ernüchterung, was sonst. Wie meistert man die Unmittelbarkeit der Begegnung, wenn man sie nie trainiert hat? Wie hätten wir uns angesehen? Was hätten wir in dem anderen plötzlich gesehen? Wie würden wir einander heute schreiben? Was würden wir schreiben? Würden wir einander noch schreiben?

Emmi, ich habe einfach Angst, meine »zweite Stimme« zu verlieren, die Stimme Emmi. Ich will sie behalten. Ich will behutsam mit ihr umgehen. Sie ist unentbehrlich für mich geworden. Ihr Leo.


Drei Stunden später

RE:

Um an eines meiner Lieblingsthemen anzuknüpfen: Tut mir Leid - ES IST MIR ABER NICHT EGAL, WANN SIE MIT WEM WIE OFT UND AUF WELCHE ART SEX HABEN! Wenn ich schon die auserwählte »zweite Stimme« von jemandem bin, dann habe ich auch Stimmrecht, wenn es darum geht, zu beurteilen, ob es angemessen ist, wann dieser jemand mit wem wie oft und auf welche Art Sex hat. (Wobei ich zugeben muss, dass ich mich mit dem Passus »Auf welche Art« bisher noch relativ wenig ausführlich beschäftigt habe, lieber Leo. Aber das lässt sich ja nachholen.) So, jetzt lasse ich Sie mit Ihrer Solostimme allein. Fortsetzung folgt morgen. Küsschen, Emmi.


Eineinhalb Stunden später

AW:

Darf ich auch einmal zynisch sein, geschätzte Emmi? Angenommen, ich wäre das »Zottelmonster« aus dem Messecafé Huber: Wäre Ihnen dann auch nicht egal, wann ich mit wem wie oft und auf welche Art Sex habe? Oder anders: Ist es Ihnen nicht nur deshalb nicht egal, wann ich ... und so weiter, weil Sie in Ihren E-Mails an mich einem Männerideal nachjagen, bei dem es Ihnen - trotz ehelichem Liebesglück mit Bernhard - einfach nicht egal sein kann, wann er mit wem ... und so weiter? Das würde nämlich meine Theorie bestätigen, dass wir beide wechselweise die jeweilige Stimme unserer Fantasie sind. Ist das nicht schön und wertvoll genug, um es dabei zu belassen?


Am nächsten Tag

Betreff: Erste Antwort

Lieber Leo, wissen Sie, was ich an Ihnen wirklich verabscheue? - Ihre Formulierungen, wenn es um meinen Mann geht. »Trotz ehelichem Liebesglück mit Bernhard« - bitte was soll der Scheiß? »Eheliches Liebesglück«, das klingt (und zwar absichtlich!) nach: »Durchführung der ehelichen Pflichten des partnerschaftlichen Beischlafs«. Oder: »Durch einen Standesbeamten abgesegneter regelmäßiger Vollzug des Geschlechtsverkehrs mit entsprechendem Austausch von Körperflüssigkeiten.« Lieber Leo, Sie spotten über meine Ehe! Da bin ich sehr empfindlich. Hören Sie auf damit!


45 Minuten später

AW:

Emmi, Sie reden andauernd nur über Sex. Das ist schon pathologisch!


Eine Stunde später

RE:

Ich habe noch gar nicht richtig angefangen, über Sex zu reden, lieber Freund. Da waren ja gestern ein paar beachtliche Würfe von Ihnen dabei. Zum Beispiel die Sache mit den »erotischen Vorstellungen«, wo sie zwei Verneinungen brauchen, um mir zu sagen, dass es nicht so ist, dass Sie mir gegenüber niemals welche gehabt hätten. So macht das der Leo! Ein anderer hätte gesagt: »Emmi, manchmal denke ich erotisch an Sie!« Leo Leike sagt: »Emmi, es ist nicht so, dass ich niemals erotisch an Sie denke.« Und da wundern Sie sich, dass ich von dem Thema nicht wegkomme? Nicht ich bin pathologisch, sondern Sie benehmen sich verbalerotisch verhaltensoriginell, lieber Leo! Kurzum: Ich nehme Ihnen Ihre abgehobenen pastoralgeistigen Sexualbetrachtungen nicht ab. Denn was macht der gute Leo mit seinen doppelt verneinten erotischen Vorstellungen? Zitat: »Die halte ich behutsam von Ihnen fern, die will ich Ihnen nicht zumuten.« Will er mir nicht zumuten? Da fragt sich die Emmi schon, was das wohl für unzumutbare Vorstellungen sein mögen. Erzähle er mir ruhig mehr davon.


20 Minuten später

RE:

Ach ja, noch etwas, Meister Leo. Sie schrieben gestern: »Wir dürfen nicht beginnen, in die Privatsphäre des anderen einzudringen.« Ich sage Ihnen etwas: Was wir hier tun, worüber wir hier reden, ist Privatsphäre, Privatsphäre und nichts als Privatsphäre, von den ersten E-Mails an in steter Steigerung bis heute. Wir schreiben nichts über unsere Jobs, wir verraten keine Interessen, nennen nicht einmal Hobbys, tun so, als gäbe es keine Kultur, verheimlichen die Politik, ja wir kommen sogar weitgehend ohne Wetterstimmungsberichte aus. Das Einzige, was wir tun und was uns alles andere vergessen macht: Wir dringen in unsere Privatsphären ein, Sie in meine, ich in Ihre. Privatsphärisch eingedrungener geht es gar nicht mehr. Sie sollten sich langsam dazu bekennen, mit mir »privatsphärisch intim« zu sein, und zwar ausnahmsweise in einer völlig anderen Bedeutung, als es meinem vermeintlichen Lieblingsthema entsprechen möge. Ich würde sogar sagen: weit darüber hinausgehend. Schönen Abend, Emmi.


Eineinhalb Stunden spater

AW:

Liebe Emmi, wissen Sie, was ICH an Ihnen wirklich verabscheue? - Ihr ständiges »Herr Leo«, »Meister Leo«, »Professor Leo«, »Der Herr Sprachpsychologe«, »Der Herr Moraltheologe«.

Tun Sie mir einen Gefallen. Belassen Sie es bei »Leo«. Ihre sarkastischen Botschaften kommen auch so stets gut, scharf und treffsicher an. Ich danke für Ihr Verständnis! Leo.


Zehn Minuten später

RE:

Bäääh! Heute mag ich Sie nicht!


Eine Minute später

AW:

Ich mich auch nicht.


30 Sekunden später

RE:

Das war jetzt, zugegeben, wieder recht lieb von Ihnen!


20 Sekunden später

AW:

Danke.


15 Sekunden später

RE:

Gern.


Eineinhalb Stunden später

AW:

Schlafen Sie schon?


Drei Minuten später

RE:

Selten vor Ihnen. Gute Nacht!


30 Sekunden später

AW:

Gute Nacht.


40 Sekunden später

RE:

Müssen Sie viel an Ihre Mutter denken? Ich würde Ihnen gern ein bisschen davon abnehmen.


30 Sekunden später

AW:

Das haben Sie gerade getan, liebe Emmi. Gute Nacht.

Загрузка...