Am nächsten Morgen
Kein Betreff
Guten Morgen, Leo. Schlechte Nachricht. Ich muss nach Südtirol. Bernhard liegt im Spital. Ein Hitzekollaps oder so etwas Ähnliches, sagen die Ärzte. Ich muss hinfahren und die Kinder abholen. Ich hab Kopfweh. (Zu viel Whiskey!) Ich danke Ihnen für die schöne Nacht. Ich weiß auch nicht, was »Betrug« ist. Ich weiß nur, dass ich Sie brauche, Leo, ganz, ganz dringend. Und mich braucht meine Familie. Ich fahre jetzt. Ich melde mich morgen wieder. Hoffentlich geht es Ihnen gut nach dem vielen französischen Landwein ...
Am nächsten Tag
Betreff: Alles okay
Keine E-Mail von Leo? Ich wollte nur sagen: Wir sind wieder zurück. Bernhard ist auch mitgekommen. Es war ein Kreislaufkollaps, aber er ist schon wieder auf den Beinen. Melden Sie sich, Leo, bitte!!!
Zwei Stunden später
Betreff: An Hr. Leike
Sehr geehrter Herr Leike, es kostet mich große Überwindung, Ihnen zu schreiben. Ich gestehe, ich geniere mich dafür, und mit jeder Zeile wird meine Verlegenheit, in die ich mich selbst bringe, größer werden. Ich bin Bernhard Rothner, ich glaube, ich muss mich Ihnen nicht näher vorstellen. Herr Leike, ich wende mich mit einer großen Bitte an Sie. Sie werden verblüfft oder gar schockiert sein, wenn ich die Bitte ausspreche. Ich werde im Anschluss daran versuchen, Ihnen die Beweggründe dafür darzulegen. Ich bin kein großartiger Schreiber, leider bin ich das nicht. Aber ich werde mich bemühen, in dieser für mich unüblichen Form all das auszusprechen, was mich seit Monaten beschäftigt, wodurch mein Leben nach und nach außer Tritt geraten ist, mein Leben und das meiner Familie, ja auch das Leben meiner Frau, ich glaube, ich kann das schon richtig beurteilen, nach all den Jahren unserer harmonischen Ehe.
Und hier nun die Bitte: Herr Leike, treffen Sie sich mit meiner Frau! Bitte tun Sie es endlich, damit der Spuk sein Ende hat! Wir sind erwachsene Menschen, ich habe Ihnen nichts vorzuschreiben. Ich kann Sie nur flehentlich bitten: Treffen Sie sie! Ich leide unter meiner Unterlegenheit und Schwäche. Was glauben Sie, wie erniedrigend es für mich ist, solche Zeilen zu formulieren. Sie dagegen haben sich nicht die geringste Blöße gegeben, Herr Leike. Sie haben sich nichts vorzuwerfen. Ja, und ich, auch ich habe Ihnen nichts vorzuwerfen, leider, leider habe ich das nicht. Einem Geist kann man nichts vorwerfen. Sie sind nicht greifbar, Herr Leike, nicht antastbar, Sie sind nicht real, Sie sind ein einziges Fantasiegebilde meiner Frau, Illusion vom unendlichen Glück der Gefühle, weltferner Taumel, Liebesutopie, aus Buchstaben gebaut. Dagegen bin ich machtlos, ich kann nur warten, bis das Schicksal gnädig ist und aus Ihnen endlich einen Menschen aus Fleisch und Blut macht, einen Mann mit Konturen, mit Stärken, mit Schwächen, mit Angriffsflächen. Erst wenn meine Frau Sie so sehen kann, wie sie mich sieht, einen Verwundbaren, eine unperfekte Schöpfung, ein Exemplar des Mangelwesens Mensch, erst wenn Sie ihr von Angesicht zu Angesicht gegenübergetreten sind, schwindet Ihre Übermacht. Erst dann habe ich die Chance, Ihnen Paroli zu bieten, Herr Leike. Erst dann kann ich um Emma kämpfen.
»Leo, zwingen Sie mich nicht, mein Familienalbum aufzublättern«, hat Ihnen meine Frau einmal geschrieben. Nun, statt ihrer sehe nun ich mich gezwungen, es zu tun. Als wir uns kennen lernten, war Emma 23, ich war ihr Klavierlehrer auf der Musikakademie, vierzehn Jahre älter als sie, gut verheiratet, Vater zweier entzückender Kinder. Ein Verkehrsunfall hat aus unserer Familie einen Trümmerhaufen gemacht, der Dreijährige traumatisiert, die Große schwer verletzt, ich selbst mit bleibenden Schäden behaftet, die Mutter der Kinder, meine Frau Johanna: tot. Ohne Klavier wäre ich daran zerbrochen. Aber Musik ist Leben, solange sie erklingt, stirbt nichts für immer. Wenn man Musiker ist und spielt, lebt man Erinnerungen, als wären sie unmittelbare Ereignisse. Daran habe ich mich aufgerichtet. Und dann waren da auch meine Schüler und Schülerinnen, da war Ablenkung, da war eine Aufgabe, da war Sinn. Ja, und da war plötzlich - Emma. Diese lebendige, sprühende, kecke, bildhübsche junge Frau begann, unsere Trümmer aufzusammeln, ganz von selbst, ohne sich etwas davon zu versprechen oder zu erwarten. Solche außergewöhnlichen Menschen sind in die Welt gesetzt, um die Traurigkeit zu bekämpfen. Ganz wenige gibt es von ihnen. Ich weiß nicht, womit ich es verdient habe: Aber ich hatte sie plötzlich an meiner Seite. Die Kinder sind ihr zugelaufen, ja, und ich habe mich Hals über Kopf in sie verliebt.
Und sie? Herr Leike, jetzt werden Sie sich fragen: Ja, und Emma? Hat sie, die 23-jährige Studentin, hat sie sich denn gar gleichermaßen verliebt, ausgerechnet in diesen bald vierzig Jahre alten Ritter von der traurigen Gestalt, den damals nur noch Tasten und Töne zusammenhielten? - Diese Frage kann ich weder Ihnen noch mir selbst beantworten. Wie sehr war es nur die Bewunderung für meine Musik (ich hatte damals recht gute Erfolge, war ein gefeierter Konzertpianist)? Wie viel davon war Mitleid, Anteilnahme, der Wunsch zu helfen, die Fähigkeit, da zu sein in schlimmen Stunden? Wie sehr erinnerte ich sie an ihren Vater, der sie zu früh verlassen hatte? Wie viele Narren hatte sie an der süßen Fiona gefressen und an dem goldigen kleinen Jonas? Wie sehr war es meine eigene Euphorie, die sich in ihr widerspiegelte, wie sehr liebte sie nur meine unbändige Liebe zu ihr und nicht mich selbst? Wie sehr genoss sie die Sicherheit, dass ich sie niemals einer anderen Frau wegen enttäuschen würde, die Verlässlichkeit auf Lebzeiten, meine ewige Treue, derer sie sich gewiss sein durfte? - Glauben Sie mir, Herr Leike, ich hätte nie gewagt, mich ihr zu nähern, hätte ich nicht gespürt, dass sie mir ein Bündel ebenso starker Gefühle entgegenbrachte wie ich ihr. In unübersehbarer Weise fühlte sie sich zu mir und den Kindern hingezogen, wollte Teil unserer Welt sein, wurde Teil unserer Welt, prägender Teil, bestimmender Teil, Herzstück. Zwei Jahre später haben wir geheiratet. Das ist jetzt acht Jahre her. (Verzeihung, ich habe hiermit Ihr Versteckspiel gestört, habe eines der tausend Geheimnisse aufgedeckt: Die »Emmi«, die Sie kennen, ist 34 Jahre jung.) Keinen Tag hörte ich auf zu staunen, diese vitale junge Schönheit an meiner Seite zu haben. Und jeden Tag habe ich mit Bangen darauf gewartet, dass es »geschehen« wird, dass da ein Jüngerer sein wird, einer ihrer zahlreichen Verehrer und Anbeter. Und Emma würde sagen: »Bernhard, ich habe mich in einen anderen verliebt. Wie soll es nun weitergehen mit uns?« - Dieses Trauma ist ausgeblieben. Ein viel schlimmeres ist eingekehrt. Sie, Herr Leike, die stille »Außenwelt«. Liebesillusionen per E-Mail, sich stetig aufschaukelnde Gefühle, wachsende Sehnsucht, ungestillte Leidenschaft, alles auf ein nur scheinbar reales Ziel gerichtet, ein höchstes Ziel, das immer wieder weggeschoben wird, das Treffen aller Treffen, das nie stattfinden wird, weil es die Dimension des irdischen Glücks sprengen würde, die vollkommene Erfüllung, ohne Endpunkt, ohne Ablaufdatum, nur in den Köpfen lebbar. Dagegen bin ich machtlos.
Herr Leike, seit es Sie »gibt«, ist Emma wie verwandelt. Sie ist geistesabwesend und mir gegenüber distanziert. Stundenlang sitzt sie in ihrem Zimmer und starrt in den Computer, in den Kosmos ihrer Wunschträume. Sie lebt in ihrer »Außenwelt«, sie lebt mit ihnen. Wenn sie verklärt lächelt, gilt das längst nicht mehr mir. Mit Mühe gelingt es ihr, ihr Weggetretensein vor den Kindern zu verbergen. Ich merke, wie sehr sie sich quält, länger neben mir zu sitzen. Wissen Sie, wie weh das tut? Ich habe versucht, diese Phase mit großer Toleranz zu übergehen. Emma durfte sich nur niemals eingesperrt fühlen bei mir. Nie gab es Eifersucht zwischen uns. Aber plötzlich wusste ich nicht mehr, wo ich ansetzen sollte. Es war da ja nichts und niemand, keine reale Person, kein wirkliches Problem, kein offensichtlicher Fremdkörper - bis ich die Wurzel entdeckte. Ich könnte in den Boden versinken vor Scham, dass es so weit kommen musste: Ich habe in Emmas Zimmer spioniert. Und ich habe in einer versteckten Lade schließlich eine Mappe gefunden, eine dicke Mappe, voll gefüllt mit Schriftstücken: ihr gesammelter E-Mail-Verkehr mit einem gewissen Leo Leike, fein säuberlich ausgedruckt, Seite für Seite, Mitteilung für Mitteilung. Ich habe diese Skripte mit zitternden Händen kopiert und einige Wochen erfolgreich von mir weggeschoben. Wir hatten einen grauenvollen Urlaub in Portugal. Der Kleine war krank, die Große hatte sich unsterblich in einen Sportlehrer verliebt. Meine Frau und ich schwiegen uns zwei Wochen an, aber jeder von beiden versuchte dem anderen vorzumachen, alles sei in bester Ordnung, wie es immer war, wie es sein musste, wie es uns die Gewohnheit befahl. Danach habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich habe die Mappe mit in den Wanderurlaub genommen - und ich habe in einem Anfall von Selbstzerfleischung und masochistischer Leidenswilligkeit sämtliche EMails in einer Nacht durchgelesen. Seit dem Tod meiner ersten Frau habe ich keine größeren seelischen Qualen durchgemacht, das können Sie mir glauben. Als ich mit der Lektüre fertig war, kam ich nicht mehr vom Bett hoch. Meine Tochter verständigte die Rettung, man brachte mich ins Spital. Von dort holte mich vorgestern meine Frau ab. Jetzt kennen Sie die ganze Geschichte.
Herr Leike, bitte treffen Sie sich mit Emma! Ich komme nun zum erbärmlichen Höhepunkt meiner Selbsterniedrigung: Ja, treffen Sie sich mit ihr, verbringen Sie eine Nacht mit ihr, haben Sie Sex mit ihr! Ich weiß, dass Sie es werden haben wollen. Ich »erlaube« es Ihnen. Sie haben meinen Freibrief, ich erlöse Sie hiermit von allen Skrupeln, ich betrachte es nicht als Betrug. Ich spüre, Emma sucht nicht nur die geistige, sondern auch die körperliche Nähe zu Ihnen, sie will es »wissen«, glaubt es zu brauchen, ihr verlangt danach. Das ist der Kitzel, das Neue, die Abwechslung, die ich ihr nicht bieten kann. So viele Männer haben Emma verehrt und begehrt, nie wäre mir aufgefallen, dass sie sich auch nur zu einem von ihnen sexuell hingezogen gefühlt hätte. Und dann sehe ich die EMails, die sie Ihnen schreibt. Und plötzlich erkenne ich, wie stark ihre Begierde sein kann, wenn sie einmal vom »Richtigen« geweckt worden ist. Sie, Herr Leike, sind ihr Auserwählter. Und ich würde mir fast wünschen: Haben Sie einmal Sex mit ihr. EINMAL - (ich wähle dafür eindringliche Blockbuchstaben, wie meine Frau es tut.) EINMAL. NUR EINMAL! Lassen Sie es das Ziel Ihrer schreiberisch aufgebauten Leidenschaft sein. Fixieren Sie damit den Schlusspunkt. Geben Sie Ihrem E-Mail-Verkehr die Krönung - und stellen Sie ihn danach ein. Geben Sie, Außerirdischer, Unantastbarer, mir meine Frau zurück! Geben Sie sie frei. Bringen Sie sie wieder auf den Boden zurück. Lassen Sie unsere Familie weiter existieren. Machen Sie es nicht mir zum Gefallen, nicht meiner Kinder wegen. Machen Sie es für Emma, ihr zuliebe. Ich bitte Sie!
Ich komme nun zum Ende meines peinlichen und peinigenden Hilferufs, meines fürchterlichen Gnadengesuchs. Noch eine abschließende Bitte, Herr Leike. Verraten Sie mich nicht. Lassen Sie mich außerhalb Ihrer beider Geschichte. Ich habe Emmas Vertrauen missbraucht, ich habe sie hintergangen, ich habe ihre private, intime Post gelesen. Ich habe dafür gebüßt. Ich könnte ihr nicht mehr in die Augen sehen, wüsste sie von meiner Spionage. Sie könnte mir nie wieder in die Augen sehen, wüsste sie, was ich gelesen habe. Sie würde sich und mich gleichermaßen dafür hassen. Bitte, Herr Leike, ersparen Sie uns das. Verschweigen Sie ihr diesen Brief. Und noch einmal: Ich bitte Sie!
Und nun sende ich Ihnen das grauenvollste Schreiben, das ich jemals aufgesetzt habe. Hochachtungsvoll, Bernhard Rothner.
Vier Stunden später
AW:
Sehr geehrter Herr Rothner, ich habe Ihre E-Mail erhalten. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich weiß nicht einmal, ob ich etwas dazu sagen soll. Ich bin bestürzt. Sie haben nicht nur sich selbst gedemütigt, Sie haben uns alle drei beschämt. Ich muss nachdenken. Ich werde mich für eine Weile zurückziehen. Ich kann Ihnen nichts versprechen, gar nichts. Höflicher Gruß, Leo Leike.
Am nächsten Tag
Betreff: Leo???
Leo, wo sind Sie? Ich höre unentwegt Ihre Stimme. - Immer die gleichen Worte: »So hat der Typ die ganze Zeit mit mir gesprochen?« Ich weiß also nur zu genau, wie er spricht, der Typ. Allein: Er spricht schon seit Tagen nicht. Hatten Sie in jener Nacht doch zu viel französischen Landwein erwischt? Erinnern Sie sich? Sie haben mich eingeladen, in die Hochleitnergasse 17, Top 15. »Nur einmal riechen«, haben Sie geschrieben. Sie ahnen nicht, wie knapp ich daran war, zu kommen. So knapp wie noch nie. Ich bin mit den Gedanken rund um die Uhr bei Ihnen. Warum melden Sie sich nicht? Muss ich mir Sorgen machen?
Am nächsten Tag
Betreff: Leo????????
Leo, was ist los? Bitte schreiben Sie mir!! Ihre Emmi.
Eine halbe Stunde später
Betreff: An Hr. Rothner
Sehr geehrter Herr Rothner, ich schlage Ihnen einen kleinen Deal vor. Sie müssen mir etwas versprechen. Und ich verspreche Ihnen eine Gegenleistung. Also: Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihrer Frau kein Wort von Ihrer E-Mail und deren Hintergründen verrate. Und Sie müssen mir versprechen, dass Sie NIE WIEDER AUCH NUR EINE EINZIGE E-MAIL Ihrer Frau an mich und von mir an Ihre Frau lesen. Ich vertraue Ihnen, dass Sie dieses Versprechen, sofern Sie es abgeben, nicht brechen werden. Und Sie können umgekehrt versichert sein, dass ich zu meinem Wort stehe. Wenn Sie einverstanden sind, schreiben Sie: Ja. Andernfalls werde ich Ihrer Frau jenen reinen Wein einschenken, der im Grunde Ihrer ist und den Sie mir freundlicherweise hinübergeleert haben. Höflicher Gruß, Leo Leike.
Zwei Stunden später
RE:
Ja, Herr Leike, das kann ich Ihnen versprechen. Ich werde keine E-Mail mehr lesen, die nicht für mich bestimmt ist. Ich habe schon viel zu viel Verbotenes gelesen. Gestatten Sie mir die Nachfrage: Werden Sie meine Frau treffen?
Zehn Minuten später
AW:
Herr Rothner, das kann ich Ihnen nicht beantworten. Und selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Meiner Meinung nach haben Sie mit Ihrem Schreiben an mich einen katastrophalen Fehler begangen, symptomatisch für ein grobes, vermutlich schon jahrelang währendes Versäumnis innerhalb Ihrer Ehe. Sie haben sich an die falsche Adresse gewendet. All das, was Sie mir erzählt haben, hätten Sie Ihrer Frau erzählen müssen, und zwar schon viel früher, gleich von Anfang an. Ich würde Ihnen dringlich empfehlen: Tun Sie es! Holen Sie es nach!
Im Übrigen ersuche ich Sie, mir keine E-Mails mehr zu senden. Ich glaube, es ist alles gesagt, was Sie meinten, mir sagen zu müssen. Es war bereits viel zu viel. Freundlicher Gruß, Leo Leike.
15 Minuten später
AW:
Hallo Emmi, ich komme gerade von einer Dienstreise aus Köln zurück. Tut mir Leid, es ging dort so turbulent zu, ich hatte nicht einmal ein paar ruhige Minuten, um Ihnen zu schreiben. Ich hoffe, in Ihrer Familie ist gesundheitlich wieder so weit alles in Ordnung. Ich werde die Schönwetterphase ausnützen und für ein paar Tage verreisen, irgendwo in den Süden, wo ich einmal für niemanden erreichbar bin. Ich glaube, das brauche ich, ich fühle mich schon ziemlich ausgelaugt. Wenn ich zurück bin, melde ich mich wieder. Ich wünsche Ihnen angenehme Sommertage - und möglichst wenige ausgekegelte Kinderarme. Alles, alles Liebe, Leo.
Fünf Minuten später
RE:
Wie heißt sie?
Zehn Minuten später
AW:
Wie heißt wer?
Vier Minuten später
RE:
Leo! Bitte beleidigen Sie nicht meine Intelligenz und meinen Leo-Spürsinn. Wenn Sie einmal über turbulente Dienstreisen und auszunützende Schönwetterphasen schwadronieren, Ihre Ausgelaugtheit beklagen, Ihre Unerreichbarkeit ankündigen und mir angenehme Sommertagswünsche androhen, dann gibt es für mich nur eines: EINE! Wie heißt sie? Doch nicht etwa - Marlene?
Acht Minuten später
AW:
Nein, Emmi, Sie irren. Es gibt da weder Marlene noch sonst wen. Ich muss mich einfach einmal zurückziehen. Die vergangenen Wochen und Monate haben mich aufgerieben. Ich brauche Erholung.
Eine Minute später
RE:
Erholung von mir?
Fünf Minuten später
AW:
Erholung von mir! Ich melde mich in einigen Tagen wieder. Versprochen!
Drei Tage später
Betreff: Leo fehlt!
Hallo Leo, ich bin es. Ich weiß, Sie sind nicht da, Sie erholen sich gerade von sich selbst. Wie macht man das eigentlich? Ich wünschte, ich könnte das auch. Ich brauche gerade dringend Erholung von mir. Stattdessen beschäftige ich mich mit mir und reibe mich dabei auf. Leo, ich muss Ihnen etwas gestehen. Das heißt: Ich muss es natürlich nicht, es ist auch gar nicht gut, dass ich es tue, aber es drängt mich einfach dazu. Leo: Ich bin momentan überhaupt nicht glücklich. Und wissen Sie warum? (Sie wollen es vermutlich gar nicht wissen, aber Sie haben keine Chance, tut mir Leid.) Ich bin nicht glücklich - ohne Sie. Zu meinem Glück gehören E-Mails von Leo. Zu meinem Glück fehlen mir EMails von Leo. Zu meinem Pech fehlen mir diese EMails zu meinem Glück gerade sehr. Seit ich Ihre Stimme kenne, fehlen sie mir gleich dreimal so sehr.
Ich habe den gestrigen Abend und einige Nachtstunden mit Mia verbracht. Es war das erste gute Treffen mit ihr seit vielen Jahren. Und wissen Sie, warum? (Sehr gemein, ich weiß, aber das müssen Sie sich jetzt anhören.) Das Treffen war gut, weil ich endlich unglücklich war. Mia sagt, ich war im Grunde so wie immer, nur habe ich es diesmal zugegeben, vor mir selbst und auch vor ihr. Dafür ist sie mir dankbar. Klingt traurig, oder?
Mia behauptet, ich habe mich auf sonderbare Weise, nämlich schriftlich, in Sie verliebt, Leo. Sie meint, ich kann ohne Sie derzeit gewissermaßen nicht leben, zumindest nicht glücklich. Und sie sagt: Sie kann das sogar verstehen. Ist das nicht fürchterlich? Dabei liebe ich doch an sich meinen Mann, Leo. Ganz ehrlich. Ich habe ihn ausgesucht, ihn und seine Kinder, ihn und meine Kinder. Ich wollte diese Familie und keine andere, bis heute nicht. Es waren damals tragische Umstände, das erzähle ich Ihnen ein andermal. (Fällt Ihnen auf, ich rede freiwillig über meine Familie ... ) Bernhard hat mich nie enttäuscht und würde mich nie enttäuschen. Nie, nie, nie! Er gibt mir alle Freiheiten, erfüllt mir alle Wünsche. Er ist so ein gebildeter, selbstloser, ruhiger, angenehmer Mann. Natürlich würgt einen mit der Zeit die Routine. Die Abläufe sind geregelt, es mangelt an Überraschungen. Wir kennen einander in- und auswändig, es gibt keine Geheimnisse mehr. »Vielleicht fehlt dir einfach nur das Geheimnis. Vielleicht hast du dich in ein knisterndes Geheimnis verliebt«, sagt Mia. »Was soll ich tun?«, sage ich: »Ich kann aus Bernhard nicht plötzlich ein knisterndes Geheimnis machen.« Leo, was sagen Sie: Kann ich aus Bernhard ein knisterndes Geheimnis machen? Kann man aus acht Jahren Familienleben ein knisterndes Geheimnis machen?
Ach Leo, Leo, Leo. Mir fällt momentan einfach alles so schwer. Ich bin nicht gut drauf. Mir fehlt jeder Antrieb. Mir fehlt jede Lust. Mir fehlt - der eine und einzige Leo. Ich weiß nicht, wo das hinführen soll. Ich will es gar nicht wissen. Es ist mir egal. Hauptsache, Sie schreiben mir bald wieder. Bitte beeilen Sie sich mit Ihrer Von-sich-selbst-Erholung. Ich möchte wieder Wein mit Ihnen trinken. Ich will von Ihnen wieder geküsst werden wollen. (War das ein deutscher Satz?) Ich brauche keine wirklichen Küsse. Ich brauche den, der mich in manchen Situationen derart unbedingt dringend sofort küssen will, dass er nicht anders kann, als es mir zu schreiben. Ich brauche Leo. Ich komme mir so einsam vor mit meiner Whiskeyflasche. Ich habe so viel Whiskey getrunken, Leo. Merken Sie es? Wie wäre das wohl alles mit Ihnen, das Leben? Wie lange würden Sie mich unbedingt dringend sofort küssen wollen? Wochen, Monate, Jahre, immer? Ich weiß, ich soll nicht so denken. Ich bin glücklich verheiratet. Aber ich fühle mich unglücklich dabei. Das ist, glaube ich, ein Widerspruch. Der Widerspruch sind Sie, Leo. Danke, dass Sie mir zugehört haben. Einen Whiskey trinke ich noch. Gute Nacht, Leo, Sie fehlen mir so sehr.
Ich würde Sie sogar blind küssen. Ja, das würde ich tun. Gerade jetzt.
Zwei Tage später
Betreff: Kein Wort
Dreißig Grad und kein Wort vom Vonsichselbsterholer. Ich weiß, meine E-Mail von vorgestern war an der Schmerzgrenze. Habe ich Ihnen zu viel zugemutet, Leo? Glauben Sie mir, es war der Whiskey! Der Whiskey und ich. Ich, was in mir drinnen steckt. Der Whiskey, was er aus mir herausgeholt hat. Sehnsüchtig, Emmi.
Am nächsten Tag
Kein Betreff
Südwind - und ich wälze mich dennoch im Bett herum. Ein einziger Buchstabe von Ihnen, und ich würde sofort einschlafen. Gute Nacht, mein lieber Vonsich- selbsterholer.
Zwei Tage später
Betreff: Meine letzte Mail
Meine letzte Mail ohne Gegenmail! Leo, das ist echt brutal, was Sie da machen! Bitte hören Sie auf damit, es tut höllisch weh. Alles ist erlaubt, alles außer schweigen.
Am nächsten Tag
Betreff: Gegenmail
Liebe Emmi, ich habe nur ein paar Stunden gebraucht, um mich zu einer Entscheidung durchzuringen, die mein Leben verändern wird. Aber ich habe neun Tage gebraucht, um Ihnen die Konsequenzen mitzuteilen. Emmi, ich übersiedle in wenigen Wochen für mindestens zwei Jahre nach Boston. Ich werde dort eine Projektgruppe an der Universität leiten. Der Job ist sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus finanzieller Sicht äußerst reizvoll. Meine Lebenssituation erlaubt es mir, so spontan zu sein. Es gibt wenige Dinge, die ich hier aufgeben muss. Offenbar liegt es in unserer Familie, irgendwann einmal den Kontinent zu wechseln. Fehlen werden mir ein paar enge Freunde. Fehlen wird mir meine Schwester Adrienne. Und fehlen wird mir: Emmi. Ja, die wird mir ganz besonders fehlen.
Ich habe noch eine zweite Entscheidung getroffen. Sie klingt so hart, dass mir die Finger zittern, wenn ich sie Ihnen jetzt schriftlich mitteilen muss, gleich nach dem Doppelpunkt: Ich beende unseren E-Mail-Kontakt. Emmi, ich muss Sie aus dem Kopf bekommen. Sie können nicht mein erster und mein letzter Gedanke jedes Tages bis ans Ende meines Lebens sein. Das ist krank. Sie sind »vergeben«, Sie haben Familie, Sie haben Aufgaben, Herausforderungen, Verantwortlichkeiten. Sie hängen sehr daran, es ist die Welt, in der sie glücklich sind, das haben Sie mir deutlich zu verstehen gegeben. (Mit hochprozentigen Sehnsuchts-Whiskey-Mischungen schreibt man sich schon einmal eine Unglücksstimmung herbei, wie in Ihrer letzten langen E-Mail, die ist aber spätestens beim Aufwachen am Tag danach wieder weg.) Ich bin überzeugt davon, dass Ihr Mann Sie liebt, wie man eine Frau nach so vielen Jahren Zusammensein nur lieben kann. Was Ihnen fehlt, dürfte lediglich ein bisschen außereheliches Abenteuer im Kopf sein, etwas Kosmetik für Ihren abgeschminkten Gefühlsalltag. Darauf gründet sich Ihre Zuneigung zu mir. Darauf stützt sich unsere Schreib-Beziehung. Sie stiftet vermutlich mehr Verwirrung, als sie auf Dauer bereichernd für Sie wäre.
Nun zu mir: Emmi, ich bin 36 (so, jetzt wissen Sie's). Ich habe nicht vor, mit einer Frau durchs Leben zu gehen, die nur in der Mailbox frei für mich ist. Boston gibt mir die Gelegenheit, neu zu beginnen. Ich habe plötzlich wieder Lust, eine Frau auf stinkkonservative Art kennen zu lernen: Zuerst sehe ich sie, dann höre ich ihre Stimme, dann rieche ich sie, dann küsse ich sie vielleicht. Und irgendwann später werde ich ihr wohl auch einmal eine E-Mail schreiben. Der umgekehrte Weg, den wir beschritten haben, war und ist wahnsinnig aufregend, aber er führt nirgendwohin. Ich muss meine Blockade im Kopf lösen.
Monatelang habe ich in jeder schönen Frau, die mir auf der Straße begegnet ist, Emmi gesehen. Aber keine von ihnen konnte sich mit der wirklichen messen, keine konnte mit ihr in Konkurrenz treten, denn die Echte hatte ich fern jeder Öffentlichkeit, gesellschaftlich isoliert, abgeschieden, ganz für mich allein im Computer. Dort holte sie mich von der Arbeit ab. Dort wartete sie vor, nach oder statt dem Frühstück auf mich. Dort wünschte sie mir am Ende eines langen gemeinsamen Abends gute Nacht. Oft genug verweilte sie bis zum Morgengrauen bei mir, im Zimmer, im Bett, steckte mit mir insgeheim unter einer Decke. Doch letztlich blieb sie in jeder Phase unerreichbar, uneinnehmbar für mich. Ihre Bilder waren so zart und zerbrechlich, dass sie meinem realen Blick auf sie nicht standgehalten hätten, ohne sofort Risse und Sprünge zu bekommen. Diese künstlich entstandene Emmi erschien mir so filigran, dass sie in sich zusammengefallen wäre, hätte ich sie auch nur einmal echt berührt. Physisch war sie nicht mehr als die Luft zwischen den Buchstabentasten, mit denen ich sie mir Tag für Tag herbeischrieb. Einmal hineinpusten - und fort wäre sie gewesen. Ja, Emmi, für mich ist es so weit: Ich werde die Mailbox schließen, ich werde in meine Tastatur hineinpusten, ich werde den Bildschirm herunterklappen. Ich werde mich von Ihnen verabschieden. Ihr Leo.
Am nächsten Tag
Betreff: So ein Abschied?
Das war Ihre letzte Mail? Das gibt es nicht! Ich verliere hiermit den Glauben an die letzte Mail. Leo, hallo! Ich erwarte mir keine humoristischen Glanzleistungen, wenn Sie sich aus dem Staub machen wollen.
Aber was soll denn diese bittertragische Posse? Was ist das für ein Abschied? Wie muss ich mir das Gesicht dazu vorstellen, wenn Sie melodramatisch in die Tasten pusten? Ja, okay, ich hab mich ein bisschen gehen lassen in letzter Zeit. Ich habe auch bereits begonnen, herumzusülzen. Mein Gemüt, an sich ein Fliegengewicht, war manchmal schwer wie ein Betonsack. Ja, ich habe unsere Riesenpackung elektronische Post mit mir herumgetragen. Ich hab mich ein bisschen verliebt in Mister Anonym, das ist schon richtig. Wir beide haben einander nicht mehr so recht aus den Köpfen bekommen, da sind wir uns nichts schuldig geblieben. Aber es besteht kein Grund für uns, nun Tristan und Isolde auf virtuell daraus zu machen.
Reisen Sie nach Boston, so reisen Sie nach Boston. Brechen Sie den E-Mail-Kontakt zu mir ab, dann brechen Sie ihn ab. Aber brechen Sie ihn nicht SO ab!!! Das ist sowohl schreiberisch als auch emotionell unter Ihrem Niveau und unter meiner Würde, lieber Freund. In die Tasten pusten, also Leeeeo! Was für ein Kitsch! Muss ich denken: »So hat der Typ die ganze Zeit zu mir gesprochen?«
Bitte beweisen Sie mir, dass das nicht Ihre letzte Mail an mich war. Ich wünsche mir zum Abschluss etwas Positives, etwas Überraschendes, einen vollmundigen Abgang, eine gute Pointe. Sagen Sie zum Beispiel: »Und abschließend schlage ich Ihnen vor, dass wir uns treffen!« - Das wäre wenigstens ein witziges Ende. (So, und jetzt gehe ich heulen, wenn Sie erlauben.)
Fünf Stunden später
AW:
Liebe Emmi, und abschließend schlage ich Ihnen vor, dass wir uns treffen!
Fünf Minuten später
RE:
Aber nicht im Ernst.
Eine Minute später
AW:
Doch. Damit würde ich nicht spaßen, Emmi.
Zwei Minuten später
RE:
Was soll ich davon halten, Leo? Ist das eine Laune? Hatte ich Ihnen ein gutes Stichwort geliefert? Habe ich Sie mit meinen Worten vom Melodramatiker zum Realsatiriker bekehrt?
Drei Minuten später
AW:
Nein, Emmi, das ist keine Laune, das ist gut überlegte Absicht. Sie sind mir einfach nur zuvorgekommen. Also noch einmal: Emmi, ich würde unsere E-Mail-Beziehung gerne mit einem Treffen ausklingen lassen. Es soll eine einmalige Begegnung sein, bevor ich nach Boston übersiedle.
50 Sekunden später
RE:
Einmalig treffen? Was versprechen Sie sich davon?
Drei Minuten später
AW:
Erkenntnis. Erleichterung. Entspannung. Klarheit. Freundschaft. Auflösung eines herbeigeschriebenen, aber doch unbeschreiblich überdimensionierten Persönlichkeitsrätsels. Beseitigung von Blockaden. Ein gutes Gefühl danach. Das beste Rezept gegen Nordwind. Einen würdigen Abschluss einer aufregenden Lebensphase. Die simple Antwort auf tausend komplizierte, noch offene Fragen. Oder, wie Sie selbst es gesagt haben: »Wenigstens ein witziges Ende.«
Fünf Minuten später
RE:
Vielleicht wird es aber gar nicht witzig.
45 Sekunden später
AW:
Das hängt von uns beiden ab.
Zwei Minuten später
RE:
Von uns beiden? Im Moment sind Sie da sehr alleine, Leo. Ich habe noch keineswegs »Ja« zur Last-MinuteBegegnung gesagt und bin, ehrlich gestanden, derzeit auch ziemlich weit davon entfernt. Ich möchte erst einmal mehr über dieses skurrile »The-first-date-must- be-the-last-date«-Treffen wissen. Wo wollen Sie mich treffen?
55 Sekunden später
AW:
Wo Sie wollen, Emmi.
45 Sekunden später
RE:
Und was machen wir?
40 Sekunden später
AW:
Was wir wollen.
35 Sekunden später
RE:
Was wollen wir?
30 Sekunden später
AW:
Das wird sich zeigen.
Drei Minuten später
RE:
Ich glaube, ich will lieber E-Mails aus Boston. Da muss sich nicht erst zeigen, ob wer von uns beiden was will. Da weiß zumindest ich schon, dass ich was will und was ich will: eben E-Mails aus Boston.
Eine Minute später
AW:
Emmi, ich schreibe Ihnen keine E-Mails aus Boston. Ich möchte das abschließen, ehrlich. Ich bin überzeugt davon, dass es gut für uns beide sein wird.
50 Sekunden später
RE:
Und wie lange gedenken Sie mir noch zu mailen?
Zwei Minuten später
AW:
Bis zu unserem Treffen. Außer Sie sagen, Sie wollen sich definitiv nicht mit mir treffen. Dann wäre das quasi so eine Art Schlusssatz.
Eine Minute später
RE:
Das ist Erpressung, Meister Leo! Außerdem können Sie ziemlich grob formulieren, lesen Sie einmal Ihre letzte E-Mail. Ich glaube nicht, dass ich den Typ, der so spricht, treffen will. Gute Nacht.
Am nächsten Morgen
Kein Betreff
Guten Morgen, Leo. Ich treffe mich mit Ihnen SICHER NICHT im Messecafé Huber!
Eine Stunde später
AW:
Müssen wir auch nicht. Aber warum nicht?
Eine Minute später
RE:
Dort trifft man Berufskollegen oder Zufallsbekanntschaften.
Zwei Minuten später
AW:
Zufälliger als unsere kann eine Bekanntschaft kaum sein.
50 Sekunden später
RE:
Ist das die Einstellung, mit der Sie unseren Kontakt gesucht hatten, geführt haben und nun beenden wollen? Dann lassen wir das Zufalls- und Verflüchtigungstreffen lieber gleich bleiben.
Am nächsten Tag
Kein Betreff
Leo, was ist eigentlich los mit Ihnen? Wieso schreiben Sie plötzlich so rüpelhaft und destruktiv? Warum machen Sie »unsere Geschichte« so herunter? Bemühen Sie sich extra, unsensibel und böse zu sein? Wollen Sie mir Ihren Ausstieg schmackhaft machen?
Zweieinhalb Stunden später
AW:
Tut mir Leid, Emmi, ich bin gerade verzweifelt bemüht, »unsere Geschichte« aus dem Kopf zu kriegen. Ich habe Ihnen schon erklärt, warum das für mich notwendig ist. Ich weiß, dass meine E-Mails seit »Boston« fürchterlich sachlich klingen. Ich mag so gar nicht schreiben, aber ich zwinge mich dazu. Ich will schriftlich keine Gefühle mehr in »unsere Geschichte« investieren.
Ich will nicht noch mehr aufbauen, bevor ich es einstürzen lasse. Ich will wirklich nur noch dieses eine Treffen. Ich glaube, es wird uns beiden gut tun.
Zwei Minuten später
RE:
Und was ist, wenn wir uns nach dem Treffen wieder treffen wollen?
Vier Minuten später
AW:
Für mich kann ich das ausschließen. Das heißt: Ich habe es bereits ausgeschlossen. Ich will Sie dieses eine und einzige Mal treffen, um »unsere Geschichte« würdig abzuschließen, bevor ich nach Amerika gehe.
15 Minuten später
RE:
Was verstehen Sie unter »würdig abschließen«? Oder anders gefragt: Was wollen Sie, dass ich nach dem Treffen über Sie denke:
1.) Ganz nett, aber nicht annähernd so spannend wie schriftlich. Jetzt kann ich ihn mit ruhigem Gewissen und gutem Gefühl für immer aus allen Ordnern meines Lebens löschen.
2.) Wegen diesem Langweiler habe ich ein Jahr »neben mir« gelebt?
3.) Ein idealer Mann für einen Seitensprung. Schade, dass er jetzt auf die andere Seite des Ozeans springt.
4.) Umwerfender Typ! Was für eine berauschende Nacht! Das monatelange E-Mailen hat sich wirklich ausgezahlt. So, abgehackt. Jetzt kann ich mich wieder auf die Jausenbrote für Jonas konzentrieren.
5.) Scheiße. Das wäre er gewesen! Für ihn hätte ich Bernhard stehen lassen und meine Familie aufgegeben. Leider entweicht er mir jetzt Richtung Amerika, dem Land, aus dem man keine E-Mails schreiben kann. Aber ich werde auf ihn warten! Täglich werde ich eine Kerze für ihn anzünden. Und mit den Kindern werde ich ihn ins Gebet einschließen, bis er wiederkommt in aller Herrlichkeit und Pracht...
Drei Minuten später
AW:
Ihr Sarkasmus wird mir fehlen, Emmi!
Zwei Minuten später
RE:
Sie können gerne eine Ladung davon mit nach Boston nehmen, Leo. Ich habe noch genug davon. Also: Welchen Typen würden Sie anlässlich unseres offiziellen Auseinandergehens gerne abgeben?
Fünf Minuten später
AW:
Ich werde keinen Typen abgeben. Ich werde der sein, der ich bin. Und Sie werden mich so sehen, wie ich bin. Sie werden mich zumindest so sehen, wie Sie glauben, dass ich bin. Oder so sehen, wie Sie wollen, dass Sie glauben, dass ich bin.
Eine Minute später
RE:
Werde ich Sie wieder treffen wollen?
45 Sekunden später
AW:
Nein.
35 Sekunden später
RE:
Warum nicht?
50 Sekunden später
AW:
Weil das keine Möglichkeit ist.
Eine Minute später
RE:
Alles ist eine Möglichkeit.
45 Sekunden später
AW:
Das nicht. Das ist nämlich von vornherein keine Möglichkeit.
55 Sekunden später
RE:
Im Nachhinein erlebt man oft Möglichkeiten, die von vornherein niemals welche gewesen wären. Es sind oft nicht einmal die schlechtesten Möglichkeiten.
Zwei Minuten später
AW:
Tut mir Leid, Emmi. Die Möglichkeit, dass Sie mich wieder treffen wollen, wird keine solche sein. Sie werden schon sehen.
Eine Minute später
RE:
Warum soll ich das eigentlich sehen wollen? Wenn ich weiß, dass ich Sie nach unserem ersten Treffen kein zweites Mal treffen will, warum soll ich Sie dann überhaupt treffen?
Zwei Minuten später
Betreff: An Herrn Leike
Sehr geehrter Herr Leike, wir machen schlimme Tage durch. Wenn das nicht aufhört, wird unsere Ehe zerbrechen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das wollen. Bitte treffen Sie meine Frau und hören Sie auf, ihr zu schreiben. (Ich schwöre, ich habe keine Ahnung, was Sie einander schreiben, ich will es auch gar nicht mehr wissen, ich will nur, dass es endlich aufhört.) Mit freundlichen Grüßen, Bernhard Rothner.
Drei Minuten später
AW:
Emmi, das müssen Sie schon selbst wissen, warum Sie mich treffen wollen (wenn Sie es wollen). Ich kann Ihnen nur sagen: Ich will mich mit Ihnen treffen! Ich habe auch schon erschöpfend dargelegt, warum. Alles Liebe und schönen Abend, Leo.
Eine Minute später
RE:
Leo Eisbeutel Leike. »So hat der Typ die ganze Zeit mit mir gesprochen.« Schon traurig, eigentlich.