22. Dezember

Stephen schlug den Mantelkragen hoch, während er eilig über den Bahnsteig ging. Dichter Nebel hüllte den Bahnhof ein. Schwere Lokomotiven zischten und stießen Rauchwolken in die raue, kalte Luft. Alles war schmutzig und voll von Ruß.

«Ein trübsinniges Land», murmelte Stephen angewidert vor sich hin, «und eine trostlose Stadt!»

Seine erste Begeisterung über London, mit seinen Restaurants, seinen Geschäften und den gut angezogenen, hübschen Frauen, hatte sich gelegt. Nun kam ihm die Stadt nur noch wie ein nassglänzender Rinnstein vor, unansehnlich, schmutzig braun.

Zu Hause, in Südafrika. Er wurde plötzlich von einem heftigen Heimweh gepackt. Sonnenschein, blauer Himmel, Gärten voller Blumen – blaue Blumen –, Pelargonien, bunte Winden, die sich an jedem noch so ärmlichen Blockhaus rankten…

Und hier – Schmutz, Ruß und endlose, riesige Menschenmassen, Gedränge, Bewegung, Hektik. Geschäftige Ameisen, die ständig in ihrem Ameisenhaufen herumwimmelten. Sekundenlang dachte er: Wäre ich doch nie hergekommen!

Dann aber fiel ihm der Grund seines Hierseins wieder ein. Hart pressten sich seine Lippen aufeinander. Nein, zum Teufel, er konnte nicht mehr zurück. Jahrelang hatte er diesen Vorsatz nun ausgebrütet. Was er vorhatte, war seit langem zum Entschluss gereift, und er würde ihn jetzt durchführen.

Dieses vorübergehende Zögern, diese plötzliche innere Frage: «Wozu? Lohnt es sich überhaupt? Warum die Vergangenheit wieder aufwühlen, warum nicht alles vergeben und vergessen sein lassen?» – Das war Schwäche. Er war doch kein kleiner Junge mehr, den die Stimmung des Augenblicks einmal hierhin und dann wieder dorthin treiben konnte, sondern ein Mann von vierzig Jahren, bewusst und seiner selbst sicher. Er würde den Plan ausführen, um dessentwillen er nach England gekommen war.

Er stieg in den Zug und suchte einen Platz. Die Gepäckträger hatte er entschieden abgewiesen und trug seinen Koffer selber. Der Zug war sehr voll. Kein Wunder, drei Tage vor Weihnachten. Stephen sah missmutig in die besetzten Abteile.

Menschen. Unfassbare Massen von Menschen. Und alle sahen so – wie hieß das Wort? – so grau, so verwaschen aus. Sie hatten keine eigenen Gesichter, sondern glichen einer dem anderen, wie Kaninchen oder Schafe. Manche schwatzten und lachten. Andere, dicke Männer mittleren Alters, unterhielten sich knurrend, um nicht zu sagen: grunzend wie Schweine. Und sogar die jungen Mädchen, schlanke Geschöpfe mit ovalen Gesichtern und rot geschminkten Lippen, wirkten entsetzlich gleichförmig.

Er dachte plötzlich sehnsüchtig an das weite, offene Grasland zu Hause, an die sonnenwarme, einsame Landschaft…

Doch dann hielt er den Atem an, als er in ein neues Abteil blickte. Dieses Mädchen war anders. Schwarzes Haar, gebräunte, gesunde Haut, Augen, in denen die Tiefe und Dunkelheit der Nacht lag – die schwermütigen, stolzen Augen des Südens. Irgendwie mutete es ganz verkehrt an, dass das Mädchen inmitten dieser grauen Menschen saß und in das nasskalte, graue Mittelengland fuhr. Sie hätte auf einem Balkon sitzen sollen, eine Rose zwischen den Lippen, ein Stück schwarze Spitze um den schönen Kopf geschlungen, und Staub und Hitze hätte sich rings um sie mit Blutgeruch vermischen müssen – die Atmosphäre der Stierkampfarena –, aber in einen englischen Drittklasswagen gehörte sie nie und nimmer.

Er war ein guter Beobachter. Die Ärmlichkeit ihres dünnen schwarzen Mäntelchens, die billige Qualität der Baumwollhandschuhe und der Schuhe entgingen ihm ebenso wenig wie die schäbige Eleganz der feuerroten Handtasche. Trotzdem empfand er ihre Erscheinung als auffallend schön. Sie war hübsch, zart und exotisch.

Was um alles in der Welt tat sie in diesem Land der Nebelschwaden, kalten Winde und emsigen Ameisen?

Ich muss herausbekommen, wer sie ist und was sie hier tut, dächte er. Ich muss es unbedingt wissen.

Pilar saß eng in die Fensterecke gedrückt und dachte, wie eigenartig dieses England doch rieche. Das war ihr bis dahin am meisten aufgefallen an England – dieser merkwürdige Geruch. Es roch nicht nach Knoblauch, auch nicht nach Staub und kaum nach Parfüm. In diesem Eisenbahnwagen zum Beispiel roch es nach abgestandener, kalter Luft – wie in allen Zügen –, und zu dem Geruch nach Seife gesellte sich noch ein anderer, weit unangenehmerer, der offensichtlich aus dem Pelzkragen der dicken Frau neben ihr aufstieg. Pilar schnupperte unauffällig und atmete den Geruch von Mottenkugeln ein. Wie konnte man sich nur mit so etwas parfümieren, dachte sie erstaunt.

Ein Pfeifsignal, eine schrille Stimme, die irgendeinen Befehl schrie, und der Zug rollte langsam aus der Halle. Nun war sie also unterwegs.

Ihr Herz klopfte schneller. Würde alles gut gehen? Würde sie erreichen, was sie sich vorgenommen hatte? Sicher! Ganz sicher! Sie hatte doch alles so sorgfältig überlegt. Sie war auf jede Möglichkeit vorbereitet. O ja, sie würde, sie musste Erfolg haben!

Pilars schön geschwungene Lippen verzogen sich plötzlich. Mit einem Schlag wurde der Mund grausam. Grausam und lüstern – wie der eines Kindes oder einer jungen Katze –, ein Mund, der nur seine eigenen Begierden kannte und der nichts von Mitleid wusste.

Sie betrachtete die Menschen ringsum mit der Neugier eines Kindes. Komisch sahen sie alle aus, diese Engländer. Begütert, erfolgreich, jedenfalls nach ihren Schuhen und Kleidern zu schließen. Zweifellos war England ein sehr reiches Land, das hatte sie ja immer sagen hören. Aber fröhlich waren diese Leute nicht, ganz und gar nicht fröhlich.

Im Seitengang stand ein hübscher Mann. Pilar fand ihn ausgesprochen hübsch. Sein tief braunes Gesicht mit der scharf geschnittenen Nase und die breiten Schultern gefielen ihr. Viel rascher als jede junge Engländerin so etwas bemerkt hätte, waren Pilar die bewundernden Blicke des Mannes aufgefallen, ohne dass sie je direkt in seine Richtung sah.

Nicht, dass diese Tatsache sie sonderlich erregt hätte. Sie kam aus einem Land, wo Männer Frauen unverhohlen bewundernd betrachten dürfen. Sie fragte sich, ob er wohl Engländer sei.

Nein, dazu ist er viel zu lebendig, zu real, entschied sie. Andererseits ist er fast blond. Wahrscheinlich ein Amerikaner. Tatsächlich erinnerte er sie an einige der Helden aus Wildwestfilmen.

Ein Kellner schob sich durch den Seitengang.

«Erstes Mittagessen! Bitte Platz zu nehmen zum ersten Mittagessen!»

Die sieben Mitreisenden aus Pilars Coupe, die alle Karten für das erste Mittagessen hatten, erhoben sich wie ein Mann, und plötzlich war das Abteil leer und still.

Als Erstes schob Pilar das Fenster zu, das von einer kriegerisch aussehenden grauhaarigen Dame einige Zentimeter geöffnet worden war. Dann kuschelte sie sich behaglich in die Fensterecke und ließ die nördlichen Vorstädte Londons an sich vorbeiziehen. Als die Tür zu ihrem Abteil aufging, brauchte sie nicht einmal den Kopf zu wenden, um zu wissen, dass nun der Mann aus dem Korridor hereingekommen war, um sie anzusprechen.

Sie fuhr fort, gedankenverloren aus dem Fenster zu sehen.

«Soll ich es vielleicht herunterlassen?», fragte Stephen.

Pilar antwortete mit damenhafter Zurückhaltung: «Im Gegenteil. Ich habe es eben erst zugemacht.»

Sie sprach fließend Englisch, aber mit einem leichten Akzent.

Während des Schweigens, das nun eintrat, dachte Stephen: eine süße Stimme. Sonne liegt darin, die Wärme einer Sommernacht.

Pilar dachte: Ich mag seine Stimme. Eine kraftvolle, schöne Stimme. Er sieht überhaupt gut aus – außerordentlich gut sogar.

«Der Zug ist ziemlich überfüllt», sagte Stephen.

«Allerdings. Die Leute fahren aus London fort, wahrscheinlich weil es dort so schwarz ist.»

Pilar war nicht in dem Glauben erzogen worden, mit unbekannten Männern zu sprechen sei ein Verbrechen. Sie konnte sehr gut auf sich aufpassen, aber ein strenger Sittenkodex war ihr fremd.

Wäre Stephen in England aufgewachsen, dann hätte er sich vermutlich bei diesem Gespräch mit einer jungen Frau denkbar unbehaglich gefühlt. Aber Stephen war ein liebenswürdiger Mensch, und so fand er es durchaus natürlich, dass man miteinander redete, wenn man Lust dazu hatte.

Er lächelte verständnisinnig. «London ist eine grässliche Stadt, oder finden Sie das vielleicht nicht?»

«O doch! Ich mag sie gar nicht.» Pilar sah ihn an. «Sie sind kein Engländer, nicht wahr?»

«Ich bin Brite, aber aus Südafrika.»

«Ach so. Das erklärt alles.»

«Und Sie kommen auch aus dem Ausland?»

Pilar nickte. «Ich komme aus Spanien.»

«Aus Spanien?» Stephen war sehr interessiert. «Dann sind Sie also Spanierin?»

«Halb und halb. Meine Mutter war Engländerin. Deshalb spreche ich Englisch.»

«Wie steht es mit dem Krieg in Spanien?»

«Es ist schrecklich, sehr, sehr traurig. So viele Zerstörungen überall.»

«Auf welcher Seite stehen Sie?»

Pilars politische Anschauungen schienen reichlich unklar zu sein. In dem Dorf, aus welchem sie komme, erklärte sie, habe sich niemand viel um den Krieg gekümmert. «Er spielt sich nicht in unserer Nähe ab, wissen Sie. Der Bürgermeister ist natürlich ein Regierungsbeamter, und der Pfarrer ist für General Franco, aber die meisten Leute haben mit ihren Weinbergen und den Feldern zu tun und zerbrechen sich nicht den Kopf über solche Fragen.»

«Also haben Sie keine direkten Kampfhandlungen erlebt?»

«Daheim nicht. Aber dann fuhr ich im Auto durch das Land, und dort sah ich viele Zerstörungen. Und eine Bombe kam herunter, direkt auf ein anderes Auto, und eine zweite fiel in ein Wohnhaus. Es war alles sehr aufregend.»

Stephen lächelte verstohlen.

«Aufregend ist es Ihnen vorgekommen?»

«Ja, aber auch ärgerlich. Weil ich doch vorwärts kommen wollte, und dann wurde der Chauffeur meines Wagens getötet.»

«Und hat Sie das nicht sehr bekümmert?»

Pilars große dunkle Augen weiteten sich erstaunt. «Jeder muss einmal sterben. Wenn es so schnell geschieht, aus heiterem Himmel – bums! –, dann ist das ein ebenso schöner Tod wie jeder andere. Eine Zeit lang lebt man, und dann ist man tot. Das ist der Lauf der Welt.»

Stephen lachte. «Pazifistin sind Sie also nicht.»

«Ich bin keine – was?» Das Wort war noch nicht in Pilars Vokabular gedrungen.

«Sie vergeben Ihren Feinden nicht, Señorita?»

Pilar schüttelte den Kopf. «Ich habe keine Feinde, aber wenn ich welche hätte…»

Er betrachtete sie, von neuem gefesselt von dem grausam emporgezogenen Mund.

«Wenn ich einen Feind hätte, der mich hasste und den ich hassen würde, dann würde ich ihm die Gurgel durchschneiden – so!» Sie unterstrich ihren Gedanken mit einer beredten Bewegung.

Diese schnelle, erbarmungslose Geste ließ Stephen sekundenlang zurückfahren. «Sie sind eine blutrünstige junge Frau.»

«Was würden denn Sie einem Feind antun?», fragte Pilar sachlich.

Er sah sie verblüfft an, musste dann lachen und sagte: «Ich weiß es nicht… Ich weiß es wirklich nicht.»

Pilar blickte ihn missbilligend an. «Aber das müssen Sie doch wissen.»

Er hörte zu lachen auf, holte tief Atem und sagte leise: «Ja. Ich weiß es…»

Dann wechselte er rasch das Thema und fragte obenhin: «Was hat Sie denn nach England geführt?»

«Ich besuche meine englischen Verwandten», antwortete Pilar, nun wieder etwas zurückhaltender.

Stephen lehnte sich in seinem Sitz zurück und stellte sich vor, wer ihre Verwandten wohl sein mochten und wie sich dieses heißblütige Geschöpf inmitten eines steifen englischen Familienkreises beim Weihnachtsfest ausnehmen werde.

«Südafrika muss schön sein», sagte Pilar plötzlich.

Er begann von Südafrika zu erzählen. Sie hörte ihm freudig gespannt zu wie ein Kind, dem man Märchen erzählt. Ihre naiven, aber scharfsinnigen Fragen amüsierten ihn, und er machte sich einen Spaß daraus, seine Schilderungen bunt und packend zu gestalten.

Die Rückkehr der eigentlichen Platzinhaber des Abteils bereitete ihrer Unterhaltung ein Ende. Stephen erhob sich, lächelte ihr zu und trat wieder in den Seitengang hinaus.

Als er etwas später unter die Abteiltür treten musste, um einer alten Dame Platz zu machen, fielen seine Blicke zufällig auf das Etikett an Pilars fremdländisch anmutendem Strohkoffer. Schnell und interessiert las er den Namen: Miss Pilar Estravados. Doch als er auch die Adresse gelesen hatte, weiteten sich seine Augen in ungläubigem Erstaunen – Gorston Hall, Longdale, Addlesfield.

Er starrte das Mädchen an, als hätte er es noch nie gesehen. Verblüffung, Verärgerung, Misstrauen spiegelten sich in seinen Augen.

Während er draußen im Korridor eine Zigarette rauchte, war seine Stirne tief gerunzelt…

Im großen, in den Farben Blau und Gold gehaltenen Wohnzimmer von Gorston Hall saßen Alfred Lee und Lydia, seine Frau, und machten Pläne für Weihnachten. Alfred war ein etwas vierschrötiger Mann mittleren Alters mit einem angenehmen Gesicht und sanften braunen Augen. Seine Stimme klang ruhig und sicher, und er sprach überlegen und deutlich. Gerade jetzt war sein Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, und das gab seiner Haltung etwas unbeweglich Starres. Lydia sah aus wie ein edles, kraftvolles Rennpferd. Sie war erstaunlich schlank, und ihre Bewegungen hatten eine nervöse Grazie. Schön konnte man ihr hageres Gesicht nicht nennen, aber es wirkte distinguiert, und ihre Stimme war bezaubernd.

«Vater besteht darauf», sagte Alfred eben, «und da kann man gar nichts machen.»

Lydia wollte auffahren, beherrschte sich aber. «Musst du ihm denn immer nachgeben?», fragte sie.

«Er ist ein sehr alter Mann, meine Liebe…»

«Ja, ich weiß! Ich weiß!»

«Er nimmt es für selbstverständlich, dass alles nach seinem Willen geht.»

«Begreiflich! Es war ja immer so», erwiderte Lydia trocken. «Aber früher oder später wirst du doch einmal Widerstand leisten müssen, Alfred.»

«Was willst du damit sagen, Lydia?»

Sie zuckte die zarten Schultern und versuchte ihre Worte sehr sorgfältig zu wählen. «Nun, dein Vater hat manchmal recht tyrannische Anwandlungen. Und je älter er wird, desto herrschsüchtiger wird er. Wo soll das enden? Schon jetzt schreibt er uns unser Leben vor. Wir können nie von uns aus etwas beschließen, und wenn wir es trotzdem einmal tun, regt er sich auf.»

«Vater ist eben gewohnt, immer der Erste zu sein. Er ist sehr gut zu uns, vergiss das nicht.» Alfred sagte dies mit harter Unnachgiebigkeit.

«Finanziell, meinst du?», fragte Lydia ruhig.

«Ja. Er selber ist ziemlich anspruchslos; aber noch nie hat er uns das Geld vorgeworfen, das wir ausgeben. Du darfst an Kleidern oder Einrichtungen für dieses Haus anschaffen, was du nur willst, und die Rechnungen werden anstandslos bezahlt. Erst letzte Woche hat er uns den neuen Wagen gekauft.»

«Ich gebe zu, dass er in Gelddingen sehr großzügig ist. Aber er erwartet, dass wir uns wie seine Sklaven benehmen.»

«Sklaven?»

«Jawohl, so sagte ich. Du bist sein Sklave, Alfred. Wenn wir eine Reise planen und dein Vater plötzlich wünscht, dass wir hier bleiben sollen, dann sagst du alles ab und bleibst. Wenn ihn aber zufällig die Laune packt, uns wegzuschicken, dann gehen wir. Es gibt für uns kein eigenes Leben, keine Unabhängigkeit.»

«Bitte, Lydia, red nicht so!», sagte Alfred verzweifelt. «Es ist wirklich undankbar. Mein Vater hat alles für uns getan.»

Lydia unterdrückte die Antwort, die schon auf ihren Lippen lag, und zuckte nur wieder die schmalen Schultern.

«Vater hat dich nämlich wirklich sehr gern, Lydia…»

Klar kam die Antwort: «Ich kann ihn nicht ausstehen.»

«Lydia! Wie kannst du das sagen! Es ist so lieblos. Wenn Vater das wüsste.»

«Dein Vater weiß ganz genau, dass ich ihn nicht mag. Ich glaube, es amüsiert ihn.»

«Nein, da irrst du dich, ganz bestimmt! Er hat mir oft gesagt, wie reizend du immer zu ihm seist.»

«Natürlich bin ich höflich zu ihm, werde es immer sein. Meine ehrlichen Gefühle sage ich nur dir. Ich kann deinen Vater nicht ausstehen, Alfred. Für mich ist er ein alter, tyrannischer, böser Mann. Dich schüchtert er einfach ein und erwartet dafür noch deine Kindesliebe. Schon vor Jahren hättest du dich dagegen auflehnen sollen.»

«Das genügt, Lydia.», sagte Alfred scharf. «Bitte, red nicht mehr in diesem Ton weiter.»

Sie seufzte. «Verzeih, vielleicht habe ich Unrecht. Also, sprechen wir von den Weihnachtsvorbereitungen. Glaubst du, dass dein Bruder David wirklich kommt?»

«Warum nicht?»

Sie wiegte zweifelnd den Kopf hin und her. «David ist ein komischer Kauz. Er hat so sehr an eurer Mutter gehangen - und jetzt mag er das Haus nicht mehr leiden.»

«David ist Vater immer auf die Nerven gegangen», sagte Alfred, «mit seiner Musik und seinen Träumereien. Dabei war Vater sicher manchmal zu streng mit ihm. Aber ich glaube, dass Hilda und David dennoch kommen werden. Wegen Weihnachten, weißt du?»

«Friede und den Menschen ein Wohlgefallen.», zitierte Lydia ironisch. «Wir werden ja sehen. Magdalene und George kommen jedenfalls, wahrscheinlich morgen, haben sie geschrieben. Ich fürchte, Magdalene wird sich entsetzlich langweilen.»

«Warum mein Bruder ein Mädchen heiraten musste, das zwanzig Jahre jünger ist als er», warf Alfred ein wenig gereizt ein, «wird mir ewig ein Rätsel bleiben. George ist und bleibt ein Narr.»

«Aber er macht Karriere», sagte Lydia. «Seine Wähler lieben ihn. Ich glaube, dass Magdalene ihm bei seiner politischen Arbeit ziemlich viel hilft.»

«Ich mag sie nicht sonderlich», murmelte Alfred. «Sie sieht sehr gut aus, aber manchmal werde ich das Gefühl nicht los, sie sei wie eine jener Birnen mit der rosigen Haut und dem flaumigen Schimmer…» Er brach ab.

«Die innen dann faul sind?», beendete Lydia seinen Satz fragend. «Komisch, dass du das sagst. Du bist doch sonst so umgänglich und sagst nie etwas Abfälliges über jemanden. Manchmal regt mich das förmlich auf, weil mich dünkt, du seist nicht – wie soll ich mich ausdrücken –, nicht misstrauisch, nicht weltgewandt genug!»

Ihr Gatte lächelte. «Die Welt, glaube ich, ist immer so, wie man sie selber sieht.»

«Nein», antwortete Lydia scharf. «Das Böse lebt nicht nur in unseren Gedanken. Das Böse existiert. Du scheinst das nicht zu wissen – ich weiß es! Ich fühle es, habe es immer gefühlt – in diesem Haus…» Sie biss sich auf die Lippen und wandte sich ab.

Doch ehe Alfred etwas antworten konnte, hob sie warnend die Hand und sah über seine Schulter. Hinter Alfred stand ein dunkler Mann mit glatt rasiertem Gesicht in ehrerbietiger Haltung.

«Was gibt’s, Horbury?», fragte Lydia kurz.

Horbury sprach sehr leise, so dass es eher ein Murmeln war.

«Mr Lee hat mir aufgetragen, Ihnen auszurichten, Madame, dass noch zwei weitere Gäste zum Weihnachtsfest kommen, und Sie zu bitten, Zimmer für sie bereitmachen zu lassen.»

«Zwei weitere Gäste?»

«Jawohl, Madame – ein Herr und eine junge Dame.»

«Eine junge Dame?», fragte Alfred verwundert.

«So hat es mir Mr Lee aufgetragen», bestätigte Horbury.

«Ich gehe zu ihm hinauf», sagte Lydia schnell.

Doch eine kleine, kaum wahrnehmbare Bewegung von Horbury, die Andeutung eines Schritts nach vorn, hielt sie auf.

«Verzeihung, Madame, aber Mr Lee hält gerade sein Nachmittagsschläfchen. Er wünschte ausdrücklich, nicht gestört zu werden.»

«Ach so», fiel Alfred ein, «dann werden wir ihn selbstverständlich nicht wecken.»

«Danke, Sir.» Horbury ging hinaus.

«Wie ich den Kerl hasse!», brach Lydia aus. «Schleicht durch das Haus wie eine Katze. Nie hört man ihn kommen oder gehen.»

«Mir ist er auch nicht sympathisch, aber er versteht seinen Beruf. Es ist gar nicht so leicht, einen guten Diener und Krankenpfleger zu finden. Und Vater hat ihn gern, das ist die Hauptsache.»

«Das ist die Hauptsache, sehr richtig! Aber wer kann die junge Dame sein, Alfred?»

«Keine Ahnung. Ich kann es mir wirklich nicht vorstellen.»

Eine Weile blickten sich die beiden schweigend an. Dann kräuselten sich Lydias ausdrucksvolle Lippen ein wenig. «Weißt du, was ich glaube, Alfred? Vermutlich hat sich dein Vater in letzter Zeit ziemlich gelangweilt, und nun plant er irgendeine Weihnachtsüberraschung für sich.»

«Indem er zwei Fremde zu einem Familienfest einlädt?»

«Nun, die Einzelheiten kenne ich nicht, aber ich habe das Gefühl, dass dein Vater Abwechslung sucht.»

«Hoffentlich macht ihm die Sache dann auch wirklich Spaß», sagte Alfred ernst. «Armer alter Mann, und erst noch invalide - nach dem abenteuerlichen Leben, das er früher geführt hat.»

«Nach dem abenteuerlichen Leben, das er früher geführt hat», wiederholte Lydia langsam. Die Pause, die sie vor dem Eigenschaftswort machte, gab dem Satz eine besondere, düstere Bedeutung. Alfred schien das zu spüren, denn er errötete und sah unglücklich aus.

Sie rief plötzlich unbeherrscht: «Wie er jemals einen Sohn wie dich haben konnte, ist mir schleierhaft! Ihr seid zwei vollkommen entgegengesetzte Pole! Und dabei fasziniert er dich, du verehrst ihn!»

Alfred war nun wirklich verärgert. «Du gehst ein bisschen zu weit, Lydia. Es ist natürlich, dass ein Sohn seinen Vater liebt. Unnatürlich wäre nur, wenn er das nicht täte.»

«Dann sind die meisten Mitglieder dieser Familie unnatürlich», sagte Lydia langsam. «Ach, entschuldige, jetzt habe ich deine Gefühle verletzt, ich weiß! Das wollte ich nicht, Alfred, bitte glaub mir das. Ich bewundere dich sehr um deiner, deiner Treue willen. Treue ist sehr selten in unseren Tagen. Vielleicht bin ich eifersüchtig! Man sagt doch, Frauen seien immer auf ihre Schwiegermütter eifersüchtig – warum nicht auch auf ihre Schwiegerväter?»

Er legte zärtlich den Arm um sie. «Deine Zunge geht wieder einmal mit dir durch, Liebling. Du hast weiß Gott keine Ursache, eifersüchtig zu sein.»

Sie küsste ihn schnell und reuevoll auf das Ohrläppchen. Es war eine zarte Liebkosung.

«Ich weiß, Alfred. Und dennoch glaube ich, dass ich auf deine Mutter nie eifersüchtig gewesen wäre. Ich wünschte, ich hätte sie gekannt.»

Er seufzte. «Sie war eine arme Kreatur.»

Seine Frau sah ihn groß an. «So hast du sie gesehen, als eine arme Kreatur. Seltsam.»

«Ich habe sie fast nur krank gekannt», sagte er verträumt. «Sie hat viel geweint.» Er schüttelte den Kopf. «Nein, sie hatte keinen Mut.»

Noch immer sah sie ihn voll an und murmelte leise: «Merkwürdig…»

Aber als er sich ihr fragend zuwandte, wechselte sie das Thema. «Wenn wir also nicht erfahren dürfen, wer unsere geheimnisvollen Gäste sind, dann gehe ich hinaus und mache meine Gartenarbeit fertig.»

«Es ist sehr kalt, Liebling, der Wind ist eisig.»

«Ich werde mich warm anziehen.»

Alfred sah ihr nach, als sie hinausging, blieb eine Weile reglos stehen, in tiefes Nachdenken versunken, und trat dann an das große Fenster. Eine Terrasse zog sich an der Längsseite des Hauses hin. Nach ein, zwei Minuten erschien Lydia, in einen dicken Wollmantel gehüllt, einen flachen Korb in der Hand, und machte sich an einer kleinen, viereckigen Grube zu schaffen. Ihr Mann sah ihr einen Augenblick zu. Dann verließ auch er das Zimmer, holte sich einen Mantel und ging seinerseits durch eine Seitentür auf die Terrasse hinaus. Während er zu Lydia hinüberging, kam er an zahlreichen steinumrandeten Erdvertiefungen vorbei, lauter kleinen Miniaturgärten, die alle das Werk von Lydias geschickten Händen waren.

Einer davon stellte eine Wüstenlandschaft dar: gelber Sand, ein kleiner Palmenhain, eine Kamelkarawane mit zwei winzigen arabischen Treibern. Aus Plastilin waren Lehmhütten nachgebildet worden. Dann gab es einen italienischen Garten mit Terrassen und kunstvollen Blumenbeeten, in denen eine ganze Blütenpracht aus Siegellack-Blumen leuchtete. Ein anderer der kleinen Gärten zeigte eine Polarlandschaft mit grünen Glasstücken als Eisberge und Gruppen von Pinguinen. Auch ein japanischer Garten fehlte nicht: Kleine, verkrüppelte Bäumchen standen darin, Glasscheiben stellten Teiche dar, über die sich Brücken schwangen, von Lydia ebenfalls aus Plastilin angefertigt.

Alfred sah ihr zu. Sie hatte in die kleine Grube blaues Papier gelegt und es mit Glas bedeckt. Ringsum ragten Felsblöcke auf. In diesem Augenblick schüttete sie groben Schotter aus, um ein Ufer daraus zu bilden. Zwischen den großen Steinen standen ein paar kleine Kaktuspflanzen.

«Ja, genauso habe ich es mir vorgestellt, ganz genauso», murmelte Lydia vor sich hin.

«Was stellt dein neuestes Kunstwerk dar?», fragte Alfred.

Sie erschrak, denn sie hatte ihn nicht kommen hören.

«Das? Das Tote Meer, Alfred. Gefällt es dir?»

«Ist es nicht ein wenig zu dürr und unfruchtbar? Ich meine, sollte die Vegetation nicht etwas reicher sein?»

Sie schüttelte den Kopf. «Nein, so stelle ich mir das Tote Meer vor – wirklich tot, weißt du.»

Schritte auf der Terrasse. Ein älterer, weißhaariger Butler kam leicht gebeugt auf sie zu.

«Mrs George Lee ist am Telefon, madam. Sie lässt fragen, ob es Ihnen passen würde, wenn sie und Mr George mit dem Fünf-Uhr-zwanzig-Zug kämen.»

«Ja, sagen Sie ihr, das sei uns sehr recht.»

Der Butler verschwand. Lydia sah ihm mit einem fast liebevollen Blick nach. «Guter alter Tressilian. Ich weiß nicht, was wir ohne ihn täten.»

«Ja», stimmte ihr Alfred bei, «er ist noch einer von der alten Schule. Vierzig Jahre ist er nun schon bei uns, und ich glaube, er liebt uns alle, jeden Einzelnen.»

Lydia nickte. «Ich glaube, er würde sich um Ehre und Seligkeit lügen, wenn es darum ginge, jemanden der Familie zu schützen.»

«Das würde er», sagte Alfred leise, «ich glaube, das würde er wirklich.»

Lydia ebnete ihren Kieselsteinstrand und sagte dann: «So, jetzt ist es bereit.»

«Bereit? Wofür?», fragte Alfred erstaunt.

«Für Weihnachten, du Dummer», lachte sie. «Für unser gefühlvolles Familienfest.»

David las den Brief. Darauf ballte er erst das Blatt Papier zu einem Klumpen zusammen und warf es weg, dann holte er den Knäuel wieder, glättete den Bogen sorgfältig und las ihn noch einmal durch.

Seine Frau, Hilda, sah ihm wortlos zu. Sie bemerkte den zuckenden Muskel (oder war es ein Nerv?) an seiner Schläfe, das leise Zittern der langen, ausdrucksvollen Hände und die nervöse Angespanntheit seines Körpers. Als er wieder einmal die Strähne blonden Haars aus der Stirn strich und zu ihr hinübersah, war sie ruhig und gefasst.

«Hilda, was sollen wir tun?»

Hilda zögerte lange, ehe sie antwortete. Sie hatte den Hilferuf vernommen, und sie wusste, wie abhängig David von ihr war, immer schon, seit dem Tag ihrer Hochzeit, sie wusste, dass sie seinen letzten Entschluss maßgeblich beeinflussen konnte. Aber gerade deshalb scheute sie davor zurück, irgendetwas Endgültiges zu sagen.

Ihre Stimme klang weich und zärtlich, als ob sie zu einem Kind spräche.

«Das kommt ganz darauf an, wie dir zumute ist, David.»

Hilda war eine stattliche Frau, nicht schön, aber irgendwie anziehend. Sie erinnerte an die Frauenbilder niederländischer Meister. Ihre Stimme war warm und voll. Sie wirkte kräftig, ruhig und verfügte über jene vitale Sicherheit, die schwache Menschen unweigerlich anzieht. Eine etwas zu dicke, nicht große Frau mittleren Alters, nicht intelligent, nicht charmant, aber dennoch jemand, den man unmöglich übersehen konnte. Hilda Lee hatte Kraft!

David stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Sein Haar wies noch keinen grauen Schimmer auf, und sein Gesicht wirkte unwahrscheinlich knabenhaft.

«Du weißt, wie mir zumute ist, Hilda, du musst es wissen», sagte er ernst.

«Ich bin nicht so sicher.»

«Aber ich habe es dir doch oft und oft gesagt. Wie ich alles hasse – dieses Haus und die Landschaft und alles. Es bringt nur das alte Elend wieder zurück. Ich war keine Stunde glücklich dort, keine Einzige. Wenn ich daran denke – wie sehr sie litt – meine Mutter.»

Seine Frau nickte ihm beruhigend zu.

«Sie war so lieb, Hilda, und so geduldig. Wie sie dalag, oft mit großen Schmerzen, immer geduldig, immer ergeben. Und wenn ich an meinen Vater denke.» Sein Gesicht verdunkelte sich. «Wie elend er sie machte, wie er sie demütigte, indem er mit seinen Liebesabenteuern prahlte, wie er sie dauernd betrog und es nicht einmal zu verbergen suchte!»

«Sie hätte es nicht auf sich nehmen, sie hätte ihn verlassen sollen», sagte Hilda.

«Dazu war sie zu gut», wies er sie mit leisem Tadel zurecht. «Sie hielt es für ihre Pflicht, auszuharren. Außerdem – dort war ihr Zuhause. Wohin hätte sie gehen sollen?»

«Sie hätte sich ein eigenes Leben aufbauen können.»

«Zu jener Zeit? Ausgeschlossen!», erwiderte er gereizt. «Das verstehst du nicht. Frauen benahmen sich damals anders. Sie nahmen ihre Last auf sich, sie ertrugen vieles mit Geduld. Und dann hatte sie auf uns Rücksicht zu nehmen. Wenn sie sich von Vater hätte scheiden lassen, was wäre geschehen? Vermutlich hätte er sofort wieder geheiratet, und daraus wäre vielleicht eine zweite Familie entstanden. Damit wären unsere Interessen wahrscheinlich aufs Spiel gesetzt worden, und auch das musste Mutter damals in Erwägung ziehen.»

Hilda blieb stumm.

«Nein, sie tat das Richtige. Sie war eine Heilige. Sie trug ihr bitteres Los ohne Klagen – bis zum Ende.»

«Doch wohl nicht ganz, ohne zu klagen, David», wandte Hilda ein. «Sonst könntest du nicht soviel von ihren Leiden wissen.»

Sein Gesicht erhellte sich, und er sagte weich: «Ja, sie hat mir manches anvertraut. Weil sie wusste, wie sehr ich sie liebte. Und als sie starb…» Er unterbrach sich. Seine Hand fuhr durch sein Haar. «Hilda, es war entsetzlich! Dieses Leid! Sie war noch jung, sie hätte nicht sterben müssen. Er brachte sie um – mein Vater! Er war schuld an ihrem Tod, er hat ihr das Herz gebrochen. Damals fasste ich den Entschluss, nie wieder in seinem Haus zu wohnen. Ich lief fort – fort von allem.»

«Das war sehr gut», stimmte sie ihm bei. «Du hast ganz Recht gehabt.»

«Vater wollte mich in die Werke stecken. Das hätte für mich bedeutet, zu Hause leben zu müssen. Ich hätte es nicht ertragen. Ich begreife nicht, dass Alfred es aushalten kann - wie er es all die Jahre aushalten konnte.»

«Hat er sich denn nie dagegen aufgelehnt?», fragte Hilda interessiert. «Du hast mir doch einmal erzählt, dass er eine andere Laufbahn aufgeben musste.»

«Ja, Alfred wollte zur Armee. Das hat Vater übrigens auch arrangiert. Alfred, als Ältester, sollte in irgendein Kavallerieregiment eintreten. Harry und ich sollten in die Fabrik kommen und George eine politische Karriere einschlagen.»

«Und dann kam doch alles anders?»

«Ja. Harry brannte durch. Er war immer ein Wildfang. Machte Schulden und war dauernd in Schwierigkeiten. Schließlich lief er eines Tages mit ein paar hundert Pfund, die nicht ihm gehörten, davon und hinterließ nur die Mitteilung, dass ein Bürostuhl nichts für ihn sei und dass er sich jetzt die Welt anschauen wolle.»

«Und seither habt ihr nichts mehr von ihm gehört?»

«O doch», lachte David, «sehr oft sogar. Er telegrafierte aus allen vier Himmelsrichtungen um Geld. Hat es übrigens auch immer bekommen.»

«Und Alfred?»

«Vater zwang ihn, den Militärdienst aufzugeben und in die Fabrik einzutreten.»

«War Alfred unglücklich darüber?»

«Anfangs schon, sehr sogar. Er war verzweifelt. Aber Vater hat Alfred immer um den Finger wickeln können, auch heute noch, glaube ich.»

«Und du bist ihm davongelaufen.»

«Jawohl. Ich fuhr nach London und stürzte mich ins Kunststudium. Vater hat mir zwar sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er mir für solche Kinkerlitzchen höchstens eine kleine Zuwendung zu seinen Lebzeiten geben werde, dass ich aber nach seinem Tod leer ausginge. Seit jener Auseinandersetzung sah ich ihn nie mehr. Trotzdem habe ich nie etwas bereut. Ich weiß zwar, dass ich nie ein großer Maler sein werde; aber wir sind doch hier glücklich, in unserem Haus, wo wir alles haben, was man zum Leben braucht. Und wenn ich sterben sollte, fällt dir meine Lebensversicherung zu.» Er schwieg eine Weile. Dann schlug er mit der Hand auf den Brief. «Und jetzt – das! Vater, der mich bittet, mit meiner Frau bei ihm Weihnachten zu feiern, damit wir alle wieder einmal beisammen seien, eine geeinte Familie. Was bezweckt er nur damit?»

«Muss er denn etwas damit bezwecken?», fragte Hilda. «Kann es nicht nur heißen, dass dein Vater älter wird und langsam sentimentale Anwandlungen seiner Familie gegenüber verspürt? Das kommt manchmal vor, weißt du.»

«Vielleicht», antwortete David zögernd. «Er ist alt und allein. Du möchtest, dass ich hingehe, nicht wahr, Hilda?»

«Nun, ich fände es hart, einer solchen Bitte nicht zu entsprechen. Ich bin altmodisch und glaube an die Weihnachtsbotschaft von Frieden und Versöhnung auf Erden.»

«Nach allem, was ich dir erzählt habe?»

«Ich weiß, Lieber, ich weiß. Aber das liegt doch nun lange zurück. Es sollte jetzt vergeben und vergessen sein.»

«Ich kann nicht vergessen.»

«Weil du nicht vergessen willst, David. Habe ich nicht Recht?»

Sein Mund verzog sich zu einer harten Linie.

«So sind wir Lees. Wir erinnern uns jahrelang an etwas, grübeln darüber nach, halten das Gedächtnis frisch.»

Nun schwang auch in Hildas Stimme leichte Ungeduld mit.

«Und ist das eine so erhebende Eigenschaft, auf die man stolz sein kann? Ich finde nicht.»

Er sah sie nachdenklich und verschlossen an. Dann sagte er lauernd: «Dann misst du also der Treue – der Treue gegenüber einem Andenken – keinen großen Wert bei?»

«Ich glaube an die Gegenwart, nicht an die Vergangenheit. Wenn wir versuchen, die Vergangenheit lebendig zu erhalten, dann muss das mit Verzerrung enden, da wir sie in übertriebenen Umrissen, aus einer falschen Perspektive sehen.»

«O nein! Ich erinnere mich an jedes Wort, an jedes Ereignis aus jenen Tagen, ganz klar und deutlich», stieß David erregt hervor.

«Ja, aber das solltest du eben nicht, Lieber, weil es nicht natürlich ist. Du denkst mit der Urteilsfähigkeit eines Knaben statt mit der Reife eines Mannes daran zurück.»

Hilda stockte. Sie fühlte, dass es unklug war, noch weiter zu reden, und doch ging es hier um Dinge, die sie schon so lange hatte aussprechen wollen.

«Ich glaube», fuhr sie nach einer Weile fort, «dass du deinen Vater für einen Teufel hältst! Du verzerrst sein Bild zu einer Art Abbild alles Bösen. Wenn du ihn jetzt wiedersiehst, wirst du erkennen, dass er ganz einfach ein Mann ist – ein Mann vielleicht, mit dem seine Leidenschaften oft durchgingen, ein Mann, dessen Leben beileibe nicht makellos verlaufen ist, aber eben doch einfach ein Mann – nicht ein unmenschliches Ungeheuer.»

«Das verstehst du eben nicht. Wie er meine Mutter behandelt hat.»

«Es gibt eine Art von Unterwürfigkeit, von Schwäche, die die niedrigsten Instinkte in einem Mann wecken, wo Entschlossenheit und Mut einen ganz anderen Menschen aus ihm machen könnten.»

«Willst du damit sagen, dass es Mutters Schuld war.»

«Nein, natürlich nicht! Ich bin überzeugt, dass dein Vater sie sehr schlecht behandelt hat. Aber eine Ehe ist etwas sehr Seltsames, und ich bezweifle, dass ein Außenstehender, selbst ein Kind dieser Ehe, das Recht hat, über sie zu urteilen. Außerdem kann all dein Hass deiner armen Mutter nicht mehr helfen. Das alles ist vorüber. Geblieben ist nur ein alter Mann, der nicht mehr ganz gesund ist und der dich um deinen Besuch zu Weihnachten bittet.»

«Und du willst, dass ich hingehe?»

Hilda dachte sekundenlang erst nach; dann sagte sie entschlossen: «Ja. Ich möchte, dass du hingehst und diesem Gespenst ein für alle Mal den Garaus machst.»

George Lee, Abgeordneter von Westeringham, war ein korpulenter Mann von einundvierzig Jahren. Seine hellblauen Augen standen leicht vor und trugen immer einen lauernden Ausdruck. Er hatte massige Kiefer, und seine Redeweise war ebenso langsam wie pedantisch.

Eben sagte er bedeutungsvoll: «Ich hab dir gesagt, Magdalene, dass ich es für meine Pflicht halte, hinzugehen.»

Seine Frau, eine gertenschlanke, platinblonde Erscheinung mit gezupften Augenbrauen in dem ovalen Gesicht, zuckte ungeduldig die Achseln. Sie konnte, wenn sie wollte, eine völlig ausdruckslose Miene zeigen, und das tat sie eben jetzt. «Liebling, es wird ganz und gar grässlich werden.»

«Außerdem», überging George Lee ihren Einwurf, «können wir dadurch allerhand sparen. Weihnachten ist immer eine teure Zeit. Die Dienstboten können wir mit einem Trinkgeld abfertigen.»

«Wie du meinst. Weihnachten ist so oder so schließlich immer und überall langweilig.»

«Natürlich erwarten sie ein Weihnachtsessen», fuhr George fort. «Ein anständiges Stück Braten muss genügen; kein Truthahn.»

«Wer? Die Dienstboten? O George, hör doch auf! Immer machst du dir Sorgen wegen des Geldes.»

«Jemand muss sie sich schließlich machen.»

«Gut, aber doch nicht in einer so kleinlichen und lächerlichen Weise. Warum verlangst du nicht einfach mehr Geld von deinem Vater?»

«Sein monatlicher Zuschuss ist sehr anständig.»

Magdalene sah ihn an. Ihre hellbraunen Augen blickten plötzlich wach und scharf, und das Gesicht war nicht mehr ausdruckslos.

«Er ist enorm reich, George. Millionär oder noch reicher!»

«Doppelter Millionär, wenn nicht mehr.»

«Wie ist er bloß zu so viel Geld gekommen?», seufzte Magdalene neiderfüllt. «In Südafrika?»

«Er hat in jungen Jahren dort unten ein Vermögen verdient - hauptsächlich mit Diamanten. Und als er nach England zurückkam, investierte er sein Geld sehr klug, so dass sich sein Vermögen noch verdoppelte oder verdreifachte.»

«Und was wird damit, wenn er einmal stirbt?»

«Darüber hat Vater noch nie gesprochen. Und offen danach fragen kann man schließlich nicht. Ich vermute, dass der Großteil des Geldes an Alfred und mich fallen wird – an Alfred wahrscheinlich mehr als an mich. David wird bestimmt nicht viel bekommen. Vater hat ihm seinerzeit gedroht, er werde ihn enterben, wenn er ernstlich bei seiner Malerei, oder was er treibt, bleiben wolle; aber David kümmerte sich nicht darum.»

«Dumm von ihm!», sagte Magdalene verächtlich.

«Und dann meine Schwester Jennifer. Sie ging mit einem Ausländer, mit einem spanischen Künstler, einem von Davids Freunden, durch. Vor einem Jahr ist sie gestorben, hat aber eine Tochter hinterlassen, soviel ich weiß. Vielleicht wird Vater dieser Enkelin auch etwas vermachen, aber bestimmt nicht viel. Ja, und dann natürlich Harry…» Er stockte leicht verlegen.

«Harry? Wer ist Harry?», fragte Magdalene erstaunt.

«Mein – hm – mein Bruder.»

«Ich wusste nicht, dass du noch einen Bruder hast!»

«Nun, er ist nicht gerade eine Ehre für die Familie, meine Liebe. Wir sprechen nicht von ihm. Er hat sich unglaublich benommen. Nachdem wir nun schon seit einigen Jahren nichts mehr von ihm gehört haben, kann man wohl annehmen, dass er gestorben ist.»

Magdalene lachte plötzlich hell auf. Auf Georges fragendes Stirnrunzeln antwortete sie: «Ich musste nur eben daran denken, wie komisch es ist, dass du – du, George – einen verrufenen Bruder haben sollst! Du bist so ungemein respektabel!»

«Das will ich hoffen», erwiderte er kalt.

Sie kniff die Augen zusammen: «Dein Vater ist nicht, ist kein sehr achtbarer Mann, George, nicht wahr?» – «Ich bitte dich, Magdalene!»

«Manchmal sagt er Dinge, die mir ziemlich wider den Strich gehen, das kannst du mir glauben.»

«Magdalene! Wirklich! Denkt Lydia auch so wie du?»

«Mit Lydia redet er ganz anders», fuhr Magdalene gereizt auf. «Sie verschont er mit seinen sonderbaren Bemerkungen, obwohl ich nicht einsehe, weshalb!»

George sah sie rasch an und blickte sofort wieder weg.

«Nun», sagte er ausweichend, «wir müssen nachsichtig sein. Vater wird alt, und seine Gesundheit ist auch nicht die beste.»

«Ist er wirklich sehr krank?», fragte sie.

«Das möchte ich nicht sagen. Er ist ungemein zäh. Aber wenn er nun einmal zu Weihnachten seine Familie um sich sehen will, dann finde ich, dass wir seiner Bitte entsprechen sollten. Es könnte doch sein letztes Weihnachtsfest sein.»

«Sagst du, George», fiel sie scharf ein, «aber ich glaube, dass er noch Jahre zu leben hat.»

Verwirrt, beinahe erschrocken, stotterte George: «Ja, ja, natürlich. Bestimmt kann er noch lange leben.»

«Na, dann werden wir wohl gehen müssen», murmelte Magdalene verstimmt. «Es wird qualvoll sein. Alfred ist wortkarg und stumpf, und Lydia sieht auf mich herab. Doch, das tut sie. Und dann hasse ich diesen grässlichen Diener.»

«Den alten Tressilian?»

«Nein, Horbury. Der ewig im Haus herumschleicht und schnüffelt. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr mir das auf die Nerven geht. Aber wir werden eben hinfahren. Ich möchte den alten Mann nicht beleidigen.»

«Siehst du. Und wegen dem Weihnachtsessen für die Dienstboten –»

«Das hat jetzt Zeit, George. Ich werde Lydia anrufen und ihr sagen, dass wir morgen um fünf Uhr zwanzig ankommen.»

Magdalene ging schnell aus dem Zimmer. Nachdem sie telefoniert hatte, setzte sie sich vor ihren Schreibtisch und kramte in den vielen kleinen Schubladen herum. Aus jeder einzelnen zog sie Rechnungen – ganze Berge von Rechnungen. Erst versuchte sie, die verschiedenen Formulare und Blätter zu ordnen; doch bald gab sie das mit einem ungeduldigen Seufzer auf und warf die Papiere wieder in ihre Fächer zurück. Sie fuhr sich mit der Hand über das platinblonde Haar.

«Was um alles in der Welt soll ich nur tun?», murmelte sie.

Im ersten Stock von Gorston Hall führte ein langer Korridor zu dem großen Raum oberhalb des Haupteingangs. Es war ein unwahrscheinlich reich und altmodisch eingerichtetes Zimmer. Die schweren Brokattapeten, die riesigen Lederfauteuils, die großen, mit Drachenmustern verzierten Vasen und die Bronzeskulpturen, alles mutete großartig, kostbar und stabil an.

Im größten und imposantesten aller Stühle, einem alten Großvaterlehnstuhl, saß ein magerer alter Mann. Seine langen, klauenartigen Hände lagen auf den Armlehnen. Ein Stock mit Goldknauf stand neben ihm. Bekleidet war er mit einem alten, abgeschabten Schlafrock, und dazu trug er bestickte Pantoffeln. Über dem gelblichen Gesicht leuchteten schlohweiße Haare.

Eine armselige, unbedeutende Erscheinung, mochte man im ersten Moment denken. Aber die stolze Adlernase, die dunklen, lebhaften Augen mussten einen Beobachter bald eines Besseren belehren. In diesem Menschen waren Feuer, Leben und Kraft. Der alte Simeon Lee kicherte plötzlich amüsiert vor sich hin.

«Sie haben es Mrs Alfred also ausgerichtet?»

Horbury stand neben dem Lehnstuhl. Er antwortete in seinem weichen, ehrerbietigen Tonfall: «Jawohl, Sir.»

«Ganz genauso, wie ich es Ihnen aufgetragen habe? Hören Sie: genauso?»

«Gewiss, ich habe bestimmt keinen Fehler gemacht.»

«Nein, Sie machen keine Fehler. Ich würde es Ihnen auch nicht raten. Und? Was sagte sie, Horbury? Was sagte Mrs Alfred?»

Ruhig, ungerührt wiederholte Horbury, welchen Effekt seine Botschaft ausgelöst hatte. Der alte Mann lachte und rieb sich vergnügt die Hände.

«Großartig! Nun werden sie sich den ganzen Nachmittag die Köpfe zerbrochen haben. Ausgezeichnet! Jetzt können sie heraufkommen.»

Horbury machte kehrt und ging lautlos zur Tür. Als der alte Mann ihm noch etwas sagen wollte, war er bereits im Korridor verschwunden.

«Der Kerl bewegt sich wie eine Katze», brummte Simeon Lee. «Man weiß nie, ob er noch da ist oder schon draußen.»

Er saß still in seinem Stuhl und strich sich über die Wange, bis ein Klopfen ertönte und Alfred und Lydia eintraten.

«Ach, da seid ihr ja! Komm, Lydia, meine Beste, setz dich zu mir. Was für rosige Wangen du hast.»

«Ich war draußen, in der Kälte. Da brennt einem nachher das ganze Gesicht.»

«Wie geht’s dir, Vater?», fragte Alfred. «Hast du gut geschlafen?»

«Sehr gut, sehr gut. Ich habe von alten Zeiten geträumt, von meinem Leben, bevor ich eine Stütze der Gesellschaft wurde und mich häuslich niederließ.»

Er lachte laut auf. Seine Schwiegertochter verzog den Mund zu einem höflich-aufmerksamen Lächeln.

«Vater, was bedeutet das, dass zwei weitere Gäste zum Fest kommen?», fragte Alfred.

«Ja, richtig! Das muss ich euch ja erklären. Es soll ein grandioses Weihnachtsfest werden. Also: George und Magdalene kommen. Armer George, korrekt, steif, und doch nur ein aufgeblasener Ballon. Immerhin ist er mein Sohn. Seine Wähler lieben ihn, weil sie wahrscheinlich denken, er sei ehrlich. Noch nie war ein Lee wirklich ehrlich. Mit Ausnahme von dir, mein Junge, selbstverständlich mit Ausnahme von dir.»

«Und David?», fragte Lydia.

«David? Ich bin gespannt, ihn nach all den Jahren wiederzusehen. Er war ein exaltiertes Kind. Ich frage mich, wie seine Frau aussieht. Jedenfalls hat er nicht ein Mädchen geheiratet, das zwanzig Jahre jünger ist als er, wie dieser Narr George.»

«Hilda hat einen sehr netten Brief geschrieben», schaltete sich Lydia hier ein, «und eben kam ein Telegramm, das ihre Ankunft für morgen Nachmittag bestätigt.»

Ihr Schwiegervater sah sie scharf und durchdringend an. Dann lachte er. «Dich werde ich nie aus der Fassung bringen können, Lydia. Ich meine das als Kompliment. Du bist sehr wohlerzogen, und Erziehung ist wichtig, das weiß ich. Aber Vererbung ist geheimnisvoller. Nur eines meiner Kinder ist mir wirklich nachgeraten, nur eines von der ganzen Brut.»

Seine Augen funkelten.

«Erratet jetzt, wer noch kommt. Dreimal dürft ihr raten, aber ich wette, dass ihr nicht draufkommt.»

Er sah von einem zum anderen. Alfred runzelte die Stirn. «Horbury sagte, dass du eine junge Dame erwartest.»

«Und das beunruhigt euch jetzt, wie? Pilar wird gleich hier sein. Ich habe bereits den Wagen geschickt, damit man sie vom Bahnhof abholt.»

«Pilar?», fragte Alfred scharf.

«Ja, Pilar Estravados – Jennifers Tochter. Meine Enkelin. Ich bin so neugierig, wie sie aussieht.»

«Um Himmels willen, Vater, du hast mir nie gesagt…»

«Um dir die Überraschung nicht zu verderben, lieber Sohn», erwiderte der alte Lee mit einem bösen Grinsen. «Ich weiß schon kaum mehr, wie es ist, wenn junges Blut unter diesem Dach lebt. Ihn, Estravados, habe ich nie gesehen. Ob die Kleine wohl ihm nachschlägt oder ihrer Mutter?»

«Hältst du es wirklich für klug», begann Alfred wieder, «angesichts der Umstände –»

Der alte Mann unterbrach ihn.

«Sicherheit! Sicherheit! Du suchst immer und überall zuerst nach Sicherheit, Alfred. Das war nie meine Art. Das Mädchen ist mein Großkind, das einzige unserer Familie! Mir ist es völlig einerlei, was ihr Vater war oder tat. Sie ist mein Fleisch und Blut. Und sie wird hier in meinem Haus leben.»

«Sie soll hier leben?», fragte Lydia verblüfft.

Er streifte sie mit einem Blick. «Hast du etwas dagegen einzuwenden?»

Sie schüttelte den Kopf und sagte lächelnd: «Ich könnte doch nicht gut Einwände dagegen erheben, dass du sie in dein eigenes Haus einlädst. Nein, ich dachte eigentlich eher an sie. Ob sie hier glücklich sein wird…»

Der alte Simeon richtete sich etwas auf.

«Sie hat keinen roten Heller. Also wird sie mir dankbar sein.»

Lydia zuckte die Achseln.

«Du siehst», wandte sich Simeon wieder an seinen Sohn, «es wird ein großes Weihnachtsfest werden. All meine Kinder um mich versammelt – alle. Und jetzt, Alfred, rate, wer der andere Gast sein wird.»

Alfred sah ihn verwirrt an.

«Herrschaft, Junge! Alle meine Kinder! Kommst du nicht drauf? Harry, natürlich, dein Bruder Harry!»

Alfred wich das Blut aus dem Gesicht.

«Harry? Nein», stammelte er. «Wir dachten, er sei tot.»

«O nein! Der nicht!»

«Und du lässt ihn heimkommen? Nach allem, was er…»

«Der verlorene Sohn, wie? Ganz richtig. Das gemästete Kalb. Wir müssen ein gemästetes Kalb für ihn schlachten, Alfred. Er muss eine großartige Begrüßung haben!»

«Er hat uns schändlich behandelt. Er hat –»

«Du brauchst mir seine Untaten nicht aufzuzählen. Eine lange Liste, ich weiß. Aber Weihnachten, weißt du, ist das Fest der Versöhnung, und darum werden wir den Verlorenen zu Hause willkommen heißen.»

Alfred erhob sich. «Das war ein ziemlicher Schock», murmelte er. «Ich hätte mir nie träumen lassen, dass Harry jemals hierher zurückkäme.»

Simeon lehnte sich vor.

«Du hast Harry nie leiden können, nicht wahr?», fragte er sanft.

«Nach allem, was er dir angetan hat…»

Simeon lachte. «Nun, was vorbei ist, ist vorbei. Das ist der Sinn der Weihnachtsbotschaft, wie, Lydia?»

Lydia war ebenfalls blass geworden. Sie sagte trocken: «Du scheinst dieses Jahr viel über Christfest und Weihnachtsbotschaft nachgedacht zu haben.»

«Ich will meine Familie um mich haben. Friede und Vergebung auf Erden. Ich bin ein alter Mann. Gehst du auch schon, meine Liebe?»

Alfred war aus dem Zimmer gestürzt. Lydia zögerte noch, ehe sie ihm folgte. Simeon deutete mit dem Kopf zur Tür.

«Es hat ihn aufgeregt. Er und Harry haben sich nie vertragen. Harry hat Alfred immer ausgelacht. Nannte ihn immer Herr Langsam-aber-Sicher.»

Lydia öffnete den Mund; doch als sie den gierigen, gespannten Ausdruck auf dem Gesicht des alten Mannes sah, schwieg sie. Ihre Selbstbeherrschung ärgerte ihn sichtlich. Diese Tatsache gab ihr die Überlegenheit, leichthin zu sagen: «Der Hase und der Igel. Nun, der Igel gewinnt den Lauf.»

«Nicht immer», kicherte der Alte. «Nicht immer, meine liebe Lydia.»

Sie lächelte. «Entschuldige, aber ich sollte Alfred nachgehen. Plötzliche Aufregungen machen ihn immer ganz krank.»

Simeon kicherte. «Ja, der arme Alfred liebt weder Überraschungen noch Veränderungen. Er war von jeher ein langweiliger Mensch!»

«Alfred ist dir sehr ergeben.»

«Und das kommt dir komisch vor, nicht wahr?»

«Manchmal», sagte Lydia langsam, «kommt es mir wirklich komisch vor.»

Damit verließ sie den Raum; Simeon Lee sah ihr nach. Er lachte leise und schien sehr zufrieden zu sein. «Das wird ein Hauptspaß», sagte er. «Ein Hauptspaß! Dieses Weihnachtsfest wird mir gefallen!»

Er stand mühsam von seinem Stuhl auf und humpelte mit Hilfe des Stocks durch das Zimmer. Vor einem großen Safe in einer Ecke blieb er stehen und drehte am Kombinationsschloss. Die Tür öffnete sich. Er griff mit zitternden Händen ins Innere des Safes, zog einen Lederbeutel heraus, öffnete ihn und ließ eine Unmenge ungeschliffener Diamanten durch seine Finger gleiten.

«Nun, meine Schönen. Immer noch die gleichen, meine alten Freunde! Das war eine glückliche Zeit – eine sehr glückliche Zeit! Euch wird man nicht schleifen und schneiden, Freunde. Ihr werdet nicht um Frauenhälse hängen, an ihren Fingern kleben oder in ihren Ohren stecken. Ihr gehört mir. Meine alten Freunde. Wir wissen allerhand voneinander, ihr und ich. Ich sei alt, sagen sie, und krank. Aber mit mir ist es noch lange nicht aus. Noch viel Leben in dem alten Hund. Und noch viel Freude aus diesem Leben herauszuholen. Noch viel Freude!»

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