25. Dezember

Hercule Poirot spazierte in der hellen Vormittagssonne des Weihnachtstags durch den Garten von Gorston Hall. Hier, an der Südseite des weitläufigen Hauses, war eine große, von geschnittenen Eibenhecken eingefasste Terrasse. Poirot bewunderte die Miniaturgärtchen, die überall zwischen den Steinplatten und Pflanzen angelegt worden waren.

«C’est bien imaginé, ca», murmelte er vor sich hin.

In der Ferne konnte er zwei Gestalten sehen, die sich einem kunstvoll angelegten Teich näherten. Pilar war leicht zu erkennen, und im ersten Augenblick glaubte Poirot, dass die andere Figur Stephen Farr sei; aber dann sah er, dass Pilars Begleiter Harry Lee war. Er schien sich sehr eifrig seiner hübschen Nichte zu widmen. Manchmal warf er den Kopf zurück und lachte, dann beugte er sich wieder zu ihr hinunter.

«Ein Mensch, der bestimmt nicht tief trauert», sagte Poirot laut zu sich selber.

Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Magdalene Lee stand da und sah ebenfalls den beiden sich entfernenden Gestalten nach. Dann wandte sie den Kopf und lächelte Poirot betörend an.

«Es ist ein so herrlich sonniger Tag, dass man kaum an die Gräuel der vergangenen Nacht zu glauben vermag, nicht wahr, Mr Poirot?»

«Ja, tatsächlich, Madame.»

Magdalene seufzte.

«Ich war noch nie in eine solche Tragödie verwickelt. Ich bin - ich bin wirklich kaum erst erwachsen. Wahrscheinlich blieb ich zu lange ein Kind. Das ist immer verhängnisvoll.» Sie seufzte wieder. «Pilar ist so ungewöhnlich gefasst. Das macht wohl das spanische Blut. Es ist alles so merkwürdig, nicht wahr?»

«Was finden Sie merkwürdig, Madame?»

«Die Art und Weise, wie sie hier auftauchte, sozusagen aus heiterem Himmel.»

«Man hat mir gesagt, dass Mr Lee längere Zeit nach ihr suchen ließ. Er hat mit dem Konsulat in Madrid Kontakt aufgenommen und mit dem Vizekonsul von Aliquara, wo Pilars Mutter gestorben ist.»

«Er hat ein großes Geheimnis aus alldem gemacht», sagte Magdalene. «Alfred hat nichts davon gewusst. Auch Lydia nicht.»

«Ach?»

Magdalene trat etwas näher an Poirot heran. Er konnte das feine Parfüm riechen, das sie verwendete.

«Wissen Sie, Mr Poirot, es gibt da irgendeine Geschichte mit Estravados, Jennifers Mann. Er starb sehr bald nach ihrer Heirat, und zwar unter besonderen Umständen. Alfred und Lydia wissen davon. Ich glaube, es war etwas ziemlich Unerquickliches.»

«Das», sagte Poirot, «ist wirklich traurig.»

«Mein Mann findet – und ich bin durchaus seiner Ansicht –, dass die Familie ein wenig eingehender über die Abkunft des Mädchens unterrichtet werden sollte. Schließlich war ihr Vater ein Verbrecher.»

Sie hielt inne, aber Hercule Poirot sagte kein Wort. Er schien in die Schönheit der winterlichen Landschaft um Gorston Hall versunken zu sein.

«Ich werde das Gefühl nicht los», fuhr Magdalene fort, «dass die Art, wie mein Schwiegervater ermordet wurde, sehr bedeutungsvoll ist. Dieser Mord war so ganz unenglisch.»

Hercule Poirot wandte sich ihr langsam zu. Seine klugen Augen trafen die ihrigen mit dem Ausdruck erstaunter Frage.

«Ach, eher von spanischer Art, meinen Sie?»

«Nun, sie sind grausam, oder nicht?» Magdalenes Worte hatten etwas Kindisch-Naives. «All diese Stierkämpfe und so.»

«Wollen Sie damit sagen, dass Sie glauben, Señorita Estravados habe ihrem Großvater die Kehle durchgeschnitten?» Hercule Poirot stellte diese Frage mit amüsiertem Lächeln.

«Aber nein, Monsieur Poirot.» Magdalene war entsetzt. «Ich habe nichts Derartiges gesagt. Wirklich nicht.»

«Nein, das haben Sie vielleicht wirklich nicht.»

«Aber ich glaube, dass sie eine verdächtige Erscheinung ist. Schon nur die Art, wie sie heimlich etwas vom Boden aufhob gestern Abend.»

Poirots Stimme klang plötzlich ganz anders. Scharf fragte er: «Sie hat gestern Abend etwas vom Boden aufgehoben?»

Magdalene nickte. Ihr kindlicher Mund verzog sich böse.

«Ja, kaum dass wir das Zimmer betreten hatten. Erst sah sie sich schnell um, ob niemand sie dabei beobachtete, und dann stürzte sie sich darauf. Aber dieser Inspektor hatte es gesehen, glücklicherweise, möchte ich sagen, und zwang sie, das Ding herauszugeben.»

«Was hatte sie denn aufgehoben, wissen Sie das, Madame?»

«Nein, ich stand nicht nahe genug, um es zu sehen.» Das klang ehrlich bedauernd. «Irgendetwas sehr Kleines.»

Poirot runzelte die Stirn. «Das ist interessant», murmelte er.

«Ja, und deshalb fand ich, dass man Ihnen diese Sache mitteilen sollte», sagte Magdalene schnell. «Schließlich wissen wir überhaupt nichts von Pilars Erziehung und von dem Leben, das sie bis dahin geführt hat. Alfred ist immer so vertrauensvoll, und der lieben Lydia ist so was gleichgültig.» Dann schien ihr etwas einzufallen. «Ich sollte Lydia wohl fragen, ob ich nicht etwas helfen kann. Es sind sicher viele Briefe zu schreiben.»

Sie verabschiedete sich mit einem befriedigten Lächeln.

Poirot blieb gedankenverloren auf der Terrasse stehen.

Dort traf ihn Inspektor Sugden, der düsterer Stimmung zu sein schien.

«Guten Morgen, Mr Poirot. ›Fröhliche Weihnacht‹ scheint hier nicht der richtige Gruß zu sein, nicht wahr?»

«Mon cher collègue, fröhlich sehen Sie allerdings nicht gerade aus. Haben Sie gute Fortschritte gemacht?»

«Ich habe verschiedene Punkte klargestellt. Horburys Alibi ist wasserdicht. Der Platzanweiser des Kinos sah ihn mit dem Mädchen hineingehen und am Schluss des Films wieder herauskommen, und er ist ziemlich sicher, dass Horbury das Kino während der Vorstellung nie verließ. Das Mädchen schwört, dass er immer neben ihr gesessen habe.»

«Nun, dann ist zu diesem Punkt nicht mehr viel zu sagen», stellte Poirot nachdenklich fest.

Doch der zynische Sugden sagte:

«Bei jungen Mädchen kann man nie wissen, Sir. Lügen sich für einen Mann ins tiefste Fegefeuer.»

«Das spricht für sie», lächelte Poirot.

«Eine ausländische Art, die Dinge zu betrachten», brummte Sugden. «Und eine, die den Zielen der Gerechtigkeit zuwiderläuft.»

«Gerechtigkeit ist eine seltsame Sache», sagte Hercule Poirot. «Haben Sie jemals darüber nachgedacht?»

Sugden sah ihn groß an.

«Sie sind ein komischer Mensch, Mr Poirot.»

«Gar nicht. Ich folge nur einem logischen Gedankengang. Aber wir wollen uns auf keine Diskussion einlassen, nicht wahr? Ihrer Ansicht nach hat also das Fräulein vom Milchgeschäft nicht die Wahrheit gesagt?»

Sugden schüttelte den Kopf.

«Nein, so ist es nicht. Ich glaube sogar, dass sie nicht gelogen hat. Sie ist ein harmloses Geschöpf, und ich hätte es bestimmt sofort gemerkt, wenn sie geflunkert hätte.»

«Sie haben große Erfahrung.»

«Jawohl, Mr Poirot. Nachdem man sein Leben lang Aussagen aufgenommen hat, weiß man, wann jemand lügt und wann nicht. Nein, ich bin überzeugt, dass das Mädchen die Wahrheit sagte, und daraus ergibt sich also, dass Horbury den alten Mann nicht umgebracht hat und dass wir den Mörder im Familienkreis zu suchen haben.» Er holte tief Atem. «Jemand von ihnen hat es getan, Mr Poirot. Aber wer?»

«Haben Sie keine neuen Anhaltspunkte?»

«Doch. Mit den Telefongesprächen hatte ich sogar ziemlich Glück. Mr George Lee ließ sich um zwei Minuten vor neun mit Westeringham verbinden. Das Gespräch dauerte sechs Minuten.»

«Aha!»

«Sehr richtig! Ferner wurde kein anderes Gespräch angemeldet – weder nach Westeringham noch anderswohin.»

«Interessant», sagte Poirot anerkennend. «Mr George Lee gab an, dass er eben fertig war mit seinem Telefonat, als er den Lärm von oben hörte; aber er muss also mindestens zehn Minuten vorher damit fertig gewesen sein. Wo war er während dieser zehn Minuten? Mrs George Lee behauptet, ebenfalls telefoniert zu haben – in Wahrheit wurde kein zweiter Anruf vermittelt. Wo war sie also?»

«Sie haben eben mit ihr gesprochen, Mr Poirot.» Sugdens Feststellung enthielt eine Frage.

Doch Poirot antwortete: «Sie irren sich.»

«Wie bitte?»

«Ich habe nicht mit ihr gesprochen – sie hat mit mir gesprochen.»

Erst wollte Sugden diese feine Unterscheidung ungeduldig beiseite schieben, aber plötzlich begriff er ihre Bedeutung.

«Ach so? Was hatte sie Ihnen zu erzählen?»

«Sie wollte Verschiedenes festgehalten wissen: die unenglische Art des Mordes an Mr Lee; die möglicherweise recht zweifelhafte Abkunft väterlicherseits von Miss Estravados; die Tatsache, dass Miss Estravados etwas vom Boden aufhob, als sie das Zimmer des Toten betrat.»

«So? Das hat sie Ihnen erzählt?», sagte Sugden interessiert.

«Ja. Was hat die Señorita eigentlich aufgehoben?»

Sugden seufzte.

«Ich werde es Ihnen zeigen. Solche Dinge pflegen in Kriminalromanen das ganze Geheimnis schlagartig zu enthüllen. Wenn Sie daraus klug werden, dann gebe ich meinen Beruf auf.»

Sugden zog einen Briefumschlag aus der Tasche und schüttelte den Inhalt auf die Handfläche. Ein verstohlenes Lächeln überflog sein Gesicht.

«Hier, bitte. Können Sie sich darauf einen Reim machen?»

Auf der breiten Handfläche des Inspektors lagen ein dreieckiges Stück roten Gummis und ein kleiner Holznagel. Sugdens Heiterkeit vertiefte sich, als Poirot die beiden Gegenstände stirnrunzelnd betrachtete.

«Nun, Mr Poirot? Können Sie damit etwas anfangen?»

«Dieser kleine Gummifetzen könnte aus einer Toilettentasche geschnitten worden sein.»

«Wurde er auch, und zwar aus einem Beutel, der in Mr Lees Zimmer hing. Vielleicht hat Mr Lee das sogar selber getan. Aber warum? Horbury kann darüber gar keine Auskunft geben. Und wo der kleine Holzdübel herkommt, ist gänzlich schleierhaft.»

«Das ist allerdings seltsam», sagte Poirot leise.

«Sie können die Sachen behalten, wenn Sie wollen», bot Sugden ihm freundlich an. «Ich brauche sie nicht mehr.»

«Mon ami, ich will Sie nicht berauben.»

«Diese Dinge sagen Ihnen also gar nichts?»

«Ich muss gestehen – nein, gar nichts.»

«Großartig.», sagte Sugden ironisch und schob den Umschlag in seine Tasche zurück. «Wir kommen wirklich vorwärts.»

«Mrs George Lee erzählte mir, dass die junge Dame sich rasch bückte und die beiden Gegenstände verstohlen an sich nahm. Können Sie das bestätigen?»

Sugden überlegte sich diese Frage.

«N-nein», antwortete er schließlich zögernd, «das möchte ich nicht behaupten. Sie sah dabei nicht schuldbewusst aus, gar nicht, aber sie griff irgendwie – sozusagen zielbewusst ruhig nach ihnen – wenn Sie verstehen, wie ich es meine. Und sie wusste nicht, dass ich ihr dabei zusah. Davon bin ich überzeugt, denn sie fuhr zusammen, als ich sie stellte.»

Poirot dachte über diese Feststellung nach.

«Dann haben die beiden Sachen eben doch eine Bedeutung. Aber welche? Das kleine Stück Gummi ist ganz frisch. Es scheint zu gar nichts benützt worden zu sein. Was kann es also bedeuten? Und trotzdem ist…»

Sugden unterbrach ihn ungeduldig.

«Nun, Sie können sich darüber den Kopf zerbrechen, wenn Sie Lust dazu haben, Mr Poirot. Ich habe anderes zu tun.»

«Wie weit sind Sie denn mit der Klärung des Falls?», fragte Poirot.

Sugden zog sein Notizbuch hervor.

«Halten wir mal die Tatsachen fest. Vor allem wollen wir die Leute ausscheiden, die den Mord nicht begangen haben können.»

«Und das sind?»

«Alfred und Harry Lee. Sie haben ein unanfechtbares Alibi, ebenso Mrs Alfred Lee, die Tressilian kaum eine Minute vor dem Spektakel im ersten Stock noch im Wohnzimmer sah. Von den anderen habe ich mir eine Liste aufgestellt.»

Er reichte Poirot sein Notizbuch.

Zum Zeitpunkt des Mordes waren:

George Lee ?

Mrs George Lee ?

David Lee im Musikzimmer und spielte Klavier (bestätigt durch seine Frau)

Mrs David Lee im Musikzimmer (bestätigt durch ihren Mann)

Miss Estravados in ihrem Schlafzimmer (unbestätigt)

Stephen Farr im großen Saal und hörte Schallplatten(bestätigt durch drei Angestellte, die in ihrem Aufenthaltsraum die Musik hören konnten)

Poirot gab Sugden die Liste zurück.

«Was folgern Sie daraus?»

«Daraus ergibt sich, dass George Lee den alten Mann hätte töten können. Mrs George Lee hätte ihn töten können. Pilar Estravados hätte ihn töten können. Und entweder Mr oder Mrs David Lee, aber nicht beide, hätten ihn töten können.»

«Sie glauben also nicht an dieses Alibi?»

Inspektor Sugden schüttelte energisch den Kopf.

«Nicht um die Welt. Mann und Frau – glücklich verheiratet. Sie haben möglicherweise beide mit der Sache zu tun. Wenn aber nur einer von ihnen die Tat beging, dann ist der andere bereit, Meineide auf dieses Alibi zu schwören. Ich sehe die Sache folgendermaßen: Jemand hat im Musikzimmer Klavier gespielt – es kann David Lee gewesen sein, der ja nachgewiesenermaßen sehr musikalisch ist; aber nichts beweist, dass auch seine Frau im Musikzimmer war. Umgekehrt könnte Hilda Lee Klavier gespielt haben, während David die Treppe hinaufschlich und seinen Vater ermordete. Nein, dieser Fall liegt ganz anders als derjenige der beiden Brüder im Speisezimmer. Alfred und Harry Lee können sich nicht ausstehen und würden sich demnach nicht gegenseitig durch falsche Aussagen schützen.»

«Und wie steht es mit Stephen Farr?»

«Auch er ist verdächtig, weil sein Plattenspieler-Alibi doch ein bisschen fadenscheinig ist. Andererseits ist gerade ein solches Alibi manchmal glaubwürdiger als ein sozusagen unumstößliches, das in zehn von hundert Fällen ja doch konstruiert worden ist.»

Poirot neigte gedankenvoll den Kopf.

«Ich verstehe, wie Sie es meinen. Es ist das Alibi eines Menschen, der nicht ahnte, dass er vielleicht jemals eines brauchen werde.»

«Genau das meine ich. Und außerdem glaube ich nicht, dass ein Fremder in diese Sache verwickelt ist.»

«Da stimme ich Ihnen bei», warf Poirot schnell ein. «Das Gänze ist eine Familienangelegenheit. Gift, das im Blut arbeitet – Gefühle, die tief sitzen. Ich glaube, hier spielen Hass und Wissen mit.» Er machte eine vielsagende Handbewegung. «Ich weiß nicht – es ist alles sehr schwierig.»

Inspektor Sugden hatte respektvoll gewartet, war aber von Poirots Gedankengängen nicht sonderlich beeindruckt.

«Sicherlich, Mr Poirot», sagte er höflich. «Aber wir werden schon dahinter kommen, verlassen Sie sich drauf. Wir haben jetzt die Möglichkeiten festgestellt. George, Magdalene, David und Hilda Lee – Pilar Estravados – und fügen wir noch bei: Stephen Farr. Jetzt kommen wir zum Motiv. Wer hatte einen Grund, den alten Mr Lee aus dem Weg zu räumen?

Auch dabei können wir ein paar Leute von vornherein ausschalten. Miss Estravados zum Beispiel. Wenn ich recht verstanden habe, bekommt sie nach dem jetzt vorliegenden Testament überhaupt nichts. Wäre Simeon Lee vor seiner Tochter Jennifer gestorben, hätte diese ihren Anteil erhalten, und von ihr wäre er vielleicht auf Pilar übergegangen; aber da Jennifer Estravados ihrem Vater im Tod voranging, fällt ihr Erbteil den übrigen Geschwistern zu. Also lag es durchaus im Interesse von Miss Estravados, den alten Herrn am Leben zu wissen. Nachdem er sie sehr freundlich aufgenommen hatte, ist anzunehmen, dass er sie in einem neuen Testament bedacht hätte. Also hatte sie durch seinen Tod nichts zu gewinnen und alles zu verlieren. Sind Sie damit einverstanden?»

«Vollkommen.»

«Natürlich könnte sie ihm im Verlauf eines Streits die Kehle durchgeschnitten haben, aber das erscheint mir sehr unglaubwürdig. Erstens war sie dem alten Herrn zugetan, und zweitens lebte sie noch nicht lange genug im Haus, um irgendeinen Hass auf ihn zu haben. Aus all diesen Erwägungen dünkt es mich sehr unwahrscheinlich, dass Miss Estravados etwas mit dem Verbrechen zu tun hat – es sei denn, man will geltend machen, einem Menschen die Gurgel durchzuschneiden sei eine sehr unenglische Art zu morden, wie Ihre Freundin Magdalene Lee sich ausdrückte.»

«Nennen Sie sie nicht meine Freundin», fuhr Poirot auf. «Oder soll ich von Ihrer Freundin Pilar sprechen, die Sie so schön findet?»

Er erlebte das Vergnügen, mit anzusehen, wie der gute Inspektor wieder sichtlich verlegen wurde und tiefrot anlief. Poirot betrachtete ihn mit diebischer Schadenfreude. Dabei klang eine Spur ehrlichen Neids in seiner Stimme mit, als er sagte: «Es stimmt übrigens, dass Ihr Schnurrbart prachtvoll ist. Sagen Sie, benützen Sie eine Spezialpomade?»

«Pomade? Allmächtiger! Nein! Ich tue gar nichts zu seiner Pflege. Er wächst von selber.»

Poirot seufzte.

«Ein Geschenk der Natur.» Er zupfte an seinem eigenen üppigen schwarzen Schnurrbart und seufzte wieder. «Man kann die teuersten Salben verwenden», murmelte er, «das Nachfärben bekommt den Haaren einfach nicht.»

Inspektor Sugden schien für diese Fragen männlicher Schönheitspflege kein Interesse aufzubringen. Er fuhr unbeirrt fort: «Was den Grund für diesen Mord anbelangt, so glaube ich, dass wir auch Stephen Farr ausschließen können. Es ist möglich, dass zwischen dem alten Mr Lee und Farrs Vater irgendwelche Zwistigkeiten bestanden hatten, unter denen der alte Farr litt - aber mir kommt das nicht sehr wahrscheinlich vor. Farr war zu ruhig und sicher, als er davon sprach, und ich glaube nicht, dass er diese Sicherheit nur spielte. Nein, auf dieser Linie werden wir keine Fortschritte erzielen.»

«Das kommt mir auch so vor», stimmte Poirot ihm zu.

«Und noch eine Person hatte allen Grund, den alten Lee am Leben erhalten zu wollen – sein Sohn Harry. Zugegeben, er ist Nutznießer des Testaments, aber ich bin überzeugt, dass er nicht wusste, dass sein Vater ihm etwas hinterlassen werde. Jedenfalls hat er es bestimmt nicht wissen können. Es scheint im Gegenteil die Meinung vorgeherrscht zu haben, Harry habe durch sein Durchbrennen die Erbschaft verspielt. Aber jetzt schien er wieder in Gnaden aufgenommen zu werden. Es lag also in seinem Interesse, dass sein Vater ein neues Testament verfassen wollte, und er wäre doch nicht so verrückt gewesen, den alten Herrn vorher zu töten. Außerdem wissen wir ja, dass er es gar nicht hätte tun können. Sehen Sie, Mr Poirot, wir kommen ganz gut vorwärts. Wir können eine ganze Reihe Leute aus der Liste der Verdächtigen streichen.»

«Allerdings. Bald wird überhaupt niemand mehr übrig sein.»

«So weit sind wir denn doch noch nicht. Es bleiben uns George Lee und seine Frau, David Lee und Hilda Lee. Sie alle gewinnen durch den Tod Simeon Lees, und George Lee soll sehr geldgierig sein. Und sein Vater hatte gedroht, ihm seinen Zuschuss zu kürzen. Also hatte George Lee Grund und Möglichkeit für den Mord.»

«Weiter bitte!»

«Mrs George Lee. Ebenfalls gierig auf Geld wie eine Katze auf Sahne. Und ich könnte wetten, dass sie gerade jetzt bis über die Ohren in Schulden steckt. Sie war eifersüchtig auf die kleine Spanierin, weil sie bemerkte, dass der alte Herr die Kleine gern mochte. Als sie hörte, dass der Schwiegervater nach einem Anwalt verlangte, schlug sie schnell zu. Das sind schwerwiegende Verdachtsmomente.»

«Sicherlich.»

«Bleiben David Lee und seine Frau. Sie figurieren im Testament als Erben; aber ich glaube nicht, dass das Geldmotiv bei ihnen sonderlich ins Gewicht fällt.»

«Nein?»

«Nein. David Lee scheint ein Träumer zu sein – kein geschäftstüchtiger Mensch. Aber er ist – nun, er ist ein sonderbarer Kauz. Meiner Ansicht nach hätte der Täter drei Motive haben können: den Diamantendiebstahl – das Testament - puren, klaren Hass.»

«Ach, so sehen Sie die Dinge?»

«Gewiss, und zwar von Anfang an. Wenn David Lee seinen Vater ermordet hat, dann bestimmt nicht des Geldes wegen. Und wenn er der Täter war, dann würde das diesen ungemein blutigen Mord erklären.»

Poirot sah ihn anerkennend an.

«Richtig. Ich fragte mich, ob Sie das in Erwägung ziehen würden. So viel Blut – sagte Mrs Alfred. Es erinnert einen an uralte Rituale, an Blutopfer, daran, dass sich die Menschen mit dem Blut der Geopferten beschmierten.»

Sugden runzelte die Stirn.

«Wollen Sie damit sagen, dass der Täter verrückt gewesen sein muss?»

«Mon cher, es schlummern tiefe, verborgene Instinkte in den Menschen, von denen sie oft selber keine Ahnung haben. Blutrausch, Rachegefühle…»

«David Lee scheint ein ruhiger, harmloser Mensch zu sein», wandte Sugden zweifelnd ein.

«Sie übersehen die psychologische Seite dieser Sache», sagte Poirot. «David Lee ist ein Träumer, lebt fast ausschließlich in der Vergangenheit, und in ihm ist die Erinnerung an seine Mutter noch ungewöhnlich lebendig. Er vermied jahrelang ein Zusammentreffen mit seinem Vater, dem er die schlechte Behandlung seiner Mutter nie verziehen hat. Nun kam er nach Hause, um sich mit seinem Vater auszusöhnen – dies einmal vorausgesetzt. Aber er konnte nicht verzeihen und vergessen. Wir wissen nur eines: dass David Lee angesichts des Leichnams seines Vaters irgendwie befriedigt und beruhigt sagte: ›Gottes Mühlen mahlen langsam.‹ Vergeltung! Zahltag! Das Böse getilgt durch Blut!»

Sugden schauderte ein wenig.

«Hören Sie auf, Mr Poirot.», sagte er. «Es überläuft mich kalt. Aber es könnte sich sehr wohl verhalten, wie Sie sagen. In diesem Fall weiß Mrs David Lee Bescheid, ist aber entschlossen, ihren Mann zu schützen. Das traue ich ihr ohne weiteres zu, aber dass sie eine Mörderin sein sollte – kann ich mir nicht vorstellen. Sie ist eine so gemütvolle, einfache Frau.»

«Ach, so kommt sie Ihnen vor?» Poirot sah den Inspektor eigentümlich forschend an.

«Ja, ich meine – sie ist so häuslich, wenn Sie verstehen, was ich meine.»

«Gewiss, ich verstehe sehr gut.»

Sugden wurde sichtlich verwirrt.

«Mr Poirot, Sie haben Ihre eigenen Ansichten über den Fall! Bitte, sagen Sie sie geradeheraus.»

«Gewiss habe ich verschiedene Ideen, aber sie sind alle noch recht verschwommen. Wir wollen lieber zuerst Ihre Aufstellung durchgehen. Also: halb vier Familienzusammenkunft. Familie ist Zeuge des Telefongesprächs mit dem Anwalt. Dann beschimpft der alte Mann so ziemlich seine ganze Familie und wirft sie hinaus, worauf sie alle wie begossene Pudel gehen.» Poirot sah auf. «Hilda Lee blieb doch zurück.»

«Ja, aber nicht für lange. Um sechs Uhr hatte Alfred Lee eine Auseinandersetzung mit seinem Vater – eine unangenehme Auseinandersetzung. Harry soll wieder in den Familienkreis aufgenommen werden, worüber Alfred keineswegs erbaut ist. Damit wäre Alfred natürlich der Hauptverdächtige, weil er ein zwingendes Motiv für den Mord gehabt hätte. Aber weiter: Dann kommt Harry Lee. Er ist bester Laune, denn er hat den alten Mann für sich einzunehmen vermocht. Aber vor diesen beiden Unterredungen hat der alte Simeon Lee das Verschwinden der Diamanten entdeckt und mit mir telefoniert. Seinen beiden Söhnen sagt er nichts von seinem Verlust. Warum? Meiner Ansicht nach deshalb, weil er genau wusste, dass keiner von beiden mit dem Diebstahl zu tun haben konnte. Wie ich schon einmal sagte, glaube ich, dass der alte Mann Horbury und eine zweite Person verdächtigte und dass er ganz genau wusste, was er tun wollte. Erinnern Sie sich, dass er ausdrücklich verlangte, es sollte niemand mehr zu ihm hinaufkommen an jenem Abend. Und warum? Weil er zwei Dinge vorhatte: Erstens erwartete er meinen Besuch und zweitens denjenigen der anderen verdächtigen Person. Jemanden hatte er gebeten, nach dem Abendessen sofort zu ihm zu kommen. Aber wen? Es könnte George Lee gewesen sein, doch wahrscheinlicher dünkt mich Mrs George Lee. Und da betritt nun auch wieder Pilar Estravados die Bildfläche. Ihr hatte der alte Mr Lee die Diamanten gezeigt und ihr gesagt, wie wertvoll sie seien. Wissen wir eigentlich, ob das Mädchen keine Diebin ist? Bedenken Sie, wie undurchsichtig das Geheimnis um ihren Vater ist. Vielleicht war er ein Berufsverbrecher und endete deshalb im Gefängnis.»

«Und so betritt, wie Sie sagen, Pilar Estravados wieder die Bildfläche», murmelte Poirot langsam.

«Jawohl – als Diebin. Dann könnte sie den Kopf verloren und ihren Großvater angegriffen haben – als sie merkte, dass ihr Diebstahl entdeckt worden war.»

«Gewiss, das wäre möglich.»

Inspektor Sugden sah Poirot scharf an.

«Aber Sie selber glauben nicht daran, nicht wahr? So erklären Sie mir doch endlich, was Sie von der Sache halten.»

«Sehen Sie, ich komme immer wieder auf das eine zurück. Auf den Charakter des Verstorbenen. Was war Simeon Lee für ein Mensch?»

«Das ist nun wirklich kein Geheimnis», antwortete Sugden erstaunt.

«Dann klären Sie mich bitte auf. Sagen Sie mir, was man hier in der Gegend von ihm hielt.»

Inspektor Sugden fuhr sich nachdenklich mit dem Finger übers Kinn. Er sah ziemlich bestürzt aus.

«Ich selber bin kein Hiesiger. Ich komme aus Reeveshire, aus der nächsten Grafschaft. Aber natürlich war Mr Lee auch bei uns bekannt. Was ich über ihn weiß, weiß ich vom Hörensagen.» – «Ja? Und was wissen Sie also vom Hörensagen?»

«Nun, es heißt, dass er ein gerissener Kauz war, dass ihn so leicht niemand übers Ohr hauen konnte. Aber er war großzügig in Geldsachen, freigebig, sagen die Leute. Mich wundert nur, wie Mr George Lee so geizig sein kann als Sohn dieses Vaters.»

«Ach? Aber sehen Sie, es scheinen sich in dieser Familie zwei grundverschiedene Typen entwickelt zu haben. Alfred, George und David gleichen – wenigstens oberflächlich betrachtet - ihrer Mutter. Ich habe mir heute früh die Bilder in der Familiengalerie angesehen.»

«Er war jähzornig», fuhr Sugden fort, «und hatte in Bezug auf Frauenaffären einen schlechten Ruf – wenigstens in seinen jüngeren Jahren. Aber sogar in diesen Fällen benahm er sich anständig. Wenn sich Folgen einstellten, zahlte er großzügig und sah zu, dass das Mädchen verheiratet wurde. Er mag ein Schürzenjäger gewesen sein, aber gemein war er nicht. Seine Frau soll er schlecht behandelt haben, dauernd anderen nachgelaufen sein und sie sei an gebrochenem Herzen gestorben, sagen die Leute. Das ist so eine Redensart, aber ich glaube, dass die arme Frau wirklich sehr unglücklich war. Sie war immer krank, und man hat sie nicht viel gesehen. Er war ganz bestimmt ein merkwürdiger Mensch, der alte Lee. Auch rachsüchtig soll er gewesen sein. Man erzählt sich, dass er einen Hieb immer zurückzahlte, auch wenn er manchmal jahrelang auf seine Rache warten musste.»

«Die Mühlen Gottes mahlen langsam, aber sehr fein», murmelte Poirot vor sich hin.

«Die Mühlen des Teufels, müsste man da eher sagen», warf Sugden hart ein. «Göttliches war bestimmt nichts an Simeon Lee. Er war von der Art, die ihre Seele dem Teufel verkauft und sich noch freut über den Handel. Und stolz war er auch, stolz wie Luzifer!»

«Stolz wie Luzifer!», wiederholte Poirot. «Das ist sehr aufschlussreich, was Sie da sagen.»

Inspektor Sugden sah ihn verwundert an.

«Sie wollen doch nicht etwa andeuten, er sei umgebracht worden, weil er stolz war?»

«Ich meine, Stolz ist eine Eigenschaft, die sich vererbt. Simeon Lee kann seinen Stolz den Söhnen vererbt haben…»

Er brach ab. Hilda Lee war aus dem Haus getreten und sah die Terrasse entlang.

«Ich habe Sie gesucht, Mr Poirot.»

Inspektor Sugden hatte sich mit einer Entschuldigung verabschiedet und ging ins Haus zurück. Hilda sah ihm nach und sagte: «Ich habe nicht gewusst, dass er bei Ihnen war. Ich glaubte, er sei mit Pilar im Garten. Ein schöner Mann, der Inspektor, und sehr rücksichtsvoll.»

Ihre Stimme klang weich und angenehm beruhigend. Sie wandte sich wieder Poirot zu.

«Mr Poirot, Sie müssen mir helfen.»

«Es wird mir ein Vergnügen sein, Madame.»

«Sie sind ein kluger Mensch, Mr Poirot, das habe ich gestern Abend gespürt. Es gibt vieles, was Sie wahrscheinlich mit Leichtigkeit herausbekommen werden, und ich möchte, dass Sie meinen Mann verstehen.»

«Ja, Madame?»

«Inspektor Sugden würde ich gewisse Dinge nicht gerne anvertrauen. Er könnte sie nicht begreifen. Aber Sie werden Verständnis dafür haben.»

Poirot verbeugte sich. «Ich fühle mich geehrt, Madame.»

Hilda Lee fuhr ganz ruhig fort: «Seit vielen Jahren, eigentlich seit wir verheiratet sind, ist mein Mann ein seelischer Krüppel - wenn ich mich so ausdrücken kann. Sehen Sie, eine körperliche Krankheit tut weh und quält einen; aber Fleischwunden heilen, Knochen wachsen wieder zusammen, und selbst wenn vielleicht eine gewisse Schwäche zurückbleibt oder eine Narbe, so ist man doch nach einiger Zeit wieder gesund. Mein Mann aber hat im empfindlichsten Alter eine schwere seelische Krankheit durchgemacht. Er sah seine über alles geliebte Mutter sterben. Für diesen Tod glaubte er moralisch seinen Vater verantwortlich machen zu müssen, und von dieser Zwangsvorstellung hat er sich nie mehr befreien können. Der Hass auf seinen Vater blieb immer lebendig. Ich habe ihn überredet – ich, Mr Poirot! –, zum Weihnachtsfest hierher zu fahren, damit er sich mit seinem Vater aussöhnen solle. Das wünschte ich um seinetwillen, damit diese seelische Wunde endlich heilen könnte. Jetzt weiß ich, dass unser Kommen ein Fehler war. Simeon Lee fand Vergnügen daran, in dieser Wunde herumzustochern. Und das war ein sehr gefährliches Unterfangen.»

«Wollen Sie mir zu verstehen geben, Madame, dass Ihr Gatte seinen Vater umgebracht hat?»

«Ich sage Ihnen, Mr Poirot, dass er das sehr leicht hätte tun können. Und ich sage Ihnen weiter, dass er es nicht tat! Im Augenblick, da Simeon Lee ermordet wurde, saß sein Sohn im Musiksalon und spielte einen Trauermarsch. Der Wunsch zu töten lebte in seinem Herzen, kroch in seine Finger und erstarb in einer Flut von Tönen – das ist die Wahrheit.»

Poirot blieb eine Minute lang in Gedanken versunken stehen. Dann sagte er: «Und wie beurteilen Sie, Madame, das tragische Leben und Sterben der Mutter Ihres Gatten?»

«Ich habe Lebenserfahrung genug, um zu wissen, dass man nie nach äußeren Umständen urteilen soll», antwortete Hilda Lee klar und überlegt. «Allem Anschein nach war Simeon Lee durchaus im Unrecht und behandelte seine Frau abscheulich. Aber gleichzeitig glaube ich, dass es eine Art von Schwächlichkeit, eine Veranlagung zum Leiden und Dulden gibt, die die schlimmsten Instinkte in einem Mann wachrufen kann – jedenfalls in einem Mann, wie mein Schwiegervater einer war. Simeon Lee hätte, glaube ich, Mut und Charakterfestigkeit bewundert. Geduld und Tränen irritierten ihn.»

Poirot nickte.

«Ihr Mann sagte uns gestern Abend: ›Meine Mutter hat sich nie beklagt.‹ Ist das wahr?»

Ungeduldig erwiderte Hilda Lee:

«Nein, das ist natürlich nicht wahr! Sie beklagte sich dauernd bei David. Die ganze Last ihres Unglücks legte sie auf seine Schultern. Und er war zu jung, viel zu jung, um alles tragen zu können, was sie ihm aufbürdete.»

Poirot sah sie nachdenklich an. Sie errötete unter seinen Blicken und nagte an ihrer Lippe.

«Ich verstehe», sagte Poirot.

«Was verstehen Sie?», fragte sie scharf.

«Ich verstehe, dass Sie Ihrem Gatten in erster Linie Mutter sein mussten, wo Sie es vorgezogen hätten, seine Frau zu sein.»

Sie wandte sich ab.

In diesem Augenblick kam David Lee über die Terrasse. Seine Stimme klang hell und fröhlich, als er rief:

«Hilda, ist heute nicht ein herrlicher Tag? Fast wie Frühling mitten im Winter.»

Er kam näher. Eine blonde Locke fiel ihm in die Stirn, seine blauen Augen leuchteten. Er sah erstaunlich jung und knabenhaft aus. So unbeschwert strahlend und heiter sah er aus, dass Poirot den Atem anhielt.

«Komm, wir wollen zum See hinuntergehen, Hilda», sagte David. Er lächelte sie an, legte den Arm um ihre Schulter, und die beiden entfernten sich.

Poirot sah ihnen nach und bemerkte, dass Hilda sich plötzlich umwandte und ihm einen Blick zuwarf. Es lag eine bange Frage in diesem Blick – oder war es sogar Angst? Langsam ging Poirot bis ans andere Ende der Terrasse.

Ich sage ja immer, dass ich ein richtiger Beichtvater bin! Und da im Allgemeinen Frauen häufiger zur Beichte gehen, werden heute Morgen hauptsächlich Frauen zu mir kommen. Ich frage mich, wer die nächste sein wird, dachte Poirot.

Kaum hatte er am Ende der Terrasse kehrtgemacht, um langsam zurückzugehen, sah er diese Frage bereits beantwortet. Lydia Lee kam ihm entgegen.

«Guten Morgen, Mr Poirot. Tressilian sagte mir, dass ich Sie mit Harry hier finden würde, aber ich bin froh, dass Sie allein sind. Mein Mann redet ständig von Ihnen. Er möchte Sie dringend sehen.»

«Ach? Soll ich zu ihm hineingehen?»

«Nicht im Augenblick. Er hat heute Nacht kaum geschlafen. Ich musste ihm schließlich ein Schlafmittel geben. Jetzt schläft er noch, und ich möchte ihn nicht wecken.»

«Das verstehe ich sehr gut. Sie haben vollkommen Recht. Ich habe schon gestern Abend bemerkt, wie tief Ihr Gatte erschüttert war.»

Sie sah ihn ernst an.

«Sehen Sie, Monsieur Poirot, er liebte seinen Vater wirklich, mehr als die anderen.»

Poirot nickte.

«Haben Sie – hat der Inspektor – bereits eine Ahnung, wer diesen grauenvollen Mord begangen haben könnte?»

«Wir haben verschiedene Ideen, Madame», gab Poirot ausweichend zurück, «aber nur davon, wer die Tat nicht verübt haben kann.»

«Es ist alles wie ein Albtraum – fantastisch –, ich kann nicht fassen, dass es wirklich sein soll», sagte Lydia nervös. Plötzlich sah sie Poirot aufmerksam an. «Was ist mit Horbury? War er wirklich im Kino, wie er angab?»

«Ja, Madame. Seine Aussage wurde genau überprüft. Er hat die Wahrheit gesagt.»

Lydia zupfte an einem Eibenästchen. Sie wurde blasser.

«Aber das ist ja entsetzlich!», stieß sie plötzlich hervor. «Dann - dann bleibt ja nur die Familie.»

«Sehr richtig.»

«Monsieur Poirot, das kann ich nicht fassen!»

«Madame, das können Sie sehr wohl fassen.»

Sie schien protestieren zu wollen; aber plötzlich begann sie reumütig zu lächeln.

«Jeder Mensch neigt zu Heuchelei», sagte sie leise.

«Gewiss, Madame. Und wenn Sie sich entschließen können, mir gegenüber ganz offen zu sein, dann müssen Sie zugeben, dass Sie es durchaus natürlich fänden, wenn ein Mitglied Ihrer Familie den alten Mr Lee ermordet haben sollte.»

«Das ist nun wirklich eine ungewöhnliche Feststellung, Monsieur Poirot», sagte Lydia steif.

«Gewiss. Aber Ihr Schwiegervater war ein sehr ungewöhnlicher Mensch.»

«Armer alter Mann! Jetzt tut er mir Leid. Solange er lebte, hat er mich unsagbar geärgert.»

«Das kann ich mir lebhaft vorstellen», murmelte Poirot.

Er neigte sich über einen der kleinen Ziergärten.

«Reizend. Ganz bezaubernd ausgedacht.»

«Ich freue mich, dass sie Ihnen gefallen», sagte Lydia. «Mein Steckenpferd, wissen Sie. Finden Sie den arktischen mit den Pinguinen und dem Eis auch hübsch?»

«Sehr hübsch! Und das hier – was stellt das dar?»

«Das Tote Meer – soll es werden! Es ist noch nicht ganz fertig. Aber das hier ist Piana auf Korsika. Dort sind die Felsen ganz rot, wissen Sie, und das sieht zusammen mit dem blauen Meer wundervoll aus. Aber ich mag auch meine Wüstenlandschaft gern. Gefällt sie Ihnen nicht?»

Sie führte ihn plaudernd immer weiter. Als sie das Ende der Terrasse erreicht hatten, sah sie auf ihre Armbanduhr.

«Ich werde jetzt hinaufgehen und sehen, ob Alfred erwacht ist.»

Als sie gegangen war, schlenderte Poirot über die Terrasse zurück und machte erst vor dem Toten Meer halt. Lange sah er interessiert darauf hinunter. Dann bückte er sich und ließ ein paar der Kieselsteinchen durch seine Finger rinnen. Plötzlich stutzte er. Er hielt die Steine dicht vor seine Augen. «Sapristi!», sagte er. «Das ist allerdings eine Überraschung! Was zum Kuckuck bedeutet das?»

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