23. Dezember

Tressilian ging zur Eingangstür. Es war auf eine äußerst aufdringliche und ungehörige Art geläutet worden, und jetzt eben, ehe er noch die Eingangshalle hatte durchqueren können, erklang das durchdringende Schrillen schon wieder.

Tressilian ärgerte sich. So unhöflich, ungeduldig läutete man nicht an der Haustür seines Herrn. Wenn es vielleicht wieder eine Gruppe dieser Weihnachtssänger war, dann wollte er ihnen seinen Standpunkt deutlich klar machen.

Durch die Milchglasscheibe sah er eine Silhouette – einen großen Mann mit einem Schlapphut. Er öffnete. Wie er gedacht hatte: ein unordentlich gekleideter, auffälliger Fremder - grässlich schreiender Anzug –, ein aufdringlicher Bettler.

«Donnerwetter! Das ist doch Tressilian!», rief der Fremde. «Wie geht es Ihnen, Tressilian?»

Tressilian starrte ihn an, holte tief Atem, starrte noch einmal. Diese scharf geschnittene, arrogante Wangen- und Kinnpartie, die schmale Nase, die vergnügten Augen…

«Mr Harry», stieß er hervor.

Harry Lee lachte. «Habe ich Sie erschreckt? Warum? Ich werde doch erwartet, oder etwa nicht?»

«Doch, Sir. Natürlich, Sir.»

«Also! Weshalb dann diese Überraschung?» Harry Lee trat ein paar Schritte zurück und sah sich das Haus, einen soliden, aber fantasielosen Ziegelbau, von außen an.

«Immer noch der alte Gräuel», sagte er, «aber es steht jedenfalls noch, das ist die Hauptsache. Wie geht’s meinem Vater?»

«Er ist leicht invalid, Sir. Muss das Zimmer hüten und kann sich nicht bewegen. Aber den Umständen entsprechend, geht es ihm sehr gut.»

«Der alte Halunke!» Harry Lee trat ein und überließ Tressilian seinen Schal und den theatralischen Hut.

«Und mein lieber Bruder Alfred? Geht es ihm auch gut? Freut er sich, mich zu sehen?»

«Ich glaube schon, Sir.»

«Na, ich nicht. Im Gegenteil! Wahrscheinlich hat er Zustände gekriegt, als er hörte, dass ich komme. Wir haben uns nie ausstehen können. Lesen Sie manchmal die Bibel, Tressilian?»

«Gewiss, von Zeit zu Zeit lese ich darin.»

«Dann kennen Sie doch die Geschichte vom verlorenen Sohn. Der brave Bruder freute sich gar nicht darüber, dass der andere zurückkam, erinnern Sie sich? Der brave Stubenhocker Alfred freut sich bestimmt auch nicht über meine Rückkehr.»

Tressilian sah wortlos zu Boden. Sein steifer Rücken drückte Protest aus. Harry schlug ihm auf die Achsel.

«Los, alter Knabe. Das gemästete Kalb erwartet mich! Führen Sie mich sofort zu ihm.»

«Wollen Sie mir bitte zuerst ins Wohnzimmer folgen, Mr Harry. Ich weiß nicht, wo die Herrschaften alle sind. Man konnte Ihnen den Wagen nicht entgegenschicken, weil niemand Ihre genaue Ankunftszeit wusste.»

Harry blickte sich nach allen Seiten um.

«Alle alten Schaustücke noch am alten Platz», stellte er fest. «Ich glaube, es hat sich überhaupt nichts verändert, seit ich vor zwanzig Jahren fortging.»

Er trat ins Wohnzimmer. Der alte Diener murmelte: «Ich werde nun Mr oder Mrs Alfred suchen gehen», und entfernte sich eilig.

Harry Lee hatte ein paar Schritte getan, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Fassungslos und ungläubig starrte er die Gestalt an, die dort auf dem Fenstersims saß. Seine Augen überflogen das schwarze Haar und die gebräunte Haut.

«Allmächtiger!», stieß er endlich hervor. «Sind Sie vielleicht die siebente und schönste Frau meines Vaters?»

Die Gestalt glitt von ihrem Sitz und trat auf ihn zu.

«Ich bin Pilar Estravados», stellte sie sich vor. «Und du musst mein Onkel Harry sein, Mutters Bruder.»

«Dann bist du also Jennys Tochter?»

Pilar überhörte diese Frage. «Warum hast du mich gefragt, ob ich die siebente Frau deines Vaters sei? Hatte er wirklich sechs Frauen?»

Harry lachte. «Nein, ich glaube, er hatte nur eine – offiziell wenigstens. Nun, Pilar, es ist wirklich kaum zu glauben, so etwas Blühendes wie du in diesem Mausoleum anzutreffen.»

«Diesem Maus… was?»

«In diesem Wachsfigurenkabinett. Ich habe dieses Haus immer grässlich gefunden; aber heute kommt es mir lausiger vor denn je.»

«O nein», wandte Pilar hier entschieden, wenn auch mit einer fast ehrfürchtig gedämpften Stimme ein, «es ist sehr schön hier. Die Möbel aus schwerem Holz und die Teppiche – dicke, weiche Teppiche überall – und die vielen, vielen Ornamente. Alles ist von so guter Qualität und so kostbar.»

«Das stimmt allerdings.» Er sah sie belustigt an. «Trotzdem finde ich es sehr witzig, dich hier inmitten –»

Er brach ab, denn Lydia hatte eben das Zimmer betreten.

«Guten Tag, Harry. Ich bin Lydia – Alfreds Frau.»

«Guten Tag, Lydia.» Er schüttelte ihr die Hand, wobei er ihr intelligentes, ausdrucksvolles Gesicht mit einem kurzen Blick musterte und gleichzeitig befriedigt wahrnahm, wie elegant sie sich bewegte. Nur wenige Frauen wussten sich so zu bewegen. Lydia ihrerseits versuchte schnell, sich über den Eindruck klar zu werden, den er ihr machte. Er sieht angeberisch aus, aber nicht abstoßend. Trotzdem würde ich ihm nicht von hier bis da trauen, dachte sie. Laut sagte sie lächelnd: «Nun, wie sieht es hier nach so vielen Jahren aus? Sehr verändert?»

«Ziemlich unverändert.» Er sah sich um. «Dieses Zimmer wurde umgestellt.»

«O ja, verschiedentlich, und zwar durch mich.»

Er lachte ihr mit einem plötzlichen, koboldartigen Grinsen zu, das sie an den alten Mann im oberen Stock erinnerte.

«Es hat jetzt viel mehr Klasse. Man hat mir ja seinerzeit berichtet, der gute alte Alfred habe ein Mädchen geheiratet, dessen Vorfahren mit dem Eroberer herüberkamen.»

Lydia lächelte. «Ja, ich glaube. Aber sie haben sich enorm vermehrt seit jenen Tagen.»

«Und wie geht es Alfred?», fragte Harry. «Ist er immer noch der gleiche Reaktionär?»

«Ich habe keine Ahnung, ob du ihn verändert finden wirst.»

«Und was machen all die anderen? Sind sie über ganz England verstreut?»

«Nein – sie werden zu Weihnachten alle hier sein.»

Harry riss die Augen weit auf. «Was? Ein richtiggehender Familientag? Früher war er doch gar nicht sentimental. Hat sich nie einen Deut um seine Familie gekümmert. Er muss sich sehr verändert haben.»

«Vielleicht.» Lydias Stimme klang trocken.

Pilar hörte wortlos und interessiert zu.

«Und George? Noch immer ein alter Geizkragen? Wie der sich aufregen konnte, wenn er einmal einen halben Penny von seinem Taschengeld hergeben musste.»

«George ist Parlamentsmitglied, Abgeordneter für Westeringham.»

Harry warf den Kopf zurück und lachte schallend.

«Unser Dickerchen im Parlament? Das ist ja komisch!»

Sein hemmungsloses Lachen klang fast brutal und schien den Raum zu sprengen. Pilar hielt den Atem an, und auch Lydia zuckte leicht zusammen.

Dann, als Harry eine Bewegung hinter sich hörte, brach seine laute Heiterkeit jäh ab. Alfred stand hinter seinem Bruder und musterte ihn mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck.

Zuerst starrte Harry ihn bewegungslos an; doch dann überflog ein Lächeln sein Gesicht. Er trat einen Schritt vor.

«Nein, so etwas! Das ist ja Alfred!»

Alfred nickte. «Hallo, Harry», sagte er steif.

Wie absurd, dachte Lydia. Da stehen sie sich gegenüber wie zwei Hunde, die sich beschnüffeln.

Pilars Augen waren weit aufgerissen. Wie blöd sich die beiden anstarren, dachte sie. Warum küssen sie sich nicht? Ach nein, das tun Engländer ja nicht. Aber sie könnten doch irgendetwas reden. Warum sehen sie einander nur an?

Harry brach schließlich das Schweigen. «Ein komisches Gefühl, wieder da zu sein, wirklich.»

«Begreiflich. Es sind ja auch ein paar Jahre vergangen, seit du –seit du von hier fortgingst.»

Harry fuhr sich mit dem Zeigefinger übers Kinn – eine Bewegung, die bei ihm immer auf Kampfbereitschaft schließen ließ.

«Ja», sagte er. «Ich bin froh, dass ich…», er machte eine Pause, um dem Wort größeren Nachdruck zu verleihen, «heimgekommen bin.»

«Ich bin wahrscheinlich ein sehr verworfener Mensch gewesen», sagte Simeon Lee. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und strich sich mit einem Finger über das herausfordernd vorgereckte Kinn. Vor ihm brannte und tanzte das Feuer im Kamin. Pilar saß daneben und schützte ihr Gesicht mit einem kleinen Papierfächer vor der Glut. Manchmal fächelte sie sich damit Luft zu. Simeon beobachtete ihre weiche, anmutige Handbewegung mit großer Genugtuung. Mehr zu sich selber als zu der jungen Frau meinte er dann: «Jawohl, ein schlechter Mensch. Oder was meinst du dazu, Pilar?»

Pilar zuckte die Achseln. «Alle Männer sind schlecht, sagen die Nonnen, und deshalb müssen sie für sie beten.»

«Aber ich bin noch viel schlechter gewesen als die meisten anderen.» Simeon lachte. «Ich bereue es nicht, weißt du. Nichts bereue ich. Es hat mir Spaß gemacht – jede Minute habe ich genossen. Man sagt, im Alter bereue man manches. Das ist Quatsch! Ich bereue nichts, und dabei habe ich wie gesagt so ziemlich alle Sünden begangen. Ich habe betrogen, gestohlen und gelogen. Herrgott, ja! Und Frauen – immer Frauen! Jemand hat mir kürzlich von einem Araberscheich erzählt, der vierzig Söhne als Leibwache hatte – alle ungefähr gleichaltrig. Vierzig! Ich weiß zwar nicht, ob ich es auf vierzig brächte, aber ich könnte ebenfalls eine ganz anständige Leibwache zusammenstellen, wenn ich alle meine Unehelichen um mich versammelte. Nun, Pilar? Was sagst du dazu? Bist du entsetzt?»

«Nein, warum sollte ich entsetzt sein?», fragte Pilar verwundert. «Männer sind immer hinter den Frauen her. Mein Vater auch. Deshalb sind doch Frauen oft so unglücklich und gehen in die Kirche, um zu beten.»

Der alte Simeon runzelte die Stirne. «Ich habe Adelaide unglücklich gemacht», murmelte er. «Gott, war das eine Frau! Rosig, gesund und hübsch, als ich sie heiratete. Und später? Immer jammernd und weinend. Es macht einen Mann verrückt, wenn seine Frau dauernd weint. Sie hatte keinen Mut, das war es. Wenn sie mir nur ein einziges Mal widersprochen hätte. Aber sie hat immer nachgegeben, immer. Als ich sie heiratete, glaubte ich, dass ich sesshaft werden, eine Familie gründen, mein altes Leben vergessen könnte…»

Er verstummte und starrte in das Feuer.

«Eine Familie gründen! Und was für eine Familie!» Er stieß ein schrilles, verächtliches Lachen aus. «Schau sie dir an! Nicht ein Kind dabei, das mir gleicht! Haben sie eigentlich nichts von meinem Blut mitbekommen? Nicht ein wirklicher Sohn unter all den ehelich und unehelich geborenen! Alfred zum Beispiel – um Himmels willen! Ich habe so genug von ihm! Wenn er mich mit seinen treuen Hundeaugen ansieht, immer bereit, mir gehorsam zu sein! Dieser Trottel! Seine Frau – Lydia mag ich gern. Lydia ist gescheit, aber sie kann mich nicht ausstehen, ganz und gar nicht ausstehen. Sie findet sich nur wegen Alfred mit mir ab.»

Er sah auf das Mädchen hinab. «Pilar, merk dir eins: Nichts ist so aufreizend wie Ergebenheit.»

Sie lächelte ihn an. Ihre junge, lebensvolle Weiblichkeit gefiel ihm.

«Und George?», fuhr er fort. «Was ist George? Ein fetter Stockfisch! Ein aufgeblasener Windbeutel! Keinen Verstand, keinen Mut und knauserig in Geldsachen! David ist ein Narr und ein Träumer, immer gewesen. Ein Muttersöhnchen. Das einzige Vernünftige, was er jemals getan hat, ist, dass er diese energische, zuverlässige Frau geheiratet hat.» Er schlug plötzlich mit der Hand auf die Armlehne. «Harry ist noch der Beste! Der arme alte Harry, der Schandfleck der Familie! Aber er ist wenigstens lebendig!»

Pilar nickte. «Ja, er ist nett. Er lacht, und dabei wirft er den Kopf so zurück… O ja, ich mag ihn auch sehr gern.»

Der alte Mann sah sie an. «So, du magst ihn gern? Harry hat immer Glück bei den Frauen, darin schlägt er mir nach.» Er kicherte. «Ich habe ein gutes Leben gehabt – ein sehr gutes Leben. Von allem habe ich bekommen.»

«In Spanien haben wir ein Sprichwort, das heißt: Nimm dir, was du willst, und bezahle dafür, sagt Gott.»

«Das ist ausgezeichnet.» Simeon Lee horchte ihren Worten nach. «Nimm dir, was du willst. Das habe ich mein Leben lang getan, genommen, was ich wollte.»

«Und hast du dafür bezahlt?» Pilars Stimme klang plötzlich hell und eindringlich.

Simeon fuhr auf und starrte sie an. «Was sagst du da?»

«Ich fragte: Hast du dafür bezahlt, Großvater?»

«Das weiß ich nicht», antwortete der alte Mann zögernd. Dann schlug er wieder mit der Hand auf die Armlehne. «Wie kommst du dazu, mich das zu fragen?»

«Ich habe eben darüber nachgedacht», sagte Pilar sanft.

«Du kleiner Teufelsbraten!»

«Aber du hast mich trotzdem gern, Großvater, nicht wahr?»

«Ja, ich habe dich gern, ich sitze gern hier mit dir. Ich habe lange niemand so Junges und Schönes mehr um mich gehabt. Es tut mir gut, und es wärmt meine alten Knochen. Du bist mein Fleisch und Blut. Das rechne ich Jennifer hoch an. Sie war noch die Beste von allen.»

Pilar lächelte weich, aber undurchdringlich.

«Dabei kannst du mich nicht etwa hinters Licht führen, kleine Katze. Ich weiß genau, weshalb du so geduldig hier sitzt und mir zuhörst. Geld! Immer geht es um Geld! Oder willst du mir vielleicht weismachen, dass du deinen alten Großvater liebst?»

«Nein, das nicht. Aber ich mag dich gern. Das musst du mir glauben, denn es ist wahr. Wahrscheinlich warst du ein skrupelloser Mann, aber sogar das gefällt mir. Und du hast Interessantes erlebt, du bist viel gereist und hast ein Abenteuerleben geführt. Wenn ich ein Mann wäre, wollte ich genauso leben.»

Simeon nickte. «Jawohl, das würdest du vermutlich. Wir hätten Zigeunerblut in uns, sagt man. In meinen Söhnen, mit Ausnahme von Harry, scheint es nicht mehr wirksam zu sein; aber ich glaube, in dir ist es wieder lebendig geworden. Man muss nur warten können. Ich habe einmal fünfzehn Jahre lang gewartet, um mit einem Mann, der mich gekränkt hatte, eine Rechnung zu begleichen. Das ist ein weiteres Merkmal von uns Lees – dass wir nichts vergessen! Wir rächen alles Böse, und wenn es Jahre dauert. Jenen Mann habe ich nach fünfzehn Jahren gefasst – und ich habe ihn zertreten, ruiniert, ausgelöscht. Das war in Südafrika. Ein großartiges Land!»

«Bist du noch einmal dort gewesen?»

«Ja, die fünf Jahre nach meiner Heirat verbrachte ich noch unten. Nachher bin ich nie mehr zurückgefahren.» Seine Stimme wurde leiser. «Wart, ich will dir was zeigen.»

Er stand mühsam auf, nahm seinen Stock und humpelte an den Safe, öffnete ihn und winkte sie zu sich.

«Da! Schau dir die an! Spüre sie! Lass sie durch deine Finger laufen!» Er lachte über ihr erstauntes Gesicht. «Das sind Diamanten, Kind! Diamanten!»

Pilars Augen weiteten sich. «Aber das sind ja nur kleine Kieselsteine!»

«Es sind ungeschliffene Diamanten. So findet man sie.»

«Und wenn sie geschliffen würden, würden sie funkeln und blitzen wie richtige Diamanten? Nein! Das glaube ich nicht!»

Er amüsierte sich königlich. «Trotzdem ist es wahr. Und diese Hand voll Kieselsteine ist viele tausend Pfund wert.»

Pilar wiederholte seine Worte, stockend, mit Pausen dazwischen.

«Ist… viele… tausend… Pfund… wert?»

«Sagen wir neun – oder zehntausend mindestens. Es sind große Steine, weißt du.»

«Warum verkaufst du sie dann nicht?»

«Weil ich sie gerne hier behalte. Ich brauche kein Geld.»

«Ah! Darum!» Pilar schien tief beeindruckt zu sein. «Und warum lässt du sie nicht schleifen, damit sie schön werden?»

«Weil sie mir so besser gefallen.» Sein Gesicht verdüsterte sich plötzlich. Er wandte sich um und sprach wie zu sich selber weiter. «Weil sie mir alles zurückbringen, wenn ich sie berühre – die helle Sonne, den Geruch der weiten Weiden, die Rinderherden, den alten Eb, die Freunde, die Abende…»

Es wurde leise an die Türe geklopft.

«Schnell, leg sie zurück und schlag die Tür zu!», zischelte Simeon. Dann rief er: «Herein!»

Horbury trat ein und meldete ehrerbietig: «Der Tee, Sir.»

Hilda sagte: «Ach, da bist du, David. Ich hab dich überall gesucht. Aber hier wollen wir nicht bleiben. Es ist scheußlich kalt hier drinnen.»

David antwortete ihr nicht sofort. Er stand vor einem tiefen Fauteuil mit verblichenem Bezug. Plötzlich stieß er hervor: «Das ist ihr Stuhl – hier saß sie immer, in diesem Stuhl. Nur der Satin ist ein wenig verschossen.»

Hilda runzelte leicht die Stirn.

«Ich verstehe. Aber komm jetzt, David. Es ist kalt hier.»

Doch David schien sie nicht zu hören. Er sah sich um.

«Ja, hier saß sie meistens. Ich weiß noch, wie ich auf jenem Schemel dort saß, wenn sie mir vorlas. Jack, der Riesentöter – ja, das war es, das hat sie mir vorgelesen, als ich etwa sechs Jahre alt war.»

Hilda schob ihre Hand unter seinen Arm.

«Komm jetzt wieder ins Wohnzimmer, Lieber. In diesem Zimmer ist ja nicht einmal eine Heizung.»

Er wandte sich gehorsam um, aber sie fühlte, dass er am ganzen Leib zitterte. «Genau wie damals», murmelte er, «genau wie damals. Als wäre die Zeit stillgestanden…»

Hilda war besorgt; aber sie sprach fröhlich und entschlossen weiter. «Wo nur die anderen alle stecken? Es muss doch schon Teezeit sein.»

David machte sich frei und öffnete die Tür zu einem anderen Zimmer. «Da drinnen war ein Klavier. Ja, da steht es noch. Ob es auch noch klingt?»

Er setzte sich davor, öffnete den Deckel und spielte eine Tonleiter. «Tatsächlich! Es scheint sogar gestimmt worden zu sein.» Er begann zu spielen. Sein Anschlag war weich und voll.

«Was spielst du da?», fragte Hilda. «Es kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, was es ist.»

«Ich habe es seit vielen Jahren nicht mehr gespielt. Sie hat es besonders geliebt. Eines von Mendelssohns Liedern ohne Worte.»

Die süße, fast zu süße Melodie flutete durch den Raum.

Plötzlich ließ David die Hände in schrillem Missakkord auf die Tasten fallen. Er stand auf. Sein Gesicht war totenblass, und er zitterte.

«David!», sagte Hilda beschwörend. «David!»

«Lass nur, es ist nichts – wirklich nicht.»

Die Türglocke schrillte. Tressilian stand in der Küche von seinem Stuhl auf und ging gemessenen Schritts zum Eingang.

Die Glocke schrillte noch einmal. Tressilian runzelte die Stirn. Durch die Milchglasscheibe erblickte er die Silhouette eines Mannes im Schlapphut. Tressilian fuhr sich mit der Hand über die Augen. Es war gespenstisch. Alles schien sich zweimal abzuspielen. Das hatte er doch bereits einmal erlebt, bestimmt…

Er schob den Riegel zurück und öffnete die Türe. Da zerbrach der Zauber. Der Mann sagte laut und deutlich:

«Wohnt hier Mr Simeon Lee? Ich möchte ihn sprechen.» Seine Stimme rief eine Erinnerung in Tressilian wach. Sie glich derjenigen seines Herrn, als dieser in alten Tagen nach England zurückgekommen war.

Er schüttelte zweifelnd den Kopf. «Mr Lee ist invalide, Sir. Er empfängt nicht oft Besuche. Wenn Sie –»

Der Fremde unterbrach ihn, indem er einen Briefumschlag hervorzog und dem Butler aushändigte. «Geben Sie das bitte Mr Lee.»

Simeon Lee entnahm dem Umschlag einen einfachen Bogen Papier. Er sah erstaunt aus, aber er lächelte.

«Das ist ja herrlich», sagte er. Und zum Butler gewandt: «Führen Sie Mr Farr sofort herauf, Tressilian. Eben habe ich an Ebenezer Farr gedacht. Er war mein Geschäftspartner unten in Kimberley. Und jetzt taucht plötzlich sein Sohn hier auf.»

Tressilian verschwand und meldete kurze Zeit später Mr Farr.

Stephen Farr trat nervös ein, versuchte das aber durch ein betont forsches Gehabe zu verstecken. Sein leichter Südafrika-Akzent klang noch deutlicher durch als zuvor.

«Ich freue mich, Sie zu sehen», rief ihm Simeon Lee entgegen. «Also Sie sind Ebs Sohn?»

Stephen lachte verlegen. «Mein erster Besuch im Mutterland. Vater hat mir immer gesagt, ich sollte Sie aufsuchen, wenn ich einmal herüberkäme.»

«Bravo! Darf ich bekannt machen? Meine Enkelin – Pilar Estravados.»

«Sehr erfreut», sagte Pilar unbefangen.

Raffinierte kleine Hexe, dachte Farr. Sie ist überrascht, mich wiederzusehen, aber sie kann es großartig verbergen.

Er sagte bedeutungsvoll: «Ich bin glücklich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Estravados.»

«Setzen Sie sich, und erzählen Sie mir von sich», befahl der alte Lee. «Bleiben Sie lange in England?»

«Nun, ich werde mir Zeit lassen, wenn ich jetzt schon mal hier bin.» Er lachte und warf den Kopf zurück.

«Da haben Sie Recht. Sie müssen vorerst eine Weile bei uns bleiben.»

«Aber Sir, ich kann doch nicht einfach so hereinschneien. Es ist schließlich Weihnachten und…»

«Sie werden Weihnachten bei uns verbringen – wenn Sie nichts anderes vorhaben. Nein? Gut, dann ist das abgemacht. Pilar! Geh und sag Lydia, dass wir noch einen weiteren Gast haben. Sie soll heraufkommen.»

Pilar ging. Stephen sah ihr nach. Simeon beobachtete es mit diebischem Vergnügen.

Bald waren die beiden Männer in ein Gespräch über Südafrika vertieft. Lydia trat ein paar Minuten später ein.

«Das ist Stephen Farr, der Sohn meines alten Freundes Ebenezer Farr. Er wird über Weihnachten bei uns bleiben. Bitte lass ihm ein Zimmer richten.»

Lydia lächelte. «Selbstverständlich, gerne.» Sie betrachtete den Fremden, seine bronzefarbene Haut, die blauen Augen und den leicht nach hinten geworfenen Kopf.

«Meine Schwiegertochter», stellte Simeon vor.

«Es ist mir gar nicht recht, dass ich derart ins Haus platze», sagte Stephen, «mitten in ein Familienfest –»

«Sie gehören zur Familie, mein Lieber», unterbrach der alte Lee seine Entschuldigungen, «merken Sie sich das.»

«Sie sind zu gütig, Sir.»

Pilar war wieder hereingekommen. Sie ließ sich gelassen neben dem Feuer nieder und nahm ihren Fächer auf. Geschmeidig bewegte sie ihn aus dem Handgelenk hin und her. Ihre Augen waren niedergeschlagen, und sie sah sehr sittsam aus.

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