24. Dezember

«Willst du wirklich, dass ich hier bleibe, Vater?», fragte Harry. Er warf den Kopf zurück. «Ich stochere hier nämlich in einem Wespennest herum, weißt du.»

«Inwiefern?», fragte Simeon Lee scharf.

«Bruder Alfred», antwortete Harry, «mein lieber Bruder Alfred missbilligt meine Anwesenheit.»

«Soll er doch, zum Teufel», schnaubte Simeon. «Ich bin hier Herr im Haus!»

«Trotzdem, alter Herr. Du bist irgendwie von Alfred abhängig. Ich will ihn nicht aufbringen.»

«Du wirst tun, was ich dir befehle!»

Harry gähnte. «Ich weiß auch gar nicht, ob ich es aushalten werde, ein häusliches Leben zu führen. Kommt einen Menschen ziemlich hart an, wenn er bis dahin dauernd in der Welt herumgestoßen worden ist.»

«Du solltest heiraten und dich sesshaft machen.»

«Wen sollte ich heiraten? Schade, dass man nicht seine Nichte heiraten kann. Die kleine Pilar ist bezaubernd.»

«Das hast du also doch bemerkt?»

«Apropos: sesshaft werden. Unser dicker George scheint gar keine schlechte Wahl getroffen zu haben, was? Wo kommt seine Frau her? Was war sie früher?»

«Was weiß denn ich», brummte der Alte. «Ich glaube, George hat sie bei einer Modenschau als Mannequin entdeckt. Sie behauptet, ihr Vater sei ein pensionierter Marineoffizier.»

«Wahrscheinlich zweiter Maat auf einem Küstendampfer», grinste Harry. «George könnte noch seine Wunder mit ihr erleben, wenn er nicht vorsichtig ist!»

Simeon zuckte die Achseln. Dann griff er plötzlich nach der Klingel, die auf dem Tisch neben ihm stand. Horbury erschien augenblicklich.

«Bitten Sie Mr Alfred, sofort herzukommen!»

Sobald der Diener verschwunden war, fragte Harry gedehnt: «Horcht der Bursche eigentlich an der Tür?»

Wieder hob Simeon die Schultern und ließ sie fallen.

Alfred kam eilends herein. Als er seinen Bruder sah, zuckte er leicht zusammen.

«Setz dich, Alfred», befahl der Alte. «Wir müssen unseren Haushalt ein wenig umorganisieren, nachdem wir nun zwei Familienmitglieder mehr haben werden. Pilar bleibt selbstverständlich jetzt bei uns, und auch Harry hat sich entschlossen, daheim zu bleiben.»

«Harry wird hier wohnen?», fragte Alfred starr.

«Ja, warum nicht, alter Knabe?», lachte Harry.

Alfred fuhr herum und sah ihn zornig an. «Mich dünkt, das solltest du selber spüren!»

«Ich bedaure unendlich, aber ich spüre gar nichts.»

«Nach allem, was geschehen ist? Nach deinem schandbaren Verhalten? Nach dem Skandal?»

«Aber, aber das ist doch längst vergangen, Bruderherz!»

«Du hast dich Vater gegenüber abscheulich benommen!»

«Nun hör mich mal an, Alfred! Das geht nur Vater etwas an, nicht wahr? Wenn er bereit ist, mir zu vergeben –»

«Jawohl, dazu bin ich bereit», mischte sich Simeon ein. «Harry ist mein Sohn, und er wird hier bleiben, weil ich es will.» Er legte Harry liebevoll die Hand auf die Schulter. «Ich habe Harry sehr gerne!»

Alfred stand auf und ging aus dem Zimmer. Er war totenblass. Harry erhob sich ebenfalls und ging ihm lachend nach. Simeon kicherte vor sich hin. Dann schreckte er zusammen und sah sich um. «Wer zum Teufel ist da? Ach, Sie sind es, Horbury! Schleichen Sie doch nicht so herum!»

«Verzeihen Sie, Sir.»

«Schon gut. Übrigens habe ich Aufträge für Sie. Ich wünsche, dass nach dem Mittagessen alle zu mir kommen. Alle, verstanden? Und noch etwas: Sie werden die Herrschaften heraufführen, und sobald Sie ungefähr in der Mitte des Korridors angekommen sind, werden Sie sich irgendwie bemerkbar machen, husten, etwas rufen, was Sie wollen. Ist das klar?»

«Gewiss, Sir.» Horbury ging die Treppe hinunter. Dort sagte er zu Tressilian: «Wenn Sie mich fragen – das wird ein schönes Weihnachtsfest werden!»

«Was wollen Sie damit sagen?», fragte der alte Diener scharf.

«Na, warten Sie’s ab. Heute ist Heiliger Abend. Aber die Stimmung im Haus ist gar nicht danach.»

Als sie ins Zimmer kamen, war Simeon gerade am Telefon; er winkte ihnen, einzutreten.

«Setzt euch! Ich bin gleich fertig.» Dann telefonierte er weiter: «Ist dort Charlton? Hier spricht Simeon Lee. Ja, nicht wahr? Ja. Nein, ich möchte nur, dass Sie ein neues Testament für mich aufsetzen. Jawohl, die Verhältnisse haben sich geändert, so dass mein erstes Testament überholt ist. Nein, nein, so eilt es auch wieder nicht. Weihnachten will ich Ihnen doch nicht verderben. Sagen wir, am zweiten Weihnachtstag, ja? Oder am Tag danach, wie Sie wollen. Kommen Sie zu mir, dann besprechen wir alles. Nein, keine Angst, ich werde nicht vorher sterben.»

Er legte den Hörer auf und sah seine Familie, alle acht Anwesenden, der Reihe nach an. Dann lachte er und sagte:

«Ihr seht alle so verdattert aus! Was ist denn los?»

«Du hast uns rufen lassen, Vater –», begann Alfred, doch Simeon unterbrach ihn sofort.

«Ja, richtig. Aber es ist eigentlich nichts Wichtiges. Ich bin nur müde und möchte nach dem Abendessen allein sein. Ich will früh zu Bett gehen, damit ich morgen zum Fest ganz frisch bin. Eine großartige Einrichtung, Weihnachten. Fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl, nicht wahr, Magdalene?»

Magdalene Lee fuhr zusammen. Ihr dümmlicher kleiner Mund klappte auf und schloss sich wieder. Dann sagte sie: «O ja.»

Simeons Augen schweiften zu George.

«Ich will zwar nicht von unerfreulichen Dingen reden, aber ich fürchte, George, dass ich deinen Zuschuss ein wenig werde beschneiden müssen. Mein Haushalt wird mich in Zukunft etwas teuer zu stehen kommen.»

George wurde dunkelrot. «Aber Vater! Das kannst du doch nicht tun!»

«Ach, glaubst du?», fragte Simeon sanft.

«Meine Auslagen sind sehr groß. Ich weiß schon jetzt manchmal kaum, wie ich mit meinem Geld zurechtkommen soll. Ich muss mich an allen Ecken und Enden einschränken.»

«Überlass die Sparsamkeit doch deiner Frau», riet der alte Lee lächelnd. «Frauen sind so geschickt im Sparen. Ihnen fallen oft Sparmöglichkeiten ein, die ein Mann einfach übersieht. Zum Beispiel könnte sie ihre Kleider selber machen. Meine Frau hat alles selber gemacht, war sehr geschickt in allen Handarbeiten – eine gute Frau war sie, wirklich, nur langweilig -»

David sprang auf. «Meine Mutter -»

«Setz dich!», sagte Simeon barsch. «Deine Mutter hatte ein Hasenherz und ein Hühnerhirn. Und ich glaube, beides hat sie euch allen vererbt.» Er erhob sich plötzlich. Auf seinen Wangen bildeten sich rote Flecken, und seine Stimme klang nun laut und schrill. «Keiner von euch ist einen Penny wert! Keiner! Ich habe so genug von euch allen! Schwächlinge seid ihr – alberne Schwächlinge! Pilar ist mehr wert als zwei von euch zusammengenommen. Ich schwöre zu Gott, dass ich irgendwo auf der Welt einen besseren Sohn habe, auch wenn er vielleicht nicht im rechten Ehebett geboren ist.»

«Jetzt ist es genug, Vater!», rief Harry.

Er war aufgesprungen, und über sein sonst heiteres Gesicht legte sich Zornesröte.

«Das alles gilt ebenso gut für dich!», schnauzte Simeon ihn an. «Was hast du denn jemals getan? Mich dauernd um Geld angewinselt! Mich aus allen vier Himmelsrichtungen angebettelt! Ich sag euch noch einmal: Ich habe genug von euch allen! Hinaus!»

Der alte Lee sank in seinen Stuhl zurück. Langsam, eines nach dem anderen, verließen seine Kinder das Zimmer. George war rot und entsetzt, Magdalene sah erschrocken aus, David war leichenblass und zitterte, Harry trug den Kopf hoch, und Alfred schob sich wie ein Traumwandler Schritt für Schritt vorwärts. Lydia folgte ihm, sicher, gefasst, wie immer. Nur Hilda blieb auf der Schwelle stehen und ging dann zu ihrem Schwiegervater zurück. Die Art, wie sie ruhig und unbeweglich dicht vor seinem Sessel stehen blieb, hatte etwas Drohendes.

«Als dein Brief kam», sagte sie, «habe ich wirklich geglaubt, was darin stand: dass du zu Weihnachten deine Familie um dich haben wolltest. Und darum habe ich David überredet, herzukommen. Aber du willst deine Kinder nur hier haben, um sie alle bei den Ohren zu nehmen, nicht wahr? Weiß Gott, was dir daran Spaß macht.»

Simeon kicherte. «Ich habe eben von jeher einen ganz besonderen Sinn für Humor gehabt. Ich verlange gar nicht, dass man ihn versteht! Ich amüsiere mich!»

Da sie nichts erwiderte, begann Simeon sich plötzlich unbehaglich zu fühlen.

«Nun, was sagst du dazu?», fragte er scharf.

«Ich fürchte…» Dann stockte sie.

«Was fürchtest du? Mich?»

«Nein, ich fürchte für dich», entgegnete sie. Wie ein Richter, der eben ein Urteil gefällt hatte, wandte sie sich um und schritt langsam, schwer aus dem Zimmer.

Simeon starrte die Tür an, durch die sie verschwunden war. Dann stand er auf und ging zu seinem Safe hinüber. Er murmelte: «Sehen wir uns lieber meine Schönen an.»

Um ungefähr ein Viertel vor acht Uhr klingelte es an der Tür. Tressilian öffnete. Als er in die Küche zurückkam, stand dort Horbury, der Kaffeetassen von einem Servierbrett nahm.

«Wer war das?», fragte Horbury.

«Polizeiinspektor Sugden – Mensch, passen Sie doch auf!»

Aber schon hatte Horbury eine der Tassen fallen lassen, sie zersplitterte auf dem Boden.

«Sehen Sie sich das an», jammerte Tressilian. «Elf Jahre lang haben wir dieses Service nun schon, immer habe ich es abgewaschen, und nie ist eine Tasse zerbrochen! Und kaum rühren Sie etwas an, wovon Sie überhaupt die Finger lassen sollen, und schon passiert’s.»

«Es tut mir außerordentlich Leid, Mr Tressilian», entschuldigte sich der andere. Große Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. «Ich weiß gar nicht, wie das geschehen konnte. Sagten Sie, ein Polizeiinspektor habe vorhin geläutet?»

«Ja – Mr Sugden.»

Der Diener befeuchtete seine bleichen Lippen. «Was… was wollte er?»

«Er sammelt für das Polizeiwaisenhaus. Ich habe das Sammelbuch Mr Lee hinaufgebracht, aber er hat mir befohlen, Mr Sugden zu ihm zu schicken und Sherry bereitzustellen.»

«Nichts als Bettelei um diese Jahreszeit», bemerkte Horbury. «Der alte Teufel ist freigebig, das muss man sagen, trotz seiner anderen Schwächen!»

«Mr Lee war von jeher sehr großzügig», antwortete Tressilian würdevoll.

Horbury nickte. «Jawohl, das ist seine beste Seite. Nun, ich gehe jetzt.»

«Ins Kino?»

«Wahrscheinlich. Bye-bye, Mr Tressilian.»

Er verschwand durch die Tür, die in den Aufenthaltsraum der Dienstboten führte.

Tressilian sah auf die Wanduhr. Dann ging er ins Speisezimmer und legte auf jede Serviette ein Brötchen. Nach einem letzten prüfenden Blick über die lange Tafel trat er zum Gong und läutete.

Während der letzte Ton verklang, kam Inspektor Sugden die Treppe herunter. Er war ein großer, gut aussehender Mann, trug einen eng geknöpften blauen Anzug und bewegte sich etwas wichtigtuerisch.

«Ich glaube, wir bekommen Frost heute Nacht», sagte er leutselig. «Glücklicherweise, denn das Wetter war ja unnatürlich warm in der letzten Zeit.»

Tressilian bemerkte, dass die Feuchtigkeit seinen Rheumatismus fördere, worauf der Inspektor feststellte, Rheumatismus sei eine sehr schmerzhafte Sache, und dann mit einem freundlichen Gruß ging.

Der alte Butler sperrte die Haustür hinter ihm wieder ab und ging langsam in die Halle zurück. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und seufzte. Doch als er Lydia ins Wohnzimmer gehen sah, richtete er sich steif auf. George Lee kam eben die Treppe herunter. Sobald der letzte Gast, Magdalene, im Wohnzimmer verschwunden war, trat Tressilian ein und murmelte:

«Das Nachtessen ist serviert.»

Tressilian war in seiner Art ein Kenner von Damenmode. Wenn er, die Weinflasche in der Hand, jeweils um den Tisch ging und die Gläser nachfüllte, betrachtete und kritisierte er insgeheim die Kleider der Damen. Mrs Alfred trug ihr neues weiß-schwarzes Taftkleid mit den großen Blumen. Ein sehr auffälliger Stoff, aber sie konnte ihn tragen. Mrs George trug ein Designerkleid, dessen war er ganz sicher. Musste eine Menge Geld gekostet haben. Mrs David… nun, sie war eine reizende Frau, aber sie verstand es wirklich nicht, sich anzuziehen. Bei ihrer Figur wäre schwarzer Samt eventuell noch angegangen; doch sie trug einen bunten, vorwiegend knallroten Stoff, und das war entschieden eine Geschmacklosigkeit. Miss Pilar konnte tragen, was sie wollte, sie sah in allem bezaubernd aus. Immerhin war ihr weißes, leichtes Kleidchen doch wohl ein bisschen gar zu billig. Nun – dem würde Mr Lee ja in Zukunft abhelfen! Er war ja förmlich verliebt in seine Enkelin. So waren ältere Herren nun einmal: Ein junges, frisches Gesicht verhexte sie!

«Weißwein oder Rotwein?», flüsterte Tressilian Mrs George ins Ohr. Dabei beobachtete er aus dem Augenwinkel, wie Walter, der zweite Diener, schon wieder das Gemüse vor der Bratensauce servierte – nach allem, was er ihm eingeschärft hatte!

Tressilian reichte das Souffle herum. Nun, da sein Interesse an den Kleidern der Damen und Walters Ungeschicklichkeiten abgeflaut war, fiel ihm erst auf, wie still heute Abend jedermann war. Das heißt, nicht eigentlich still. Der südafrikanische Herr zum Beispiel redete für drei, und auch die anderen Herrschaften sprachen miteinander, aber alles wirkte so krampfhaft. Es herrschte eine seltsame Atmosphäre.

Mr Alfred sah richtiggehend krank aus, als hätte er einen Schock gehabt. Er stocherte auf seinem Teller herum, ohne zu essen. Seine Frau machte sich sichtlich Sorgen um ihn. Sie sah ihn dauernd an – unauffällig natürlich. Mr George war sehr rot im Gesicht. Er verschlang sein Essen, ohne überhaupt wahrzunehmen, was er aß. Mrs George aß wie ein Vögelchen. Miss Pilar hingegen schien es herrlich zu schmecken, und sie unterhielt sich großartig mit dem Südafrikaner. Er war offensichtlich in sie verliebt. Die beiden schien nichts zu bedrücken.

Mr David? Tressilian tat er Leid. Er glich so sehr seiner Mutter, und er sah noch so jung aus. Aber ein Nervenbündel. Da – jetzt hatte er sogar sein Glas umgeworfen. Tressilian trocknete schnell auf und stellte ein neues Glas hin. Mr David schien gar nichts von dem Zwischenfall bemerkt zu haben, sondern starrte mit leichenblassem Gesicht vor sich hin.

Übrigens komisch, wie bleich Horbury vorhin geworden war, als er hörte, dass ein Polizeiinspektor ins Haus gekommen sei. Fast als ob –

Tressilian wurde jäh aus seinen Überlegungen gerissen. Walter hatte eine Birne von der Platte fallen lassen, die er eben herumreichte. Diener nannte sich so etwas. Stallburschen sollten diese Jungen werden.

Da – Mrs Alfred war aufgestanden. Sie glitt um den Tisch. Wirklich eine elegante Erscheinung in dem extravaganten Taftkleid. Eine schöne und bezaubernde Frau.

Tressilian servierte den Herren Portwein und verließ dann das Speisezimmer. Gleich darauf trug er das Tablett mit dem Kaffee ins Wohnzimmer. Die vier Damen saßen schweigsam und eher gezwungen beisammen.

Als Tressilian wieder herauskam, hörte er, wie die Tür zum Speisezimmer geöffnet wurde. David Lee trat in die Halle und ging hinüber ins Wohnzimmer.

In der Küche setzte sich Tressilian müde auf einen Stuhl. Er war bedrückt. Heiliger Abend, und all diese Spannung und Unrast. Es gefiel ihm ganz und gar nicht. Nach einer Weile erhob er sich mühsam, um im Wohnzimmer die Kaffeetassen abzuräumen. Der Raum war jetzt leer. Nur Lydia stand, halb versteckt durch den Vorhang, am Fenster vorn und sah in die Nacht hinaus. Nebenan wurde Klavier gespielt.

Aber warum spielte Mr David den «Totenmarsch»? Denn das klang gedämpft herüber, ein Trauermarsch. Irgendetwas Bedrohliches entwickelte sich, ganz bestimmt. Tressilian schüttelte betrübt den Kopf und ging langsam mit dem Kaffeegeschirr hinaus.

Erst als er wieder in der Küche stand, hörte er den Lärm von oben: ein Splittern von Porzellan, umstürzende Möbelstücke, eine ganze Reihe von schweren Stößen und krachenden Geräuschen.

«Allmächtiger!», dachte Tressilian. «Was um Gottes willen treibt denn der alte Herr? Was ist da oben los?»

Und dann ertönte ein Schrei – hell und schrill –, ein entsetzliches, angsterfülltes Aufheulen, das in einem erstickten Gurgeln erstarb.

Tressilian blieb einen Augenblick wie gelähmt stehen; aber dann rannte er in die Halle hinaus und die Treppe empor. Andere stießen zu ihm. Der fürchterliche Schrei schien im ganzen Haus gehört worden zu sein. Alles hastete die geschwungene Treppe hinauf, an der großen Nische vorbei, in der weiße, unheimliche Statuen leuchteten, und durch den langen Korridor auf Simeon Lees Zimmertür zu. Mr Farr und Mrs David standen bereits dort. Sie lehnte sich gegen die Wand, und er versuchte; die Klinke herunterzudrücken.

«Die Tür ist abgeschlossen», flüsterte er. «Abgeschlossen.» Harry Lee drängte sich vor, schob ihn beiseite und versuchte seinerseits, die Tür zu öffnen. «Vater!», schrie er. «Vater! Lass uns doch hinein!»

Er hob die Hand, und alle horchten bewegungslos; es kam keine Antwort. Kein Laut drang aus dem Zimmer.

Die Türglocke schrillte, aber es achtete niemand darauf.

Stephen Farr sagte: «Wir werden die Tür aufbrechen müssen. Anders kommen wir nicht hinein.»

«Das wird nicht so leicht sein», keuchte Harry. «Diese Türen sind sehr solid. Komm, Alfred!»

Sie warfen sich gegen das feste Holz, stießen, mühten sich ab; schließlich holte man eine schwere Eichenbank als Prellbock. Endlich gab die Tür nach und brach aus den Angeln.

Während mindestens einer Minute standen alle dicht gedrängt und starrten ins Zimmer. Was sie sahen, prägte sich allen tief ins Gedächtnis ein.

Es musste ein erbitterter Kampf stattgefunden haben. Schwere Möbel waren umgeworfen. Porzellanvasen lagen in Scherben auf dem Boden. In der Mitte des Teppichs vor dem hell flackernden Feuer lag Simeon Lee in einer großen Blutlache. Blut war im ganzen Raum herum verspritzt. Das Zimmer glich einem Schlachthaus.

Jemand seufzte tief, und dann ertönten nacheinander zwei Stimmen. Eigentümlicherweise sprachen beide Zitate aus.

David Lee sagte: «Die Mühlen Gottes mahlen langsam.»

Und Lydia flüsterte zitternd: «Wer konnte denken, dass der alte Mann noch so viel Blut in sich gehabt…?»

Inspektor Sugden hatte schon dreimal geläutet. Nun setzte er verzweifelt den Türklopfer in Bewegung. Nach langer Zeit erschien endlich ein völlig verstörter Walter und öffnete ihm.

«Ach», sagte er nur und schien erleichtert zu sein. «Ich wollte eben die Polizei anrufen.»

«Weswegen?», fragte Inspektor Sugden scharf.

«Der alte Mr Lee», flüsterte Walter. «Jemand hat ihn erledigt.»

Sugden stieß den Diener beiseite und rannte die Treppe hinauf. Er betrat das Zimmer, ohne dass jemand seine Anwesenheit bemerkt hätte. Im Moment seines Eintretens sah er, dass Pilar sich bückte und etwas vom Boden aufhob. Auch nahm er sofort wahr, dass David Lee die Hände vors Gesicht geschlagen hatte. Die anderen standen in einer Gruppe beisammen. Nur Alfred Lee war totenblass neben den Leichnam des Vaters getreten und sah auf ihn hinunter.

George Lee befahl wichtigtuerisch: «Es darf nichts berührt werden, merkt euch das, nichts! Bis die Polizei kommt.»

«Erlauben Sie», sagte Sugden und drängte sich höflich an den Damen vorbei.

«Ach! Inspektor Sugden?», sagte Alfred, der ihn kannte. «Sie waren aber rasch hier!»

«Jawohl, Mr Lee!» Sugden verschwendete keine Zeit mit Erklärungen. «Was ist geschehen?»

«Mein Vater ist getötet, ermordet worden», antwortete Alfred erstickt.

Magdalene begann plötzlich hysterisch zu schluchzen.

Inspektor Sugden bat mit einer Handbewegung um Ruhe. «Ich bitte alle Anwesenden, außer Mr George Lee, das Zimmer zu verlassen.»

Wortlos wandten sich alle zum Gehen, willenlos wie Schafe. Sugden hielt Pilar zurück.

«Verzeihen Sie, Miss», sagte er freundlich. «Es darf nichts berührt oder von der Stelle gerückt werden.»

Sie starrte ihn an. Stephen Farr sagte ungeduldig:

«Das ist wohl klar! Das weiß Miss Estravados!»

Inspektor Sugden fuhr im gleichen liebenswürdigen Ton fort: «Sie hoben doch eben etwas vom Boden auf.»

Pilar riss die Augen auf. «Ich?», fragte sie ungläubig.

«Ja. Sie. Ich habe Sie dabei beobachtet. Bitte, geben Sie’s mir.»

Langsam öffnete Pilar die Hand. Sie hatte ein kleines Gummistück und einen winzigen hölzernen Gegenstand darin verborgen gehalten. Sugden nahm beides an sich, steckte es in einen Umschlag und ließ diesen in seiner Brusttasche verschwinden. «Danke», sagte er höflich und wandte sich um.

Stephen Farr sah ihn respektvoll an. Es war, als ob er den hübschen jungen Polizeiinspektor bis dahin unterschätzt hätte. Dann gingen auch er und Pilar langsam hinaus. Hinter sich hörten sie die sachlichen Worte des Inspektors: «Und jetzt, bitte…»

«Es geht doch nichts über ein Kaminfeuer», sagte Colonel Johnson als er einen neuen Buchenklotz in die Flammen legte und seinen Stuhl näher zum flackernden Feuer zog. «Bitte, bedienen Sie sich», forderte er seinen Gast auf, indem er auf die Flasche wies, die auf dem Tischchen stand.

Nun, Colonel Johnson, Polizeichef von Middleshire, mochte ein Kaminfeuer für das höchste der Gefühle halten, aber Hercule Poirot, sein Gast, war der Meinung, eine gute Zentralheizung, die einem auch den Rücken und nicht nur die Schuhsohlen wärmt, sei weit angenehmer.

«Ja, das war ein eigenartiger Fall, die Sache mit Cartwright», bemerkte der Gastgeber nachdenklich. «Ein erstaunlicher Mann, charmant, gute Manieren… Tatsächlich, wir haben ihm doch alle aus der Hand gefressen, als er neu hierher kam. Und dann das! Einmalig! Nikotin als Gift ist wirklich selten – glücklicherweise!»

«Es gab eine Zeit, da taten Sie jegliche Art von Giftmord als unenglisch ab», warf Hercule Poirot ein. «Teufelei von Ausländern, unsportlich.»

«Nun, das kann ich heute nicht mehr sagen», meinte der Colonel. «Wir haben ziemlich viele Arsenmorde – vielleicht mehr, als angenommen. Überhaupt sind Giftmorde immer eine unangenehme Sache. Die Zeugen widersprechen sich meistens, die Ärzte sind übervorsichtig in ihren Aussagen, und man weiß manchmal kaum, wie man den Fall vor ein Geschworenengericht bringen soll. Nein, wenn schon Mord, dann irgendetwas Klares, etwas, das keine Zweifel über die Todesursache offen lässt!»

Poirot nickte. «Also die Schusswunde, die durchschnittene Kehle, der eingeschlagene Schädell? Ziehen Sie solche Tatsachen vor?»

«Vorziehen ist wohl nicht das richtige Wort. Bitte, glauben Sie ja nicht, dass ich Mordfälle liebe. Ich möchte, wenn möglich, nie mehr einen behandeln müssen. Nun, während Ihres Aufenthalts bei mir dürften wir wohl sicher sein. Weihnachten - Friede auf Erden. Liebet einander und all das, wissen Sie.»

Hercule Poirot lehnte sich in seinem Lehnstuhl zurück und betrachtete seinen Gastgeber nachdenklich.

«Sie glauben also», murmelte er nach einer Weile, «dass die Weihnachtszeit keine Saison für Morde sei?»

«Ja, das glaube ich.» Johnson war leicht aus dem Konzept gebracht. «Eben, wie ich sagte, wegen der allgemeinen Versöhnlichkeit und so…»

«Die Engländer sind so sentimental», bemerkte Poirot leise.

«Na und?», fragte Johnson hochmütig. «Wir sind eben traditionsbewusst. Wem schadet das?»

«Niemandem. Es ist im Gegenteil sehr sympathisch. Aber wenn wir es nüchtern betrachten: Ist Weihnachten nicht auch das Fest der Freude? Pflegt man zu Weihnachten nicht reichlich zu essen und zu trinken? Sich vielleicht zu überessen? Nun, der übervolle Magen führt zu Magenverstimmung, und die Magenverstimmung zu Reizbarkeit.»

«Verbrechen», warf der Colonel ein, «werden nicht aus Reizbarkeit begangen.»

«Ich bin nicht so sicher. Und noch was: Weihnachten ist das Fest der Versöhnung, sagten Sie. Alte Streitigkeiten werden vergessen und vergeben, Menschen, die sich nicht mehr vertragen haben, sind bereit, sich wieder gut zu sein – wenn auch vielleicht nur vorübergehend.»

Johnson nickte. «Man begräbt die Kriegsbeile.»

«Und Familien», fuhr Poirot unbeirrt fort, «die jahrelang getrennt waren oder sich das Jahr hindurch nie sahen, vereinigen sich wieder. Das, mein Freund, führt zu Spannungen, glauben Sie mir. Menschen, die keineswegs nett voneinander denken, geben sich Mühe, nett zu scheinen. Deshalb ist Weihnachten auch eine Zeit der Heuchelei, gut gemeinter Heuchelei, in der besten Absicht,c’est entendu, aber eben doch Heuchelei!» Er lächelte Johnson strahlend an. «Wohlverstanden, mon cher, das ist meine Ansicht! Ich versuche Ihnen begreiflich zu machen, dass es unter diesen Umständen – seelische Spannung und körperliche malaise – durchaus möglich ist, dass Abneigungen, die bisher gering, Zwistigkeiten, die bisher ziemlich bedeutungslos waren, plötzlich viel ernsteren Charakter annehmen. Das Resultat dieser vorgespiegelten Versöhnlichkeit und Großmütigkeit muss früher oder später zur Explosion von Hassgefühlen und Rachsucht führen, die viel intensiver sind, als sie es das ganze Jahr hindurch waren. Wenn Sie den Strom natürlicher Regungen eindämmen, mon ami, dann muss dieser Damm einmal brechen, und dann gibt’s eine Überschwemmung!»

Colonel Johnson sah seinen Gast zweifelnd an.

«Ich weiß nie, wann Sie ernsthaft reden und wann Sie mich auf den Arm zu nehmen versuchen», brummte er.

Poirot lächelte. «Ich meine es nicht ernst, ganz und gar nicht. Trotzdem ist es wahr: Künstlich gezüchtete und erzeugte Stimmungen führen zwangsläufig zu bestimmten Reaktionen.»

Colonel Johnsons Diener erschien unter der Tür.

«Inspektor Sugden ist am Telefon, Sir.»

«Ja, ich komme.» Mit einer Entschuldigung Poirot gegenüber ging Johnson hinaus, kam aber schon nach kaum drei Minuten wieder zurück. Er sah ernst und verstört aus.

«Der Teufel hol’s!», stieß er hervor. «Ein Mord! Am Heiligen Abend – ein Mord!»

Poirot hob erstaunt die Augenbrauen. «Sind Sie ganz sicher? Ich meine, dass es Mord ist?»

«Wie? Ach so. Ja, es ist gar nichts anderes möglich. Ein absolut klarer Fall. Mord – und ein sehr brutaler dazu!»

«Wer ist das Opfer?»

«Der alte Simeon Lee, einer der reichsten Männer dieser Gegend. Machte in Südafrika ein Vermögen. Mit Gold, nein, mit Diamanten, wenn ich nicht irre. Und außerdem verdiente er Unsummen mit technischen Verbesserungen der Bergbaumaschinen – irgendetwas, das er selber erfunden hat, soviel ich weiß. Man sagt, dass er mindestens doppelter Millionär sei.»

«Und war er sehr beliebt?»

«Ich glaube nicht, dass jemand ihn liebte», erwiderte Johnson langsam. «Ein eigentümlicher Kauz. Er war seit Jahren invalide. Ich selber habe ihn nicht näher gekannt, aber er war zweifellos eine der auffallendsten Erscheinungen weit und breit.»

«So dass dieser Fall also ziemlich Staub aufwirbeln wird?»

«Allerdings! Ich muss sofort nach Longdale hinüber.»

Poirot stellte die unausgesprochene Frage von sich aus.

«Möchten Sie, dass ich Sie begleite?»

Johnson sagte ein wenig betreten: «Nun, ich darf es Ihnen wirklich kaum zumuten. Aber Sie wissen ja, wie das ist: Inspektor Sugden ist ein guter Polizist, genau, sorgfältig, durch und durch verlässlich, nur – Fantasie hat er nicht viel. Da Sie zufällig hier sind, würde ich natürlich gerne von Ihrer Ansicht und Ihrem Rat profitieren.»

Er hatte vor lauter Verlegenheit fast abgehackt gesprochen. Poirot erwiderte schnell:

«Ich komme mit Begeisterung. Sie können auf meine Mithilfe rechnen. Aber wir dürfen den guten Inspektor nicht beleidigen. Das ist sein Fall – nicht der meine. Ich werde lediglich als sachverständiger Beobachter fungieren.»

«Sie sind wirklich ein Freund, Poirot», sagte Johnson warm.

Ein Polizist öffnete ihnen die Eingangstür und salutierte stramm. Hinter ihm kam Inspektor Sugden durch die Halle.

«Ich bin froh, Sie hier zu sehen, Sir. Wollen wir in den Raum gleich links gehen – Mr Lees Arbeitszimmer? Ich möchte den Fall kurz mit Ihnen durchgehen. Das Ganze ist eine scheußliche Sache.»

Er führte die beiden Herren in ein kleines Zimmer auf der linken Seite der Halle. Ein großer, mit Papieren bedeckter Schreibtisch nahm die Mitte des Raums ein; die Wände waren von Bücherschränken verdeckt.

Der Colonel stellte vor: «Sugden, das ist Hercule Poirot, von dem Sie bestimmt schon gehört haben. Er war zufällig bei mir. Inspektor Sugden.»

Poirot machte eine kleine Verbeugung und betrachtete den andern. Er sah einen groß gewachsenen Mann mit breiten Schultern, militärischem Gehabe, einer schmalen, langen Nase, kühner Kinnpartie und einem großen, dichten braunen Schnurrbart. Sugden starrte Hercule Poirot an, Hercule Poirot starrte fasziniert Sugdens Schnurrbart an.

«Gewiss habe ich schon von Ihnen gehört, Mr Poirot», sagte der Inspektor. «Sie waren doch vor einigen Jahren hier in England, nicht wahr? Der Fall von Sir Bartholemew Strange. Giftmord, Nikotin. Nicht in meinem Distrikt, aber natürlich weiß ich davon.»

«Also, Sugden, was ist hier passiert?», unterbrach ihn sein Vorgesetzter. «Ein ganz klarer Fall, sagten Sie.»

«Jawohl, Sir, Mord, ganz ohne Zweifel. Mr Lees Kehle ist durchschnitten und die Halsschlagader dabei verletzt worden, stellte der Arzt fest. Aber irgendetwas stimmt bei der Sache nicht. Die Umstände liegen folgendermaßen: Heute Nachmittag um fünf Uhr erhielt ich im Addlesfielder Polizeibüro einen Anruf von Mr Lee. Er schien verwirrt, bat mich, um acht Uhr abends vorbeizukommen und dem Butler zu sagen, ich sammelte für irgendeine unserer Wohltätigkeitsinstitutionen.»

«Er suchte also nach einem plausiblen Grund, um Sie ins Haus zu bekommen?»

«Jawohl, Sir. Nun, Mr Lee ist eine so wichtige Persönlichkeit, dass ich natürlich zu kommen versprach. Kurz vor acht war ich hier und sagte, ich käme für die Sammlung zugunsten des Polizeiwaisenhauses. Der Butler meldete mich an und führte mich dann in das Zimmer von Mr Lee im ersten Stock, das direkt über dem Speisezimmer liegt.»

Sugden machte eine Pause, holte Atem und fuhr dann mit seinem Rapport fort.

«Mr Lee saß in einem Lehnstuhl vor dem Kamin. Er trug einen Schlafrock. Mr Lee bot mir dicht neben sich Platz an und sagte dann ziemlich zögernd, dass er mir einen Diebstahl zu melden habe. Er habe Grund, anzunehmen, dass Diamanten - ungeschliffene Diamanten, sagte er, wenn ich mich recht erinnere – im Wert von mehreren tausend Pfund aus seinem Safe entwendet worden seien.»

«Diamanten?», warf der Colonel ein.

«Jawohl, Sir. Ich stellte ihm ein paar sachliche Fragen, aber er beantwortete sie unsicher, ausweichend. Schließlich sagte er: ›Sehen Sie, Inspektor, ich könnte mich ja auch irren.‹ – ›Wieso?‹ fragte ich. ›Entweder sind die Diamanten verschwunden; oder sie sind nicht verschwunden.‹ Darauf antwortete er: ›Die Diamanten sind verschwunden, aber es könnte sich dabei ja auch um einen dummen Scherz handeln.‹ Das habe ich nicht begriffen. Und er fuhr fort: ›Soweit ich es beurteilen kann, können nur zwei Menschen die Steine genommen haben. Eine dieser Personen dürfte es wirklich aus Jux getan haben. Wenn aber die andere Person sie haben sollte, dann liegt ein Diebstahl vor. Ich bitte Sie nun, Inspektor, in einer Stunde, oder sagen wir um Viertel nach neun, wieder herzukommen. Dann werde ich in der Lage sein, Ihnen mit Bestimmtheit zu sagen, ob man mich bestohlen hat oder nicht.‹ Darauf versprach ich ihm wiederzukommen und ging.»

Colonel Johnson sah Poirot groß an. «Merkwürdig – sehr sonderbar, nicht wahr, Poirot?»

«Darf ich wissen, welche Schlussfolgerungen Sie selber aus alldem ziehen, Inspektor?», fragte Poirot.

Sugden rieb sich nachdenklich das Kinn, während er vorsichtig antwortete: «Nun, mir kamen viele Gedanken in den Sinn, aber eines steht für mich ganz fest: dass niemand an einen Scherz gedacht hat und dass die Diamanten tatsächlich gestohlen worden sind; nur war sich der alte Herr noch nicht im Klaren, wer der Täter sein könnte. Ich vermute, dass von den beiden Personen, die er erwähnte, eine der Dienerschaft und eine der Familie angehört.»

Poirot nickte anerkennend. «Très bien! Das würde seine undurchsichtige Haltung erklären.»

«Deshalb wahrscheinlich auch seine Bitte, ich möchte später noch einmal zurückkommen. Er wollte in der Zwischenzeit mit der betreffenden Person reden und ihr sagen, dass er bereits mit der Polizei Kontakt aufgenommen habe, eine Untersuchung aber noch aufhalten könne, sofern die Steine sofort zurückgegeben würden.»

«Und wenn der oder die Schuldige leugnete?», warf Colonel Johnson ein.

«In diesem Fall wollte er die ganze Sache der Polizei übergeben, Sir.»

«Das hätte er doch von Anfang an tun können, ohne Sie herzubestellen.»

«Nein, Sir», wandte der Inspektor eifrig ein. «Das hätte wie eine leere Drohung ausgesehen und wäre nicht halb so überzeugend gewesen. Die schuldige Person hätte sich vielleicht gesagt: ›Der Alte wird die Polizei doch nicht rufen, es sind ja bloße Vermutungen!‹ Aber wenn ihm nun der alte Herr sagen konnte, dass er bereits mit der Polizei gesprochen, dass der Inspektor eben fortgegangen sei, und wenn der Butler das noch bestätigte, falls der Dieb ihn danach fragte – dann musste das den Täter überzeugen, dass Mr Lee handeln würde, und dann hätte es ihn vermutlich bewogen, die Diamanten zurückzugeben.»

«Hm – ja. Das hat etwas für sich», brummte Colonel Johnson. «Haben Sie eine Ahnung, Sugden, wer dieses Familienmitglied sein könnte?»

«Nein, Sir.»

«Keinerlei Anhaltspunkte?»

«Nein, Sir.»

Johnson schüttelte den Kopf. Dann sagte er verdrießlich: «Schön, dann fahren Sie fort.»

«Ich kam also um genau neun Uhr fünfzehn wieder her. Im Moment, wo ich läuten wollte, hörte ich von innen einen Schrei und dann ein gedämpftes Rufen und Rennen. Ich läutete wiederholt und benützte sogar den Türklopfer. Es dauerte mindestens drei Minuten, wenn nicht vier, bis mir jemand öffnete. Der Diener zitterte am ganzen Leib und sah aus, als werde er ohnmächtig zusammenbrechen. Er stammelte, Mr Lee sei ermordet worden. Ich rannte die Treppe hinauf. Mr Lees Zimmer war in einem unbeschreiblichen Zustand. Es hatte dort ganz offensichtlich ein schwerer Kampf stattgefunden. Mr Lee lag vor dem Kaminfeuer – mit durchgeschnittener Kehle in einer Blutlache.»

«Selbstmord ist also ausgeschlossen?», fragte der Colonel scharf.

«Ausgeschlossen, Sir. Erstens: die umgeworfenen Stühle und Tische, die zerbrochenen Vasen und Statuetten, und zweitens: das Fehlen irgendeines Messers oder Rasiermessers, mit welchem das Verbrechen begangen wurde.»

«Ja, das ist aufschlussreich. War jemand im Zimmer?»

«Fast die ganze Familie, Sir. Alle standen beisammen.»

Colonel Johnson sah den Inspektor scharf an. «Irgendeinen Verdacht, Sugden?»

«Es ist eine schlimme Sache, Sir», antwortete der Inspektor bedächtig. «Es sieht aus, als müsse jemand von ihnen es getan haben. Ich kann mir nicht vorstellen, wie irgendein Fremder hereinkommen, den Mord begehen und rechtzeitig wieder hätte fliehen können.»

«Waren die Fenster offen oder geschlossen?»

«Es sind zwei Fenster in dem Zimmer, Sir. Eines war geschlossen und verriegelt. Das andere stand einen Spaltbreit offen, war aber durch einen Sicherheitsriegel gehalten. Ich habe sofort versucht, es zu öffnen, aber es steckte fest, wurde seit Jahren nicht weiter geöffnet, glaube ich. Außerdem ist die Hauswand sehr glatt, kein Efeu, keine Kletterpflanzen. Ich glaube nicht, dass jemand auf diesem Weg fliehen konnte.»

«Wie viele Türen hat das Zimmer?»

«Nur eine. Und die war von innen abgesperrt. Als die Hausbewohner den Schrei des alten Herrn hörten und hinaufrannten, mussten sie zuerst die Tür aufbrechen.»

«Und? Wer war im Zimmer?» Gespannt stieß Johnson diese Frage hervor.

«Niemand, Sir. Niemand außer dem alten Mann, den man fünf Minuten zuvor getötet hatte.»

Colonel Johnson starrte Sugden sekundenlang fassungslos an. Dann überstürzten sich seine Worte. «Wollen Sie mir vielleicht weismachen, Inspektor, dass hier einer jener blödsinnigen Fälle vorliegt, die sonst nur in Kriminalromanen vorkommen, wo jemand in einem verschlossenen Raum durch irgendwelche übernatürlichen Mächte umgebracht wird?»

Ein kaum wahrnehmbares Lächeln brachte Sugdens Schnurrbart leise zum Zittern.

«Ich glaube, gar so geheimnisvoll ist es nicht, Sir.»

«Also Selbstmord! Es muss Selbstmord sein!»

«Wo ist dann die Waffe, das Instrument, Sir?»

«Und wie wäre Ihr Mörder entkommen? Durchs Fenster?»

Sugden schüttelte den Kopf. «Nein Sir, ich könnte beschwören, dass er das nicht getan hat.»

«Aber die Tür war von innen abgesperrt?»

Der Inspektor nickte. Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch. «Fingerabdrücke sind keine darauf», gab er bekannt. «Aber sehen Sie sich bitte diesen Schlüssel einmal durchs Vergrößerungsglas an.»

Poirot und der Colonel beugten sich beide vor und unterzogen den Schlüssel einer eingehenden Prüfung.

«Bei Gott!», rief Johnson plötzlich. «Jetzt verstehe ich! Diese leichten Kratzer am Bart! Sehen Sie sie, Poirot?»

«Gewiss sehe ich sie. Das bedeutet, dass der Schlüssel von außen gedreht wurde, nicht wahr? Mittels irgendeines Instruments, das durch das Schlüsselloch gesteckt wurde und den Bart fassen konnte. Dazu könnte unter Umständen schon eine Pinzette genügen.»

Der Inspektor nickte.

«Und das alles», fuhr Poirot fort, «damit der Tod wie ein Selbstmord aussehen sollte, nachdem die Tür abgesperrt und niemand im Zimmer war?»

«Das war vermutlich die Absicht, Mr Poirot.»

Poirot schüttelte den Kopf. «Aber die Unordnung im Zimmer. Der Mörder hätte doch bestimmt zuallererst die Spuren eines Kampfs verwischt.»

«Dazu blieb ihm gar keine Zeit, Mr Poirot», erklärte Inspektor Sugden. «Das ist der springende Punkt – er hatte keine Zeit. Nehmen wir an, dass er den alten Herrn überraschen wollte. Das gelang ihm nicht. Es fand ein Kampf statt – ein Kampf, den man im Zimmer unterhalb genau hören musste. Und mehr noch: Der alte Herr rief um Hilfe. Alles rannte die Treppe hinauf. Da blieb dem Mörder wirklich nur noch knapp Zeit, aus dem Zimmer zu schlüpfen und den Schlüssel von außen umzudrehen.»

«Das stimmt», gab Poirot zu. «So mag sich Ihr Mörder benommen haben. Aber warum, warum in aller Welt ließ er die Waffe nicht liegen? Denn wo keine Waffe ist, kann kein Selbstmord stattgefunden haben. Das ist ein sehr verhängnisvolles Versehen.»

Inspektor Sugden sagte barsch: «Verbrecher machen meistens irgendeinen Fehler. Das erfahren wir immer wieder.»

Poirot seufzte leise. Dann murmelte er: «Und trotz dieses Fehlers ist er entwischt, der Verbrecher.»

«Ich glaube nicht, dass er wirklich entkommen ist»

«Sie glauben, dass er sich noch in diesem Haus befindet?»

«Ich wüsste nicht, wo er sonst sein könnte. Das Verbrechen ist hier im Haus geschehen.»

«Aber tout de même», beharrte Poirot liebenswürdig, «er ist insofern entwischt, als Sie nicht wissen, wer er ist.»

Inspektor Sugden sagte fest, aber ebenso höflich: «Ich habe das Gefühl, dass wir das sehr bald wissen werden. Wir haben noch niemand verhört.»

«Hören Sie, Sugden», mischte sich Johnson nun wieder ins Gespräch, «etwas will mir nicht in den Kopf: Wer immer den Schlüssel von außen im Schloss drehte, muss genau gewusst haben, wie man das macht. Das heißt, er muss sozusagen Einbrechererfahrung haben, denn diese Spezialwerkzeuge sind gar nicht leicht zu handhaben.»

«Sie denken an einen Berufsverbrecher, Sir?»

«Genau das denke ich.»

«Es sieht wirklich so aus», gab Sugden zu. «Ich habe mich auch schon gefragt, ob vielleicht unter dem Personal ein professioneller Dieb sei. Das würde das Verschwinden der Diamanten erklären, und der Mord wäre dann lediglich eine logische Folge. Aber diese Theorie greift nicht. Von den acht Angestellten sind sechs Frauen, von denen fünf schon vier Jahre und länger im Haus sind. Dann ist da ein Butler und ein Diener. Der Butler ist seit fast vierzig Jahren in der Familie – ein Rekord, möchte ich sagen. Der Diener ist ein Einheimischer, Sohn des Gärtners und hier aufgewachsen. Ich wüsste nicht, wie und wo er sich Einbrecherkenntnisse hätte aneignen können. Und dann ist noch ein weiterer Diener da, der persönliche Kammerdiener des alten Herrn. Er ist verhältnismäßig neu hier, aber er war nicht im Haus – ist es übrigens noch jetzt nicht –, sondern ist kurz vor acht Uhr ausgegangen.»

«Haben Sie eine Liste der derzeitigen Bewohner des Hauses?»

«Jawohl, Sir. Ich habe den Butler nach den Namen gefragt.» Er zog sein Notizbuch hervor. «Soll ich sie Ihnen vorlesen?»

«Bitte, Sugden.»

«Mr und Mrs Alfred Lee. Mr George Lee, Abgeordneter, und seine Frau. Mr Harry Lee. Mr und Mrs David Lee. Miss –», der Inspektor machte eine kleine Pause und nahm dann das Wort sorgfältig in Angriff, «Pilar –», wieder ein Anlauf, «Estravados. Mr Stephen Farr. Dann die Dienerschaft: Edward Tressilian, Butler. Walter Champion, Diener. Emily Reeves, Köchin. Queenie Jones, Küchenmädchen. Gladys Spent, erstes Hausmädchen. Grace Best, zweites Hausmädchen. Beatrice Moscombe, drittes Hausmädchen. Joan Kench, Haushalthilfe. Dann Sydney Horbury, Kammerdiener.»

«Und wo befanden sich die Herrschaften Lee alle zur Zeit des Mordes?»

«Das weiß ich nicht im Detail. Wie ich schon sagte, habe ich noch niemanden verhört. Laut Tressilian waren die Herren noch im Speisezimmer, die Damen bereits ins Wohnzimmer gegangen. Tressilian hatte den Kaffee serviert. Er sagt aus, dass er eben in die Küche zurückgekommen war, als er den Lärm von oben hörte, dem fast unmittelbar der Schrei folgte. Er ist dann mit und hinter den anderen die Treppe hinaufgerannt.»

«Wer von der Familie wohnt hier im Haus, und wer ist nur besuchsweise da?», fragte Colonel Johnson.

«Mr und Mrs Alfred Lee wohnen ständig hier. Alle andern kamen nur zu Besuch.»

«Und wo befinden sie sich jetzt?»

«Ich bat sie, im Wohnzimmer zu bleiben, bis ich bereit sei, ihre Aussagen aufzunehmen.»

«Gut. Dann wollen wir jetzt hinaufgehen und den Tatort inspizieren.»

Als sie das Zimmer betraten, in welchem der Mord stattgefunden hatte, pfiff der Colonel leise durch die Zähne.

«Ziemlich scheußlich», murmelte er.

Er blieb lange stehen und betrachtete die umgestürzten Stühle, die Scherben und die blutbefleckten Trümmer. Ein magerer älterer Mann erhob sich nächst der Leiche von den Knien und nickte kurz.

«Abend, Johnson», sagte er. «Nettes Schlachthaus, wie?»

«Das kann man wohl sagen! Wie lautet Ihr Befund, Doktor?» Der Arzt zuckte die Achseln und lächelte. «Den wissenschaftlichen Ausdruck dafür werde ich Ihnen bei der gerichtlichen Totenschau sagen. Es ist ein klarer Fall: Gurgel durchgeschnitten, wie bei einem Schwein. Hat sich binnen weniger Minuten zu Tod geblutet. Keine Waffe vorhanden.» Poirot ging zu den Fenstern. Wie der Inspektor gesagt hatte, war das eine geschlossen und verriegelt. Das andere stand wenige Zentimeter offen, war aber durch einen starken Sicherheitsriegel in dieser Position fixiert.

«Der Butler behauptet, dass dieses Fenster bei keiner Witterung ganz geschlossen werde», erklärte Sugden. «Für den Fall, dass Regen hereinpeitschen würde, ist der Linoleumbelag darunter angebracht worden, obwohl das überhängende Dach so ziemlich jedes Unwetter abhält.»

Poirot nickte. Er trat wieder zum Leichnam und blickte auf den alten Mann hinunter.

Die Lippen hatten sich von dem blutleeren Zahnfleisch zurückgezogen, so dass es aussah, als ob Simeon Lee die Zähne fletschte. Die Finger waren gebogen wie Vogelklauen.

«Er scheint kein kräftiger Mann gewesen zu sein», sagte Poirot.

«Nun, er war trotzdem sehr widerstandsfähig», widersprach der Arzt. «Er hat ein paar Krankheiten überstanden, die den meisten Menschen zum Verhängnis geworden wären.»

«Ich meinte es nicht in diesem Sinn. Ich wollte sagen, dass er physisch kein Riese gewesen ist.»

«Das stimmt, gewiss. Er war ziemlich zart gebaut.»

Poirot wandte sich ab und beugte sich forschend über einen umgestürzten Stuhl, einen schweren Mahagonisessel. Daneben stand ein Mahagonitisch mit den Scherben einer großen Porzellanlampe. Zwei kleinere Stühle waren ebenfalls umgeworfen, Splitter einer zerbrochenen Flasche und zweier Gläser lagen herum, ferner ein unversehrt gebliebener gläserner Briefbeschwerer, Bücher, eine zertrümmerte große japanische Vase und die Bronzestatuette eines nackten jungen Mädchens.

Poirot beugte sich über all diese Zeugen eines heftigen Kampfs, ohne jedoch irgendetwas zu berühren. Er hob erstaunt die Augenbrauen.

Colonel Johnson bemerkte das. «Fällt Ihnen etwas Besonderes auf, Poirot?»

Hercule Poirot seufzte. «Ein so schwächlicher alter Mann und doch all dies Durcheinander», murmelte er. Johnson sah ihn erstaunt an. Dann fragte er den Inspektor: «Sind Fingerabdrücke vorhanden?».

«Viele, Sir, überall im Zimmer.»

«Und am Safe?»

«Nur diejenigen des alten Herrn.»

Johnson wandte sich an den Arzt.

«Wie steht es mit Blutflecken? Wer immer ihn umgebracht hat, muss doch Blut an sich haben, oder nicht?»

«Nicht unbedingt», antwortete der Arzt zögernd. «Die Blutung erfolgte fast ausschließlich durch die Halsschlagader, und die pulsiert weniger stark als etwa eine Arterie.»

Poirot warf plötzlich ein: «Und darum ist das viele Blut verwunderlich, sehr verwunderlich.»

«Können Sie daraus irgendwelche Schlüsse ziehen?», fragte Sugden schüchtern und sehr respektvoll.

Poirot sah ihn an und schüttelte betrübt den Kopf. «Irgendetwas, Heftigkeit, übergroße Gewalt –» Er unterbrach sich und dachte lange nach, ehe er weitersprach. «Ja, das ist es: brutale Gewalt! Und dann das Blut. Es ist hier – wie soll ich mich ausdrücken? – es ist hier zu viel Blut. Blut auf den Stühlen, auf den Tischen, auf den Teppichen. Ein Blutgericht? Ein Blutopfer? Vielleicht. Dieser zerbrechliche alte Mann, so mager, so eingeschrumpft und vertrocknet und doch vor seinem Sterben so viel Blut in ihm…»

Er verstummte. Sugden, der ihn mit großen, erstaunten Augen ansah, flüsterte fast ehrfürchtig:

«Seltsam – genau das hat sie auch gesagt – die Dame.»

«Welche Dame?», fragte Poirot scharf. «Was hat sie gesagt?»

«Mrs Lee – Mrs Alfred Lee. Stand dort an der Türe und murmelte es halblaut. Ich wusste nicht, was sie damit meinte.»

«Was murmelte sie?»

«Irgendetwas, dass niemand gedacht hätte, dass der alte Herr noch so viel Blut in sich hätte.»

«Wer konnte denken, dass der alte Mann noch so viel Blut in sich gehabt?», zitierte Poirot leise. «Die Worte der Lady Macbeth. Eigenartig, dass sie das sagte.»

Alfred Lee und seine Frau traten in das kleine Arbeitszimmer, wo Poirot, Sugden und der Colonel warteten. Colonel Johnson ging ihnen entgegen.

«Guten Abend, Mr Lee. Wir sind uns noch nie begegnet, aber Sie werden vermutlich wissen, dass ich Polizeichef der Grafschaft bin. Johnson ist mein Name. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr mich der Vorfall hier erschüttert.»

Alfred, dessen braune Augen an die eines traurigen Hundes erinnerten, sagte heiser: «Ich danke Ihnen. Es ist entsetzlich! Entsetzlich! Meine Frau.»

Lydias Stimme klang ruhig.

«Es war ein furchtbarer Schock für meinen Mann – für uns alle –, aber für ihn ganz besonders.»

Sie legte die Hand auf Alfreds Schulter.

«Bitte, setzen Sie sich, Mrs Lee», sagte Johnson. «Darf ich Ihnen Monsieur Hercule Poirot vorstellen?»

Poirot verbeugte sich. Seine Augen huschten interessiert zwischen den Ehegatten hin und her.

Lydia drückte Alfred sanft auf einen Stuhl nieder. «Setz dich, Alfred!»

Alfred gehorchte wortlos. «Hercule Poirot? Wer?» Er fuhr sich benommen über die Stirn.

«Colonel Johnson wird dich vieles fragen wollen, Alfred», sagte Lydia Lee beherrscht.

Der Colonel warf ihr einen bewundernden Blick zu. Er war froh, dass Mrs Alfred Lee sich als vernünftige, gefasste Frau herausstellte.

«Ja, natürlich… gewiss, natürlich…», stammelte Alfred.

Der Schock hat ihn vollkommen erledigt, dachte Johnson. Hoffentlich wird er sich zusammennehmen.

Laut sagte er: «Ich habe hier eine Liste mit den Namen aller heute Abend im Haus Anwesenden. Würden Sie mir bestätigen, dass sie stimmt, Mr Lee?»

Er gab Sugden einen Wink, worauf dieser noch einmal sein Notizbuch hervorzog und sämtliche Namen herunterlas.

Die Sachlichkeit, mit welcher hier vorgegangen wurde, schien Alfred Lee zu beruhigen. Er hatte seine Selbstbeherrschung wiedergefunden, und seine Augen blickten nicht mehr verstört und gehetzt. Als Sugden geendet hatte, nickte er zustimmend.

«Die Liste ist korrekt.»

«Würden Sie mir Ihre Gäste näher schildern? Die Ehepaare George Lee und David Lee sind vermutlich Verwandte?»

«Es sind meine beiden jüngeren Brüder und ihre Frauen.»

«Sie sind nur zu Besuch hier?»

«Ja, sie kamen zur Weihnachtsfeier her.»

«Mr Harry Lee ist ebenfalls ein Bruder?»

«Ja.»

«Und die beiden anderen Gäste? Miss Estravados und Mr Farr?»

«Miss Estravados ist meine Nichte. Mr Farr ist der Sohn des ehemaligen Geschäftspartners meines Vaters in Südafrika.»

«Also ein alter Freund?»

«Nein, wir haben ihn erst jetzt kennen gelernt», warf Lydia ein.

«Ach so? Aber Sie haben ihn über Weihnachten eingeladen?»

Alfred zögerte und sah seine Frau hilflos an. Sie antwortete klar und ruhig auf die Frage. «Mr Farr tauchte gestern recht unerwartet auf. Er war zufällig in der Gegend und wollte meinem Schwiegervater einen Besuch machen. Als mein Schwiegervater begriff, dass es sich um den Sohn eines alten Freundes und Geschäftspartners handelte, beharrte er darauf, dass Mr Farr Weihnachten mit uns verbringen sollte.»

«Ich verstehe. Soweit also die Familie. Was nun die Dienerschaft betrifft, Mrs Lee, vertrauen Sie allen Ihren Angestellten?»

Lydia dachte eine Weile nach, ehe sie antwortete. «Ja. Ich bin sicher, dass sie alle durchaus vertrauenswürdig sind. Die meisten sind seit Jahren im Haus. Tressilian, der alte Butler, sogar schon seit der Kindheit meines Mannes. Die einzigen, die noch nicht lange hier sind, sind Joan, die Haushalthilfe, und der persönliche Kammerdiener und Pfleger meines Schwiegervaters.»

«Und was halten Sie von den beiden?»

«Joan ist nicht übermäßig intelligent. Das ist das Schlimmste, was man von ihr sagen kann. Horbury kenne ich eigentlich kaum. Er ist seit etwas über einem Jahr hier. Seiner Arbeit scheint er zuverlässig nachzukommen, denn mein Schwiegervater war sehr zufrieden mit ihm.»

«Aber Sie, Madame, sind nicht dieser Ansicht?», warf Poirot hier blitzschnell ein.

Lydia zuckte die Achseln. «Ich habe nichts mit Horbury zu tun.»

«Immerhin sind Sie die Hausherrin, Madame, und die Dienerschaft untersteht Ihrem Befehl.»

«Gewiss, aber Horbury war ausschließlich zur Bedienung meines Schwiegervaters da und unterstand mir in keiner Weise.»

«Ach so.»

Colonel Johnson wurde leicht ungeduldig. «Wir kommen nun zu den Ereignissen des heutigen Abends. Ich fürchte, dass dies für Sie schmerzlich ist, Mr Lee, aber ich bitte Sie, mir genau zu schildern, was eigentlich geschah.»

Alfred nickte wortlos.

«Wann sahen Sie zum Beispiel Ihren Vater zum letzten Mal?», fuhr Johnson rasch fort.

Alfreds Gesicht verzog sich schmerzlich, und er antwortete sehr leise: «Nach dem Tee. Ich war kurze Zeit bei ihm. Dann sagte ich ihm gute Nacht und verließ ihn um – wie spät mag es gewesen sein? Ungefähr um ein Viertel vor sechs.»

«Sie sagten ihm gute Nacht?», warf Poirot fragend ein. «Setzten Sie denn voraus, dass Sie Ihren Vater heute Abend nicht mehr sehen würden?»

«Ja. Mein Vater speiste sehr leicht am Abend, und sein Nachtessen wurde ihm um sieben Uhr auf seinem Zimmer serviert. Danach pflegte er oft gleich zu Bett zu gehen; manchmal saß er noch eine Weile in seinem Stuhl, aber er wollte niemanden von der Familie sehen, wenn er nicht ausdrücklich nach jemandem schickte.»

«Tat er das öfter?»

«Es kam vor, wenn er Lust darauf hatte.»

«Aber es war nicht eigentlich üblich?»

«Nein.»

«Bitte, fahren Sie fort, Mr Lee.»

«Wir aßen um acht Uhr. Das Essen war vorüber, und meine Frau war mit den anderen Frauen ins Wohnzimmer gegangen.» Seine Stimme schwankte, und seine Augen starrten wieder gehetzt aus dem fahlen Gesicht. «Wir waren am Tisch sitzen geblieben. Plötzlich hörten wir von oben einen entsetzlichen Lärm. Fallende Stühle, das Splittern von Holz, Glas und Porzellan und dann – mein Gott!» Er schauerte zusammen – «Ich höre es noch jetzt, dann schrie mein Vater! Ein grauenvoller, lang gezogener Schrei, der Schrei eines Menschen in höchster Todesangst.»

Er verbarg sein Gesicht in den zitternden Händen. Lydia zog ihn beruhigend am Ärmel. Colonel Johnson fragte behutsam: «Und dann?»

«Ich glaube – wahrscheinlich waren wir sekundenlang einfach wie gelähmt», sagte Alfred mit erstickter Stimme. «Aber dann sprangen wir auf, rannten zur Tür hinaus und die Treppe zu Vaters Zimmer hinauf. Die Tür war verschlossen. Wir konnten nicht hinein. Mit vereinten Kräften mussten wir sie erst aufbrechen. Und dann, als wir ins Zimmer traten, sahen wir…»

Seine Stimme erstarb.

«Das genügt, Mr Lee», sagte Johnson schnell. «Bitte, gehen wir noch ein paar Minuten zurück, also zu dem Zeitpunkt, als Sie noch im Speisezimmer saßen. Wer war mit Ihnen dort, als der Schrei ertönte?»

«Wer? Nun, wir alle. Nein, warten Sie. Mein Bruder war bei mir, mein Bruder Harry.»

«Sonst niemand?»

«Nein.»

«Wo waren denn die anderen Herren?»

Alfred runzelte die Stirne und bemühte sich, nachzudenken. «Wo waren sie? Es scheint alles so weit zurückzuliegen. Jahre zurück. Wie war es? Ja, richtig, George war zum Telefon gegangen. Wir begannen Familienangelegenheiten zu besprechen, und Mr Farr sagte, dass er uns dabei nicht stören wollte, und empfahl sich, sehr liebenswürdig und taktvoll.»

«Und Ihr Bruder David?»

«David? War er nicht da? Nein, natürlich nicht. Ich weiß wirklich nicht, wann er aus dem Zimmer ging.»

«Sie hatten also Familienangelegenheiten zu diskutieren?», wiederholte Poirot fragend.

«J-ja, ja, gewiss.»

«Heißt das, dass Sie eine Auseinandersetzung mit einem Mitglied Ihrer Familie hatten?»

«Was wollen Sie damit sagen?» Lydias Frage kam rasch.

Poirot wandte sich ihr fast heftig zu. «Madame, Ihr Gatte sagt aus, dass Mr Farr sich entfernte, weil Familienangelegenheiten besprochen werden sollten. Es kann sich jedoch nicht um einen Familienrat gehandelt haben, nachdem sowohl Mr David als auch Mr George nicht anwesend waren. Also war es eine Auseinandersetzung zwischen nur zwei Mitgliedern der Familie, nicht wahr?»

«Mein Schwager Harry war jahrelang verreist gewesen. Es ist wohl natürlich, dass er und mein Mann sich manches zu sagen hatten.»

«Ach, ich verstehe. So war das.»

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu und schlug dann die Augen nieder.

«Nun, das scheint ja klar zu sein», stellte Johnson fest. «Bemerkten Sie, ob außer Ihnen noch jemand die Treppe zum Zimmer Ihres Vaters hinauf rannte?»

«Ich – ich weiß nicht. Ich glaube schon. Wir kamen alle aus den verschiedensten Richtungen. Aber ich habe nichts klar erfasst – ich war so aufgeregt. Dieser entsetzliche Schrei…»

Colonel Johnson ging schnell zu einem anderen Thema über. «Danke, Mr Lee. Nun ist da noch ein Punkt: Wenn ich recht unterrichtet bin, besaß Ihr Vater einige sehr wertvolle Diamanten.»

Alfred sah ihn erstaunt an. «Ja, das stimmt.»

«Wo pflegte er die aufzubewahren?»

«In dem Safe in seinem Zimmer.»

«Können Sie mir die Steine beschreiben?»

«Es waren rohe Diamanten, also ungeschliffene Steine.»

«Warum bewahrte Ihr Vater sie in seinem Zimmer auf?»

«Sie waren sein Steckenpferd. Er hatte die Steine aus Südafrika mitgebracht. Nicht, um sie schleifen zu lassen, sondern einfach, um sie zu besitzen. Ein Hobby, wie ich schon sagte.»

«Ich verstehe», sagte Johnson, aber aus seinem Ton ging klar hervor, dass er gar nichts begriff. «Und waren diese Steine sehr wertvoll?»

«Mein Vater schätzte sie auf ungefähr zehntausend Pfund.»

«Also waren sie sogar ungemein wertvoll. Merkwürdige Idee, sie im Schlafzimmer aufzubewahren.»

Wieder griff Lydia in das Gespräch ein. «Mein Schwiegervater war in mancher Hinsicht ein merkwürdiger Mann, Colonel Johnson. Seine Ansichten und Ideen waren oft sehr unkonventionell. Er liebte es, diese Steine zu berühren.»

«Vielleicht erinnerten sie ihn an die Vergangenheit», warf Poirot ein.

Sie sah ihn bewundernd an. «Ja», sagte sie, «das taten sie wahrscheinlich.»

«Waren diese Diamanten versichert?», fragte Johnson.

«Ich glaube nicht.»

Johnson beugte sich vor und fragte ruhig: «Wissen Sie, Mr Lee, dass diese Steine gestohlen worden sind?»

«Was?» Alfred Lee starrte ihn an.

«Hat Ihr Vater Ihnen gegenüber ihr Verschwinden nicht erwähnt?»

«Mit keinem Wort!»

«Sie wussten also nicht, dass er Inspektor Sugden hatte kommen lassen, um ihm den Verlust zu melden?»

«Ich hatte nicht die leiseste Ahnung von alldem!»

Der Colonel ließ seinen Blick zu Lydia gleiten.

«Und Sie, Mrs Lee?»

Lydia schüttelte den Kopf. «Auch ich habe nichts davon gewusst.»

«Sie waren also beide der Meinung, dass die Steine sich noch im Safe befänden.»

«Ja.»

Nach einigem Zögern fragte sie: «Ist er darum umgebracht worden? Der Steine wegen?»

«Das herauszufinden wird jetzt unsere Aufgabe sein», antwortete Colonel Johnson. «Wüssten Sie, Mrs Lee, wer von den Hausbewohnern einen solchen Diebstahl hätte bewerkstelligen können?»

«Nein, keine Ahnung. Ich glaube, dass alle Dienstboten ehrlich sind. Außerdem wäre es für sie äußerst schwierig gewesen, jemals an diesen Safe zu kommen. Mein Schwiegervater hat sein Zimmer nie verlassen. Er kam nie die Treppe herunter.»

«Wer räumte sein Zimmer auf?»

«Horbury. Er machte das Bett und staubte ab. Das zweite Hausmädchen besorgte nur den Kamin und feuerte morgens an, alles andere erledigte Horbury.»

«Dann hätte also Horbury am leichtesten den Safe öffnen können?», fragte Poirot.

«Ja.»

«Glauben Sie, dass er es war, der die Diamanten stahl?»

«Es ist möglich. Wahrscheinlich. Er hatte die beste Gelegenheit dazu. Ach! Ich weiß nicht, was ich denken soll!»

Colonel Johnson ließ sich nicht verwirren. «Ihr Mann hat uns vorhin die Begebenheiten des Abends geschildert. Würden Sie das nun auch tun, Mrs Lee? Wann sahen Sie Ihren Schwiegervater zuletzt?»

«Wir waren heute Nachmittag vor dem Tee alle in seinem Zimmer. Damals habe ich ihn zum letzten Mal gesehen.»

«Sie haben ihm nicht mehr gute Nacht gewünscht?»

«Nein.»

«Sind Sie sonst für gewöhnlich noch zu ihm gegangen, um ihm gute Nacht zu sagen?», fragte Poirot.

«Nein», sagte Lydia scharf.

Der Colonel fuhr fort: «Wo waren Sie, als das Verbrechen stattfand?»

«Im Wohnzimmer.»

«Hörten Sie den Lärm?»

«Ich glaube, dass ich etwas Schweres fallen hörte. Das Zimmer meines Schwiegervaters liegt über dem Speisezimmer, nicht über dem Wohnzimmer, das hat die Geräusche gedämpft.»

«Aber den Schrei haben Sie auch gehört?»

Lydia zuckte zusammen. «Ja, den hörte ich. Es war scheußlich – wie eine Seele im Fegefeuer. Ich wusste sofort, dass irgendetwas Grässliches geschehen sein musste. Ich rannte hinaus und folgte meinem Mann und Harry die Treppe hinauf.»

«Wer war zu jener Zeit außer Ihnen im Wohnzimmer?»

Lydia dachte nach.

«Das – das weiß ich tatsächlich nicht. David war nebenan und spielte Mendelssohn. Ich glaube, Hilda war zu ihm hinübergegangen.»

«Und die beiden anderen Damen?»

«Magdalene ging telefonieren», antwortete Lydia langsam, «aber ich kann mich nicht erinnern, ob sie zurückkam oder nicht. Und wo Pilar war, weiß ich ebenfalls nicht.»

«Sie könnten also ebenso gut ganz allein im Wohnzimmer gewesen sein», stellte Poirot sanft fest.

«Ja. Ja, das war ich wahrscheinlich auch.»

«Nun zu den Diamanten», sagte Johnson. «Diese Sache müssen wir besonders sorgfältig untersuchen. Kennen Sie das Kombinationsschloss am Safe Ihres Schwiegervaters, Mrs Lee? Es scheint ein ziemlich altmodisches Modell zu sein.»

«Er hat das Kennwort in einem kleinen Notizbuch notiert, das er immer in der Tasche seines Schlafrocks trug.»

«Gut. Wir werden das sofort prüfen. Aber vielleicht sollten wir zuerst die übrigen Herrschaften verhören, damit die Damen zu Bett gehen können.»

Lydia erhob sich sofort.

«Komm, Alfred.» Und zu den Herren gewandt: «Ich werde sie Ihnen schicken.»

«Einen nach dem anderen, wenn ich bitten darf, Mrs Lee.»

«Gewiss.» Sie ging auf die Tür zu. Alfred folgte ihr.

Plötzlich drehte er sich jäh um.

«Natürlich!», sagte er. Er kam rasch auf Poirot zu. «Sie sind Hercule Poirot. Wo habe ich bloß meine Gedanken gehabt? Dass ich das nicht sofort erfasste.» Er sprach schnell, mit leiser, erregter Stimme. «Sie kommen wie vom Himmel geschickt. Sie müssen die Wahrheit herausfinden, Mr Poirot. Scheuen Sie keine Ausgaben, ich komme für alles auf! Aber finden Sie die Wahrheit! Mein armer Vater! Getötet! Mit äußerster Brutalität getötet! Sie müssen den Täter finden, Mr Poirot! Mein Vater soll gerächt werden!»

Poirot erwiderte: «Ich versichere Ihnen, Monsieur Lee, dass ich tun werde, was in meinen Kräften steht, um Colonel Johnson und Inspektor Sugden behilflich zu sein.»

«Ich möchte aber, dass Sie in meinem Auftrag arbeiten!», stieß Alfred erregt hervor. «Mein Vater muss gerächt werden!» Er begann heftig zu zittern. Lydia kam zurück und nahm ihn beim Arm. «Komm, Alfred. Wir müssen jetzt die anderen rufen.»

Sie sah Poirot fest in die Augen, aber diese Augen wussten ihre Geheimnisse zu wahren. Ihr Blick schwankte nicht.

Poirot sagte leise: «Wer konnte denken, dass der alte Mann…»

Sie fiel ihm ins Wort.

«Nein! Sagen Sie das nicht!»

«Sie haben es gesagt, Madame», gab Poirot sanft zu bedenken.

«Ich weiß», flüsterte sie. «Ich erinnere mich. Es war – so grauenvoll.»

Dann verließ sie mit ihrem Mann eilends den Raum.

George Lee war ernst und steif-korrekt.

«Eine entsetzliche Sache», sagte er und schüttelte den Kopf. «Eine ganz und gar scheußliche Sache. Ich kann mir nur denken, dass es – hm – die Tat eines Wahnsinnigen gewesen ist.»

Colonel Johnson hörte ihn höflich an.

«Das ist also Ihre Ansicht?»

«Ja, allerdings. Ein blutrünstiger Verrückter. Vielleicht aus einem Irrenhaus der Umgebung entflohen.»

«Und wie, glauben Sie, hätte dieser Verrückte Zutritt zu diesem Haus erlangen können, Mr Lee?», fragte hier Inspektor Sugden.

George schüttelte den Kopf. «Es ist Sache der Polizei, das herauszubekommen», bemerkte er kühl.

«Wir haben sofort das ganze Haus inspiziert», verteidigte sich Sugden eifrig. «Alle Fenster waren geschlossen und verriegelt. Der Nebeneingang und die Vordertür waren zugesperrt. Niemand hätte durch die Küchentür kommen können, ohne vom Personal bemerkt zu werden.»

«Das ist doch Unsinn!», schrie George Lee. «Vielleicht wollen Sie auch noch behaupten, dass mein Vater gar nicht ermordet worden ist!»

«Doch, er wurde ermordet, daran ist nicht zu zweifeln», gab Sugden ruhig zur Antwort.

Colonel Johnson räusperte sich und übernahm die Leitung des Verhörs wieder.

«Wo waren Sie im Augenblick des Mordes, Mr Lee?»

«Im Speisezimmer. Es war kurz nach dem Nachtessen. Nein, ich glaube, ich war in diesem Zimmer hier. Ich hatte eben ein Telefongespräch beendet.»

«Sie haben telefoniert?»

«Ja. Ich habe einem Mitarbeiter in Westeringham etwas Dringendes mitteilen müssen.»

«Und nachdem Ihr Gespräch beendet war, hörten Sie den Schrei?»

George Lee zuckte leicht zusammen. «Ja, scheußlich. Er fuhr mir durch Mark und Bein. Und dann erstarb er in einem Gurgeln oder erstickten Keuchen.» Er zog ein Taschentuch hervor und wischte sich die feuchtglänzende Stirne ab. «Scheußliche Sache», murmelte er.

«Und dann liefen Sie also die Treppe hinauf?»

«Ja.»

«Haben Sie Ihre Brüder, Mr Alfred und Mr Harry, dabei gesehen?»

«Nein, sie müssen kurz vor mir hinaufgerannt sein.»

«Wann haben Sie Ihren Vater zum letzten Mal gesprochen?»

«Heute Nachmittag. Wir waren alle bei ihm.»

«Nach diesem Beisammensein sahen Sie ihn nicht mehr?»

«Nein.»

Der Colonel machte eine Pause, dann fragte er:

«Wussten Sie, dass Ihr Vater eine Reihe wertvoller ungeschliffener Diamanten im Safe seines Schlafzimmers aufbewahrte?»

George Lee nickte.

«Ein äußerst unvorsichtiger Zustand», sagte er hochtrabend. «Das habe ich ihm auch wiederholt klar gemacht. Er hätte um dieser Steine willen ermordet werden können – ich meine – ich wollte sagen –»

Colonel Johnson unterbrach ihn. «Wissen Sie, dass diese Diamanten verschwunden sind?»

George blieb der Mund offen stehen. Seine vortretenden Augen glotzten.

«Dann ist er also tatsächlich der Steine wegen ermordet worden?»

Der Colonel antwortete langsam:

«Er hatte den Verlust entdeckt und ihn wenige Stunden vor seinem Tod der Polizei gemeldet.»

«Ja, aber – dann begreife ich nicht –», stotterte George.

Und Hercule Poirot sagte freundlich: «Wir auch nicht, wir begreifen es auch nicht.»

Harry Lee trat schwungvoll ins Zimmer, Poirot betrachtete ihn stirnrunzelnd. Diesen Mann hatte er doch schon irgendwo gesehen. Diese lange, schmale Nase, das hochmütige Hochwerfen des Kopfes, das scharfe Profil…

Es fiel ihm auch auf, dass Harry trotz seines forschen Auftretens nervös war. Er versuchte das hinter unbefangener Sicherheit zu verbergen, aber Poirot spürte die dahinter liegende Angst.

«Nun, meine Herren, was kann ich für Sie tun?»

«Wir wären Ihnen sehr verbunden», antwortete Johnson, «wenn Sie uns die Ereignisse des heutigen Abends aufklären helfen könnten.»

Harry Lee schüttelte bedauernd den Kopf.

«Ich weiß leider von gar nichts. Die ganze Sache ist ziemlich scheußlich, und sie ist so unerwartet gekommen.»

«Sie sind erst kürzlich vom Ausland zurückgekehrt, nicht wahr, Monsieur Lee?», fragte Poirot.

Harry fuhr herum. «Jawohl. Vor einer Woche in London an Land gegangen.»

«Und waren Sie lange abwesend?»

Harry Lee reckte das Kinn vor und lachte.

«Sie sollen lieber gleich die ganze Wahrheit erfahren – sonst erzählt sie Ihnen irgendein anderer! Ich bin der verlorene Sohn, meine Herren! Es sind bald zwanzig Jahre her, seit ich dieses Haus verließ.»

«Aber jetzt sind Sie zurückgekehrt. Würden Sie uns sagen, warum?», fragte Poirot.

Mit der gleichen Unbefangenheit antwortete Harry sofort: «Es ist wie im guten, alten Gleichnis. Die Treber, die die Säue essen – oder nicht essen, ich habe vergessen, wie es genau heißt –, waren mir verleidet. Und da dachte ich, dass ein gemästetes Kalb eine angenehme Abwechslung wäre. Fast gleichzeitig bekam ich einen Brief meines Vaters, in dem er mich heimzukommen bat. Ich gehorchte seinem Befehl, und da bin ich. Das ist alles.»

«Sind Sie auf kurzen oder längeren Besuch hier?»

«Ich bin für immer heimgekommen», sagte Harry Lee knapp.

«War Ihr Vater damit einverstanden?»

«Der alte Herr war hocherfreut!» Harry lachte wieder, und um seine Augen bildeten sich vergnügte Fältchen. «Scheußlich langweilig für ihn, dieses Leben mit Alfred. Alfred ist ein trostlos steifer Knabe – sehr anständig natürlich –, aber kein unterhaltsamer Gesprächspartner. Mein Vater dagegen war in jungen Jahren ein ziemlicher Windbeutel, und darum sagte ihm meine Art mehr zu.»

«Und Ihr Bruder, Ihre Schwägerin – haben sie sich auch darüber gefreut, Sie künftig im Haus zu haben?»

Diese Frage stellte Poirot mit einem leichten Heben der Augenbrauen.

«Alfred? Alfred tobte. Wie Lydia reagierte, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat sie sich Alfreds wegen geärgert. Aber wir werden uns großartig verstehen. Lydia gefällt mir. Ich hätte sie heiraten sollen. Aber Alfred ist eine ganz andere Währung.» Er lachte laut auf. «Alfred war von jeher eifersüchtig auf mich. Er war immer der brave, gehorsame, unterwürfige Sohn. Und was hat er schließlich dafür bekommen? Was der brave Stubenhocker einer Familie immer zu bekommen pflegt: einen Tritt in den Hintern. Glauben Sie mir, meine Herren, Tugend lohnt sich nicht.» Er sah seine Zuhörer der Reihe nach an. «Hoffentlich entsetzt Sie meine Offenheit nicht, aber das ist die Wahrheit. Sie werden ja die Schmutzwäsche des Hauses Lee doch über kurz oder lang am hellen Tageslicht ausbreiten, also kann ich meine persönliche geradeso gut jetzt und hier zur Schau stellen. Ich bin nicht besonders verzweifelt über den Tod meines Vaters. Schließlich habe ich ihn nie mehr gesehen, seit ich ein ganz junger Bursche war. Aber er war trotz allem mein Vater, und jetzt ist er ermordet worden. Mir liegt daran, dass sein Tod gerächt wird.» Er strich sich übers Kinn. «Wir sind eine ziemlich rachsüchtige Familie. Keiner der Lees vergisst leicht. Ich möchte sicher sein, dass der Mörder meines Vaters gefasst und gehängt wird.»

«Wir werden tun, was in unseren Kräften steht», sagte Sugden.

«Falls nicht, würde ich die Vergeltung selber in die Hand nehmen», gab Harry Lee scharf zurück.

«Haben Sie einen Verdacht, wer der Täter sein könnte, Mr Lee?», fragte Colonel Johnson schnell.

Harry schüttelte den Kopf.

«Nein», antwortete er langsam, «nein, das habe ich nicht. Wissen Sie, irgendwie ist es ein Schlag. Ich habe lange darüber nachgedacht – und mich dünkt, dass niemand von draußen als Täter in Frage kommen kann.»

«Aha», warf Sugden hier kopfnickend ein.

«Und wenn ich Recht habe, dann hat ihn einer der Hausbewohner umgebracht! Aber wer zum Teufel? Ein Dienstbote doch bestimmt nicht. Tressilian ist seit ewigen Zeiten hier. Der halbidiotische Diener? Kaum. Horbury? Ein kaltschnäuziger Kerl, aber Tressilian sagte mir, dass er ins Kino gegangen sei. Und wer bleibt dann? Wenn man Stephen Farr ausscheidet - und warum sollte Farr eigens von Südafrika hergekommen sein, um einen vollkommen Fremden umzubringen? Dann bleibt nur noch die Familie, und da kann ich mir um die Welt nicht vorstellen, wer von uns in Frage käme. Alfred? Er vergötterte unsern Vater. George? Viel zu feig dazu. David? Nein. David war von jeher ein Träumer. Der wird ohnmächtig, wenn er sich nur in den Finger schneidet. Und die Frauen? Keine von ihnen würde hingehen und einem alten Mann die Kehle durchschneiden. Wer also tat es? Ich will verdammt sein, wenn ich es weiß.»

Colonel Johnson räusperte sich – eine sozusagen amtliche Angewohnheit von ihm – und stellte seine stereotype Frage: «Wann haben Sie Ihren Vater zum letzten Mal gesehen?»

«Nach dem Tee. Er hatte eben Streit mit Alfred gehabt - wegen mir. Der alte Mann hatte eine diebische Freude an dem Krach. Er liebte es, seine Umgebung zu verärgern. Meiner Ansicht nach hatte er nur darum meine Ankunft vor den anderen verborgen gehalten. Er wollte sehen, wie sie in die Luft gingen, wenn ich plötzlich hier auftauchte. Und nur darum hat er auch davon gesprochen, sein Testament zu ändern.»

Poirot hob den Kopf und murmelte:

«Ihr Vater hat also sein Testament erwähnt?»

«Ja. Vor uns allen. Und dabei hat er uns beobachtet wie eine lauernde Katze, um zu sehen, wie wir reagierten. Er rief seinen Anwalt an und bat ihn, nach Weihnachten in dieser Sache zu ihm zu kommen.»

«Welche Änderungen wollte er vornehmen lassen?»

Harry Lee grinste.

«Das hat er uns nicht gesagt, der alte Fuchs! Ich nehme an - oder sagen wir lieber: ich hoffte –, dass sie zugunsten meiner Wenigkeit ausgehen würden. Ich vermute, dass ich aus allen früheren Testamenten gestrichen worden war und jetzt wieder aufgenommen werden sollte. Ziemlich ärgerlich für die anderen. Und Pilar, die er sehr gern mochte, hätte sicher auch etwas bekommen sollen. Haben Sie sie schon gesehen? Meine spanische Nichte, ein bezauberndes Geschöpf, mit aller Wärme des Südens und mit all seiner Grausamkeit. Ich wollte, ich wäre nicht bloß ihr Onkel.»

«Ihr Vater hatte sie lieb gewonnen?»

Harry nickte. «Sie verstand es, den alten Herrn zu nehmen. Saß lange hier bei ihm. Ich wette, dass sie ganz genau wusste, was sie damit bezweckte. Nun, jetzt ist er tot. Kein Testament kann mehr zu Pilars Gunsten abgeändert werden – zu meinen auch nicht, leider!»

Er grübelte sekundenlang über etwas nach und fuhr dann in verändertem Ton fort: «Aber ich bin vom Thema abgewichen. Sie fragten mich, wann ich Vater zuletzt gesehen habe? Wie gesagt, nach dem Tee, ungefähr kurz nach sechs. Der alte Mann war sehr vergnügt, wenn auch ein wenig müde. Ich ging bald und ließ ihn mit Horbury allein. Dann habe ich ihn nicht mehr gesehen.»

«Wo waren Sie, als der Mord geschah?»

«Im Speisezimmer, mit Bruder Alfred. Wir waren mitten in einer ziemlich scharfen Auseinandersetzung, als wir den Lärm von oben hörten. Es tönte, als würden zehn Männer miteinander ringen. Und dann schrie der arme alte Vater. Ein Aufkreischen, als ob ein Schwein abgestochen würde. Dieser Schrei schien Alfred vollständig zu lähmen. Er blieb wie angewurzelt sitzen. Ich rüttelte ihn wach und rannte mit ihm die Treppe hinauf. Die Tür zu Vaters Zimmer war verschlossen. Wir mussten sie aufbrechen. Ziemlich mühsame Sache. Wie zum Teufel konnte die Tür überhaupt verschlossen sein? Es war niemand in dem Zimmer außer Vater, und ich kann mir nicht denken, dass jemand durch die Fenster entflohen ist!»

«Die Tür war von außen versperrt worden», sagte Sugden.

«Was?» Harry starrte ihn an. «Ich könnte doch schwören, dass der Schlüssel innen steckte.»

«Das haben Sie also bemerkt?», murmelte Poirot.

Harry Lee sah ihn scharf an. «Ich bemerke manches, das ist so meine Art.» Dann flogen seine Augen von einem zum andern. «Haben Sie mich sonst noch etwas zu fragen, meine Herren?»

Johnson schüttelte den Kopf.

«Danke, Mr Lee, im Augenblick nicht. Würden Sie bitte das nächste Familienmitglied hereinschicken?»

«Natürlich.» Harry verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen.

«Was halten Sie von ihm, Sugden?», fragte Johnson.

Der Inspektor hob zweifelnd die Schultern und ließ sie wieder fallen.

«Er hat Angst vor irgendetwas. Ich frage mich, warum?»

Magdalene Lee hielt auf der Schwelle effektvoll inne, um sich mit der langen, schmalen Hand über das platinblonde Haar zu streichen. Sie trug ein eng anliegendes blattgrünes Samtkleid, das ihre schlanke Figur voll zur Geltung brachte. Sie sah sehr jung und ein wenig verängstigt aus.

Die drei Männer waren sekundenlang von ihrem Anblick wie gefesselt. Johnsons Augen sprachen von überraschter Bewunderung, während Sugden eher den Ausdruck eines Menschen zeigte, der gerne ungehindert mit seiner Arbeit vorwärts kommen möchte. Hercule Poirot hingegen leuchtete die Anerkennung förmlich aus dem Gesicht – wie Magdalene sofort bemerkte –, aber sie galt nicht so sehr ihrer Schönheit als vielmehr dem geschickten Gebrauch, den sie davon zu machen verstand.

Joli mannequin, la petite. Mais elle a les yeux durs, dachte Hercule Poirot.

Colonel Johnson dachte: Sieht verdammt gut aus, das Mädchen. George Lee wird es nicht leicht mit ihr haben, wenn er nicht gut aufpasst. Sie weiß, was Männer anzieht. Inspektor Sugden dachte: Eitle, leerköpfige Person! Hoffentlich haben wir nicht lange mit ihr zu tun!

«Bitte nehmen Sie doch Platz, Mrs George Lee?»

Sie setzte sich mit einem warmen, dankbaren Lächeln, das ungefähr besagte: Sie sind zwar ein Polizist, aber doch letzten Endes ein Mann und also gar nicht so furchterregend.

Ein wenig galt dieses Lächeln auch Poirot. Ausländer waren doch so ritterlich Frauen gegenüber. Inspektor Sugden schien sie nicht zu beachten. Mit reizender Verzweiflung rang sie die Hände und murmelte: «Es ist alles so schrecklich. Ich habe furchtbare Angst.»

«Aber, aber, Mrs Lee», sagte Johnson kurz, jedoch nicht unfreundlich. «Es war ein Schock für Sie alle, aber jetzt ist er vorüber. Wir möchten Ihren Bericht über das hören, was sich heute Abend zugetragen hat.»

«Ich weiß von nichts», rief sie, «wirklich nicht!»

Die Augen des Colonels verengten sich plötzlich. «Nein, natürlich nicht», sagte er langsam.

«Wir sind erst gestern angekommen. George hat mich gezwungen, mit ihm hier Weihnachten zu feiern. Wären wir bloß nicht hergekommen. Ich werd es nie vergessen können. Ich kenne Georges Familie fast nicht. Mr Lee habe ich nur ein- oder zweimal gesehen – bei unserer Hochzeit und später noch einmal. Alfred und Lydia kenne ich etwas besser, aber im Grunde genommen sind sie alle Fremde für mich.»

Wieder der große, erschrockene Kinderblick, und wieder dachte Hercule Poirot voll Bewunderung: Elle joue très bien la comedie, cette petite…

«Gewiss, gewiss», erwiderte Johnson. «Nun sagen Sie mir, wann Sie Ihren Schwiegervater zum letzten Mal sahen – ich meine, lebend sahen.»

«Heute Nachmittag. Es war scheußlich.»

«Scheußlich? Warum?»

«Alle waren so wütend. Nein, George nicht. Zu ihm hatte sein Vater nichts gesagt… aber alle anderen.»

«Was ist denn geschehen?»

«Nun, als wir hinaufkamen – er hatte nach uns schicken lassen –, war er am Telefon und sprach mit einem Anwalt über sein Testament. Und dann sagte er Alfred, er sähe so verärgert aus. Das war bestimmt nur wegen Harrys Heimkehr. Das regte Alfred so auf. Wissen Sie, Harry hat einmal etwas Schreckliches getan! Und dann redete er von seiner Frau – sie ist seit vielen Jahren tot –, sie habe das Gehirn eines Huhns gehabt, sagte er, und dann sprang David auf und starrte ihn an, als ob er ihn umbringen wollte – oh!» Sie brach plötzlich ab. «Ich wollte damit nicht sagen, das habe ich nicht damit gemeint!»

«Ich verstehe, es war nur eine Redensart», beruhigte sie Johnson.

«Mr Lee sagte, er wolle niemanden von uns mehr sehen an diesem Abend, und dann gingen wir alle wieder hinaus. Hilda, Davids Frau, blieb kurz zurück und versuchte, ihn wieder zu beruhigen und – nun, das ist eigentlich alles.»

«Und wo waren Sie um die Zeit, da der Mord geschah?»

«Ich? Warten Sie. Wahrscheinlich im Wohnzimmer.»

«Sind Sie nicht ganz sicher?»

Magdalenes Augen begannen zu zucken und wurden sofort durch die Lider bedeckt.

«Wie dumm ich doch bin! Ich war ja zum Telefon gegangen. Ich bin so durcheinander.»

«Sie haben also telefoniert? In diesem Zimmer?»

«Ja, das ist das einzige Telefon im Haus, außer demjenigen im Zimmer meines Schwiegervaters.»

Sugden warf eine Frage ein. «War noch jemand in diesem Zimmer?»

Ihre Augen weiteten sich. «Nein, ich war ganz allein.»

«Wie lange waren Sie hier?»

«Ziemlich lang. Am Abend dauert es endlos lang, bis man eine Verbindung bekommt.»

«Sie führten also ein Auswärtsgespräch?»

«Ja, mit Westeringham.»

«Und dann?»

«Dann ertönte ein fürchterlicher Schrei – und alle rannten –, und die Tür war verschlossen und musste eingedrückt werden. O Gott! Es war wie ein Albtraum! Ich werde ihn nie, nie vergessen können!»

«Doch, doch.» Colonel Johnsons Ton war von mechanischer Tröstlichkeit. Dann fragte er weiter: «Wussten Sie, dass Ihr Schwiegervater eine Reihe wertvoller Diamanten in seinem Safe aufbewahrte?»

«Nein, wirklich?» Ihre Überraschung schien ehrlich zu sein. «Echte Diamanten?»

«Diamanten im Wert von zehntausend Pfund», warf Hercule Poirot ein.

«Nein!» Es klang wie ein ersticktes Flüstern und drückte pure weibliche Begierde aus.

«Ich glaube, das ist alles für den Augenblick. Wir müssen Sie nicht länger belästigen, Mrs Lee.»

Sie stand auf, lächelte erst Johnson, dann Poirot zu – das Lächeln eines kleinen, dankbaren Mädchens – und ging hocherhobenen Hauptes aus dem Zimmer.

Colonel Johnson rief ihr nach: «Würden Sie bitte Ihren Schwager, Mr David Lee, hereinschicken?» Nachdem er die Tür hinter ihr zugemacht hatte, trat er an den Tisch zurück.

«So, jetzt kommen wir den Dingen schon etwas näher, meinen Sie nicht auch? Halten wir fest: George Lee hat telefoniert, als der Schrei ertönte. Seine Frau hat auch telefoniert, als der Schrei ertönte. Da stimmt doch etwas ganz und gar nicht.» Er sah Sugden fragend an. «Nun, was halten Sie davon, Sugden?»

«Ich möchte nicht abfällig von der Dame reden», sagte Sugden langsam, «aber mich dünkt, dass sie zwar von der Sorte ist, die einem Mann das Geld aus den Taschen ziehen kann, dass sie aber nicht hingehen würde und einem Mann die Gurgel durchzuschneiden vermöchte. Das liegt nicht auf ihrer Linie.»

«Das kann man nie wissen, mon vieux», wandte Poirot leise ein.

Colonel Johnson drehte sich zu ihm um.

«Und Sie, Poirot, was denken Sie von der Sache?»

Hercule Poirot strich über die Löschblattunterlage vor sich und wischte ein winziges Stäubchen von einem Kerzenhalter.

«Ich denke, dass der Charakter des Herrn Simeon Lee selig langsam Form anzunehmen beginnt, und ich glaube, dass darin der springende Punkt des ganzen Falles liegt – im Charakter des Toten.»

Sugden sah ihn erstaunt an. «Ich verstehe nicht ganz, Mr Poirot. Was hat der Charakter des Verstorbenen mit diesem Mord zu tun?»

«Der Charakter des Opfers hat immer mit seiner Ermordung zu tun», sagte Poirot nachdenklich. «Das klare, offene Wesen Desdemonas war die direkte Ursache ihres Todes. Eine misstrauische Frau hätte Jagos Ränke durchschaut und vereitelt. Marats Hautausschlag führte zu seinem Tod im Bad. Und Mercutios zorniges Temperament führte zu seinem Ende durch eine Degenspitze.»

«Was meinen Sie damit, Poirot?»

«Ich will damit sagen, dass die besonderen Eigenarten von Simeon Lee in anderen Menschen besondere Kräfte in Bewegung brachten und dass diese Kräfte schließlich seinen Tod verursachten.»

«Also setzen Sie voraus, dass die Diamanten nichts damit zu tun hatten?»

Poirot lächelte über die unverhohlene Verblüffung, die Johnsons Gesicht widerspiegelte.

«Mon cher, auch dass Simeon Lee ungeschliffene Diamanten im Wert von zehntausend Pfund in seinem Safe aufbewahrte, gehört zu den Absonderlichkeiten seines Charakters. Ein normaler Mensch hätte das nicht getan.»

«Das ist sehr richtig, Mr Poirot», nickte Sugden heftig Zustimmung. Er schien endlich zu begreifen, worauf Poirot hinauswollte. «Sonderbar, das war er, der alte Mr Lee. Er hat diese Steine nur hier aufbewahrt, damit er sie herausnehmen und betasten konnte, weil ihm das die Erinnerung an frühere Zeiten zurückbrachte. Glauben Sie mir, nur deshalb hat er sie nie schleifen lassen.»

«Ganz richtig», rief Poirot eifrig. «Ich bewundere Ihren Scharfsinn, Inspektor.»

Sugden quittierte dieses Kompliment mit einem etwas unsicheren Blick, aber Colonel Johnson unterbrach das Gespräch.

«Da ist etwas anderes, Poirot, das mir aufgefallen ist.»

«Ich weiß, mais oui, ich weiß, was Sie meinen. Mrs George Lee hat ziemlich rückhaltlos von dieser Familienzusammenkunft geplaudert, nicht wahr? Sie schildert – ach, so naiv! –, wie böse Alfred auf seinen Vater war und dass David aussah, als wollte er den alten Herrn umbringen. Diese beiden Behauptungen können stimmen. Für uns sind sie Anlass zu weiteren Überlegungen. Warum hat Simeon Lee seine Familie zusammenrufen lassen? Warum just in dem Augenblick, da er mit seinem Anwalt telefonierte? Das kann doch kein Zufall gewesen sein. Farbleu, er wollte, dass sie dieses Gespräch hören sollten. Der arme Alte! Seit er an seinen Stuhl gefesselt ist, langweilt er sich und denkt sich immer neue Zerstreuungen für sich aus. Es amüsiert ihn, die menschliche Geldgier zu kitzeln und alle mit ihr verbundenen Leidenschaften und Neidgefühle wachzurufen. Aber daraus ergibt sich eine neue Perspektive. Wenn ihm daran lag, in seinen Kindern Neid und Gier zu wecken, dann hat er bestimmt keines von ihnen verschont und also ganz sicher auch auf Mr George seine Pfeile abgeschossen. Darüber schweigt sich seine Frau geflissentlich aus. Auch sie selber hat er vielleicht mit seinen merkwürdigen Liebenswürdigkeiten bedacht. Wir werden hoffentlich von anderen erfahren, was Simeon Lee seinem Sohn George und dessen Frau zu sagen hatte…»

Er schwieg, denn die Tür öffnete sich, und David Lee trat ins Zimmer.

David Lee hatte sich in der Hand. Er war ruhig – fast unnatürlich ruhig. Er trat an den Tisch; schob sich einen Stuhl zurecht, setzte sich und sah Colonel Johnson ernst und fragend an.

«Bitte? Was wollen Sie von mir wissen?»

«Wenn ich recht unterrichtet bin, Mr Lee, so fand im Zimmer Ihres Vaters heute Nachmittag so etwas wie ein Familienrat statt, nicht wahr?», leitete Johnson das Gespräch ein.

«Jawohl, aber es war ein zwangloses Beisammensein, kein Familienrat.»

«Und wie verlief dieses Beisammensein?» David antwortete ruhig.

«Mein Vater war schlechter Laune. Er war ein alter Mann und hatte das Recht auf Nachsicht, das ist klar. Heute hatte er uns wohl nur kommen lassen, um uns die Leviten zu lesen.»

«Erinnern Sie sich, was er sagte?»

«Eigentlich lauter konfuses Zeug. Er warf uns vor, Versager zu sein – alle zusammen –, und in unserer ganzen Familie sei nicht ein einziger wirklicher Mann. Er sagte, Pilar – das ist meine spanische Nichte – sei mehr wert als zwei von uns. Und –» Hier unterbrach sich David.

«Bitte, die genauen Worte, wenn es Ihnen möglich ist, Mr Lee», bat Poirot.

«Er wurde fast grob», sprach David zögernd weiter, «und sagte, er hoffe, dass er irgendwo in der Welt bessere Söhne habe – selbst wenn sie vielleicht nicht im rechten Ehebett geboren seien.»

Seine empfindsamen Züge widerspiegelten den Abscheu, mit welchem er diese Worte wiederholte. Inspektor Sugden blickte auf und schien plötzlich sehr interessiert. Er fragte: «Hat Ihr Vater auch Ihrem Bruder George etwas gesagt?»

«George? Das weiß ich nicht mehr. O doch, ich glaube, er stellte ihm in Aussicht, seinen Monatszuschuss zu kürzen. George war außer sich, wurde rot wie ein Puter und stotterte, er könne unmöglich mit weniger auskommen. Aber Vater sagte ihm sehr kühl, er werde es gleichwohl müssen. Er habe ja eine Frau, die ihm beim Sparen helfen könne. Eine höhnische Bemerkung. George war von jeher knauserig, und er rechnet heute noch mit jedem Penny – aber Magdalene ist ziemlich verschwenderisch und hat einen teuren Geschmack.»

«So dass also auch sie, Mrs George Lee, sehr unangenehm berührt war?», fragte Poirot.

«Ja.»

«Und dann», sagte Poirot, «kam Ihr Vater auf Ihre verstorbene Mutter zu sprechen.»

Das Blut schoss David in Wellen ins Gesicht. Seine Hände umklammerten die Tischkante und zitterten merklich.

«Ja. In beleidigenden Worten!», stieß er hervor.

«Was sagte er?», fragte Colonel Johnson.

«Ich weiß es nicht mehr», gab David kurz zurück. «Irgendwelche verächtlichen Bemerkungen.»

«Ihre Mutter ist vor einigen Jahren gestorben, nicht wahr?», fragte Poirot behutsam.

«Sie starb, als ich ein Kind war.»

«Und sie war vielleicht nicht sehr glücklich in ihrem Leben?»

David lachte bitter auf. «Wie hätte sie mit einem Mann wie meinem Vater glücklich sein können? Meine Mutter war eine Heilige. Sie hat sich nie beklagt. Sie starb an gebrochenem Herzen.»

«Und war Ihr Vater sehr betrübt über ihren Tod?», fragte Poirot weiter.

«Das weiß ich nicht», sagte David, «ich verließ dieses Haus.» Nach einer Pause fuhr er fort: «Vielleicht wissen Sie nicht, dass ich meinen Vater zwanzig Jahre lang nicht gesehen hatte, bis ich nun zu diesem Besuch hierher kam. Ich kann Ihnen also gar nichts über seine Gewohnheiten, seine Feinde oder Freunde sagen.»

«Wussten Sie, dass Ihr Vater eine Menge wertvoller Diamanten im Safe seines Schlafzimmers aufbewahrte?», fragte Johnson.

«In seinem Schlafzimmer?», fragte David uninteressiert. «Eine komische Idee.»

«Würden Sie uns bitte noch genau sagen, was Sie selber heute Abend alles taten, wo Sie sich aufhielten.»

«Ich? Nun, ich stand sofort nach dem Essen auf. Mich langweilen diese Plaudereien beim Port. Außerdem bemerkte ich, dass Harry und Alfred in gereizter Stimmung waren, und ich hasse Auseinandersetzungen. Ich ging ins Musikzimmer und spielte Klavier.»

«Das Musikzimmer liegt direkt neben dem Wohnzimmer, wenn ich nicht irre», warf Poirot ein.

«Ja. Ich spielte, bis – bis es geschah.»

«Und was hörten Sie?»

«Einen gedämpften Lärm, stürzende Möbel und dann einen grässlichen Schrei.» Er verkrampfte seine Hände. «Wie eine Seele im Fegefeuer. Gott, es war entsetzlich.»

Johnson fragte: «Waren Sie allein im Musikzimmer?»

«Wie bitte? Nein, meine Frau, Hilda, war bei mir. Sie war aus dem Wohnzimmer gekommen. Wir gingen mit den anderen die Treppe hinauf.» Nervös und fröstelnd fügte er noch bei: «Und was wir dort gesehen haben, muss ich Ihnen wohl nicht wiederholen.»

«Nein, gewiss nicht, durchaus nicht notwendig», beeilte sich Johnson zu versichern. «Ich danke Ihnen, Mr Lee, das ist alles. Eine Frage noch: Können Sie sich vorstellen, wer Ihrem Vater nach dem Leben hätte trachten können?»

«Sicher eine ganze Reihe von Leuten», antwortete David kalt, «aber jemand Bestimmtes wüsste ich nicht.»

Dann ging er rasch aus dem Zimmer und zog die Tür geräuschvoll hinter sich ins Schloss.

Colonel Johnson hatte kaum Zeit für sein obligates Räuspern gefunden, als die Tür wieder aufging und Hilda Lee eintrat.

Hercule Poirot betrachtete sie interessiert. Er dachte bei sich, dass die Brüder Lee in der Wahl ihrer Frauen einen eigenartig verschiedenen Geschmack bekundet hatten. Die wache Intelligenz und windhundartige Grazie Lydias, die berechnend-verführerische Anmut Magdalenes, und nun die beruhigende, sichere Kraft Hildas. Sie war jünger, als ihre unvorteilhafte Frisur und Kleidung vermuten ließen, das erkannte er sofort. Ihr Haar wies keinen grauen Schimmer auf, und die klaren Haselnussaugen leuchteten wie freundliche, warme Sterne aus dem rundlichen Gesicht. Sie war eine charmante, anziehende Frau.

Colonel Johnson sprach in den nettesten Tönen.

«… ein Schlag für Sie alle gewesen sein», sagte er eben. «Ihr Gatte hat mir erzählt, Mrs Lee, dass dies Ihr erster Besuch in Gorston Hall ist.» Sie nickte.

«Haben Sie Ihren Schwiegervater früher schon kennen gelernt?»

«Nein», antwortete sie mit ihrer ruhigen, angenehmen Stimme, «wir haben geheiratet, bald nachdem David sein Vaterhaus verlassen hatte. Er wollte nichts mehr mit seiner Familie zu tun haben, und bis jetzt haben wir auch niemanden von ihnen gesehen.»

«Und wie kam es nun zu Ihrem gegenwärtigen Besuch?»

«Mein Schwiegervater schrieb an David, er fühle sein Alter und möchte alle seine Kinder zu Weihnachten um sich versammelt sehen.»

«Und Ihr Mann kam dieser Bitte gerne nach?»

«Dass er die Einladung annahm, ist leider meine Schuld! Ich – ich habe die Situation gründlich missverstanden!»

«Was meinen Sie damit, Mrs Lee?», warf hier Poirot ein. «Bitte, erklären Sie sich deutlicher, es könnte für uns von großer Wichtigkeit sein.»

Sie wandte sich ihm sofort zu.

«Ich hatte zu jenem Zeitpunkt meinen Schwiegervater noch nie gesehen, und deshalb konnte ich nicht wissen, was er mit dieser Einladung bezweckte. Ich stellte mir vor, dass ein alter Mann tatsächlich Versöhnung mit seinen Kindern suchte.»

«Und welches war sein wirklicher Beweggrund, Madame?»

Hilda zögerte eine Sekunde und sagte dann langsam:

«Jetzt steht für mich fest – absolut und ohne Zweifel –, dass mein Schwiegervater nicht Frieden stiften, sondern Unfrieden schüren wollte. Es machte ihm Spaß, an die niedrigsten Instinkte des Menschen zu appellieren. Er war erfüllt von einer wie soll ich sagen? – von einer teuflischen Freude am Bösen, und er wollte, dass sich alle Familienmitglieder untereinander verfeinden sollten.»

«Und ist ihm das gelungen?», fragte Johnson scharf.

«O ja, das ist ihm gelungen.»

«Man hat uns erzählt, Madame», sagte Poirot, «dass es heute Nachmittag zu einer ziemlich heftigen Auseinandersetzung kam. Würden Sie uns die so wahrheitsgetreu wie nur möglich schildern?»

Sie dachte eine Weile nach.

«Als wir sein Zimmer betraten, war mein Schwiegervater am Telefon und sprach mit einem Anwalt. Er bat diesen Mr Charlton – oder lautet der Name anders? –, er möchte zu ihm kommen, da er ein neues Testament aufsetzen wollte. Das alte sei nicht mehr zweckentsprechend.»

«Denken Sie gründlich nach, Madame, und sagen Sie uns, ob Sie glauben, dass Ihr Schwiegervater wollte, dass Sie alle dieses Gespräch hören sollten, oder ob Sie es in diesem Augenblick nur zufällig mitbekamen.»

«Ich bin fast sicher, dass er wollte, wir sollten es hören.»

«In der Absicht, Zweifel zwischen Ihnen zu säen?»

«Ja.»

«So dass er vielleicht gar nicht beabsichtigte, sein Testament zu ändern?»

Darüber dachte sie sekundenlang nach.

«Doch, ich glaube, diese Bemerkung war echt», sagte sie schließlich. «Wahrscheinlich wollte er ein neues Testament aufsetzen – aber er freute sich darüber, diese Absicht vor allen zu unterstreichen.»

«Madame», sagte Poirot feierlich, «ich bin nicht offiziell hier, und meine Fragen entsprechen vielleicht nicht denjenigen, die ein englischer Kriminalbeamter Ihnen stellen würde. Aber ich wüsste gerne, ob Sie sich Gedanken darüber machten, wie dieses neue Testament ausgefallen wäre. Verstehen Sie mich bitte recht, ich frage nicht, ob Sie das wissen, sondern nur, wie Sie darüber denken. Frauen bilden sich im Allgemeinen sehr schnell eine eigene Meinung, Dieu merci!»

Hilda Lee lächelte ihn an.

«Nun, meine persönliche Meinung kann ich Ihnen sagen. Die Schwester meines Mannes, Jennifer, heiratete einen Spanier, Juan Estravados. Ihre Tochter, Pilar, ist vor wenigen Tagen hier angekommen. Sie ist ein reizendes Mädchen, und vor allen Dingen ist sie das einzige Enkelkind in der Familie. Der alte Mr Lee war begeistert von ihr und liebte sie heiß. Meiner Ansicht nach wollte er ihr testamentarisch eine größere Summe vermachen, nachdem er sie bis dato in seinem letzten Willen kaum oder gar nicht bedacht hatte.»

«Kannten Sie Ihre Schwägerin?»

«Nein. Ihr Mann starb unter tragischen Umständen bald nach ihrer Hochzeit. Jennifer selber starb vor einem Jahr. Pilar blieb als Vollwaise zurück. Deshalb hatte Mr Lee sie eingeladen, künftig bei ihm hier in England zu leben.»

«Und haben die übrigen Familienmitglieder die neue Hausgenossin gerne willkommen geheißen?»

«Ich glaube, dass alle sie gut leiden können», sagte Hilda ruhig. «Es ist beglückend, einen jungen, lebensvollen Menschen im Haus zu haben.»

«Und Pilar, scheint es ihr hier zu gefallen?»

«Ich weiß nicht recht. Es muss ihr doch recht kalt und fremd vorkommen. Das Mädchen ist im Süden, in Spanien, aufgewachsen.»

«Gerade jetzt dürfte es ja in Spanien auch nicht angenehm sein», bemerkte Johnson sachlich. «Und nun möchten wir Ihren Bericht der heutigen Auseinandersetzung hören, Mrs Lee.»

«Entschuldigen Sie», murmelte Poirot, «ich bin vom Thema abgewichen!»

«Nachdem mein Schwiegervater sein Telefongespräch beendet hatte, sah er uns alle an und bemerkte lachend, wir sähen so verdattert aus. Dann sagte er, er sei müde und werde früh zu Bett gehen. Es solle niemand mehr heraufkommen heute Abend. Er wolle zu Weihnachten ausgeruht und frisch sein, oder so ähnlich.» Hier machte sie eine Pause und dachte angestrengt nach. «Und dann sagte er irgendetwas wie – es sei wichtig, dass eine große Familie zusammen Weihnachten feiere, und dann sprach er von Geldsachen. Er betonte, dass ihn die Führung seines Haushalts in Zukunft bedeutend mehr kosten werde, und stellte George und Magdalene in Aussicht, dass sie sparsamer werden müssten. Magdalene sagte er, sie könnte sich ihre Kleider selber machen. Eine reichlich altväterische Idee, finde ich, und ich verstehe, dass Magdalene sich über diesen Vorschlag aufregte. Aber er hob besonders hervor, wie geschickt seine Frau mit Nadel und Faden gewesen sei.»

«Hat er seine Frau noch sonst wie erwähnt?», fragte Poirot. Hilda errötete.

«Er machte eine verächtliche Bemerkung über ihre Intelligenz. Mein Mann hat seine Mutter abgöttisch geliebt, und diese Anspielung brachte ihn sehr auf. Und dann schrie Mr Lee uns plötzlich alle an. Ich verstehe natürlich, was ihn so sehr erregte –»

«Was denn?», fiel ihr hier Poirot ins Wort.

Sie richtete ihren ruhigen Blick auf ihn.

«Er war enttäuscht, dass er keine Enkel hatte, die den Namen Lee weitertragen konnten. Ich glaube, dass das seit langem in ihm bohrte, und plötzlich konnte er nicht mehr an sich halten. Er schrie seine Söhne an, sie seien alle alte Waschweiber. Das ungefähr war der Sinn seiner Worte. Er tat mir Leid, weil ich fühlte, wie tief sein Stolz durch das Fehlen einer Nachkommenschaft verletzt war. Und dann gingen wir alle aus dem Zimmer.»

«Damals haben Sie ihn also zum letzten Mal gesehen?»

Sie nickte.

«Wo hielten Sie sich auf, als der Mord geschah?»

«Ich war mit meinem Mann im Musikzimmer. Er spielte für mich.»

«Und dann?»

«Dann hörten wir, dass oben Möbelstücke umfielen und Porzellan zersplitterte – einen schrecklichen Lärm. Und dann der grauenvolle Schrei, als man ihm die Kehle durchschnitt.»

«War der Schrei so grauenvoll?», fragte Poirot. «Erinnerte er Sie –», er besann sich eine Weile, «an eine Seele im Fegefeuer?»

«Es war viel ärger. Mir schien, es schreie jemand, der überhaupt keine Seele hat. Unmenschlich, wie ein Tier.»

«So also beurteilten Sie ihn, Madame?» Poirot sah sie ernst an.

Sie hob verwirrt die Hand, wollte etwas erwidern, und schlug dann wortlos die Augen nieder.

Pilar trat mit der wachen Aufmerksamkeit eines Tieres ein, das irgendwo eine Falle wittert. Sie sah nicht so sehr ängstlich als vielmehr sehr misstrauisch von einem zum andern.

Colonel Johnson schob ihr einen Stuhl zurecht.

«Sie verstehen Englisch, nicht wahr, Miss Estravados?»

Pilar riss die Augen auf.

«Natürlich! Meine Mutter war Engländerin. Und ich selber fühle mich sehr englisch.»

Johnson betrachtete ihr glänzendes schwarzes Haar, die dunklen, stolzen Augen und vollen roten Lippen und musste lächeln. Sehr englisch. Kein überzeugendes Eigenschaftswort, wenn man es auf Pilar Estravados anwandte. «Mr Lee war Ihr Großvater, nicht wahr? Er ließ Sie aus Spanien kommen, und Sie sind vor einigen Tagen hier eingetroffen.»

Pilar nickte. «Ja, das stimmt. Ich hatte einige Abenteuer zu bestehen, ehe ich aus Spanien fortkam. Eine Bombe fiel auf unseren Wagen, und der Chauffeur wurde getötet. Wo sein Kopf gewesen war, sah man nur noch Blut. Und weil ich nicht Auto fahren kann, musste ich zu Fuß weitergehen. Ich hasse es zu gehen! Meine Füße waren ganz wund.»

«Nun, Sie sind jedenfalls glücklich hier angekommen», lächelte Colonel Johnson. «Hatte Ihnen Ihre Mutter viel von Ihrem Großvater erzählt?»

Pilar nickte strahlend. «O ja, sie sagte oft, er sei ein alter Teufel.»

Hercule Poirot hob amüsiert die Augenbrauen.

«Und wie gefiel er Ihnen, Mademoiselle, als Sie ihn kennen lernten?»

«Er war natürlich alt, sehr alt und vertrocknet, und er müsste immer im Stuhl sitzen. Aber ich mochte ihn gern. Ich glaube, dass er in jungen Jahren sehr gut aussah, so wie Sie», und damit sah sie Inspektor Sugden unverhohlen und naiv bewundernd an. Der Polizeibeamte wurde feuerrot.

Colonel Johnson unterdrückte ein Lachen. Es kam sehr selten vor, dass der stoische Inspektor vor Verlegenheit errötete.

«Nur ist er natürlich nie so groß gewesen wie Sie», fügte Pilar bedauernd hinzu.

Hercule Poirot seufzte leise. «Sie mögen also große Männer, Señorita?»

«O ja», gab Pilar begeistert zu, «Männer müssen groß sein und breite Schultern haben und viel, viel Kraft!»

«Waren Sie oft bei Ihrem Großvater, seit Sie hier sind?», lenkte Johnson das Gespräch wieder in offiziellere Bahnen.

«Ja, ich saß viel bei ihm. Er erzählte mir manches – wie durchtrieben er gewesen sei und was er in Südafrika alles getan hat.»

«Sprach er jemals von den Diamanten, die er in seinem Safe hatte?»

«Er hat sie mir sogar gezeigt. Aber sie sahen gar nicht wie Diamanten aus. Nur wie Kieselsteine, hässliche Kieselsteine.»

«Er hat sie Ihnen gezeigt?», fragte Sugden scharf. «Hat er Ihnen vielleicht einen davon geschenkt?»

Pilar schüttelte den Kopf.

«Nein. Aber ich dachte, dass er mir vielleicht einmal einen schenken würde, wenn ich recht nett zu ihm wäre und oft bei ihm säße. Alte Herren haben junge Mädchen nämlich sehr gerne.»

«Wissen Sie, dass diese Diamanten gestohlen worden sind?»

Pilar starrte Colonel Johnson an. «Gestohlen?»

«Ja. Wissen Sie, wer sie genommen haben könnte?»

«Gewiss», sagte Pilar kopfnickend. «Sicher Horbury.»

«Wie kommen Sie darauf?»

«Weil er ein Diebesgesicht hat. Er schielt immer so aus den Augenwinkeln, schleicht herum und horcht an den Türen. Er kommt mir vor wie eine Katze, und alle Katzen stehlen.»

«Hm», räusperte sich Johnson, «lassen wir das vorläufig. Man hat uns gesagt, dass die ganze Familie am Nachmittag bei Ihrem Großvater versammelt war und dass dabei einige – einige gereizte Worte fielen.»

Pilar lächelte.

«Das ist wahr, es war sehr lustig. Großvater machte sie so wütend.»

«Und das gefiel Ihnen?»

«Ja! Ich mag es, wenn Leute wütend werden. Aber hier in England ist das ganz anders als in Spanien. In Spanien ziehen die Leute die Messer und fluchen und schreien; aber hier werden sie nur rot im Gesicht und verkneifen den Mund.»

«Können Sie sich erinnern, was Ihr Großvater sagte?»

Pilar schien an ihrem Erinnerungsvermögen zu zweifeln.

«Ich bin nicht sicher. Großvater warf ihnen vor, keine Enkelkinder auf die Welt gesetzt zu haben. Ich sei ihm lieber als alle anderen. Er hatte mich sehr gern.»

«Sprach er von einem Testament?»

«Testament? Nein, ich glaube nicht.»

«Und was geschah dann?»

«Dann gingen alle aus dem Zimmer, außer Hilda, die Dicke, Davids Frau, die blieb zurück. David sah komisch aus. Er zitterte und war so weiß, dass ich dachte, er werde sich erbrechen müssen.»

«Und dann?»

«Später war ich mit Stephen zusammen. Wir legten Platten auf und tanzten.»

«Stephen Farr?»

«Ja. Er kommt aus Südafrika und ist der Sohn von Großvaters Freund. Stephen ist auch sehr gut aussehend, groß und braun, und er hat nette Augen.»

«Wo waren Sie, als der Mord geschah?»

«Wo ich war? Ich war mit Lydia ins Wohnzimmer gegangen. Dann ging ich in mein Zimmer, um mich zu pudern. Ich wollte wieder mit Stephen tanzen. Aber da hörte ich weit entfernt einen Schrei, alles rannte, und ich lief hinterdrein. Man versuchte Großvaters Zimmertür einzuschlagen. Harry hat es dann schließlich mit Stephen fertig gebracht. Sie sind beide große, starke Männer. Und dann – krach! – gab die Tür nach, und wir sahen alle ins Zimmer. Was für ein Anblick! Alles zerschmettert und über den Haufen geworfen, und Großvater in einer Blutlache. Seine Gurgel war durchgeschnitten – so» – sie beschrieb mit einer dramatischen Gebärde an ihrem eigenen Hals, was sie gesehen hatte – «bis unter sein Ohr!»

Sie unterbrach sich, und es war offensichtlich, dass sie ihre eigene Schilderung genossen hatte.

Johnson fragte: «Ist Ihnen beim Anblick des Bluts nicht übel geworden?»

«Nein, warum? Es fließt gewöhnlich Blut, wenn jemand umgebracht wird. Da war wirklich viel Blut – überall.»

«Hat jemand etwas gesagt in diesem Augenblick?», fragte Poirot.

«David sagte etwas so Komisches – was war es nur? Ach ja. Die Mühlen Gottes –» Sie wiederholte jedes Wort mit pathetischem Nachdruck. «Die Mühlen Gottes. – Was heißt das überhaupt? In Mühlen wird doch Mehl gemahlen, oder nicht?»

«Sie können jetzt gehen, Miss Estravados», schnitt Colonel Johnson weitere Fragen ab.

Pilar erhob sich sofort. Sie bedachte jeden der drei Männer mit einem bezaubernden Lächeln.

«Gut, dann gehe ich», sagte sie folgsam und verschwand.

«Die Mühlen Gottes mahlen langsam, aber sehr fein», murmelte Johnson. «Und das hat David Lee gesagt!»

Colonel Johnson sah erst auf, als sich die Tür wieder öffnete. Im ersten Moment glaubte er, dass Harry Lee zurückgekommen sei; doch als Stephen Farr näher trat, bemerkte er seinen Irrtum.

Stephen Farr setzte sich. Seine kühlen, intelligenten Blicke schweiften von einem der drei Männer zum anderen. Dann sagte er: «Ich werde Ihnen leider nicht viel wertvolle Auskünfte geben können, aber bitte fragen Sie mich, was Sie wollen. Vielleicht sollte ich Ihnen zuerst erklären, wer ich bin. Mein Vater, Ebenezer Farr, war Simeon Lees Geschäftspartner in Südafrika, doch diese Zusammenarbeit liegt nun schon vierzig Jahre zurück. Mein Vater erzählte mir viel von Simeon Lee - eine wie große Persönlichkeit er gewesen sei und was sie beide gemeinsam erreichten und erlebten. Mein Vater hatte mir eingeschärft, den alten Lee unbedingt zu besuchen, wenn ich einmal nach England kommen sollte. ›Wenn zwei Männer so vieles zusammen erlebt haben wie Simeon Lee und ich, dann verlieren sie sich auch nach Jahren nie aus den Augen‹, sagte mein Vater immer. Nun, er starb vor zwei Jahren, und als ich jetzt zum ersten Mal nach England kam, wollte ich Vaters Rat befolgen und Mr Lee aufsuchen.» Er lächelte, als er fortfuhr. «Ich war richtig nervös, als ich hier ankam, aber das war ganz überflüssig. Mr Lee empfing mich sehr herzlich und bestand darauf, dass ich Weihnachten mit ihm und seiner Familie verbringen solle.» Seltsam scheu und verlegen fügte er noch bei: «Es waren überhaupt alle sehr nett zu mir – Mr und Mrs Alfred Lee hätten nicht zuvorkommender sein können. Es tut mir unendlich Leid für sie, dass dies alles geschehen ist.»

«Seit wann sind Sie hier, Mr Farr?»

«Seit gestern.»

«Haben Sie den alten Mr Lee heute gesehen?»

«Ja, heute früh plauderten wir zusammen. Er war bei guter Laune und wollte tausend Sachen von allen möglichen Leuten und Dingen wissen.»

«Und seither haben Sie ihn nicht mehr gesehen?»

«Nein.»

«Erwähnte er die ungeschliffenen Diamanten, die er in seinem Safe aufbewahrte?»

«Nein.» Ehe noch jemand etwas sagen konnte, fragte er: «Soll damit gesagt sein, dass hier ein Raubmord vorliegt?»

«Das wissen wir noch nicht», sagte Johnson zurückhaltend. «Um auf die Ereignisse des heutigen Abends zurückzukommen – wollen Sie uns genau sagen, was Sie taten und wo Sie sich aufhielten?»

«Gerne. Nachdem die Damen das Speisezimmer verlassen hatten, trank ich noch ein Glas Portwein. Aber ich spürte, dass die Lees Familienangelegenheiten zu besprechen hatten; um sie nicht zu stören, entschuldigte ich mich und ging.» Stephen Farr lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sein Zeigefinger streichelte gedankenverloren sein Kinn. Ein wenig stockend und hölzern fuhr er fort: «Dann… Ich betrat ein großes Zimmer mit einem Parkettboden, wahrscheinlich eine Art Tanzsaal. Jedenfalls steht ein Plattenspieler drin, und daneben hatte es Tanzplatten. Ich legte eine dieser Platten auf.»

«Wäre es also möglich», fiel Poirot ein, «dass Sie auf jemanden gewartet haben?»

Ein leises Lächeln kräuselte Stephen Farrs Lippen.

«Das war durchaus möglich, gewiss. Man hofft ja immer.»

Nun lachte er wirklich.

«Señorita Estravados ist sehr schön», sagte Poirot.

«Sie ist das Schönste und Beste, was ich bisher in England gesehen habe», gab Stephen unumwunden zu.

«Und kam Miss Estravados auch in diesen Tanzsaal?», fragte Colonel Johnson.

Stephen schüttelte den Kopf.

«Ich war noch dort, als ich ein Gepolter hörte, stürzte in die Halle hinaus und rannte mit den anderen die Treppe hinauf. Dann half ich Harry Lee, die Tür einzudrücken.»

«Mehr haben Sie uns nicht zu sagen?»

«Leider nein.»

Hercule Poirot neigte sich leicht nach vorn und sagte leise:

«Ich glaube, Mr Farr dass Sie uns noch eine ganze Menge erklären könnten, wenn Sie wollten.»

Farr fragte scharf: «Inwiefern, bitte?»

«Sie können uns, was sehr wichtig für den Fall ist, zum Beispiel den Charakter von Mr Lee schildern. Sie sagten, dass Ihr Vater oft von ihm sprach. Wie stellte er Ihnen seinen alten Freund vor?»

«Ich begreife, worauf Sie hinauswollen», sagte Farr langsam. «Sie möchten herausbekommen, welche Art Mann Simeon Lee in jungen Jahren war, nicht wahr? Nun – soll ich ganz ehrlich sein?»

«Ich bitte Sie darum.»

«Also erstens glaube ich nicht, dass Simeon Lee ein hochmoralisches Mitglied der menschlichen Gesellschaft war. Damit soll nicht gesagt sein, dass er ein Gauner war, aber seine Lebensweise näherte sich dem Ungesetzlichen doch manchmal recht bedenklich. Andererseits hatte er viel Charme und war wirklich großzügig. Er half jedem, der sich in Not an ihn wandte. Er trank, wenn auch nicht übermäßig, hatte Glück bei den Frauen und war ein humorbegabter Mensch. Aber daneben war er eigenartig rachsüchtig. Man sagt, ein Elefant vergesse nichts, und genauso scheint Simeon Lee gewesen zu sein. Mein Vater erzählte mir, dass er in einigen Fällen jahrelang wartete, bis er einen Feind packen und erledigen konnte.»

Inspektor Sugden fragte lauernd: «Haben Sie eine Ahnung, Mr Farr, ob jemand, dem er übel mitgespielt hatte, noch in Südafrika lebt? Ob ein Streit aus der Vergangenheit mit diesem Mord in Verbindung gebracht werden kann?»

Stephen Farr schüttelte den Kopf.

«Er hatte Feinde, das ist klar. Aber ich weiß von keinem besonderen Fall. Außerdem –» Seine Augen verengten sich plötzlich. «Außerdem hat mir Tressilian gesagt, dass heute Abend kein Fremder im Haus war oder sich dem Haus auch nur genähert hat.»

«Mit Ausnahme von Ihnen, Mr Farr», sagte Hercule Poirot. Stephen fuhr herum und starrte ihn an.

«Ach, so ist das? Verdächtiger Fremder innerhalb der Tore. Nun, Sie werden wenig Glück haben mit Ihrer Theorie. Es gibt keine längst vergessene Geschichte von Streitigkeiten zwischen Simeon Lee und Ebenezer Farr, die nun Ebs Sohn hier rächen wollte. Ich bin, wie ich Ihnen bereits sagte, aus purer Neugierde hergekommen. Und ein Plattenspieler ist wahrscheinlich ein ebenso guter Zeuge wie jeder andere. Ich habe dauernd neue Platten aufgelegt, und das muss jemand gehört haben. Eine Plattenlänge hätte mir niemals erlaubt, die Treppe hinaufzurennen, den endlosen Korridor entlangzusausen und dem alten Mann die Gurgel durchzuschneiden, mich dann vom Blut zu reinigen und wieder im Saal zu sein, ehe die anderen herbeistürzten. Der Verdacht ist grotesk!»

«Niemand hat Sie verdächtigt, Mr Farr», beschwichtigte ihn Johnson.

«So? Jedenfalls hat mir Mr Hercule Poirots Ton nicht gefallen.»

«Das tut mir unendlich Leid», sagte Poirot und sah Farr versöhnlich lächelnd an.

«Danke, Mr Farr, das ist im Augenblick alles», schnitt Colonel Johnson mögliche weitere Auseinandersetzungen ab. «Sie werden, bitte, dieses Haus vorläufig nicht verlassen.»

Stephen Farr nickte. Er stand auf und ging mit weitausholenden Schritten aus dem Zimmer.

Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sagte Johnson: «Da geht X, der große Unbekannte. Seine Erklärungen klingen zwar durchaus glaubwürdig, aber er ist doch ein schwarzes Schaf. Er könnte diese Diamanten gestohlen haben, und er könnte mit irgendeiner erfundenen Geschichte hier aufgetaucht sein, um sich Zutritt zu dem Haus zu verschaffen. Nehmen Sie ihm die Fingerabdrücke, Sugden, und forschen Sie nach, ob er bekannt ist.»

«Ich habe Stephen Farrs Fingerabdrücke bereits», sagte der Inspektor mit einem kleinen Lächeln.

«Sehr gut. Sie übersehen wirklich nichts. Ich überlasse Ihnen, die gemachten Aussagen zu überprüfen.»

Sugden zählte an den Fingern auf. «Die erwähnten Telefongespräche und ihre genaue Zeit feststellen. Horbury kontrollieren, wann er das Haus verließ und wer ihn fortgehen sah. Feststellen, wer hier ein und aus ging. Dienerschaft verhören. Finanzlage der einzelnen Familienmitglieder auskundschaften. Den Anwalt aufsuchen und bezüglich des Testaments befragen. Das Haus nach der Mordwaffe, blutbefleckten Kleidungsstücken und natürlich nach den eventuell versteckten Diamanten durchsuchen.»

Sugden sah plötzlich verärgert aus. «Dieses Haus wird übrigens gar nicht leicht zu durchsuchen sein, Sir. Noch nie habe ich so viel Zierrat und Krimskrams beisammen gesehen wie hier.»

«Ja, Verstecke gibt es hier sicherlich eine Menge», stimmte Poirot ihm bei.

«Und Sie haben also keine Anregungen zu machen, Poirot?», fragte Johnson enttäuscht. Er sah aus wie ein Mann, dessen Hund soeben bei einem seiner Kunststücke versagt hat.

«Wenn Sie gestatten, möchte ich eine eigene Linie einschlagen.»

«Aber natürlich», sagte Johnson, und fast gleichzeitig fragte Sugden ein wenig misstrauisch:

«Was für eine Linie, Mr Poirot?»

«Ich möchte noch ein paarmal mit den Mitgliedern der Familie Lee plaudern.»

«Sie noch einmal gründlich verhören?», fragte Johnson. «Nein, nein, nicht verhören – mit ihnen plaudern.»

«Wozu?» Sugden schien nicht zu begreifen.

Hercule Poirot machte eine elegante, ausdrucksvolle Handbewegung.

«In harmlosen Gesprächen vernimmt man gar manches. Wenn ein Mensch viel spricht, kann er die Wahrheit nicht verbergen.»

«Glauben Sie denn, dass jemand von ihnen lügt?»

Poirot seufzte.

«Mon cher, jedermann lügt. Es ist aufschlussreich, die harmlosen Lügen von den wichtigen zu trennen.»

Aus Colonel Johnson brach es plötzlich hervor:

«Es ist einfach unglaublich! Es ist ein ganz besonders grausamer und brutaler Mord geschehen – und wen können wir als Täter verdächtigen? Alfred Lee und seine Frau – beide reizende, gepflegte, ruhige Menschen. George Lee, der Parlamentsmitglied und ein Muster an Ehrbarkeit ist. Seine Frau? Eine belanglose Modepuppe. David Lee scheint ein weichherziger Mensch zu sein, und wir wissen von seinem Bruder Harry, dass er den Anblick von Blut nicht erträgt. Seine Frau ist eine nette, vernünftige Person – weder aufregend noch auffallend. Bleiben die spanische Nichte und der Mann aus Südafrika. Spanische Frauen haben wohl ein ungezügeltes Temperament, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses bezaubernde Geschöpf dem alten Mann kaltblütig die Kehle durchgeschnitten haben soll. Umso mehr, als sie alles Interesse daran gehabt haben dürfte, ihn jedenfalls bis nach der Abfassung eines neuen Testaments am Leben zu wissen. Stephen Farr – das wäre möglich –, er könnte ein Gauner sein. Vielleicht hat der alte Mann den Verlust der Steine entdeckt, und Farr schnitt ihm die Kehle durch, um ihn zum Schweigen zu bringen. Das wäre durchaus möglich, denn der Plattenspieler ist kein überzeugendes Alibi.»

Poirot schüttelte den Kopf.

«Lieber Freund, vergleichen Sie doch mal das Äußere von Monsieur Farr und Simeon Lee. Wenn Farr entschlossen gewesen wäre, den alten Herrn umzubringen, dann hätte er das binnen einer Minute tun können, ohne dass Mr Lee sich dagegen groß zur Wehr hätte setzen können. Wer sollte glauben, dass der gebrechliche, alte Mann und dieses Prachtexemplar körperlicher Kraft miteinander rangen und Stühle umwarfen, Tische zu Fall brachten und Porzellan zertrümmerten? Diese Vorstellung ist ganz einfach fantastisch!»

Colonel Johnsons Pupillen verengten sich.

«Dann glauben Sie also, dass ein schwächlicher Mann den alten Simeon Lee ermordet hat?»

«Oder eine Frau», sagte Inspektor Sugden.

Colonel Johnson sah auf die Uhr.

«Somit wäre ich hier so ziemlich fertig», sagte er müde. «Sie haben nun das Weitere in der Hand, Sugden. Ach, doch, noch etwas. Ich möchte diesen Butler sprechen. Ich weiß, dass Sie ihn bereits verhört haben, aber es wäre immerhin wichtig, von ihm zu erfahren, wo sich jedermann aufhielt, als der Mord geschah.»

Tressilian trat bedächtig ein. Johnson bot ihm einen Platz an. «Danke, Sir, ich werde mich gerne setzen», murmelte der alte Diener. «Ich fühle mich nicht sehr wohl – gar nicht wohl. Meine Beine, Sir, und mein Kopf.»

«Kein Wunder, nach allen Schrecken, die Sie erleben mussten», sagte Poirot freundlich.

Der Butler schauerte zusammen. «Eine solche – grässliche Untat, in diesem Haus. Wo alles sonst so ruhig seinen Gang genommen hat.»

«Es war also ein sehr geordnetes Haus, nicht wahr?», fragte Poirot. «Aber kein sehr glückliches?»

«Das möchte ich nicht sagen, Sir.»

«Früher, als noch die ganze Familie beisammen war – war das Leben hier glücklicher?»

Tressilian zögerte mit der Antwort. «Es war vielleicht nicht sehr harmonisch…»

«Die verstorbene Mrs Lee war oft krank, nicht wahr?»

«Ja, Sir, sie war sehr bedauernswert.»

«Haben ihre Kinder sie sehr geliebt?»

«Mr David war seiner Mutter sehr ergeben, fast eher wie eine Tochter als wie ein Sohn. Nachdem Mrs Lee gestorben war, hielt er das Leben hier nicht mehr aus und ging fort.»

«Und Mr Harry?», fragte Poirot. «Wie war Mr Harry?»

«Immer ein wenig wild und ungebärdig, Sir, aber gutherzig. Du liebe Zeit, ich bin doch so erschrocken, als die Türglocke so ungeduldig geläutet wurde und als dann ein fremder Mann vor dem Haus stand, der mit Mr Harrys Stimme sagte: ›Hallo, Tressilian! Noch immer hier?‹ Ganz unverändert.»

Poirot sah den alten Diener verständnisvoll an.

«Ja, das muss ein eigentümliches Gefühl für Sie gewesen sein.»

Tressilians Wangen liefen rot an.

«Manchmal kommt es mir vor, Sir, als sei die Vergangenheit gar nicht vergangen. Darüber hat man in London einmal ein Theaterstück gespielt, und es ist etwas Wahres daran, wirklich, Sir. Plötzlich überkommt einen das Gefühl, als hätte man alles schon einmal getan und erlebt. Wenn ich die Tür aufmache, weil geklingelt wurde, und Mr Harry oder Mr Farr oder jemand draußen steht – dann denke ich: Aber, das habe ich doch schon einmal erlebt.»

«Das ist ja sehr interessant», murmelte Poirot. Tressilian sah ihn dankbar an.

Johnson, ungeduldig geworden, räusperte sich und übernahm wieder die Führung des Gesprächs.

«Ich möchte gewisse Zeitangaben genau überprüfen», sagte er. «Wenn ich recht unterrichtet bin, befanden sich nur Mr Alfred und Mr Harry im Speisezimmer, als der Lärm von oben ertönte. Ist das richtig?»

«Das weiß ich wirklich nicht, Sir. Als ich den Kaffee servierte, waren noch alle Herren im Speisezimmer – aber das kann eine Viertelstunde vorher gewesen sein.»

«Mr George Lee war am Telefon. Können Sie das bestätigen?»

«Jemand hat telefoniert, ja, Sir. Wenn man den Hörer abhebt, schlägt die Glocke in der Küche ganz leise an. Ich erinnere mich, das gehört zu haben, aber ich achtete nicht weiter darauf.»

«Sie wissen nicht, wann genau es gewesen ist?»

«Nein, Sir. Es war, nachdem ich den Herren den Kaffee hineingebracht hatte, mehr weiß ich nicht.»

«Wissen Sie, wo sich die Damen aufhielten? Ich meine, zum erwähnten Zeitpunkt?»

«Mrs Alfred war im Wohnzimmer, als ich das Kaffeegeschirr abräumen wollte. Das war eine oder zwei Minuten, ehe ich den Schrei hörte. Sie stand dicht beim Fenster, hatte den Vorhang etwas zurückgezogen und sah hinaus.»

«Von den anderen Damen war niemand in dem Zimmer?»

«Nein, Sir, und ich könnte nicht sagen, wo sie alle waren.»

«Wissen Sie, wo sich die übrigen Herrschaften befanden?»

«Mr David war, glaube ich, im Musikzimmer und spielte Klavier.»

«Hörten Sie ihn spielen?»

«Ja, Sir.» Der alte Mann schauerte zusammen. «Später dachte ich, dass es wie ein Vorzeichen gewesen sei. Er spielte einen Trauermarsch. Ich weiß noch, dass es mich ganz kalt überlief.»

«Das ist allerdings seltsam», bemerkte Poirot.

«Nun zu dem Kammerdiener, diesem Horbury», fuhr Johnson unbeirrt fort. «Können Sie beschwören, dass er das Haus um acht Uhr verließ?»

«Gewiss, Sir. Er ging, kurz nachdem Mr Sugden gekommen war. Das weiß ich genau, weil er nämlich eine Kaffeetasse zerschlug, eine von den Worcestertassen. Elf Jahre lang habe ich sie abgewaschen, und nie ist eine kaputtgegangen, bis heute Abend.»

«Was hat Horbury mit den Kaffeetassen zu tun?», fragte Poirot.

«Das ist es ja gerade, Sir, er hatte gar nichts mit ihnen zu schaffen. Er hatte nur eine aufgehoben, um sie anzusehen, und als ich sagte, Mr Sugden sei gekommen, ließ er sie fallen.»

«Sagten Sie wirklich nur ›Mr Sugden‹, oder erwähnten Sie die Polizei?»

Tressilian sah ihn erstaunt an.

«Nun, da ich darüber nachdenke, glaube ich, dass ich sagte, der Polizeiinspektor habe eben geläutet.»

«Und daraufhin ließ Horbury die Tasse fallen», beendete Poirot den Satz.

«Das ist allerdings aufschlussreich», bemerkte Johnson gespannt. «Hat Horbury irgendwelche Fragen über den Besuch des Inspektors gestellt?»

«Ja, Sir. Er fragte, was er hier wollen könne. Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass er für das Polizeiwaisenhaus sammle und zum alten Herrn hinaufgegangen sei.»

«Schien diese Erklärung Horbury zu beruhigen?»

«Ja, wenn ich es mir recht überlege. Ja, er war ganz bestimmt sofort wieder der Alte. Sagte, Mr Lee, der alte Teufel, sei sehr freigebig – so respektlos drückte er sich aus –, und dann ging er weg.»

«Durch welche Tür verließ er das Haus?»

«Durch die, welche zum Angestelltenzimmer führt.»

«Das stimmt, Sir», warf Sugden ein. «Er ging durch die Küche, das haben die Köchin und das Küchenmädchen bestätigt, und dann durch die Hintertür.»

«Nun, Tressilian, sagen Sie uns bitte, ob Horbury ins Haus zurückkommen konnte, ohne dass er gesehen wurde.»

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

«Ich wüsste nicht, wie, Sir. Die Türen sind alle von innen verschlossen.»

«Und wenn er einen Schlüssel hätte?»

«Die Türen werden auch verriegelt.»

«Wie kommt er denn herein, wenn er zurückkommt?»

«Er hat einen Schlüssel zur Hintertüre, Sir, wie alle Dienstboten.»

«Er könnte also auf diesem Weg zurückgekommen sein?»

«Nicht, ohne durch die Küche zu gehen, Sir. Und in der Küche war bis ungefähr ein Viertel vor zehn immer jemand.»

Colonel Johnson stand auf.

«Nun, das scheint schlüssig. Danke, Tressilian.»

Der alte Mann erhob sich, machte eine kleine Verbeugung und verließ das Zimmer. Aber nach kaum zwei Minuten kam er zurück.

«Horbury ist eben heimgekommen, Sir. Möchten Sie ihn noch sprechen?»

«Ja, gerne, schicken Sie ihn sofort herein.»

Sydney Horbury wirkte keineswegs sympathisch, als er das Zimmer betrat. Er blieb in der Nähe der Tür stehen, rieb sich die Hände und sah rasch und forschend von einem der drei Gesichter zum anderen. Sein Benehmen war unterwürfig und glatt zugleich.

«Sie sind der Kammerdiener des verstorbenen Mr Lee?», fragte Johnson.

«Ja, Sir. Ist es nicht schrecklich? Man hätte mich mit einer Feder zu Boden werfen können, als Gladys mir die Sache erzählt hat. Der arme alte Herr –»

«Bitte, beantworten Sie nur meine Fragen.» Johnson war nicht gewillt, die Sitzung noch mehr in die Länge zu ziehen. «Wann sind Sie heute Abend ausgegangen, und wo waren Sie?»

«Ich habe das Haus kurz vor acht Uhr verlassen, Sir, und ich war im Superb, fünf Minuten von hier entfernt. ›Liebe in Sevilla‹ hieß der Film, Sir.»

«Hat jemand Sie dort gesehen?»

«Das Fräulein an der Kasse, Sir, sie kennt mich. Auch der Platzanweiser kennt mich. Und außerdem – hm – war ich mit einer jungen Dame im Kino. Wir hatten uns verabredet.»

«Ach, wirklich? Wie heißt die junge Dame?»

«Doris Buckle, Sir. Sie arbeitet in der Molkerei, Markham Road 23.»

«Gut, wir werden dem nachgehen. Sind Sie gleich heimgekommen?»

«Ich habe erst meine Begleiterin nach Hause gebracht. Dann kam ich sofort heim. Sie werden feststellen, dass das alles wahr ist, Sir, und dass ich nichts mit alldem zu tun habe. Ich war –»

«Niemand beschuldigt Sie, etwas damit zu tun zu haben», unterbrach ihn Johnson schroff.

«Nein, Sir, natürlich nicht. Aber es ist sehr unangenehm, wenn in einem Haus ein Mord passiert.»

«Niemand hat behauptet, dass es angenehm sei. Wie lange waren Sie in Mr Lees Diensten?»

«Etwas über ein Jahr, Sir.»

«Waren Sie zufrieden mit Ihrer Stellung?»

«Ja, Sir, sehr zufrieden. Die Entlohnung war gut. Mr Lee war wohl manchmal schwierig, aber schließlich habe ich Übung im Umgang mit alten kranken Menschen.»

«Inspektor Sugden wird notieren, wo und bei wem Sie früher angestellt waren. Was ich vor allem wissen möchte, ist: Wann haben Sie den Verstorbenen zuletzt gesehen?»

«Um ungefähr halb acht, Sir. Mr Lee bekam immer um sieben ein leichtes Nachtessen in seinem Zimmer serviert, und dann machte ich ihn bereit zum Schlafengehen. Danach saß er meist noch vor dem Kaminfeuer, bis er müde war und zu Bett ging.»

«Um wie viel Uhr tat er das gewöhnlich?»

«Das war ganz verschieden, Sir. Oft ging er schon um acht Uhr schlafen – wenn er sehr müde war. Aber es kam auch vor, dass er bis elf Uhr und später sitzen blieb.»

«Und dann läutete er nach Ihnen, und Sie halfen ihm ins Bett?»

«Ja, Sir.»

«Aber heute waren Sie zum Beispiel ausgegangen. Hatten Sie freitags abends immer frei?»

«Ja, Freitag hatte ich abends immer Ausgang.»

«Was geschah, wenn Mr Lee zu Bett gehen wollte?»

«Dann läutete er, und entweder Tressilian oder Walter halfen ihm.»

«Er war also nicht ganz hilflos? Er konnte herumgehen?»

«Ja, Sir, aber nur sehr mühsam. Er litt an rheumatoider Arthritis. Es ging ihm an manchen Tagen viel besser als an anderen.»

«Ging er tagsüber nie in ein anderes Zimmer?»

«Nein, Sir. Er zog es vor, in seinem Zimmer zu bleiben. Mr Lee stellte keine großen persönlichen Ansprüche. Der Raum war groß, sehr luftig und hell.»

«Also hatte Mr Lee um sieben wie immer zu Abend gegessen?»

«Ja, Sir. Ich holte das Tablett und stellte Sherry und zwei Gläser auf seinen Schreibtisch. So hatte es Mr Lee befohlen.»

«War das üblich?»

«Manchmal schon. In der Regel suchte niemand von der Familie den alten Herrn auf, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Meist wollte er abends allein sein, aber es kam vor, dass er Mr Alfred oder Mrs Alfred oder beide bat, nach dem Nachtessen noch zu ihm zu kommen.»

«Aber heute Abend war das also nicht der Fall? Das heißt, er hatte, soviel Sie wissen, niemand um einen Besuch gebeten?»

«Ich jedenfalls habe niemandem eine solche Bitte ausgerichtet, Sir.»

«Also erwartete er niemanden von der Familie?»

«Er kann natürlich persönlich jemanden um einen Besuch gebeten haben.»

«Selbstverständlich.»

«Ich sah nach, ob alles in Ordnung sei, wünschte Mr Lee eine gute Nacht und verließ das Zimmer.»

«Haben Sie noch Holz auf das Feuer gelegt, ehe Sie gingen?», fragte Poirot.

Der Diener zögerte.

«Das war nicht notwendig, Sir. Es brannte ziemlich stark.»

«Könnte Mr Lee selber Holz nachgelegt haben?»

«Nein, Sir. Vermutlich hat das Mr Harry getan.»

«War Mr Harry bei seinem Vater, als Sie vor dem Nachtessen zu Mr Lee hinaufgingen?»

«Ja, Sir. Er ging, als ich kam.»

«Wie war die Stimmung der beiden Herren, sofern Sie das beurteilen können?»

«Mr Harry schien gut gelaunt zu sein, Sir. Er trug den Kopf sehr hoch und lachte.»

«Und der alte Herr?»

«Er war still und ziemlich nachdenklich.»

«So? Nun möchte ich noch etwas wissen, Horbury: Was wissen Sie von den Diamanten in Mr Lees Safe?»

«Diamanten, Sir? Ich habe nie Diamanten gesehen.»

«Mr Lee bewahrte eine Reihe ungeschliffener Diamanten hier auf. Sie müssen doch gesehen haben, dass er sie in Händen hielt oder betrachtete.»

«Diese kleinen Kieselsteine, Sir? Ja, die habe ich ein paarmal in seinen Händen gesehen. Aber ich wusste nicht, dass es Diamanten waren. Erst gestern hat er sie der ausländischen jungen Dame gezeigt – oder war es vorgestern?»

«Diese Steine sind gestohlen worden», sagte Colonel Johnson plötzlich laut und scharf.

«Sie werden doch nicht denken, Sir, dass ich etwas damit zu tun habe?», fuhr Horbury fort.

«Ich habe nichts Derartiges erwähnt», antwortete Johnson kurz. «Nun, können Sie uns noch irgendwelche Auskünfte über die Sache geben?»

«Über die Diamanten, Sir? Oder den Mord?»

«Beides.»

Horbury dachte nach. Seine Zunge fuhr über die blassen Lippen. Als er nach einer Weile wieder aufsah, blickten seine Augen ziemlich verängstigt.

«Ich glaube nicht, Sir.»

«Kann nichts, was Sie vielleicht im Lauf des Tags gehört haben, aufschlussreich sein für uns?», fragte Poirot sanft.

Die Lider des Dieners begannen zu zucken.

«Nein, Sir, ich glaube nicht. Höchstens vielleicht. – Es gab eine Auseinandersetzung zwischen Mr Lee und einigen Familienmitgliedern.»

«Welchen Mitgliedern der Familie?»

«Es handelte sich um die Heimkehr von Mr Harry Lee, die Mr Alfred Lee gar nicht zu passen schien. Darüber hatte er mit seinem Vater einen Wortwechsel – das war aber auch alles. Der alte Herr warf ihm keineswegs vor, die Diamanten genommen zu haben, und ich bin überzeugt, dass Mr Alfred niemals so etwas getan hätte.»

Poirot fragte sehr schnell:

«Dieser Streit fand statt, nachdem Mr Lee den Verlust der Diamanten entdeckt hatte, nicht wahr?»

«Ja, Sir.»

Poirot beugte sich vor.

«Ich glaubte, Horbury, dass Sie keine Ahnung vom Verschwinden der Diamanten hatten, dass Sie erst jetzt, durch uns, davon gehört hatten. Wie also können Sie wissen, dass Mr Lee den Diebstahl entdeckte, bevor er mit seinem Sohn sprach?»

Horbury wurde tiefrot.

«Zwecklos, zu lügen», sagte Sugden. «Heraus damit! Wann haben Sie vom Verschwinden der Steine erfahren?»

«Ich hörte ihn mit jemandem telefonieren», antwortete Horbury dumpf. «Ich war vor der Tür und konnte nur ein, zwei Worte deutlich verstehen.»

«Und was genau haben Sie verstanden?», fragte Poirot übertrieben freundlich.

«Ich hörte die Worte ›Raub‹ und ›Diamanten‹ und dass er sagte: ›Ich weiß nicht, wen ich verdächtigen soll‹ – und dann etwas von heute Abend um acht Uhr.»

Inspektor Sugden nickte.

«Er hatte mit mir gesprochen, mein Bester. Ungefähr um zehn Minuten nach fünf, stimmt’s?»

«Jawohl, Sir.»

«Und als Sie nachher sein Zimmer betraten, war Mr Lee da sehr aufgeregt?»

«Nicht sehr. Er sah eher bekümmert aus.»

«So bekümmert, dass Ihnen ein wenig mulmig zumute wurde, wie?»

«Hören Sie, Mr Sugden, so dürfen Sie mir nicht kommen. Ich habe diese Diamanten nie auch nur angerührt, und Sie können mir nicht das Gegenteil beweisen. Ich bin kein Dieb!»

Inspektor Sugden antwortete ungerührt:

«Das werden wir ja sehen.» Er sah den Colonel fragend an, nahm dessen Nicken wahr und fuhr fort: «Das ist alles, Horbury. Ich brauche Sie heute Abend nicht mehr.»

Horbury verschwand erleichtert.

«Das war fabelhaft, Mr Poirot», sagte Sugden bewundernd. «So glatt habe ich noch nie jemanden in eine Falle gehen sehen. Ob er ein Dieb ist oder nicht – jedenfalls ist er ein erstklassiger Lügner.»

«Kein sehr einnehmender Mensch», stellte Poirot fest.

«Ein ekelhafter Kerl», stimmte Johnson zu. «Die Frage ist jetzt: Was können wir mit seiner Aussage anfangen?»

Sugden fasste die Sachlage kurz zusammen.

«Meiner Ansicht nach gibt es drei Möglichkeiten, Sir. Erstens: Horbury ist ein Dieb und ein Mörder. Zweitens: Horbury ist wohl ein Dieb, aber kein Mörder. Drittens: Horbury ist unschuldig. Zu Punkt eins: Er hörte das Telefongespräch und wusste, dass der Diebstahl entdeckt worden war. Aus dem Verhalten des alten Herrn glaubte er schließen zu können, dass er verdächtigt wurde. Fasste rasch einen Entschluss. Ging um acht Uhr ostentativ aus und besorgte sich ein Alibi. Einfache Sache, aus einem Kino wegzuschleichen und unbemerkt hierher zurückzukommen. Allerdings muss er des Mädchens ganz sicher sein, dass sie ihn nicht verrät. Ich werde morgen ja sehen, was ich aus ihr herausbekomme.»

«Und wie sollte er ins Haus gekommen sein?», fragte Poirot.

«Das ist schon schwieriger», gab Sugden zu. «Aber auch das hätte sich bewerkstelligen lassen. Wenn ihm zum Beispiel eine der Angestellten die Seitentüre aufschloss.»

Poirot hob zweifelnd die Augenbrauen.

«Damit hätte er sein Leben gleich zwei Frauen in die Hand gegeben? Eine Frau bedeutet schon ein großes Risiko, aber zwei - eh bien, meiner Meinung nach würde das an Selbstmord grenzen!»

«Gewisse Verbrecher glauben eben, ihnen könne gar nichts passieren», sagte Sugden. «Zu Punkt zwei: Horbury erwischte diese Diamanten, brachte sie heute Abend aus dem Haus und übergab sie einem Komplizen. Das wäre an sich einfach und möglich. Aber in diesem Fall müssen wir annehmen, dass jemand anders den alten Herrn heute Abend umbrachte, jemand, der von dem Diamantendiebstahl keine Ahnung hatte. Das ist ebenfalls möglich, aber reichlich unwahrscheinlich. Punkt drei: Horbury ist unschuldig. Irgendjemand anders stahl die Diamanten und ermordete Mr Lee. Das sind die drei Möglichkeiten. Welche den Tatsachen entspricht, werden wir jetzt herausfinden müssen.»

Colonel Johnson gähnte, sah wieder auf seine Uhr und stand auf.

«Nun, ich glaube, jetzt wollen wir schlafen gehen. Sehen wir uns noch vorher den Safe an. Es wäre verrückt, wenn diese verdammten Steine die ganze Zeit friedlich dort dringelegen hätten.»

Aber die verdammten Diamanten lagen nicht im Safe. Die Herren fanden das Kennwort zum Kombinationsschloss im Notizbuch des Toten. Im Safe lag nur ein leerer Wildlederbeutel. Unter all den Papieren, die der Kassenschrank enthielt, war einzig das vor fünfzehn Jahren abgefasste Testament von Bedeutung.

Abgesehen von verschiedenen Vergabungen und Legaten, lautete der Verteiler sehr einfach. Alfred Lee war Erbe der Hälfte des väterlichen Vermögens. Die andere Hälfte sollte zu gleichen Teilen an die übrigen Kinder gehen, also an Harry, George, David und Jennifer.

Загрузка...