27. Dezember

«Das ging ja schmerzloser, als ich fürchtete», sagte Alfred Lee mit einem Seufzer. Sie waren alle soeben von der gerichtlichen Totenschau zurückgekommen. Mr Charlton, ein altväterischer Rechtsanwalt mit forschenden blauen Augen, war mit ihnen dort gewesen und hatte sie nun nach Gorston Hall zurückbegleitet.

«Ich sagte Ihnen ja, dass dieses Prozedere eine reine Formsache sei – reine Formsache. Die Vertagung war vorauszusehen, weil die Polizei vorerst noch weitere Untersuchungen anstellen muss.»

George Lee war gereizt.

«Ekelhaft ist das alles, einfach ekelhaft. Eine scheußliche Situation, in die wir da geraten sind. Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass das Verbrechen von einem Irrsinnigen begangen wurde, der sich irgendwie Zugang zum Haus verschaffen konnte. Dieser Sugden ist ja halsstarrig wie ein Maulesel! Colonel Johnson müsste Scotland Yard beiziehen. Die Ortspolizei ist doch hilflos. Zu dickköpfig! Was ist zum Beispiel mit diesem Horbury los? Ich höre, dass seine Vergangenheit äußerst dunkel sein soll; aber die Polizei unternimmt überhaupt nichts gegen ihn!»

«Ich – eh – glaube, dass dieser Horbury ein einwandfreies Alibi für die fragliche Zeit hat, und deshalb – eh – muss die Polizei seinen Angaben glauben», versuchte Charlton zu beruhigen.

«Muss sie? Warum muss sie?», schäumte George. «Wenn ich die Polizei wäre, dann würde ein solches Alibi mit größter Vorsicht aufgenommen! Es ist doch klar, dass ein Verbrecher sich immer ein Alibi besorgt. Aber die Pflicht der Polizei ist es, dieses Alibi zu widerlegen – das heißt, wenn sie fähig ist!»

«Nun, nun», sagte Charlton, «ich glaube, dass es nicht unsere Sache ist, uns in das Vorgehen der Polizei einzumischen. Im Allgemeinen sind doch sehr tüchtige Leute dabei.»

George schüttelte ärgerlich den Kopf.

«Scotland Yard müsste verständigt werden! Inspektor Sugden mag ein gewissenhafter Beamter sein, aber eine Leuchte ist er bestimmt nicht.»

«Doch, Sugden ist ein sehr guter Polizist», widersprach ihm Charlton. «Er ist vielleicht keiner von der schnellen Sorte, aber er erreicht sein Ziel, glauben Sie mir.»

«Ich bin überzeugt, dass die Polizei alles in ihren Kräften Stehende tut», sagte Lydia. «Mr Charlton, möchten Sie einen Sherry?»

Mr Charlton lehnte höflich dankend ab. Er räusperte sich und schritt dann zur Testamentseröffnung. Er las dieses Dokument mit sichtlichem Behagen, wobei er bei den dunkleren Formulierungen etwas länger verweilte und die besonders raffinierten juristischen Passagen genießerisch auszukosten schien. Als er geendet hatte, nahm er seine Brille ab, putzte sie umständlich und sah sich dann in der Runde um. Harry Lee sprach als erster.

«Diese juristischen Formulierungen sind schwer zu verstehen. Können Sie uns das alles nicht klar und deutlich sagen?»

«Aber das vorliegende ist ein durchaus einfaches Testament.»

«Mein Gott», seufzte Harry, «wie sieht denn ein kompliziertes aus?»

Mr Charlton warf ihm einen eiskalten Blick zu. Dann führte er aus:

«Die Hauptvergabungen sind denkbar leicht zu verstehen. Die Hälfte des Vermögens fällt an Mr Alfred Lee. Der Rest wird zwischen den übrigen Kinder aufgeteilt.»

Harry lachte hämisch.

«Alfred, wie gewöhnlich! Das halbe Vermögen meines Vaters! Du hast Schwein, Alfred.»

Alfred lief rot an. Lydia sagte scharf:

«Alfred war seinem Vater ein guter und ergebener Sohn. Seit Jahren hat er die Werke geleitet und die ganze Verantwortung getragen.»

«O ja, Alfred war immer ein Mustersöhnchen!»

«Du kannst von Glück sagen, dass Vater dir überhaupt etwas hinterlasssen hat», fauchte Alfred den Bruder an.

Harry warf den Kopf zurück und lachte.

«Du hättest lieber gesehen, wenn ich leer ausgegangen wäre, wie? Du hast mich nie ausstehen können!»

Mr Charlton hüstelte. Er war solche unerquicklichen Szenen nach einer Testamentseröffnung gewohnt – nur zu sehr gewohnt –, und ihm lag daran, mit seinen Verpflichtungen zu Ende zu kommen, bevor die endlosen Familienstreitereien begannen.

«Ja, das ist, glaube ich, alles, was ich Ihnen –», murmelte er. «Und was ist mit Pilar?», fragte Harry laut.

Mr Charlton räusperte sich wieder, diesmal wie entschuldigend. «Eh, Miss Estravados – eh – ist in dem Testament nicht erwähnt.»

«Bekommt sie nicht den Anteil ihrer Mutter?»

«Señora Estravados», erklärte Charlton, «hätte natürlich ihren Teil der Erbschaft bezogen; aber da sie gestorben ist, fällt ihr Anteil der Erbmasse zu und wird unter die übrigen Kinder verteilt.»

Pilar fragte mit ihrer warmen südländischen Stimme:

«Dann bekomme ich also nichts?»

Schnell fiel Lydia ein. «Liebes, darüber wird die Familie sich bestimmt einigen.»

«Du wirst hierher zu Alfred ziehen – nicht, Alfred?», sagte George. «Schließlich – hm – bist du unsere Nichte, und es ist unsere Pflicht, für dich zu sorgen.»

«Auch bei uns wird sie immer gerne willkommen sein», sagte Hilda Lee.

Aber Harry ließ nicht locker.

«Sie muss ihren eigenen Anteil bekommen. Wir sollten ihr Jennifers Erbteil aushändigen.»

Mr Charlton murmelte: «Ich muss nun – eh – wirklich gehen, Mr Lee. Auf Wiedersehen, Mrs Lee – wenn ich für Sie etwas tun kann – jederzeit, gerne…»

Er verließ eilends den Raum, in welchem, seiner Erfahrung gemäß, nun alle Voraussetzungen für einen Familienkrach gegeben waren.

Kaum war die Tür zu, erhob Lydia ihre klare, helle Stimme.

«Ich stimme Harry bei. Pilar hat das Recht auf einen festen Anteil. Dieses Testament wurde vor Jennifers Tod abgefasst.»

«Unsinn!», fuhr George auf. «Eine sehr ungesetzliche und nachlässige Denkweise, Lydia! Gesetz ist Gesetz, und wir müssen uns ihm fügen.»

«Es ist natürlich ein Pech für Pilar, und das tut uns sehr Leid», mischte sich nun auch Magdalene ein, «aber George hat Recht. Gesetz ist Gesetz.»

Lydia stand auf. Sie nahm Pilar bei der Hand.

«Das alles muss sehr unangenehm sein für dich», sagte sie freundlich. «Willst du uns bitte allein lassen, solange wir diese Fragen erörtern?»

Sie ging mit der jungen Frau bis zur Tür. «Sei ganz ruhig, Pilar», sagte sie. «Überlass die Sache nur mir.» Pilar ging langsam aus dem Zimmer. Lydia schloss die Tür hinter ihr und ging zu den anderen zurück.

Einige Sekunden lang herrschte Stille im Raum. Alle schienen Atem zu schöpfen. Aber im nächsten Augenblick war der Kampf wieder in vollem Gange.

«Du bist eben von jeher ein Geizkragen gewesen, George», sagte Harry.

Und George schrie zurück: «Jedenfalls war ich nie ein Schmarotzer und ein Lump!»

«Du bist genauso gut ein Schmarotzer wie ich! Du hast all die Jahre ausschließlich von Vaters Zuschuss gelebt.»

«Du scheinst zu vergessen, dass meine verantwortungsvolle und exponierte Stellung –»

«Verantwortungsvoll – meiner Seel! Du bist ein künstlich aufgeblähter Luftballon, weiter nichts!»

Magdalene schrie empört: «Wie wagst du, so etwas zu sagen!»

Hildas Stimme, ruhig wie immer, durchdrang den Lärm. «Können wir die Sache nicht vielleicht in Ruhe besprechen?»

Lydia warf ihr einen dankbaren Blick zu.

Plötzlich fuhr David heftig aus seiner Reglosigkeit auf.

«Diese Streiterei über Geld ist überhaupt ekelhaft!»

Magdalene zischte ihn giftig an. «Welche Edelmütigkeit! Willst du vielleicht sogar deine Erbschaft ausschlagen? Du brauchst das Geld ebenso gut wie wir andern auch. Deine Weltfremdheit ist bloß eine lächerliche Pose!

«Die Erbschaft ausschlagen?», flüsterte David. «Ob ich das tun sollte?»

«Nein, das wirst du natürlich nicht tun», sagte Hilda fest und bestimmt. «Müssen wir uns denn alle so kindisch benehmen? Alfred, du bist jetzt das Familienoberhaupt…»

Alfred schien aus tiefen Träumen aufzufahren.

«Wie bitte? Wenn alle gleichzeitig schreien und auf mich einreden – das verwirrt mich.»

«Hilda hat Recht, wir benehmen uns wie gierige, ungezogene Kinder», sagte Lydia. «Versuchen wir doch, die Probleme ruhig und wenn möglich eines nach dem anderen zu besprechen. Du bist der Älteste, Alfred. Was, meinst du, sollen wir in Bezug auf Pilar tun?»

«Natürlich müssen wir ihr hier ein Heim schaffen und ihr einen monatlichen Zuschuss gewähren. Auf das Geld ihrer Mutter hat sie meiner Ansicht nach keinerlei rechtlichen Anspruch. Sie ist keine Lee, vergiss das nicht. Sie ist spanische Staatsbürgerin.»

«Keinen rechtlichen Anspruch – das mag stimmen», wandte Lydia ein. «Aber ich finde, dass sie einen moralischen Anspruch auf dieses Erbteil hat. Euer Vater hat seiner Tochter genauso viel hinterlassen wie George, David und Harry, und das, obgleich sie gegen seinen Willen einen Spanier geheiratet hatte. Jennifer ist erst letztes Jahr gestorben. Ich bin überzeugt, dass er Mr Charlton nur deshalb herzukommen bat, weil er in einem neuen Testament wenigstens den Vermögensanteil Jennifers auf Pilar übertragen lassen wollte. Vielleicht hätte er dem Mädchen sogar noch mehr hinterlassen. Sie war sein einziges Enkelkind, das dürft ihr nicht vergessen. Das Mindeste, was wir also tun können, ist, eine Ungerechtigkeit gutzumachen, die euer Vater selber gutzumachen gewillt war.»

«Bravo, Lydia!», rief Alfred warm. «Du hast doch vollkommen Recht. Ich bin einverstanden, dass Pilar Jennifers Anteil an Vaters Vermögen bekommen muss.»

«Und du, Harry?», fragte Lydia.

«Du weißt, dass ich einverstanden bin. Ich finde, Lydia hat die Sachlage sehr klar geschildert, und ich muss sagen, dass ich sie dafür bewundere.»

«George?»

George war krebsrot und zitterte förmlich vor Aufregung. «Nein! Ich bin dagegen! Das Ganze ist eine unerhörte Zumutung. Gebt ihr ein Heim und ein anständiges Taschengeld. Das ist mehr als genug für sie.»

«Er hat ganz Recht», piepste Magdalene dazwischen. «Es wäre ungeheuerlich, wenn er eurem Vorschlag zustimmen würde. Wenn man bedenkt, dass George der Einzige der Familie ist, der jemals etwas getan hat in der Welt, dann ist es ohnehin eine Schande, dass sein Vater ihm nicht mehr hinterlassen hat.»

«David?»

«Oh, ihr habt bestimmt Recht», murmelte David unsicher. «Es ist nur so grässlich, dass so viel Streit und hässliche Worte um diese Sache entstehen müssen.»

«Ich stimme dir auch bei, Lydia, dein Vorschlag ist nur gerecht», sagte Hilda.

Harry sah sich im Kreis um.

«Also, dann ist ja alles klar. Alfred. David und ich sind dafür - George ist dagegen. Die Ja-Stimmen haben die Mehrheit.»

«Es handelt sich hier nicht um Ja- oder Nein-Stimmen», fuhr George ihn gehässig an. «Mein Anteil an Vaters Vermögen ist ganz und ungeteilt mein Eigentum. Ich werde keinem Menschen einen Penny davon geben.»

«Allerdings nicht!» Ein triumphierender Aufschrei Magdalenes.

Nun sprach Lydia schärfer.

«Bitte, das ist eure Sache. Dann wird Jennifers Anteil eben von uns anderen aufgebracht.»

Sie sah sich um, und die Brüder, außer George, nickten Zustimmung.

Harry sagte: «Da Alfred den Löwenanteil geerbt hat, könnte er in diesem Fall auch den größeren Teil zahlen.»

Und Alfred gab höhnisch zurück: «Ich merke, dass deine anfängliche Großzügigkeit bereits erheblich ins Wanken gerät.»

«Fangt jetzt nicht wieder an!», fuhr Hilda dazwischen. «Lydia soll Pilar sagen, dass wir einen Entschluss gefasst haben. Die Einzelheiten können wir nachher besprechen.» Und in der Hoffnung, die gereizten Gemüter vom Thema abzulenken, fragte sie: «Wo steckt eigentlich Mr Farr? Und Mr Poirot?»

«Wir haben Mr Poirot ins Dorf mitgenommen, als wir zur Totenschau fuhren», sagte Alfred. «Er hatte eine wichtige Besorgung zu machen.»

«Wer ist denn da draußen im Garten? Mr Farr oder Inspektor Sugden?», rief Lydia.

Die Ablenkungsmanöver der beiden Frauen waren erfolgreich. Der Familienrat wurde aufgehoben. Lydia zog Hilda ein wenig beiseite. «Danke, Hilda, es war lieb von dir, mir den Rücken zu stärken. Du bist wirklich ein Trost in all dem Durcheinander.»

«Merkwürdig, wie Geld die Menschen aufregen kann», sagte Hilda nachdenklich.

Die anderen waren hinausgegangen, und die beiden Frauen blieben allein zurück.

«Ja – sogar Harry, obwohl der Vorschlag von ihm ausging. Und mein armer Alfred ist so englisch, dass er nicht zusehen kann, wie Lee’sches Geld an eine spanische Staatsbürgerin fällt.»

Hilda lächelte.

«Sind wir Frauen wirklich so viel idealistischer?»

Lydia antwortete mit einem Zucken ihrer schmalen Schultern: «Vielleicht. Und dann ist dieses Geld ja nicht unseres. Das ergibt einen großen Unterschied.»

«Ein eigenartiges Mädchen, diese Pilar», sagte Hilda. «Was mag wohl aus ihr werden?»

Lydia seufzte.

«Ich bin froh, dass sie nun unabhängig sein wird. Hier zu leben, selbst mit einem anständigen Taschengeld, wäre bestimmt nicht die Erfüllung ihrer Träume. Sie ist zu stolz dazu und zu – zu fremd.» Gedankenverloren fügte sie noch bei: «Ich habe einmal einen wunderschönen Lapislazuli aus Ägypten mitgebracht. Dort, inmitten von Sonne und Sand, war seine Farbe herrlich – ein leuchtendes, warmes Blau. Aber kaum war ich wieder zu Hause, begann seine Farbe dumpf zu werden, und das Blau war wie erloschen.»

«Ich verstehe – ja», sagte Hilda leise.

«Ich bin so froh, dass ich dich und David endlich kennen lernte», lächelte Lydia. «Ich bin glücklich, dass ihr hergekommen seid.»

«Wie oft habe ich in diesen letzten Tagen gewünscht, wir wären nicht hier!»

«Das glaube ich dir. Aber weißt du, Hilda, der Schock hat David weniger arg mitgenommen, als ich gedacht hätte. Ich meine, er ist nicht so empfindsam, dass ihn diese Sache völlig aus dem Gleichgewicht hätte bringen können. Und tatsächlich dünkt mich, er lebe seit dem Mord förmlich auf…»

Hilda sah sie fast erschrocken an.

«Du hast das also auch bemerkt? Es ist schrecklich… aber es ist wirklich so, wie du sagst!»

Sie schwieg und dachte darüber nach, was ihr Mann erst in der vergangenen Nacht gesagt hatte.

«Hilda, erinnerst du dich an die Szene in Tosca, wenn Scarpia tot ist und Tosca ihm zu Häupten und Füßen Kerzen anzündet? Dort sagt sie: Jetzt kann ich ihm verzeihen! Genauso empfinde ich jetzt für Vater. All die Jahre konnte ich ihm nicht verzeihen, obwohl ich es wirklich wollte, aber jetzt trage ich ihm nichts mehr nach. Aller Hass ist wie weggewischt. Und mir ist, als sei eine Riesenlast von meinen Schultern genommen worden.»

Und sie hatte, von plötzlicher Angst erfasst, gefragt:

«Weil er tot ist?»

Worauf er rasch und abwehrend geantwortet hatte:

«Nein, nein, - nicht weil er tot ist, sondern weil mein kindischer, dummer Hass gegen ihn tot ist.»

An dieses Gespräch musste Hilda jetzt denken. Am liebsten hätte sie es der Frau neben ihr mitgeteilt; aber irgendwie fühlte sie, dass es klüger sei, dies nicht zu tun. Sie folgte Lydia hinaus in die Halle. Dort stand Magdalene mit einem kleinen Päckchen in der Hand. Sie fuhr zusammen, als sie die beiden kommen sah.

«Das muss der wichtige Einkauf von Mr Poirot sein», rief sie. «Ich habe gesehen, wie er es eben hier niederlegte. Was ist da wohl drin?»

Sie sah von einer zur anderen und kicherte verlegen, aber ihre Augen hatten einen wachen und ängstlichen Ausdruck, der die affektierte Fröhlichkeit ihrer Worte Lügen strafte.

Lydia hob nur ein wenig die Augenbrauen und sagte dann kühl: «Ich muss mir vor dem Lunch noch die Hände waschen.»

Magdalene bemühte sich zwar, ihre erzwungene Heiterkeit beizubehalten, aber es gelang ihr nicht ganz, den verzweifelten Unterton aus ihrer Stimme zu verbannen.

«Ich muss hineinschauen!», kicherte sie.

Sie öffnete das Papier und stieß einen hohen Schrei aus.

Lydia blieb stehen, Hilda auch, und beide Frauen starrten verblüfft auf den Gegenstand in Magdalenes Hand.

«Ein falscher Schnurrbart», brachte Magdalene endlich hervor.

«Wozu – ich frage euch –»

«Will er sich maskieren?», fragte Hilda erstaunt. «Aber…»

«Aber Mr Poirot hat ja selber einen sehr schönen Schnurrbart», beendete Lydia den Satz.

Magdalene schlug das Papier wieder zu. «Verrückt, so etwas! Wozu kauft sich Mr Poirot einen falschen Schnurrbart?»

Pilar durchquerte langsam die Halle, als Stephen Farr eben vom Garten hereintrat.

«Nun? Ist der Familienrat beendet? Hat die Testamentsverlesung stattgefunden?», fragte er.

Pilar atmete heftig. «Ich bekomme nichts – gar nichts! Das Testament ist vor vielen Jahren geschrieben worden. Mein Großvater hat Mutter Geld hinterlassen, aber weil sie nun tot ist, fällt alles den anderen zu.»

«Das ist allerdings Pech für Sie», sagte Stephen.

«Wenn der alte Mann am Leben geblieben wäre, hätte er sicher ein anderes Testament gemacht. Dann hätte er mir auch Geld hinterlassen – viel Geld! Vielleicht hätte er mir mit der Zeit überhaupt sein ganzes Vermögen vermacht!»

Nun lächelte Stephen.

«Das wäre auch wieder nicht ganz gerecht gewesen.»

«Warum nicht? Er hätte mich eben am liebsten gehabt, das ist alles.» Sie sah düster vor sich hin. «Die Welt ist Frauen gegenüber sehr grausam. Sie müssen versuchen, zu Geld zu kommen, solange sie jung sind. Wenn sie alt und hässlich werden, gibt ihnen niemand mehr etwas.»

«Machen Sie sich jetzt keine Sorgen darüber, hübsche Pilar! Die Lees sind verpflichtet, für Sie zu sorgen.»

«Schon, aber sehr amüsant wird das nicht werden», sagte sie.

«Nein, wahrscheinlich nicht», antwortete er langsam. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie hier leben sollen, Pilar. Wollen Sie nicht lieber nach Südafrika kommen? Dort ist Sonne und Weite. Allerdings auch harte Arbeit. Arbeiten Sie gern?»

«Ich weiß es nicht», sagte sie zögernd.

«Oder würden Sie lieber den ganzen Tag auf einem Balkon sitzen? Und fürchterlich dick werden und drei Doppelkinne bekommen?»

Pilar musste lachen.

«So gefallen Sie mir besser. Ich habe Sie zum Lachen gebracht!»

«Ich habe gedacht, dass ich heuer zu Weihnachten viel lachen würde. In Büchern steht, wie lustig englische Weihnachten sind. Man isst brennende Rosinen und Plumpudding, der in Flammen aufgetragen wird, und man bekommt einen Julklapp und –»

«Aber meine Liebe, das gilt nur für Weihnachten, die nicht durch einen Mord belastet wurden! Kommen Sie. Lydia hat mir gestern ihre Vorratskammer gezeigt.»

Er führte sie zu einem kleinen Raum, der kaum viel größer war als ein großer Wandkasten.

«Sehen Sie, alle die Büchsen mit Gebäck und eingemachten Früchten, Orangen, Datteln und Nüssen. Und hier…»

«Oh!», rief Pilar aus. «Die sind hübsch, diese Gold- und Silberkugeln!»

«Die sollten an einem Baum hängen mit den Geschenken für die Dienerschaft. Und diese kleinen Schneemänner mit den glitzernden Eiskristallen, die sollten beim Essen auf dem Tisch stehen. Und hier sind Ballons in allen Farben, die wir aufgeblasen hätten.»

Pilars Augen strahlten. «Ach, blasen wir doch einen auf! Lydia würde es bestimmt erlauben. Ich habe Ballons so gern!»

«Sie sind ein Baby! – Also gut! Welchen wollen Sie haben?»

«Den roten natürlich!»

Sie wählten je einen Ballon aus und bliesen sie nun mit geblähten Backen zu bunten Kugeln auf. Dann schnürten sie die Enden sorgfältig zu und warfen die Ballons in die Luft, um sie, sobald sie bis auf Reichweite niedergeschwebt waren, mit leichten Stößen wieder höhersteigen zu lassen.

«In der Halle draußen hätten wir viel mehr Platz», sagte Pilar. Als sie dort mitten im schönsten Spielen waren, erschien Hercule Poirot. Er sah ihnen nachsichtig lächelnd zu.

«Soso, Sie spielen les jeux d’enfants! Hübsch ist das.»

«Der rote ist meiner», erklärte Pilar atemlos. «Er ist viel größer als seiner. Wenn wir sie draußen fliegen lassen würden, stiege meiner bis in den Himmel hinauf!»

«Also gut, lassen wir sie fliegen», schlug Stephen vor. «Dann dürfen wir uns etwas dabei wünschen.»

Pilar war begeistert. Sie rannte durch die Gartentür hinaus. Poirot folgte den beiden nachsichtig und leicht amüsiert.

«Ich wünsche mir viel, viel Geld», rief Pilar. Sie hielt ihren Ballon hoch über den Kopf, und als ein Windstoß kam, ließ sie ihn los. Er wurde wirklich emporgetragen.

Stephen hatte weniger Glück. Kaum hatte er seinen Ballon losgelassen, als der Wind diesen seitlich abtrieb, worauf er in einen Stechpalmenbusch flog und dort zerplatzte.

Pilar lief sofort zu der Unglücksstätte.

«Kaputt», verkündete sie betrübt. Sie stieß das geschrumpfte Häufchen Gummi mit dem Schuh an. «So etwas habe ich in Großvaters Zimmer vom Boden aufgehoben. Er hatte auch einen Ballon. Nur war seiner hellrot.»

Poirot schrie plötzlich auf. Pilar sah sich fragend nach ihm um.

«Nein, nein, es ist nichts», versicherte er hastig. «Ich habe mir nur meine Fußspitze angeschlagen.»

Er drehte sich brüsk um und betrachtete das Haus.

«So viele Fenster! Ein Haus, Mademoiselle, hat Augen und Ohren. Und die Engländer lassen gerne die Fenster offen stehen.»

Lydia erschien auf der Terrasse.

«Das Mittagessen ist bereit. Pilar, es ist alles in Ordnung. Alfred wird es dir nach dem Essen eingehender erklären. Wollen wir zu Tisch gehen?»

Sie begaben sich alle miteinander ins Haus. Poirot kam als Letzter. Er sah sehr ernst aus.

Nach dem Mittagessen führte Alfred seine Nichte in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich zu. Die anderen gingen ins Wohnzimmer. Nur Hercule Poirot blieb in der Halle stehen und betrachtete nachdenklich die Tür des Arbeitszimmers. Plötzlich bemerkte er, dass der alte Butler sich ihm näherte.

«Ja, Tressilian? Was haben Sie auf dem Herzen?»

Der alte Mann schien verwirrt zu sein.

«Ich sollte – ich müsste mit Mr Lee sprechen, aber jetzt darf ich ihn wohl nicht stören, nicht wahr?»

«Ist etwas passiert?»

Langsam, als müsste er selber sich zwingen, seinen Worten Glauben zu schenken, antwortete Tressilian: «Es ist so eigentümlich. Vollkommen unbegreiflich…» Er zögerte. «Sie haben vielleicht bemerkt, Sir, dass zu beiden Seiten der Haupteingangstür eine Kanonenkugel angebracht ist – schwere, runde Steine. Und jetzt ist einer fortgenommen worden, Sir!»

Hercule Poirot runzelte die Stirn. «Wann?»

«Heute Morgen waren sie noch beide dort, Sir. Darauf kann ich einen Eid schwören.»

«Kommen Sie.»

Sie gingen zusammen zur Eingangstür. Poirot bückte sich und betrachtete die eine Kanonenkugel von allen Seiten. Als er sich wieder aufrichtete, war sein Gesicht todernst.

«Wer sollte ein solches Ding stehlen, Sir? Das ist doch sinnlos!», stammelte der alte Diener.

«Das gefällt mir nicht», murmelte Poirot, «das gefällt mir ganz und gar nicht.»

Tressilian sah ihm ängstlich ins Gesicht.

«Was ist bloß über dieses Haus gekommen, Sir?», fragte er verzweifelt. «Seit der Herr ermordet worden ist, scheint es vollkommen verändert zu sein. Mir ist immer, als würde ich in einem Traum leben. Ich verwechsle Sachen und habe oft das Gefühl, als könne ich meinen eigenen Augen nicht mehr trauen.»

Hercule Poirot schüttelte den Kopf.

«Nein, das ist falsch. Just Ihren Augen müssen Sie Glauben schenken, Tressilian!»

«Nein, nein, Sir! Meine Sehkraft lässt nach. Ich spüre es doch ganz deutlich. Manchmal verwechsle ich sogar Leute miteinander. Ich werde zu alt für meinen Beruf.»

Poirot klopfte ihm auf die Schulter. «Kopf hoch!»

«Danke, Sir. Sie meinen es gut, ich weiß. Aber so ist es nun einmal: Ich bin zu alt. Immer wieder denke ich an die früheren Zeiten und sehe Miss Jenny, Master Alfred und David als junge Menschen. Seit jener Nacht, da Mr Harry heimkam…»

«Das ist es», nickte Poirot. «Daran habe ich eben auch gedacht. Vorhin sagten Sie: ›Seit der Herr ermordet worden ist‹ – aber die Sache begann früher. Seit Mr Harry heimgekommen ist, hat sich hier alles verändert und scheint unwirklich geworden zu sein. Habe ich nicht Recht?»

«Doch, Sir. Mr Harry hat immer Unruhe ins Haus gebracht, schon in alten Zeiten.» Seine Augen schweiften zu dem leeren Steinsockel zurück. «Wer kann die Kugel weggenommen haben, Sir?», flüsterte er. «Und weshalb? Ich komme mir vor wie in einem Irrenhaus.»

«Hier liegt nicht Irrsinn vor, fürchte ich», antwortete Poirot bedrückt. «Im Gegenteil, jemand geht sehr klug und überlegt zu Werke. Und jemand, Tressilian, ist in großer Gefahr.»

Er wandte sich um und ging ins Haus zurück.

In diesem Augenblick kam Pilar aus dem Arbeitszimmer. Ihre Wangen hatten rote Flecken. Sie trug den Kopf sehr hoch, und ihre Augen funkelten.

Als Poirot auf sie zukam, stampfte sie plötzlich mit dem Fuß auf und sagte: «Ich werde es nie annehmen!»

Poirot hob die Augenbrauen. «Was denn, Mademoiselle?»

«Alfred hat mir eben mitgeteilt, dass ich den Anteil meiner Mutter aus der Erbschaft bekommen soll.»

«Und?»

«Rechtlich hätte ich keinen Anspruch darauf, hat er mir erklärt, aber er, Lydia und die anderen seien der Ansicht, dass dieser Anteil mir gehöre. Es sei eine Frage der Gerechtigkeit, und sie wollten mir das Geld also aushändigen.»

«Ja, und?», fragte Poirot wieder.

Pilar sah ihn aufgebracht an.

«Verstehen Sie denn nicht? Sie wollen mir das Geld geben - geben!»

«Das kann doch Ihren Stolz nicht verletzen? Wenn es wirklich eine Frage der Gerechtigkeit ist, dass Sie diesen Anteil bekommen?»

Pilar seufzte auf. «Ach, Sie verstehen mich nicht.»

«Ich verstehe Sie im Gegenteil sehr gut», sagte Poirot.

«Ach was», stieß Pilar hervor und drehte sich ärgerlich um. Die Hausglocke läutete. Poirot sah über die Schulter zurück und erblickte die Silhouette von Inspektor Sugden durch die Milchglasscheibe. Hastig fragte er Pilar: «Wohin gehen Sie jetzt?»

«Ins Wohnzimmer, zu den anderen», gab sie mürrisch zurück.

«Gut! Bleiben Sie dort! Gehen Sie nicht allein im Haus herum, vor allem nicht nach Einbruch der Dunkelheit. Seien Sie sehr vorsichtig. Sie sind in großer Gefahr, Mademoiselle, heute mehr denn je!»

Damit wandte er sich ab und ging Sugden entgegen.

Dieser wartete, bis Tressilian wieder in der Küche verschwunden war. Dann zog er ein Telegramm aus der Tasche.

«So, jetzt haben wir es!», sagte er triumphierend. «Lesen Sie das. Kommt von der südafrikanischen Polizei.»

Das Kabel lautete:

Ebenezer Farrs Sohn vor zwei Jahren gestorben.

«Nun wissen wir es!», grinste Sugden. «Komisch! Ich habe eine ganz andere Spur verfolgt!»

Pilar trat hochaufgerichtet ins Wohnzimmer. Sie ging direkt auf Lydia zu, die strickend am Fenster saß.

«Lydia, ich möchte dir sagen, dass ich das Geld nicht annehmen werde. Und dass ich fortgehe – sofort…»

Lydia sah sie erstaunt an. Sie ließ ihre Strickerei in den Schoß fallen. «Mein liebes Kind, Alfred muss dir die Sache ungeschickt erklärt haben! Es handelt sich hier keineswegs um eine Mildtätigkeit, wenn du dir das vielleicht einbildest. Wir sind weder großzügig noch liebenswürdig, sondern kommen einfach einer als gerecht empfundenen Verpflichtung nach. Unter normalen Umständen hätte deine Mutter dieses Geld geerbt und es voraussichtlich dir vermacht. Also steht dir diese Erbschaft zu - sie ist weder ein Gnadengeschenk noch ein Opfer unsererseits, sondern dein Recht!»

«Und gerade darum kann ich sie nicht annehmen», schrie Pilar verzweifelt auf, «nicht, wenn du so mit mir sprichst! Nicht, wenn ihr alle so zu mir seid! Ich bin gerne gekommen. Es war lustig. Es war ein Abenteuer, aber jetzt habt ihr es mir verdorben! Ich will fort von hier – und ihr werdet euch nie wieder um mich zu kümmern haben…»

Tränen erstickten ihre Stimme. Sie drehte sich um und rannte aus dem Zimmer. Lydia sah ihr hilflos nach.

«Was um Himmels willen kann sie so aufgeregt haben?»

George räusperte sich bedeutungsvoll und verkündete dann wichtigtuerisch: «Wie ich heute Morgen bereits bemerkte - hm –, geht ihr von ganz falschen Voraussetzungen aus. Pilar ist gescheit genug, das einzusehen. Sie lehnt euer Almosen ab – »

«Es ist kein Almosen», fuhr Lydia ihn an. «Es ist ihr Recht!»

Inspektor Sugden und Poirot betraten den Raum. Sugden sah sich um und fragte dann sofort: «Wo ist Mr Farr? Ich muss ihn sprechen!»

Doch noch ehe jemand antworten konnte, fuhr Poirot dazwischen: «Wo ist Señorita Estravados?»

«Sie packt ihre Koffer, jedenfalls hatte sie das vor. Anscheinend hat sie bereits genug von ihren englischen Verwandten.» George Lee konnte seine schadenfrohe Genugtuung nur schwer verbergen. Poirot fuhr herum.

«Kommen Sie!», rief er Sugden zu.

Kaum waren die beiden Männer in die Halle hinausgetreten, als ein schweres Poltern und ein Schrei ertönten.

«Schnell! Kommen Sie!» Poirot lief durch die Halle und keuchte die hintere Treppe hinauf. Die Tür zu Pilars Zimmer war weit offen, und ein Mann stand auf der Schwelle. Er wandte den Kopf nach den beiden Männern um. Es war Stephen Farr.

«Sie lebt», sagte er nur.

Pilar stand an die Wand ihres Zimmers gelehnt und starrte die große steinerne Kugel an, die auf dem Boden vor ihr lag.

«Das war auf meiner Zimmertür», erzählte sie atemlos, «so platziert, dass es im Gleichgewicht blieb. Der Stein wäre auf meinen Kopf gefallen, wenn ich normal eingetreten wäre. Aber mein Rock hakte sich an einem Nagel fest, und das hielt mich ein wenig zurück.»

Poirot kniete nieder und untersuchte den Nagel, an dem ein Stückchen roter Wollstoff geblieben war. Er blickte auf und nickte vielsagend.

«Dieser Nagel, Mademoiselle, hat Ihnen das Leben gerettet.» Der Inspektor sah ihn fassungslos an.

«Hören Sie, was soll das alles bedeuten?»

«Jemand hat versucht, mich umzubringen», sagte Pilar.

«Eine Falle», stellte Sugden fest, nachdem er die Tür lange und aufmerksam betrachtet hatte, «eine ganz gewöhnliche Falle! – Das ist nun schon der zweite Mord, der in diesem Hause geplant wurde! Aber diesmal ist er nicht geglückt.»

Pilar warf fast flehend die Hände empor.

«Madre de Dios!», rief sie. «Warum sollte mich jemand töten wollen? Was habe ich denn Böses getan?»

«Vielleicht sollten Sie sich eher fragen: Was weiß ich denn?», entgegnete Poirot vielsagend.

«Wissen? Ich weiß nichts.» Sie sah ihn groß an.

«In diesem Punkt irren Sie, Mademoiselle. Sagen Sie mir jetzt, wo Sie zur Zeit des Mordes waren. Sie waren nicht in diesem Zimmer.»

«Doch! Das habe ich Ihnen doch gesagt.»

«Gewiss, aber da sagten Sie nicht die Wahrheit. Sie erzählten uns, dass Sie Ihren Großvater schreien hörten, nicht wahr?» Sugdens Stimme klang trügerisch sanft. «Nun, Sie können den Schrei nicht gehört haben, wenn Sie hier drinnen gewesen sind. Das haben Mr Poirot und ich gestern ausprobiert!»

«Sie müssen also dem Zimmer Ihres Großvaters näher gewesen sein», riss Poirot das Gespräch wieder an sich. «Soll ich Ihnen sagen, wo ich mir denke, dass Sie gewesen sein könnten? Sie standen in der Nische bei den Statuen, Mademoiselle!»

Pilar hielt den Atem an vor Staunen.

«Woher wissen Sie das?»

Poirot lächelte verstohlen. «Mr Farr hat Sie dort gesehen.»

«Das ist nicht wahr!», fuhr Farr auf. «Das ist eine faule Lüge!»

«Verzeihen Sie, Mr Farr, aber Sie haben Miss Pilar dort gesehen», sagte Poirot ruhig. «Erinnern Sie sich, dass Sie den Eindruck hatten, es stünden drei Statuen in jener Nische - nicht nur zwei? Nur eine der Damen trug am Mordabend ein weißes Kleid: Mademoiselle Estravados. Sie war die dritte Figur, die Sie sahen. Das stimmt doch, Mademoiselle?»

Pilar zögerte eine Sekunde, dann sagte sie: «Ja, das ist wahr.»

Poirot sah sie freundlich an.

«Sagen Sie uns nun die ganze Wahrheit, bitte! Warum standen Sie in der Nische?»

«Ich war nach dem Abendessen aus dem Speisezimmer gekommen und wollte meinem Großvater einen Besuch machen. Ich dachte, es freue ihn vielleicht. Aber als ich in den Korridor einbog, sah ich jemanden an seiner Tür stehen. Ich wollte nicht gesehen werden, weil ich genau wusste, dass Großvater sich für jenen Abend Besuche verbeten hatte. Deshalb schlüpfte ich in die Nische, für den Fall, dass die Person an der Tür sich umdrehen sollte.»

Sie rang die Hände. «Dann hörte ich plötzlich den entsetzlichen Lärm – umfallende Tische und Stühle, splitterndes Glas – alles schien umzustürzen. Ich bewegte mich nicht. Ich hatte Angst. Und dann ertönte der grauenhafte Schrei –» Sie bekreuzigte sich. «Mein Herz blieb stehen. ›Jemand ist tot!‹, sagte ich zu mir selber.»

«Weiter?»

«Dann kamen alle die Treppe heraufgerannt, an mir vorbei, durch den Korridor, und ich schloss mich den Leuten an.»

«Warum haben Sie uns von alldem nichts gesagt, als wir Sie das erste Mal verhörten?», fragte Sugden bissig.

Pilar wiegte den Kopf hin und her. Altklug und überlegen antwortete sie: «Der Polizei soll man nicht zu viel sagen. Sehen Sie, ich nahm an, Sie würden mich verdächtigen, Großvater umgebracht zu haben, wenn ich zugeben würde, dass ich mich so nahe bei seinem Zimmer befand.»

«Wenn Sie leichthin Lügen erzählen, dann wird man Sie erst recht verdächtigen», schimpfte Sugden.

«Pilar!» Stephen Farr sah das Mädchen beschwörend an. «Wen haben Sie an der Tür des alten Herrn stehen sehen? Wen? Sagen Sie uns das!»

«Jawohl, sagen Sie uns das!», befahl Sugden.

Pilar stockte. Ihre Augen öffneten sich weit und verengten sich wieder. «Ich weiß nicht, wer es war», murmelte sie langsam, «aber es war eine Frau.»

Inspektor Sugden sah sich in dem Kreis um. Mit einer ihm sonst ganz fremden Erregung sagte er:

«Das widerspricht allen Regeln und Vorschriften, Mr Poirot!»

«Ich weiß, Inspektor», wandte Poirot begütigend ein. «Aber sehen Sie, ich möchte mein erworbenes Wissen mit allen hier Anwesenden teilen. Dann werde ich sie alle um ihre Mitarbeit bitten, und so werden wir die Wahrheit herausbekommen.»

«Affentheater!», brummte Sugden vor sich hin. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

«Vor allen Dingen haben Sie, glaube ich, Mr Farr eine Frage zu stellen, nein?», fuhr Poirot ungerührt fort.

Sugdens Mund wurde hart.

«Ich hätte mir dazu einen etwas weniger offiziellen Augenblick ausgesucht», sagte er sarkastisch. «Aber wie Sie wollen.» Er reichte Stephen Farr das Telegramm. «Nun, Mr Farr – oder wie Sie sonst heißen mögen! –, können Sie uns das erklären?»

Stephen Farr hob die Augenbrauen und las die Meldung laut vor. Dann händigte er dem Inspektor das Papier wieder aus. «Ja, ziemlich scheußlich, nicht wahr?»

«Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?»

«Lassen Sie nur, Inspektor, ich weiß, dass Sie auf eine Erklärung brennen. Sie sollen sie haben. Mag sie noch so fadenscheinig klingen – es ist die Wahrheit. Ich bin nicht Ebenezer Farrs Sohn, aber ich kannte Vater und Sohn Farr sehr gut. Versuchen Sie jetzt einmal, sich in meine Lage zu versetzen. (Ich heiße übrigens Stephen Grant.) Ich kam zum ersten Mal in meinem Leben in dieses Land und war enttäuscht. Dinge und Menschen kamen mir entsetzlich grau und leblos vor. Und plötzlich tauchte in einem Zug ein Mädchen auf, in das ich mich buchstäblich auf den ersten Blick verliebte. Sie war das reizendste und liebenswerteste Geschöpf der Welt. Wir sprachen miteinander, und immer mehr festigte sich mein Entschluss, sie nicht mehr aus den Augen zu verlieren. Zufällig sah ich die Adresse auf ihrem Koffer. Ihr Name war mir fremd, aber ihr Reiseziel nicht. Ich hatte viel von Gorston Hall gehört und wusste alles von seinem Besitzer. Der alte Simeon Lee war Eb Farrs ehemaliger Geschäftspartner, und Eb hatte mir oft erzählt, eine wie faszinierende Persönlichkeit er gewesen sei.

Nun, und da hatte ich die Idee, nach Gorston Hall zu fahren und dort vorzugeben, Ebenezer Farrs Sohn zu sein. Dieser ist, wie das Telegramm richtig feststellt, vor zwei Jahren gestorben; aber ich erinnerte mich, dass Eb mir erzählt hatte, er habe seit vielen Jahren nichts mehr von Simeon Lee gehört, und daraus schloss ich, dass vermutlich auch der alte Simeon Lee nichts vom Tod von Ebs Sohn wissen werde. Jedenfalls wollte ich es versuchen.»

«Doch Sie wagten den Versuch nicht sofort», fiel Sugden hier ein. «Zuerst wohnten Sie zwei Tage lang im Gasthaus in Addlesfield.»

«Ja, weil ich mir die Sache noch überlegen wollte. Aber schließlich war ich dazu entschlossen. Es kam mir vor wie ein Abenteuer. Nun, und dann glückte die Sache ja großartig! Der alte Herr hieß mich herzlich willkommen und lud mich in sein Haus ein. Ich nahm seine Einladung an. Das, Herr Inspektor, ist meine Erklärung. Wenn sie Ihnen missfällt, dann denken Sie bitte eine Sekunde an die Zeit zurück, da Sie selber verliebt waren, und sagen Sie mir ehrlich, ob Sie damals nicht auch manchen Unsinn machten. Ich heiße, wie ich Ihnen schon sagte, Stephen Grant. Sie können nach Südafrika telegrafieren und meine Angaben überprüfen lassen. Jedenfalls versichere ich Ihnen, dass ich weder ein Mörder noch ein Juwelendieb bin, sondern ein achtbarer Bürger.»

«Daran habe ich nie gezweifelt», sagte Poirot leise.

Inspektor Sugden strich sich nachdenklich übers Kinn. «Ich werde Ihre Aussage selbstverständlich überprüfen müssen», sagte er vorsichtig. «Was ich noch wissen möchte, ist dies: Warum haben Sie, nachdem der Mord geschehen war, nicht sofort geredet, sondern uns noch weiterhin einen Haufen Lügen erzählt?»

Stephens Antwort war entwaffnend.

«Weil ich ein Idiot war! Weil ich wirklich glaubte, ich könnte diese Fiktion aufrechterhalten! Und dann fürchtete ich, dass gerade in jenem Augenblick mein Eingeständnis, unter falschem Namen hier zu sein, sich äußerst verdächtig ausgenommen hätte. Wenn ich nicht vollkommen verblödet gewesen wäre, hätte ich mir ja sagen müssen, dass Sie wahrscheinlich in Johannesburg meine Personalien prüfen lassen würden.»

«Also, Mr Farr – Mr Grant! –, ich sage nicht, dass ich Ihre Erzählung nicht glaube», sagte Sugden. «Sie wird bald genug bestätigt oder widerlegt werden.»

Er sah Poirot fragend an. Und Poirot sah Pilar an.

«Ich vermute, dass auch Mademoiselle Estravados uns etwas zu sagen hat.»

Pilar war sehr blass geworden. Atemlos stieß sie hervor:

«Ja. Ich hätte nie davon gesprochen, wenn nicht Lydias und des Geldes wegen. Herzukommen und Theater zu spielen, zu lügen und zu schwindeln – das war lustig! Aber als dann Lydia sagte, das Geld gehöre mir von Rechts wegen, da war das etwas ganz anderes. Das war kein Spaß mehr.»

Alfred Lee fragte erstaunt: «Was war kein Spaß mehr, Pilar? Ich verstehe nicht, wovon du sprichst.»

«Du glaubst, ich sei deine Nichte, Pilar Estravados. Aber das ist nicht wahr! Pilar ist getötet worden, als wir zusammen in einem Auto durch Spanien fuhren. Eine Bombe fiel auf unseren Wagen – sie war sofort tot, ich wurde nicht getroffen. Ich kannte sie kaum, aber sie hatte mir viel erzählt von ihrem Großvater, der sie zu sich nach England eingeladen hatte und sehr, sehr reich sei. Und ich selber hatte gar kein Geld und wusste nicht, was ich tun oder wohin ich gehen sollte. Und da dachte ich plötzlich: Warum nicht Pilars Pass nehmen und nach England fahren und dort reich werden.» Ein Lächeln huschte plötzlich über ihre Züge. «Oh, es war ein Spaß, mir auszudenken, ob mir die Sache glücken würde! Auf den Passfotos sahen wir einander ziemlich ähnlich. Aber als man hier plötzlich meinen Pass haben wollte, warf ich ihn zum Fenster hinaus und rieb dann ein wenig Erde auf das Foto. Bei den Grenzübergängen sehen sie ja nicht so genau auf die Bilder, aber hier hätte man den Unterschied doch bemerken können…»

Alfred Lee war zornig. «Dann heißt das also, dass du – dass Sie sich meinem Vater als Enkelin vorstellten und auf seine Liebe spekulierten?»

Pilar nickte. Sie antwortete unbefangen: «Ja, weil ich sofort merkte, dass er mich gern hatte.»

«Unglaublich, unerhört!», brach nun George Lee aus. «Verbrecherisch! Sich unter falschen Angaben Geld erschwindeln zu wollen!»

«Von dir hat sie ja keines bekommen, Alter», warf Harry hier ein. «Pilar, ich stehe treu und fest zu dir! Ich bewundere deinen Mut. Und Gott sei Dank bin ich ja jetzt nicht mehr dein Onkel! Das gibt mir viel mehr Freiheit!»

Pilar wandte sich Poirot zu. «Sie wussten es! Seit wann?»

«Mademoiselle, wenn Sie die mendelschen Gesetze studiert hätten, dann wüssten Sie, dass zwei blauäugige Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit kein braunäugiges Kind haben. Ihre Mutter, überlegte ich, war bestimmt eine sehr züchtige und ehrbare Frau: Daraus folgerte ich, dass Sie also nicht Pilar Estravados sein können. Und als Sie dann noch das Manöver mit dem Pass vollführten, war ich meiner Sache ziemlich sicher. Es war alles recht klug ausgedacht, aber eben doch nicht klug genug, sehen Sie.»

Sugden lachte unangenehm. «Das ganze Theater war nicht sehr klug.»

Pilar starrte ihn an. «Ich verstehe nicht…»

«Sie haben uns jetzt eine Geschichte erzählt, aber es gibt noch allerhand, was Sie uns werden sagen müssen.»

«Lassen Sie sie in Ruhe!», brauste Stephen auf.

Doch Sugden ließ sich nicht einschüchtern.

«Sie haben uns gesagt, dass Sie nach dem Nachtessen zu Ihrem Großvater hinaufgingen – um ihm eine Freude zu machen, wie Sie sich ausdrückten –, aber ich glaube etwas ganz anderes. Sie haben die Diamanten gestohlen. Sie hatten sie in der Hand gehabt. Vielleicht haben Sie sie einmal in den Safe zurückgelegt, ohne dass der alte Herr Ihnen dabei zusah. Als er das Verschwinden der Steine bemerkte, wusste er, dass nur zwei Menschen sie fortgenommen haben konnten: Horbury, der sich das Kennwort irgendwie verschafft haben mochte und die Steine einmal nachts gestohlen haben konnte – oder Sie!

Nun hatte aber Mr Lee sofort reagiert. Er rief mich an und bat mich, zu ihm zu kommen. Dann ließ er Ihnen ausrichten, Sie möchten nach dem Abendessen unverzüglich zu ihm hinaufkommen. Und als Sie bei ihm erschienen, klagte er Sie des Diebstahls an. Sie stritten es ab. Er trieb Sie in die Enge. Was dann geschah, weiß ich nicht. Vielleicht war er auch bereits dahinter gekommen, dass Sie nicht seine Enkeltochter waren, sondern eine Berufsdiebin. Jedenfalls sahen Sie sich mit einem Schlag entlarvt, und um der drohenden Bloßstellung zu entgehen, stachen Sie mit einem Messer nach ihm. Es entstand ein Kampf, und der alte Herr schrie. Nun rannten Sie aus dem Zimmer, drehten den Schlüssel von außen im Schloss um, und dann, wohl wissend, dass Sie nirgends mehr hinlaufen konnten, ehe die anderen Hausbewohner kamen, schlüpften Sie in die Nische mit den Statuen!»

«Das ist nicht wahr!», schrie Pilar gellend auf. «Es ist nicht wahr! Ich habe die Diamanten nicht gestohlen! Das schwöre ich bei der heiligen Mutter Gottes!»

«Wer hat sie dann gestohlen?», fragte Sugden scharf. «Sie behaupten, jemanden vor Mr Lees Zimmertür gesehen zu haben. Ihren Schilderungen zufolge müsste also jene Person der Mörder gewesen sein. Aber nichts und niemand erhärtet Ihre Behauptung, dass jemand dort gestanden hatte. Mit anderen Worten: Ich glaube, dass Sie diese Person nur erfunden haben, um sich selber zu entlasten!»

«Natürlich ist sie die Täterin!», rief George Lee. «Das ist doch ganz klar! Ich habe ja immer gesagt, dass ein Außenstehender meinen Vater getötet haben muss! Unfasslicher Blödsinn, anzunehmen, dass jemand aus dem Familienkreis diese Tat hätte begehen können. Das war ja – das wäre unnatürlich.»

Poirot setzte sich plötzlich in seinem Stuhl auf.

«Da kann ich Ihnen nicht beistimmen. Angesichts des Charakters von Simeon Lee wäre das sogar sehr natürlich gewesen.» George Lee blieb der Mund offen, und er glotzte Poirot an. «Und meiner Ansicht nach», fuhr er unbeirrt fort, «ist das auch tatsächlich geschehen. Simeon Lee wurde durch jemanden von seinem eigenen Fleisch und Blut umgebracht um einer Sache willen, die dem Mörder Grund genug für einen Mord schien.»

«Einer von uns?», kreischte George auf. «Niemals! Ich –»

Poirot schnitt ihm das Wort ab. «Hier stehen alle unter Verdacht! Beginnen wir doch gleich mit Ihnen, Mr George Lee. Sie liebten Ihren Vater nicht. Wenn Sie sich trotzdem mit ihm gut stellten, geschah dies des Geldes wegen. An dem Tag, da er ermordet wurde, hatte er Ihnen gedroht, Ihren Zuschuss zu kürzen. Sie wussten, dass Sie nach seinem Tod eine nicht unerhebliche Summe erben würden. Damit wäre Ihr Motiv gegeben. Nach dem Abendessen telefonierten Sie. Das stimmt. Aber Ihr Anruf dauerte nur fünf Minuten. Sie konnten also mit Leichtigkeit nachher zu Ihrem Vater hinaufgegangen sein, mit ihm geplaudert, ihn angegriffen und getötet haben. Dann verließen Sie sein Zimmer, sperrten die Tür von außen ab und wiegten sich in der Hoffnung, dass man diesen Mord einem Einbrecher zur Last legen werde. Aber in Ihrer begreiflichen Erregung vergaßen Sie, das Fenster weit genug offen zu lassen, um diese Einbrechertheorie auch wirklich abzusichern. Das war sehr dumm, aber Sie sind, wenn Sie meine Offenheit verzeihen wollen, ein ziemlich dummer Mensch.» Nach einer langen Pause, während welcher George Lee nach Luft schnappte und etwas zu sagen versuchte, was ihm aber nicht gelang, fügte Poirot noch hinzu:

«Immerhin waren viele Verbrecher sehr dumm.»

Nun richtete er das Wort an Magdalene.

«Auch Madame hatte ein Motiv. Sie ist verschuldet, und der Ton verschiedener Bemerkungen, die ihr Schwiegervater über sie machte, mochte ihr äußerst unangenehm in den Ohren geklungen haben. Auch sie hat kein Alibi. Sie ging zum Telefon, telefonierte aber nicht, und ihre Aussage wird von niemandem bestätigt…

Dann wäre da Mr David Lee. Wir haben nicht einmal, sondern x-mal gehört, wie viel Rachsucht im Blut der Lees kreist. Mr David Lee vergaß und verzieh nie, wie schlecht sein Vater seine Mutter behandelt hatte. Eine letzte Verunglimpfung der Verstorbenen kann das Maß zum Überlaufen gebracht haben. David Lee soll Klavier gespielt haben, als der Mord passierte. Zufälligerweise spielte er einen Trauermarsch. Aber es wäre doch möglich, dass jemand anderer diesen Trauermarsch spielte, jemand, der wusste, was David zu tun im Begriff war, und der diesen Schritt begrüßte.»

«Das ist eine infame Vermutung», sagte Hilda Lee ruhig.

Poirot wandte sich ihr zu.

«Dann biete ich Ihnen eine andere, Madame. Es war Ihre Hand, die den Todesstoß führte. Sie schlichen die Treppe hinauf, um einen Menschen zu richten, der Ihrer Ansicht nach jenseits aller menschlichen Verzeihung stand. Sie gehören zu den Menschen, die sehr jähzornig werden können, Madame.»

Darauf antwortete Hilda nur: «Ich habe ihn nicht getötet.»

«Mr Poirot hat Recht», sagte Sugden plötzlich. «Alle hier Anwesenden könnten als Täter in Frage kommen – ausgenommen Mr und Mrs Alfred Lee und Mr Harry Lee.»

«Ich würde nicht einmal diese drei ausnehmen», sagte Poirot.

Lydia lächelte ironisch. «Ach? Und wie würden Sie den Verdacht gegen mich begründen, Mr Poirot?»

«Ihren Beweggrund können wir beiseite lassen, Madame. Er ist offensichtlich. Ansonsten aber; Sie trugen an jenem Abend ein geblümtes Taftkleid von auffallend großem Muster und eine Jacke aus dem gleichen Stoff. Ich muss hier einflechten, dass Tressilian ziemlich kurzsichtig ist. Aus einer gewissen Entfernung sieht er die Dinge nur noch verschwommen. Ferner möchte ich festhalten, dass das Wohnzimmer sehr groß und eigentlich ziemlich spärlich erhellt ist. Nun kam also am Mordabend Tressilian ins Wohnzimmer – ungefähr zwei Minuten ehe der Schrei ertönte – und trug die Kaffeetassen hinaus. Er glaubte, Sie am Fenster stehen zu sehen, wie er Sie schon oft dort stehen sah – halb verdeckt durch die schweren Vorhänge.»

«Er hat mich gesehen», bemerkte Lydia ruhig.

«Nun, ich möchte sagen, dass es möglich ist, dass Tressilian nicht Sie, sondern die Jacke Ihres Kleides sah, die Sie so beim Fenster hingehängt hatten, dass es aussehen sollte, als ob Sie selber dort stünden.»

«Wie dürfen Sie es wagen, so was zu sagen», fuhr Alfred auf.

«Lass ihn», unterbrach ihn Harry. «Jetzt kommen wir dran. Wie wollen Sie nun erklären, dass Alfred seinen geliebten Vater umgebracht haben kann? Wir saßen nämlich beide zusammen im Speisezimmer, als der Schrei ertönte.»

«Das ist denkbar einfach! Ein Alibi erscheint immer glaubwürdiger, wenn es fast widerwillig bestätigt wird. Sie und Ihr Bruder verstehen sich nicht gut. Das ist allgemein bekannt. Sie machen ihn in aller Öffentlichkeit lächerlich, und er hat kein gutes Wort für Sie. Aber nehmen Sie einmal an, dass wir Zeugen eines raffinierten Komplotts gewesen sind. Dass Alfred Lee es satt bekommen hat, immer noch nach dem Taktstock eines anderen zu tanzen. Nehmen wir an, dass Sie sich vor einiger Zeit mit Ihrem Bruder getroffen haben und dass bei dieser Zusammenkunft ein Plan festgelegt wurde. Sie kommen nach Hause zurück. Alfred scheint darüber sehr erbost. Er ist eifersüchtig auf Sie und kann Sie offensichtlich nicht ausstehen. Sie wiederum verachten ihn. Und dann bricht endlich der Mordabend an, den Sie so genau geplant hatten. Einer von Ihnen bleibt im Speisezimmer und redet laut, um den Anschein zu erwecken, dass zwei Personen miteinander stritten. Der andere aber schleicht die Treppe hoch und begeht den Mord…»

Alfred sprang auf. «Sie Teufel!», keuchte er.

Sugden sah Poirot an. «Glauben Sie wirklich, dass…»

Poirot erhob seine Stimme und sagte: «Ich musste Ihnen die Möglichkeiten zeigen! So hätten sich die Dinge abspielen können. Wie sie sich in Wirklichkeit abgespielt haben, das können wir nur herausfinden, indem wir vom äußeren Schein zur inneren Realität gelangen…»

Er sah eine Weile nachdenklich vor sich hin.

«Wir müssen, wie ich schon einmal sagte, auf den Charakter von Simeon Lee zurückkommen…»

Es entstand eine Stille. Alle Empörung, der erregte Widerspruch und der glimmende Hass schienen sich wundersamerweise gelegt zu haben. Aller Augen waren gespannt auf Poirot gerichtet, als er zu sprechen begann.

«Darin liegt der Schlüssel zu diesem ganzen Geheimnis. Wir müssen uns tief in Simeon Lees Fühlen und Denken vergraben und sehen, was wir dort finden. Denn ein Mensch lebt und stirbt nicht unabhängig von seiner Umgebung. Was in ihm liegt, gibt er denen weiter, die nach ihm kommen…

Was hatte nun Simeon Lee seinen Söhnen und Töchtern zu vererben? Stolz, zum Beispiel – jenen Stolz, in welchem er selber sich getroffen fühlte, weil seine Kinder ihn enttäuschten. Ferner Geduld – ein waches Wartenkönnen. Wir haben erfahren, dass Simeon Lee oft jahrelang geduldig wartete, ehe er sich für ein Unrecht rächte. Diesen Charakterzug hat derjenige seiner Söhne in hohem Maße geerbt, der ihm äußerlich am wenigsten zu gleichen scheint. David Lee konnte jahrelang nicht vergessen und Hass in seinem Herzen nähren. Rein äußerlich gleicht Harry Lee seinem Vater am meisten. Das fällt einem besonders dann auf, wenn man ein Bild von Simeon Lee aus seinen jungen Jahren betrachtet: die gleiche schmale Nase, das gleiche scharfe Profil und die gleiche Art, den Kopf hoch zu tragen. Und noch andere äußere Eigentümlichkeiten mag Harry von seinem Vater geerbt haben. So zum Beispiel die Art, wie er sich manchmal mit dem Zeigefinger übers Kinn fährt und wie er beim Lachen den Kopf zurückwirft.

Nachdem ich all diese Dinge beobachtet hatte und von der Überzeugung ausgehend, dass dieser Mord von jemandem begangen wurde, der mit dem alten Herrn in enger Verbindung stand, begann ich die einzelnen Familienmitglieder vom psychologischen Standpunkt aus zu studieren. Das heißt, ich versuchte herauszufinden, wer von ihnen nach psychologischen Gesichtspunkten ein Verbrecher sein könnte. Und wie ich die Dinge beurteilte, traf das nur auf zwei Personen zu, nämlich auf Alfred Lee und Hilda Lee. David schloss ich als möglichen Täter aus. Ich glaube nicht, dass ein Mensch von seiner überempfindsamen Veranlagung diesen grausigen, blutigen Mord hätte verüben können. Auch George Lee und seine Frau schloss ich von vornherein aus. Was immer sie sich wünschen mögen – sie hätten nicht den Mut, ein Risiko auf sich zu nehmen, dazu sind sie beide zu vorsichtig. Mrs Lydia Lee ist meiner Ansicht nach unfähig, gewalttätig zu werden. Davor bewahrt sie ihre ironische Art. Bezüglich Harry Lee war ich erst unsicher. Seine äußere Erscheinung lässt wohl auf eine ungebändigte, wilde Kraft schließen, und trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass dieses Kraftmeiertum eigentlich Fassade sei und Harry Lee im Grunde genommen ein Schwächling. Das war übrigens, wie ich hörte, auch die Ansicht seines Vaters, der von ihm sagte, Harry sei auch nicht mehr wert als seine übrigen Kinder.

Somit blieben mir also nur die beiden erwähnten Namen. Alfred Lee ist ein Mensch, der großer Hingabe und Selbstlosigkeit fähig ist. Er hatte sich viele Jahre lang immer dem Willen eines anderen beugen müssen. Solche fortgesetzte Unterdrückung kann sehr leicht zu einem Ausbruch führen. Außerdem mochte Alfred im Laufe dieser vielen Jahre manchen geheimen Groll gegen seinen Vater in sich verschlossen haben, obwohl er nie etwas davon sagte. Gerade die ruhigsten und sanftesten Menschen sind oft einer plötzlichen und unerwarteten Heftigkeit fähig, aus dem einfachen Grund, weil, wenn einmal etwas in ihnen einschnappt, es ganz und unwiderruflich einschnappt! Die andere Person, die in meinen Augen möglicherweise die Tat begangen haben konnte, war Hilda Lee. Sie ist der Typ, der gewohnt ist, ruhig abzuwägen, aber unter Umständen auch zu richten und zu strafen – wenn auch ganz gewiss nie aus selbstsüchtigen Beweggründen. Im Alten Testament finden wir zum Beispiel Jael und Judith.

Nach all diesen Überlegungen ging ich daran, die genauen Umstände des Verbrechens zu überprüfen, die äußerst ungewöhnlichen Umstände, unter welchen dieser Mord begangen wurde. Bitte, versetzen Sie sich wieder zurück in das Zimmer, in dem Simeon Lee tot auf dem Boden lag. Wenn Sie sich erinnern, dann lagen ein schwerer Tisch und ein ebenso schwerer Stuhl umgestürzt da, eine Lampe, Fayencen, Gläser usw. waren zersplittert. Aber Tisch und Stuhl waren besonders merkwürdig. Es waren massive Mahagonimöbel. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie ein Streit zwischen dem gebrechlichen alten Herrn und seinem Gegner dazu geführt haben sollte, solche schwere Möbel über den Haufen zu werfen. Die ganze Sache kam mir unwirklich vor. Andererseits hätte niemand, der klar bei Sinnen war, dieses Durcheinander absichtlich arrangiert – es wäre denn, dass Simeon Lee von einem starken Mann getötet worden war und diese Zerstörungen vortäuschen sollten, dass der Angreifer körperlich schwach oder eine Frau gewesen sei.

Aber diese Vorstellung vermochte mich nicht zu überzeugen. Denn der Lärm der umstürzenden Möbel musste im Haus gehört werden, wie ein Alarm wirken und dem Täter kaum mehr Zeit lassen, das Zimmer ungesehen zu verlassen. Es konnte doch nur im Interesse des Mörders liegen, Simeon Lee die Kehle so lautlos wie nur möglich durchzuschneiden.

Ein weiterer unklarer Punkt war, dass der Schlüssel im Schloss umgedreht worden war. Auch das kam mir vollkommen überflüssig vor. Einen Selbstmord konnte man damit nicht gut vortäuschen wollen, denn nichts an diesem Tod ließ an einen Selbstmord glauben. Auch eine Flucht durch das Fenster konnte nicht glaubhaft gemacht werden, weil die Fenster alle geschlossen oder fixiert waren, so dass eine Flucht ganz unmöglich war. Und auch hierfür hätte der Mörder Zeit gebraucht! Und noch etwas war unbegreiflich: ein kleines Stück Gummi und ein kleiner Holznagel, die Inspektor Sugden mir zeigte. Der Gummi stammt von einer Toilettentasche Simeon Lees. Diese beiden Gegenstände wurden von einer Person vom Boden des Mordzimmers aufgehoben, die als eine der ersten den Raum betrat. Auch hier gilt wieder, was ich schon sagte: sinnlos! Nichts hatte irgendeine klare Bedeutung. Und trotzdem waren diese Dinge am Tatort gefunden worden. Dieses Verbrechen wurde immer undurchdringlicher. Es lag keine Methode darin, keine Ordnung – enfin, es war vollkommen unbegreiflich.

Und schon tauchte eine neue Schwierigkeit auf: Der alte Herr hatte Inspektor Sugden zu sich kommen lassen, um ihm einen Diebstahl zu melden. Dann hatte er ihn gebeten, in eineinhalb Stunden zurückzukommen. Warum? Warum? Wenn Simeon Lee jemanden seiner Familie verdächtigte, warum bat er dann Inspektor Sugden nicht, in der Halle unten zu warten, während er selber den Verdächtigen seine Vorhaltungen, machte? Die Anwesenheit eines Polizeibeamten im Haus hätte doch den Schuldigen bestimmt eingeschüchtert. Und das war der Augenblick, wo mir nicht nur das Verhalten des Mörders, sondern auch dasjenige des Opfers unverständlich wurde!

Und da sagte ich mir, dass wir die Dinge von einem ganz falschen Standpunkt aus betrachteten, und zwar genau von dem Standpunkt aus, den der Mörder uns suggerieren will!

Drei Sachen ergeben keinen Sinn: der Kampf, der im Schloss umgedrehte Schlüssel und das Stückchen Gummi. Und ich machte mich daran, alles andere zu vergessen und nur diese drei Fragen, unabhängig von allem anderen, eingehend zu studieren. Ein Kampf. Was bedeutet das? Gewaltanwendung, Lärm, Krachen und Splittern. Der Schlüssel? Warum dreht man einen Schlüssel um? Damit niemand einen Raum betreten kann. Aber schließlich konnte die Tür ja aufgebrochen werden. Um jemanden einzusperren? Um jemanden auszusperren? Ein Stückchen Gummi aus einer Toilettentasche? Nein, das ist eben ein Stückchen Gummi, weiter nichts.

Also hat er nichts finden können! werden Sie jetzt denken. Aber das stimmt nur bedingt, denn zurück blieben drei Empfindungen: Lärm – abgeschlossene Tür – Nichts…

Wie passen nun diese Empfindungen zu meinen möglichen Mördern? Überhaupt nicht! Denn beiden, Alfred und Hilda Lee, müsste an einem geräuschlosen Mord unendlich viel gelegen haben, und Zeit, um einen Schlüssel mühsam von außen im Schloss zu drehen, hätten sie bestimmt beide nicht verschwendet. Das kleine Stück Gummi bedeutete hier, wie bei allen früheren Überlegungen, nichts, überhaupt nichts!

Und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass bei diesem Mord nichts zufällig oder dumm sein könne, dass im Gegenteil alles sehr genau geplant und mit großem Erfolg durchgeführt worden war. Also musste jede Einzelheit bedeutungsvoll sein.

Und plötzlich begann etwas in mir zu dämmern…

Blut! – So viel Blut – frisches, feuchtes, glänzendes Blut. Zu viel Blut!

Ein zweiter Gedanke kam auf: Blutgericht – ein Gericht des Blutes. Simeon Lees eigenes Blut stand gegen ihn auf…»

Hercule Poirot beugte sich vor.

«Die beiden wertvollsten Anhaltspunkte in diesem Fall kamen von zwei verschiedenen Personen, die sie ganz unbewusst äußerten. Den ersten gab mir Mrs Alfred Lee, als sie einen Vers aus Macbeth zitierte: ›Wer konnte denken, dass der alte Mann noch so viel Blut in sich gehabt?‹ Und dann sagte Tressilian etwas Bedeutungsvolles. Er schilderte mir, wie benommen ihm immer zumute sei und dass alles sich zweimal abzuspielen scheine. Dieses Gefühl hatte er bekommen, als er am Tag vor dem Mord Harry Lee die Haustür öffnete und kurz danach Stephen Farr. Sehen Sie Harry Lee an, sehen Sie Stephen Farr an, und Sie werden erkennen, dass sich die beiden erstaunlich ähnlich sehen! Deshalb kam es Tressilian vor, als erlebte er die gleiche Situation zum zweiten Mal. Es hätte ja auch wirklich fast der gleiche Mann draußen stehen können. Tressilian klagte, dass er beginne, die Leute zu verwechseln. Kein Wunder! Stephen Farr hat eine schmale Nase, er pflegt den Kopf zurückzuwerfen, wenn er lacht, und er streicht sich oft mit dem Zeigefinger übers Kinn. Sehen Sie sich das Jugendporträt von Simeon Lee genau an, und Sie werden nicht nur Harry Lee, sondern auch Stephen Farr wieder finden…»

Stephen Farr bewegte sich. Sein Stuhl knarrte.

«Erinnern Sie sich an den Ausbruch von Simeon Lee», fuhr Poirot fort, «als er seine Familie beschimpfte? Damals sagte er, dass er schwören könnte, bessere Söhne zu haben, auch wenn sie vielleicht nicht im rechten Ehebett geboren worden seien. Und damit kommen wir wieder zu Simeon Lees Charakter zurück! Simeon Lee, der Frauenheld, der seiner Frau das Herz brach! Simeon Lee, der sich seiner Enkelin gegenüber damit brüstete, eine Leibgarde von fast gleichaltrigen Söhnen aufstellen zu können. Daraus schloss ich Folgendes: Simeon Lee hatte nicht nur seine Familie um sich versammelt, sondern es befand sich unerkannt und nicht anerkannt noch ein Sohn von seinem Blut hier.»

Stephen stand auf. Poirot wandte sich ihm zu.

«Deshalb sind Sie hierher gekommen, nicht wahr? Nicht um des hübschen Mädchens willen, das Sie im Zug kennen lernten. Sie waren auf der Reise hierher, bevor Sie sie trafen. Sie wollten wissen, was Ihr Vater für ein Mensch sei.»

Stephen Farr sprach mit gebrochener, heiserer Stimme.

«Ja… Mutter sprach manchmal von ihm. Ich war besessen von dem Wunsch, ihn einmal zu sehen. Als ich mir etwas Geld verdient hatte, fuhr ich nach England. Er sollte nicht wissen, wer ich bin, deshalb gab ich vor, Ebs Sohn zu sein. Ich bin nur hierher gekommen, um den Mann kennen zu lernen, der mein Vater war…»

Inspektor Sugden sagte fast flüsternd: «Herrgott, ich muss blind gewesen sein! Jetzt sehe ich es ganz deutlich! Zweimal habe ich Sie mit Mr Harry Lee verwechselt und nichts gemerkt.»

Er drehte sich nach Pilar um.

«Also das war es! Sie haben Stephen Farr an der Tür zum Mordzimmer stehen sehen, nicht wahr? Sie haben merklich gezögert und Farr dabei angesehen, ehe Sie aussagten, es sei eine Frau gewesen. Sie haben Farr gesehen und wollten ihn nicht verraten!»

Hier fiel Hilda Lees dunkle Stimme ein.

«Nein, Sie irren sich. Mich hat Pilar dort gesehen.»

«Sie, Madame?», fragte Poirot. «Eigentlich dachte ich es mir…»

«Selbsterhaltungstrieb ist etwas Merkwürdiges», fuhr sie ruhig fort. «Ich hätte nie gedacht, dass ich so feig sein könnte, aber ich schwieg, weil ich Angst hatte. Ich war mit David im Musikzimmer. Er spielte, aber er war in keiner guten Stimmung. Ich fühlte mich dafür verantwortlich, weil ich es war, die ihn zum Herkommen überredet hatte. David spielte die ersten Akkorde des Trauermarsches, und da fasste ich plötzlich einen Entschluss. So seltsam es Ihnen auch vorkommen mag – ich beschloss, dass wir abreisen würden, sofort, noch in jener Nacht. Ich schlich mich aus dem Zimmer und die Treppe hinauf, um dem alten Herrn ganz genau auseinander zu setzen, warum wir gehen wollten. Ich ging durch den Korridor und klopfte an seine Tür. Keine Antwort. Ich klopfte noch einmal, ein wenig lauter. Wieder keine Antwort. Dann drückte ich die Klinke nieder, doch die Tür war abgeschlossen. Und während ich dort stand, hörte ich einen Laut im Inneren –»

Sie unterbrach sich.

«Sie werden mir nicht glauben, aber es ist die Wahrheit! Jemand war in dem Zimmer! Jemand griff Mr Lee an! Ich hörte Tische und Stühle umfallen, Glas und Porzellan zersplittern, und dann hörte ich jenen letzten, grauenvollen Schrei, der langsam erstarb. Und dann nichts mehr – Stille. Ich stand dort wie gelähmt. Ich hätte mich nicht rühren können. Dann kam Mr Farr gelaufen, dann Magdalene und all die anderen, und Mr Farr und Harry brachen die Tür auf. Wir traten ein, und es war niemand drin – außer Mr Lee, der in einer Blutlache lag.»

Plötzlich schrie sie: «Es war niemand in dem Zimmer, niemand, verstehen Sie! Und es war niemand herausgekommen!»

Inspektor Sugden holte tief Atem. Dann sagte er:

«Entweder werde ich verrückt, oder alle anderen sind es. Was Sie da eben erzählt haben, Mrs Lee, ist ganz einfach unmöglich! Wahnsinn!»

«Aber ich sage es Ihnen doch, dass ich den Kampf hörte!», rief Hilda Lee. «Und dass ich den alten Mann schreien hörte, als ihm die Kehle durchgeschnitten wurde! Und niemand kam aus dem Zimmer, und niemand war drinnen!»

«Und über all das haben Sie geschwiegen», sagte Poirot.

«Ja.» Hilda war sehr blass, aber sie schien sich gefasst zu haben. «Denn wenn ich Ihnen diese Situation geschildert hätte, dann wären Sie bestimmt zum Schluss gelangt, ich hätte den alten Mann ermordet…»

Poirot schüttelte abwehrend den Kopf.

«Nein, Sie haben ihn nicht umgebracht. Sein Sohn hat ihn getötet.»

Stephen Farr fuhr auf. «Ich schwöre vor Gott, dass ich ihn nicht angerührt habe!»

«Nicht Sie», sagte Poirot. «Er hatte andere Söhne.»

«Was zum Teufel –», stieß Harry hervor.

George starrte vor sich hin. David bedeckte die Augen mit der Hand, und Alfred zwinkerte nervös. Poirot fuhr fort:

«Am ersten Abend, den ich in diesem Haus verbrachte, also am Abend des Mordes, sah ich einen Geist. Den Geist des toten Mannes. Als ich Harry Lee zum ersten Mal begegnete, war ich sehr erstaunt. Mir war, als hätte ich ihn schon irgendwo gesehen. Dann realisierte ich, wie ähnlich er seinem Vater sah. Diese Ähnlichkeit, sagte ich mir, hatte mich wohl dazu verführt, in seinen Gesichtszügen etwas Vertrautes wieder zu finden.

Aber gestern warf ein Mann, der mir gegenübersaß, lachend seinen Kopf zurück – und da wusste ich plötzlich, an wen Harry Lee mich erinnert hatte. Und wieder fand ich in einem Gesicht die Züge des toten Mannes.

Kein Wunder, dass der arme alte Tressilian seinen Augen nicht mehr traute, nachdem er drei Männern, die sich ungemein ähnlich sahen, nacheinander die Tür geöffnet hatte. Kein Wunder, dass er klagte, die Personen zu verwechseln, wenn drei Männer in diesem Hause herumgingen, die auf geringe Entfernung kaum zu unterscheiden waren. Die gleiche Figur, die gleichen Bewegungen – vor allem diejenige, sich mit dem Zeigefinger übers Kinn zu fahren –, die gleiche Gewohnheit, beim Lachen den Kopf zurückzuwerfen, und die gleiche lange, schmale Nase! Doch trat diese große Ähnlichkeit nicht immer deutlich hervor, denn der dritte Mann hatte einen Schnurrbart!»

Hercule Poirot richtete sich auf.

«Man vergisst manchmal, dass Polizisten auch Menschen sind, dass sie Frauen, Mütter, Kinder haben –» Nach einer kleinen Pause fügte er bei: «Und Väter!

Bedenken Sie Simeon Lees Ruf: ein Mann, der seiner Frau das Herz brach mit seinen Weiberaffären. Ein außerehelich geborener Sohn könnte manches von ihm geerbt haben. Seine Züge, zum Beispiel, und sogar seine Bewegungen. Er kann aber auch seinen Stolz und seine Rachsucht geerbt haben.»

Nun erhob Poirot seine Stimme.

«Ihr ganzes Leben lang, Sugden, haben Sie unter dem Unrecht gelitten, das Ihnen Ihr Vater angetan hatte. Sie waren seit langem entschlossen, ihn umzubringen. Sie kommen aus der nächsten Grafschaft. Zweifellos konnte Ihre Mutter dank des Geldes, das Simeon Lee ihr großzügig zur Verfügung stellte, einen Mann finden, der sie heiratete und ihrem Kind seinen Namen gab. So war es leicht für Sie, dem Polizeikorps von Middleshire beizutreten und auf Ihre große Gelegenheit zu warten. Ein Polizeiinspektor hat Chancen zu töten, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.»

Sugden war kreidebleich geworden.

«Sie sind ja wahnsinnig!» Seine Stimme war ein heiseres Flüstern. «Ich war außer Haus, als er getötet wurde!»

«Nein, Sie ermordeten ihn, bevor Sie das Haus verließen, nachdem Sie zum ersten Mal gekommen waren. Niemand hat Simeon Lee nachher mehr lebend gesehen. Es war alles so einfach für Sie. Wohl hatte der Verstorbene Ihren Besuch erwartet, aber nicht, weil er Sie hatte kommen lassen! Sie riefen ihn an und machten unklare Bemerkungen über einen möglichen Raub. Sie schlugen ihm vor, um acht Uhr unter dem Vorwand, für das Waisenhaus zu sammeln, bei ihm vorzusprechen. Simeon Lee war ahnungslos. Er wusste nicht, dass Sie sein Sohn waren. Sie kamen, erzählten ihm von Diamanten, die eventuell die seinigen sein könnten und die Sie irgendwo aufgestöbert hätten. Er öffnete den Safe, um Ihnen zu beweisen, dass seine Steine wohl verwahrt dort lägen. Sie entschuldigten sich, gingen mit ihm zurück zum Kamin, und dort packten Sie ihn von hinten, schnitten ihm die Kehle durch und hinderten ihn am Schreien, indem Sie ihm die Hand auf den Mund pressten. Ein Kinderspiel für einen Menschen von Ihrer Körperkraft. Dann begann Ihre Inszenierung. Zuerst nahmen Sie die Diamanten an sich. Dann stapelten Sie Tische, Stühle, Lampen, Vasen und Nippsachen aufeinander, und schließlich zogen Sie ein dünnes Seil, das Sie eigens dafür mitgebracht hatten, kreuz und quer durch diese Pyramide. Ferner hatten Sie eine Flasche mit frischem Tierblut mitgebracht, welchem Sie ein Quantum zitronensaures Natrium beigefügt hatten. Dieses Blut verspritzten Sie über das ganze Zimmer, und in die Blutlache, die aus Simeon Lees Wunde geflossen war, schütteten Sie ebenfalls Natrium. Dann schürten Sie das Feuer, damit der Körper warm bleiben sollte. Die Enden des Seils schoben Sie durch den schmalen Spalt beim Fenster und ließen sie an der Hauswand herunterhängen. Sie schlossen die Tür von außen mit dem Schlüssel zu. Das war ein wesentlicher Punkt, damit ja niemand vielleicht zufällig das Zimmer betreten sollte.

Hierauf gingen Sie hinaus und versteckten die Diamanten in dem kleinen Ziergarten. Hätte man sie früher oder später gefunden, dann würde das den Verdacht nur noch mehr auf eines der Familienmitglieder gelenkt haben, und das war Ihre Absicht. Kurz vor neun Uhr fünfzehn schlichen Sie sich unter das Fenster und zogen an dem Seil. Dadurch geriet das sorgfältig errichtete Gebilde ins Wanken und stürzte schließlich krachend und splitternd zusammen. Sie nahmen das Ende des Seils und wickelten es unter der Jacke und dem Mantel um den Körper.

Aber Sie hatten noch an etwas anderes gedacht!»

Hercule Poirot wandte sich den anderen zu.

«Erinnern Sie sich, wie Sie alle den Schrei Mr Lees ganz verschieden schilderten? Mr Alfred Lee kam er vor wie der Schrei eines Menschen in Todesangst. Mrs Lydia und Mr David Lee sagten: ›Eine Seele im Fegefeuer.‹ Mrs Hilda Lee wiederum erklärte: ›Ein Schrei von jemandem, der keine Seele hat - unmenschlich, wie ein Tier.‹ Harry Lee kam der Sache weitaus am nächsten, als er feststellte; es habe geklungen, als würde man ein Schwein abstechen.

Kennen Sie diese hellroten Gummiblasen, die man auf Jahrmärkten verkauft und die man ›Sterbende Schweine‹ nennt? Sobald die Luft aus ihnen entweicht, ertönt ein schauerliches Geheul.

Das, Sugden, war Ihr krönender Einfall! Sie brachten eine solche mit Luft gefüllte Gummiblase in dem Zimmer an. Sie war mit einem kleinen Holzdübel verstopft, und diesen Dübel verbanden Sie mit der Schnur. Sobald Sie an der Schnur zogen, wurde das Hölzchen herausgerissen, und die Blase entleerte sich. Und so ertönte also nach dem Krachen und Splittern der Schrei des ›Sterbenden Schweins‹.»

Er wandte sich wieder seinen übrigen Zuhörern zu.

«Verstehen Sie nun, was Pilar Estravados vom Boden aufhob? Inspektor Sugden hoffte, rechtzeitig am Tatort zu erscheinen, um das Stückchen Gummi aufheben zu können, ehe es jemand bemerkte. Er nahm es dann Pilar kraft seiner Eigenschaft als Polizeibeamter sehr rasch ab. Aber er hat niemandem von dieser Sache erzählt! Das allein war verdächtig. Ich erfuhr von diesem kleinen Vorkommnis durch Magdalene Lee und befragte dann Sugden darüber. Er war auf jede Eventualität vorbereitet. Er hatte ein Stück aus einem Toilettenbeutel des Verstorbenen herausgeschnitten und zeigte mir das, zusammen mit einem Holzstift. Oberflächlich betrachtet entsprachen diese beiden Gegenstände durchaus den authentischen: ein kleines Stück Gummi und ein kleines Hölzchen. Beides schien mir zu jenem Zeitpunkt vollkommen bedeutungslos zu sein. Aber statt mir zu sagen: diese Dinge ergeben keinen Sinn, also können sie nicht im Mordzimmer gefunden worden sein, also lügt Inspektor Sugden mich an – bemühte ich Narr mich, eine Erklärung für sie zu finden! Erst als Mademoiselle Estravados mit einem Ballon spielte, der dann zerplatzte, erst als sie ausrief, einen solchen zerplatzten Ballon habe sie in Simeon Lees Zimmer gefunden – erst da sah ich klar.

Bemerken Sie nun, wie sich alles ineinander fügt? Der unbegreifliche Kampf, der nötig war, um eine falsche Todesstunde festzuhalten; die verschlossene Tür, die Unbefugte hindern sollte, den Leichnam vorzeitig zu entdecken; und der Schrei des Sterbenden. So gesehen, war dieses Verbrechen durchaus logisch und sinnvoll ausgedacht gewesen.

Aber von dem Augenblick an, da Pilar Estravados laut verkündet hatte, der zerplatzte Ballon gleiche dem Gummi im Zimmer des Toten, war sie dem Mörder ein Dorn im Auge. Und wenn er diese Bemerkung gehört hatte, was leicht möglich war, denn die Fenster des Hauses standen offen, dann befand sie sich sogar in großer Gefahr. Sie hatte nämlich dem Mörder schon früher einen argen Streich gespielt. Vom alten Herrn sprechend, hatte sie bemerkt: ›Er muss in jüngeren Jahren sehr gut ausgesehen haben.‹ Und zu Sugden gewandt, hatte sie erklärend noch beigefügt: ›So wie Sie!‹ Sugden wusste genau, dass sie das wörtlich gemeint hatte. Kein Wunder, dass er rot anlief und beinahe zu ersticken drohte. Diese Feststellung traf ihn unerwartet, und sie schien ihm äußerst gefährlich zu sein. Von diesem Augenblick an versuchte er Pilar zu verdächtigen; aber das war gar nicht so leicht, weil sie als Enkeltochter des alten Herrn nichts zu gewinnen hatte durch seinen Tod und ihr damit jeder vernünftige Mordgrund abgesprochen werden musste. Später, als er ihre Bemerkung wegen des Ballons hörte, entschloss er sich zu ernsteren Maßnahmen. Während wir beim Essen saßen, brachte er die Falle in Pilars Zimmer an. Glücklicherweise, fast wie durch ein Wunder, versagte sie.» Sugden fragte ganz ruhig: «Seit wann wussten Sie es?»

«Ich war meiner Sache nicht ganz sicher, bis ich einen falschen Schnurrbart kaufte und ihn auf Simeon Lees Jugendbildnis ausprobierte. Da sah mir Ihr Gesicht aus dem Rahmen entgegen.»

«Mag seine Seele in der Hölle schmachten! Ich bin froh, dass ich ihn getötet habe!»

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