Colonel Johnson und Sugden starrten Poirot ungläubig an. Der ließ kleine Kieselsteine sorgfältig in eine Schachtel rinnen und schob sie dann dem Colonel zu.
«Jawohl, es sind die Diamanten», sagte er abschließend.
«Und Sie fanden sie – wo? Im Garten?»
«In einem der kleinen Gärten, die Mrs Alfred Lee dort anlegt.»
«Mrs Alfred?» Sugden schüttelte den Kopf. «Kommt mir unwahrscheinlich vor.»
«Sie zweifeln daran, dass Mrs Alfred ihrem Schwiegervater die Kehle durchgeschnitten haben soll, nicht wahr?»
«Dass sie das nicht tat, wissen wir bereits», sagte Sugden schnell. «Ich meine, es ist nicht wahrscheinlich, dass sie die Diamanten gestohlen hat.»
«Nein, wie eine Diebin sieht sie allerdings nicht aus», gab Poirot zu. «Jemand anderer könnte sie dort versteckt haben. Denn in diesem besonderen Garten – er stellt das Tote Meer dar – liegen Kieselsteine von ähnlicher Größe und Form.»
«Glauben Sie, dass sie das bewusst so arrangierte, mit voller Absicht?», fragte Sugden.
Colonel Johnson meldete sich nun überzeugt und mit Wärme zu Wort.
«Das glaube ich nicht. Keine Sekunde lang. Warum sollte sie die Diamanten an sich genommen haben?»
«Nun, was den Grund anbelangt –», begann Sugden langsam, aber Poirot kam ihm zuvor.
«Auf diese Frage gibt es eine mögliche Antwort. Sie nahm die Diamanten an sich, um damit einen Mordgrund zu konstruieren. Das heißt: Sie wusste, dass ein Mord geplant war, obwohl sie selber nichts damit zu tun hatte.»
«Das klingt reichlich unglaubwürdig», widersprach Johnson. «Damit stempeln Sie sie zur Komplizin. Aber wessen Komplizin könnte sie sein? Doch nur diejenige ihres Mannes. Und da wir ja wissen, dass auch er nichts mit dem Mord zu tun haben kann, fällt Ihre Theorie endgültig ins Wasser.» Sugden fuhr sich nachdenklich übers Kinn.
«Jawohl», sagte er, «das stimmt. Wenn also Mrs Lee die Diamanten genommen hat – und das ist noch ein großes Wenn! –, dann liegt hier ganz einfach Diebstahl vor, und in diesem Fall könnte sie natürlich diesen kleinen Garten eigens dafür angelegt haben, die Steine vorläufig dort zu verstecken, bis der Tumult sich ein wenig legen würde. Eine andere Möglichkeit wäre auch ein zufälliges Zusammentreffen. Der Garten mit den ähnlichen Kieselsteinen könnte den Dieb angeregt haben, seine Beute dort zu verstecken.»
«Gewiss, das wäre sogar sehr gut möglich», pflichtete Poirot ihm bei. «-Einen Zufall bin ich immer bereit in Rechnung zu ziehen.»
Inspektor Sugden schüttelte den Kopf. «Mrs Lee ist eine sehr nette Frau. Es ist einfach unmöglich, dass sie in eine solche Affäre verwickelt ist. Wobei ich freilich zugeben muss, dass man so etwas nie wissen kann.»
«Mag nun bezüglich der Diamanten geschehen sein, was will – dass Mrs Lydia Lee irgendwie mit dem Mord in Zusammenhang stehen soll, ist meines Erachtens unmöglich. Der Butler sah sie im Wohnzimmer, als der Mord passierte.» Colonel Johnson sprach fest und sah Poirot herausfordernd an.
«Das habe ich nicht vergessen», sagte Poirot ruhig.
Der Colonel wandte sich wieder dem Inspektor zu. «Also fahren wir fort. Haben Sie etwas zu rapportieren? Etwas Neues geschehen?»
«Ja, Sir. Ich habe einige Auskünfte eingeholt. Zuerst über Horbury. Es gibt tatsächlich etwas in seinem Leben, weswegen er Angst vor der Polizei hat.»
«Aha! Diebstähle, wie?»
«Nein, Sir. Erpressung. Man konnte ihm allerdings nichts beweisen, aber ich vermute, dass er ein, zwei solche Sachen auf dem Kerbholz hat. Und weil ihn ein schlechtes Gewissen drückt, ist ihm der Schreck so mächtig in die Glieder gefahren, als Tressilian ihm vorgestern Abend sagte, ein Polizeiinspektor habe beim alten Herrn vorgesprochen.»
«Mhm», knurrte Johnson. «Soweit Horbury. Was sonst?» Der Inspektor hüstelte verlegen.
«Mrs George Lee, Sir. Wir haben Informationen eingeholt über ihr Leben, bevor sie mit Mr Lee verheiratet war. Lebte mit einem Kommandanten Jones zusammen. Galt als seine Tochter – war aber nicht seine Tochter. Und das gäbe ihr, abgesehen vom Geldmotiv, einen weiteren Grund zu morden. Vielleicht fürchtete sie, dass ihr Schwiegervater etwas Konkretes über sie wusste und es ihrem Mann hinterbringen wollte. Jedenfalls ist ihre Behauptung, telefoniert zu haben, ebenso merkwürdig wie unwahr.»
Sugden wagte einen Vorschlag.
«Wäre es nicht gut, Sir, wenn wir das Ehepaar herbitten und diese Telefonsache aufklären würden?»
«Gute Idee», sagte Colonel Johnson und klingelte. Tressilian erschien sofort.
«Bitten Sie Mr und Mrs George Lee, hierher zu kommen.»
«Gerne, Sir.»
Als der alte Mann sich zum Gehen wandte, hielt ihn Poirot auf.
«Ist das Datum auf dem Kalender seit dem Mord nicht geändert worden?»
Tressilian wandte sich ihm zu.
«Auf welchem Kalender, Sir?»
«Auf dem dort drüben an der Wand.»
Die drei Herren saßen wieder im kleinen Arbeitszimmer Alfred Lees. Der fragliche Kalender war ein Abreißkalender mit einem Blatt für jeden Tag und ziemlich großen Zahlen.
Tressilian blickte kurzsichtig zur Wand hinüber und schlurfte dann einige Schritte näher an den Kalender heran.
Verwundert sagte er: «Verzeihen Sie, Sir, aber die Blätter wurden abgerissen. Heute ist der Sechsundzwanzigste.»
«Richtig, entschuldigen Sie. Wer hat wohl die Blätter abgerissen?»
«Mr Lee, Sir, jeden Morgen. Mr Alfred ist ein sehr ordentlicher Mensch.»
«Ich verstehe. Danke, Tressilian.»
Der alte Diener verschwand. Sugden sah Poirot entgeistert an.
«Stimmt etwas nicht mit diesem Kalender, Mr Poirot? Ist mir vielleicht ein wichtiges Indiz entgangen?»
Poirot zuckte die Achseln.
«Der Kalender ist völlig unwichtig. Ich habe nur eben ein kleines Experiment gemacht.»
Colonel Johnson sagte: «Morgen findet die gerichtliche Totenschau statt. Natürlich wird das ganze Verfahren vertagt.»
«Jawohl, Sir», meldete Sugden, «ich habe mit dem Leichenbeschauer gesprochen und alles geordnet.»
George Lee und seine Frau traten ein.
«Guten Morgen», begrüßte sie Colonel Johnson und bot ihnen Platz an. «Ich habe verschiedene Fragen bezüglich einer Sache an Sie beide zu richten, über die ich mir nicht klar werden konnte.»
Er nickte Sugden kaum merklich zu, worauf der Inspektor die Befragung einleitete.
«Es handelt sich um die Telefonate am Mordabend. Sie haben, wenn ich mich recht erinnere, mit Westeringham telefoniert, nicht wahr, Mr Lee?»
«Stimmt», erwiderte George kühl. «Und zwar mit einem Wahlagenten. Ich kann Ihnen seinen Namen nennen und –» Inspektor Sugden hob abwehrend die Hand, um einen Wortschwall zu unterbinden.
«Gut, in Ordnung, Mr Lee. Dieser Punkt steht gar nicht zur Diskussion. Sie bekamen diese Verbindung um genau acht Uhr neunundfünfzig.»
«Nun… Ich – hm – könnte das nicht so genau sagen.»
«Aber wir können es! Solche Angaben werden immer sehr sorgfältig überprüft. Acht Uhr neunundfünfzig wurden Sie mit Westeringham verbunden, und um neun Uhr vier war Ihr Gespräch beendet. Ihr Vater, Mr Lee, wurde um neun Uhr fünfzehn ermordet. Ich muss Sie also noch einmal bitten, uns zu sagen, wo Sie sich zu diesem Zeitpunkt aufhielten.»
«Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt! Ich war am Telefon!»
«Nein, Mr Lee – das waren Sie nicht!»
«Ach, Unsinn! Sie müssen sich irren. Bitte, vielleicht hatte ich mein Gespräch eben beendet und überlegte mir einen zweiten Anruf. Ich meine, ich überlegte, ob er – hm – die Auslagen wert sei, als ich den Lärm von oben hörte.»
«Sie würden sich doch wohl einen Anruf nicht zehn Minuten lang überlegen.»
George lief rot an. Er sprach fast stotternd.
«Was meinen Sie damit? Was zum Teufel soll das heißen? Unverschämtheit! Zweifeln Sie vielleicht an meinen Worten? An den Worten eines Menschen in meiner Position? Ich… Warum sollte ich Ihnen überhaupt über jede Minute meiner Zeit Rechenschaft ablegen?»
Inspektor Sugden antwortete mit einer Gelassenheit, die Hercule Poirots Bewunderung erregte.
«Weil das so üblich ist.»
George wandte sich dem Colonel zu.
«Colonel Johnson!», stieß er wütend hervor. «Können Sie diese… dieses unerhörte Benehmen dulden?»
«In einem Mordfall, Mr Lee», beschwichtigte Johnson, «müssen solche Fragen gestellt und – beantwortet werden.»
«Ich habe sie ja beantwortet! Nachdem ich mein erstes Gespräch beendet hatte, überlegte ich mir einen zweiten Anruf.»
«Waren Sie in diesem Zimmer hier, als der Lärm losging?»
«Jawohl… Ja, ich war hier drinnen.»
Johnson wandte sich Magdalene zu.
«Sie haben ausgesagt, Mrs Lee, dass Sie zum fraglichen Zeitpunkt telefoniert hätten und dass Sie allein in diesem Zimmer gewesen seien.»
Magdalene war verwirrt. Sie sah erst George von der Seite an, dann Sugden und schließlich Johnson.
«Ich war so schrecklich aufgeregt, dass ich… Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich sagte.»
«Wir haben alles genau aufgeschrieben», bemerkte Sugden sarkastisch.
Nun setzte sie alle Hebel in Bewegung, um den steifen Inspektor zu betören: weit aufgerissene, angsterfüllte Kinderaugen, einen bebenden Mund – aber sie begegnete nur der kalten Unnahbarkeit eines Mannes von strenger Rechtschaffenheit, der außerdem auf ihren Typ nicht ansprach.
Sie stammelte: «Doch… ich habe telefoniert. Ja, ich weiß nur nicht mehr genau – wann –» Sie brach jäh ab.
George hatte sich ihr zugewandt und schrie:
«Was soll das alles? Wo hast du telefoniert? In diesem Zimmer jedenfalls nicht!»
Sugden sagte ungerührt: «Ich bin der Meinung, Mrs Lee, dass Sie gar nicht telefoniert haben. Wo waren Sie in diesem Fall, und was haben Sie getan?»
Magdalene sah erst wie geistesabwesend vor sich hin und brach dann in Tränen aus.
«George», schluchzte sie, «sie sollen mich nicht einschüchtern! Du weißt, dass ich mich an gar nichts erinnern kann, wenn man mich erschreckt und mich mit Fragen in die Enge treibt. Ich… ich wusste an jenem Abend überhaupt nicht, was ich sagte, und… und ich war so aufgeregt… und sie waren scheußlich zu mir!»
Sie sprang auf und rannte weinend aus dem Zimmer.
Auch George Lee fuhr von seinem Sitz auf.
«Was fällt Ihnen ein?», stammelte er. «Wie können Sie meine Frau derart erschrecken? Sie ist sehr empfindsam. Es ist eine Schande, wie Sie sie behandeln! Ich werde die unmenschlichen Methoden der britischen Polizei vor dem Parlament zur Sprache bringen. Es ist eine Schande!»
-Er ging aus dem Zimmer und schmetterte die Tür ins Schloss. Inspektor Sugden warf den Kopf zurück und lachte.
«Die hätten wir nicht schlecht erwischt! Jetzt werden wir ja sehen.»
Johnson runzelte die Stirn.
«Eine seltsame Sache, das. Sieht ziemlich unklar aus. Wir müssen noch weitere Angaben aus ihr herausbekommen.»
«Oh, sie wird in ein paar Minuten wieder zurückkommen», versicherte Sugden leichthin. «Sobald sie sich eine plausible Antwort zurechtgelegt hat. Nicht wahr, Mr Poirot?»
Poirot, der reglos dagesessen hatte, schien aus tiefen Träumen aufzuschrecken.
«Pardon?»
«Ich sagte, sie werde bald zurückkommen.»
«Vermutlich – ja, möglicherweise – gewiss.»
Sugden sah ihn erstaunt an.
«Was ist los, Mr Poirot? Haben Sie ein Gespenst gesehen?»
Langsam antwortete Poirot: «Wissen Sie, dass ich diese Frage nicht unbedingt verneinen kann?»
Colonel Johnson wurde ungeduldig.
«Nun, Sugden, sonst noch etwas?»
«Ich habe versucht, die Reihenfolge, in welcher die Leute im Mordzimmer erschienen, zu rekonstruieren. Es ist ganz klar, wie sich alles abgespielt hat. Nachdem das Opfer den Todesschrei ausgestoßen hatte, schlüpfte der Mörder aus dem Zimmer, sperrte die Tür mit Hilfe einer Pinzette oder etwas Ähnlichem von außen zu und verwandelte sich Sekunden später in jemanden, der wie alle anderen dem Tatort entgegenrannte. Leider lässt sich nicht mehr mit Bestimmtheit feststellen, wer wen gesehen hat; in diesem Punkt haben die Beteiligten keine klare Erinnerung mehr. Tressilian sagt, dass er Harry und Alfred Lee die Halle, vom Speisezimmer herkommend, durchqueren und die Treppe hinaufrennen sah. Soweit ich begriffen habe, ist Miss Estravados erst spät am Tatort erschienen – als eine der letzten. Es scheint nach allen Aussagen, dass Farr, Mrs George und Mrs David die ersten waren. Alle drei behaupten, einen von ihnen vor sich gesehen zu haben. Das macht ja die Untersuchung so schwierig, dass man nie genau unterscheiden kann zwischen vorsätzlicher Lüge und ehrlicher Verschwommenheit der Erinnerung. Dass alle rannten, steht fest – aber in welcher Reihenfolge sie die Treppe hinaufrannten, ist nicht leicht herauszubekommen.»
«Und scheint Ihnen das so wichtig zu sein?», fragte Poirot langsam.
«Ja, wegen der Zeitfrage. Die Zeit war unglaublich knapp.»
«Ich stimme Ihnen bei, dass in diesem Fall die Zeitfrage eminent wichtig ist.»
«Und um alles noch zu erschweren, gibt es in diesem Haus zwei Treppen. Einmal die Haupttreppe, die von der Halle hinaufführt und von den Türen des Speisezimmers und des Wohnzimmers ungefähr gleich weit entfernt liegt. Dann ist noch eine Treppe am anderen Ende des Hauses. Stephen Farr hat sie benützt. Miss Estravados kam ebenfalls aus der Richtung dieser zweiten Treppe gestürzt. Ihr Zimmer liegt in deren unmittelbarer Nähe. Alle anderen geben an, über die Haupttreppe nach oben gelaufen zu sein.»
«Das ist allerdings verwirrend», sagte Poirot.
Die Tür wurde aufgestoßen, und Magdalene Lee trat hastig ein. Sie atmete heftig, und ihre Wangen waren gerötet. Sie kam schnell an den Tisch und sagte:
«Mein Mann glaubt, dass ich mich hingelegt habe; aber ich bin leise aus dem Zimmer geschlüpft.» Sie sah Colonel Johnson aus großen, verzweifelten Augen an. «Wenn ich Ihnen nun die Wahrheit sage, werden Sie sie für sich behalten, nicht wahr? Ich meine… Sie müssen nicht alles publik machen?»
«Sofern es nicht mit dem Verbrechen zusammenhängt…»
«Aber gar nicht! Es handelt sich um – etwas ganz Privates – um eine…» Magdalenes Augen schimmerten feucht. «Ich vertraue Ihnen, Colonel Johnson, ich weiß, dass man Ihnen vertrauen darf. Sehen Sie, es war so: Jemand…» Sie stockte.
«Ja, Mrs Lee?»
«Ich wollte vorgestern wirklich mit jemandem telefonieren. Einem… einem Freund von mir. Aber ich wollte nicht, dass George davon wusste. Das war sicherlich nicht recht von mir, und ich. Nach dem Abendessen ging ich zum Telefon, weil ich glaubte, dass George noch im Speisezimmer war. Aber als ich mich dem Arbeitszimmer näherte, hörte ich meinen Mann telefonieren. Ich musste also warten.»
«Wo haben Sie gewartet, Mrs Lee?», fragte Poirot.
«Hinter der Treppe ist eine kleine Garderobe. Der Raum ist ziemlich dunkel. Dort schlüpfte ich hinein, weil ich von diesem Versteck aus gleichzeitig gesehen hätte, wenn George das Arbeitszimmer verließ. Aber er kam nicht heraus, und dann ging der Lärm oben los, und alle rannten die Treppe hinauf.»
«Ihr Mann hat also dieses Zimmer nicht verlassen, bis der Schrei oben ertönte?»
«Nein.»
«Und Sie selber haben die Zeit von neun Uhr bis neun Uhr fünfzehn wartend in dieser Garderobe verbracht?», fragte Johnson.
«Ja! Aber das konnte ich doch nicht sagen! Man hätte mich gefragt, was ich dort zu suchen hatte, verstehen Sie? Und alles hätte so… so komisch ausgesehen für mich, begreifen Sie?»
«Ja, es mutet tatsächlich etwas komisch an», gab Johnson trocken zu.
«Ich bin so erleichtert, dass ich Ihnen nun die Wahrheit gesagt habe.» Sie lächelte ihn verführerisch an. «Sie werden meinem Mann nichts davon erzählen, nicht wahr? Nein, natürlich nicht! Ich weiß, dass man Ihnen vertrauen kann – Ihnen allen!»
Sie bedachte alle Anwesenden mit einem letzten flehentlichen Blick und schwebte dann aus dem Zimmer.
Colonel Johnson räusperte sich energisch.
«Nun – es könnte so gewesen sein! Klingt ganz plausibel. Andererseits…»
«Könnte es auch nicht so gewesen sein!», fiel ihm Sugden ins Wort. «Das ist es ja gerade! Wir wissen es nicht.»
Lydia Lee befand sich, halb verborgen durch die schweren Gardinen, am Fenster und sah in den Garten hinaus. Ein Laut hinter ihr ließ sie herumfahren. Hercule Poirot stand unter der Tür.
«Mr Poirot! Sie haben mich erschreckt!»
«Das tut mir Leid, Madame.»
«Ich dachte, es sei Horbury.»
Poirot nickte. «Ja, er geht tatsächlich sehr leise im Haus herum, dieser Mann, wie eine Katze oder ein – Dieb.»
Er sah sie aufmerksam an. Sie schnitt eine kleine, verächtliche Grimasse, als sie sagte: «Ich habe nie etwas mit diesem Menschen anfangen können. Mir ist es recht, wenn wir ihn möglichst bald loswerden.»
«Das wird allerdings nur von Vorteil für Sie sein.»
Sie sah ihn forschend an.
«Wieso? Liegt etwas gegen ihn vor?»
«Nun, er ist ein Mensch, der Geheimnisse sammelt und sie dann zu seinen Gunsten ausbeutet.»
«Glauben Sie, dass er etwas über den Mord weiß», fragte sie. Poirot zuckte die Achseln.
«Er hat leise Füße und lange Ohren. Vielleicht hat er irgendetwas gehört oder gesehen, das er für sich behält.»
«Und womit er einen von uns erpressen könnte?»
«Das liegt im Bereich der Möglichkeit, Madame. Aber ich bin nicht hergekommen, um Ihnen das zu sagen.»
«Sondern?»
«Ich habe mit Mr Alfred gesprochen», sagte Poirot langsam, «und er hat mir einen Vorschlag gemacht, den ich gerne mit Ihnen besprochen hätte, ehe ich ihn annehme oder ablehne. Aber dann war ich so entzückt über das Bild, das Sie abgaben - Ihr reizendes Kleid gegen das tiefe Rot der Vorhänge, dass ich stehen blieb, um Sie zu bewundern.»
«Wirklich, Mr Poirot! Müssen wir unsere Zeit mit Komplimenten verlieren?»
«Verzeihen Sie, Madame. Aber so wenige Engländerinnen verstehen sich auf la toilette. Das Kleid, das Sie am ersten Abend trugen, mit diesem extravaganten, aber einfachen Muster, stand Ihnen überaus gut.»
Lydia fragte ungeduldig: «Worüber wollten Sie mit mir sprechen, Mr Poirot?»
Nun wurde auch Poirot ernst.
«Ihr Gatte, Madame, hat mich gebeten, diesen Fall zu untersuchen. Er will, dass ich hier bleibe, in Ihrem Hause wohne und mein Äußerstes tue, um diesen Mord aufzuklären.»
«Ja, und?»
«Ich möchte eine Einladung nicht annehmen, ehe nicht die Dame des Hauses ihr Einverständnis dazu gegeben hat.»
«Selbstverständlich bin ich mit dem Wunsch meines Mannes einverstanden», sagte sie kühl.
«Gewiss, Madame, aber ich brauche mehr als das. Wollen Sie, dass ich herkomme?»
«Gewiss, warum nicht?»
«Ich will mich klarer ausdrücken. Wünschen Sie, dass die Wahrheit an den Tag kommt?»
«Natürlich.»
Poirot seufzte.
«Müssen Sie mir so konventionell antworten?»
«Ich bin eine eher konventionelle Natur.» Sie nagte an ihrer Unterlippe. Erst schien sie zu zögern, aber dann sagte sie: «Vielleicht ist Offenheit wirklich das Beste. Ich verstehe Ihre Situation sehr gut, und sie ist keineswegs angenehm. Mein Schwiegervater ist grausam ermordet worden, und sofern man nicht den Hauptverdächtigen – Horbury – dieses Mordes überführen kann – und es hat den Anschein, dass dies nicht der Fall sein wird –, dann muss jemand von unserer Familie der Täter sein. Diesen Jemand der Gerechtigkeit auszuliefern heißt also Schande über unsere Familie zu bringen. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, muss ich sagen, dass ich das allerdings nicht wünsche.»
«Sie würden also den Mörder lieber ungestraft entwischen lassen?»
«Wahrscheinlich laufen viele unbestrafte Mörder auf der Welt herum.»
«Gewiss, da haben Sie Recht.»
«Würde da einer mehr eine Rolle spielen?»
Poirot sah sie nachdenklich an.
«Und die anderen Familienmitglieder? Die Unschuldigen?»
Sie horchte auf. «Ja, was ist mit ihnen?»
«Wenn Ihre Hoffnungen sich erfüllen würden, käme die Wahrheit nie an den Tag. Alle stünden gleicherweise unter dem Schatten des Verdachts, der Zweifel…»
«Daran habe ich nicht gedacht», murmelte sie unsicher.
«Niemand würde je erfahren, wer der Schuldige war.» Leise fügte er bei: «Es sei denn, dass Sie ihn bereits kennen.»
«Sie haben kein Recht, so was zu sagen!», schrie sie auf. «Es ist nicht wahr! Ach! Wenn es doch irgendein Fremder wäre, der nicht zur Familie gehörte!»
«Oder beides zusammen.»
«Was meinen Sie damit?», fragte sie verblüfft.
«Es könnte ein Familienmitglied und trotzdem ein Fremder sein. Verstehen Sie nicht? Nun, das ist so eine Idee, die Hercule Poirots Gehirn entsprungen ist.» Er sah sie ernst an. «Madame, was soll ich also Ihrem Gatten antworten?»
Lydia hob die Hände und ließ sie mit einer müden, hilflosen Gebärde wieder fallen.
«Sie müssen natürlich annehmen.»
Pilar stand mitten im Musikzimmer. Sie hielt sich sehr gerade, und ihre Augen huschten von einer Seite zur anderen wie die eines in die Enge getriebenen Tiers.
«Ich will fort von hier.»
«Das wollen nicht nur Sie», sagte Stephen Farr freundlich. «Aber man wird uns nicht fortlassen, mein Kind.»
«Die Polizei? Es ist gar nicht angenehm, mit der Polizei zu tun zu haben. Anständigen Menschen sollte das nicht passieren.»
«Wie zum Beispiel Ihnen, nicht wahr?», lächelte Farr.
«Nein, ich meine Lydia und Alfred, David, George und Hilda und… doch, auch Magdalene.»
Stephen zündete sich eine Zigarette an. Er rauchte eine Weile, ohne etwas zu sagen. Doch dann fragte er: «Eine Ausnahme? Weshalb?»
«Wieso, bitte?»
«Warum zählen Sie Bruder Harry nicht auf?»
Pilar lachte und zeigte dabei ihre schönen, ebenmäßigen Zähne.
«Oh, Harry ist etwas anderes! Ich glaube, der ist es gewohnt, mit der Polizei in Konflikt zu geraten.»
«Vielleicht haben Sie Recht. Jedenfalls fällt er zu sehr aus dem Rahmen. Mögen Sie Ihre englischen Verwandten, Pilar?»
Pilar musste sich die Antwort erst überlegen.
«Sie sind nett – alle sind sehr nett», sagte sie zögernd. «Aber sie lachen nie, sie sind nicht fröhlich.»
«Meine Liebe, in diesem Haus ist eben ein Mord geschehen.»
«J-ja-a», murmelte Pilar.
«Ein Mord», fuhr Stephen belehrend fort, «ist denn doch nichts ganz so Alltägliches, wie Ihre Nonchalance auszudrücken scheint. Mag man in Spanien darüber denken, wie man will - in England nimmt man Morde verteufelt ernst.»
«Sie lachen mich aus!»
«Bestimmt nicht! Mir ist gar nicht lächerlich zumute.»
Pilar betrachtete sein gebräuntes Gesicht.
«Sie möchten auch weg von hier, nicht wahr? Und der hübsche, große Polizist lässt Sie nicht gehen.»
«Ich habe ihn nicht darum gebeten, aber wahrscheinlich würde er es mir verbieten. Man muss jetzt jeden Schritt überlegen und sehr vorsichtig sein.»
«Ja, und das ist so mühsam», stellte Pilar fest.
«Es ist mehr als nur mühsam, meine Liebe. Und dann schnüffelt auch noch dieser Ausländer überall herum. Ich halte ihn zwar nicht für besonders gescheit, aber er macht mich nervös.»
Pilar runzelte plötzlich die Stirn.
«Mein Großvater war sehr, sehr reich, nicht wahr? Wer bekommt jetzt das viele Geld? Alfred und die anderen?»
«Das hängt von seinem Testament ab.»
«Er könnte mir auch etwas hinterlassen haben», überlegte Pilar, «aber ich halte das nicht für wahrscheinlich.»
«Machen Sie sich keine Sorgen», tröstete Stephen sie fast liebevoll. «Sie gehören zur Familie. Man wird sich um Sie kümmern müssen.»
Mit einem Seufzer sagte Pilar: «Ich gehöre hierher. Komisch ist das. Und dann ist es doch wieder nicht komisch.»
«Ja, für Sie ist es bestimmt nicht nur lustig.»
Wieder seufzte Pilar tief auf. Dann fragte sie:
«Wollen wir Platten auflegen und tanzen?»
Stephen sah sie zweifelnd an.
«Das würde sich nicht gut ausnehmen. In einem Trauerhaus tanzt man nicht.»
Pilars große Augen wurden noch größer.
«Aber ich bin gar nicht traurig! Ich kannte meinen Großvater ja kaum, obwohl ich ihn gern hatte. Ich will nicht weinen und unglücklich sein, weil er jetzt tot ist. Etwas vorzuheucheln ist so dumm!»
«Sie sind ein Schatz!», sagte Stephen Farr begeistert.
«Wenn wir den Plattenspieler ganz leise stellen», fuhr sie schmeichelnd fort, «dann würde es keinen großen Lärm machen, und niemand könnte es hören.»
«Also, kommen Sie, Sie Verführerin!»
Sie lachte vergnügt, rannte aus dem Zimmer und zum Tanzsaal am anderen Ende des Hauses. Doch als sie den Seitenkorridor erreichte, der zur Gartentür führte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Stephen, der ihr folgte, blieb ebenfalls stehen.
Hercule Poirot hatte ein Bild von der Wand genommen und betrachtete es eingehend beim hellen Tageslicht, das durch die Fenstertür hereinflutete. Er blickte auf, sah die beiden und lächelte ihnen zu.
«Sie kommen wie gerufen! Ich studiere etwas sehr Wichtiges: das Gesicht von Simeon Lee als junger Mann.»
«Ach? Ist das mein Großvater?»
Sie sah das Bild lange an. Dann sagte sie verwundert:
«So verändert – ganz verändert… Jetzt war er so alt, so verrunzelt. Hier sieht er aus wie Harry – wie Harry vor etwa zehn Jahren ausgesehen haben dürfte.»
Hercule Poirot nickte.
«Jawohl, Mademoiselle. Harry Lee gleicht seinem Vater am meisten. Und hier», er führte sie ein paar Schritte die Galerie entlang, «hier ist Ihre Großmutter. Ein längliches, sanftes Gesicht – sehr blondes Haar, milde blaue Augen.»
«Wie David!», rief Pilar.
«Auch Alfred sieht ihr ähnlich», bemerkte Stephen.
«Vererbung ist eine interessante Sache», sagte Poirot. «Mr Lee und seine Frau waren grundverschiedene Typen. Im Großen und Ganzen schlugen alle Kinder dieser Ehe der Mutter nach. Sehen Sie hier, Mademoiselle.»
Er zeigte auf das Porträt eines ungefähr neunzehnjährigen Mädchens mit goldschimmerndem Haar und lachenden großen blauen Augen. Die Züge glichen denen von Simeon Lees verstorbener Frau, aber es war eine heitere Lebhaftigkeit in ihnen, die die der stillen Dulderin wohl nie gehabt hatten.
«Oh!», stieß Pilar hervor. Ihre Wangen erröteten. Sie griff nach einer langen Goldkette, die sie um den Hals trug, zog ein Medaillon hervor und zeigte es Poirot. Dasselbe lachende Jungmädchengesicht sah ihm daraus entgegen.
«Meine Mutter», flüsterte Pilar.
Poirot nickte. In der anderen Seite des Medaillons steckte das Bild eines hübschen jungen Mannes mit schwarzem Haar und dunkelblauen Augen.
«Mein Vater! Ist er nicht wunderschön?»
«Doch, gewiss. Spanier haben aber im Allgemeinen keine blauen Augen, nicht wahr, Mademoiselle?»
«Die aus dem Norden manchmal schon. Übrigens war die Mutter meines Vaters Irin.»
«Spanisches, englisches, irisches und ein Schuss Zigeunerblut», zählte Poirot lachend auf. «Mit dieser erblichen Belastung könnten Sie sich viele Feinde schaffen, Señorita!»
Stephen Farr grinste. «Sie würde einem Feind kurzerhand die Gurgel durchschneiden, hat sie mir im Zug anvertraut.» Er brach erschrocken ab.
Hercule Poirot versuchte das Gespräch in unverfänglichere Bahnen zu lenken. «Oh, Mademoiselle! Ich muss Sie noch um etwas bitten. Würden Sie mir bitte Ihren Pass aushändigen? Reine Formsache. Inspektor Sugden braucht ihn… Polizeivorschriften, wissen Sie – lästig und dumm, gewiss, aber notwendig für einen Ausländer in diesem Land. Und dem Gesetz nach sind Sie natürlich Ausländerin.»
Pilar hob die Augenbrauen. «Meinen Pass? Ja, ich werde ihn gleich holen. Er liegt in meinem Zimmer.»
Poirot folgte ihr und entschuldigte sich immer wieder.
«Es tut mir sehr Leid, Ihnen diese Mühe zu bereiten. Wirklich, sehr, sehr Leid.»
Sie waren am Ende des langen Korridors angekommen. Von dort führte die zweite Treppe in den oberen Stock. Pilar nahm sie mit wenigen Schritten, Poirot und Farr folgten langsamer nach. Pilars Zimmer lag am Ende der Treppe. Sie machte die Tür auf und rief: «Ich bringe den Pass sofort.»
Poirot und Stephen warteten. Der junge Mann sagte sehr kleinlaut: «Verdammt blöd von mir, das zu sagen – vorhin. Sie hat es aber gar nicht bemerkt, oder doch?»
Poirot gab keine Antwort. Er hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt und schien auf etwas zu horchen.
«Die Engländer sind Freiluftfanatiker», sagte er nach einigen Augenblicken. «Und diese Eigenart scheint Miss Estravados geerbt zu haben.»
Stephen sah ihn erstaunt an.
«Weil sie heute, an einem ausgesprochen eisigen Wintertag - im Gegensatz zum gestrigen milden Sonnenwetter – das Fenster aufreißt, wie gerade eben. Seltsam, dieser Hunger nach frischer Luft.»
Plötzlich hörte man drinnen einen spanischen Ausruf, und Pilar tauchte mit einem ärgerlichen Lachen wieder auf.
«Bin ich dumm!», rief sie. «Dumm und ungeschickt! Mein Köfferchen steht auf dem Fensterbrett, und ich durchstöberte es so schnell und passte nicht auf, so dass mir der Pass zum Fenster hinausgefallen ist. Er liegt drunten in einem Blumenbeet. Ich hole ihn sofort.»
Stephen wollte ihr diesen Gang abnehmen, aber sie hielt ihn entschieden davon ab.
«Nein, gehen Sie nur inzwischen mit Mr Poirot ins Wohnzimmer! Ich bringe ihn dorthin.»
Doch Poirot sagte am oberen Ende der Haupttreppe plötzlich: «Bleiben wir noch einen Augenblick hier. Ich möchte Sie im Mordzimmer etwas fragen.»
Sie gingen den Korridor entlang, der zu Simeon Lees Zimmer führte. Als sie an der Nische vorbeikamen, in welcher zwei Marmornymphen in viktorianischer Wohlanständigkeit ängstlich ihre wallenden Gewänder festhielten, murmelte Stephen Farr: «Scheußlich bei Tageslicht! Neulich abends glaubte ich, es seien drei solche Weiber da drinnen, aber glücklicherweise sind es nur zwei.»
«Ja, dem heutigen Geschmack entsprechen sie nicht mehr», sagte Poirot. «Aber seinerzeit haben sie bestimmt eine Menge Geld gekostet. Übrigens sehen sie nachts besser aus.»
«Allerdings, da sieht man nur undeutliche Konturen.»
«Nachts sind alle Katzen grau», lautete Poirots Antwort.
Im Mordzimmer fanden sie Inspektor Sugden, vor dem Safe kniend und den Kassenschrank mit einer Lupe untersuchend. Er blickte auf, als sie eintraten.
«Wurde mit dem dazugehörigen Schlüssel geöffnet», stellte er fest. «Und zwar von jemandem, der das Kennwort wusste.»
Poirot trat neben ihn, flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf der Inspektor nickte und rasch aus dem Zimmer ging.
Poirot wandte sich wieder Stephen Farr zu, der reglos den Armstuhl anstarrte, in welchem Simeon Lee immer gesessen hatte. Auf seiner Stirn, die in tiefen Falten lag, traten die Adern deutlich hervor. Poirot betrachtete ihn eine ganze Weile, ehe er sagte: «Erinnerungen, nicht wahr?»
«Noch vor zwei Tagen», flüsterte Farr, «saß er da und lebte und heute…» Er schüttelte sich. «Sie wollten mich etwas fragen, Mr Poirot.»
«Ach, richtig. Sie waren, wenn ich nicht irre, der Erste am Tatort vorgestern Nacht.»
«So? Ich weiß es nicht mehr. Nein, ich glaube, eine der Damen war noch vor mir oben.»
«Welche der Damen?»
«Georges oder Davids Frau, eine von beiden. Sie waren jedenfalls beide sofort da.»
«Sie selber hörten den Schrei nicht?»
«Nein, ich glaube nicht. Ich kann mich nicht genau erinnern. Jemand schrie wohl auf, aber das kann von unten gekommen sein.»
«Einen Laut wie den haben Sie also nicht gehört?»
Poirot warf den Kopf zurück und stieß plötzlich einen gellenden Schrei aus. Das kam so unerwartet, dass Stephen einen Schritt zurück machte und beinahe gestolpert wäre. Ärgerlich stieß er hervor: «Um Himmels willen! Wollen Sie das ganze Haus erschrecken? Nein, ich habe keinen auch nur annähernd ähnlichen Laut gehört. Jetzt wird wieder alles gelaufen kommen und denken, es sei ein zweiter Mord geschehen!»
Poirot sah betreten vor sich hin. «Natürlich… Wie dumm von mir! Gehen wir.»
Er eilte aus dem Zimmer. Lydia und Alfred standen unten an der Treppe und sahen hinauf – George kam gerade aus der Bibliothek, und Pilar stürzte ebenfalls daher, den Pass in der Hand.
«Es ist nichts geschehen, nichts», rief Poirot. «Bitte, regen Sie sich nicht auf. Ich habe nur ein kleines Experiment gemacht.»
Alfred sah verärgert, George empört aus, und Poirot überließ Stephen die Erklärungen. Er selber eilte durch den Korridor ans andere Ende des Hauses.
Dort trat Sugden ruhig aus Pilars Zimmer.
«Eh bien?», fragte Poirot gespannt.
Der Inspektor schüttelte den Kopf. «Keinen Laut.»
Er sah Poirot bewundernd an und nickte.
«Dann nehmen Sie also an, Mr Poirot?», fragte Alfred.
Die Hand, mit welcher er sich über das Gesicht fuhr, zitterte ein wenig. Seine milden braunen Augen glühten in einem ganz neuen, ungewohnten Fieber, und er stotterte leicht, wenn er sprach. Lydia, die stumm neben ihm stand, sah ihn besorgt an.
«Sie wissen nicht… Sie k-können nicht w-wissen – was mir das b-bedeutet! Der Mörder meines V-Vaters m-muss gefunden werden!»
«Wenn Sie sich wirklich, wie Sie mir sagen, die Sache lange und gründlich überlegt haben – ja, dann nehme ich an. Aber wohlverstanden, Mr Lee: Dann gibt es kein Zurück mehr. Ich bin kein Spürhund, den man auf eine Fährte setzt und plötzlich zurückpfeift, wenn man die Spur lieber nicht weiterverfolgen möchte.»
«Das ist selbstverständlich! Es ist alles b-bereit. Ihr Z-Zimmer – alles. Bleiben Sie, solange Sie wollen.»
«Es wird nicht allzu lange sein», sagte Poirot ernst.
«Wie? Was sagen Sie da?»
«Ich sage, es werde nicht lange dauern. Es ist ein so beschränkter Kreis, dass es unmöglich lange dauern kann, bis die Wahrheit zutage tritt.» Er sah Alfred an. «Ich glaube sogar, dass das Ende der Untersuchungen naht.»
Alfred starrte ihn an. «Unmöglich!», keuchte er.
«Doch, doch. Die Tatsachen weisen alle mehr oder weniger deutlich in eine bestimmte Richtung. Es brauchen nur noch einige Nebensächlichkeiten geklärt zu werden, und dann wird die Wahrheit klar vor uns liegen.»
Alfred lachte ungläubig.
«Heißt das – dass Sie sie bereits kennen?»
«Ja, Mr Lee», lächelte Poirot zurück, «ich kenne sie.»
Alfred wandte sich plötzlich ab. «Mein Vater… mein Vater», stieß er unterdrückt hervor.
«Ich möchte Sie noch um zwei Dinge bitten», sagte Poirot fast hart. «Erstens möchte ich, dass Sie das Porträt Ihres Vaters, das ihn als jungen Mann darstellt, in dem Schlafzimmer aufhängen lassen, das Sie mir zur Verfügung stellen wollen.»
Alfred und Lydia sahen ihn starr an.
«Das Bild meines Vaters?», stammelte Alfred. «Weshalb?»
Mit einer Handbewegung erklärte Poirot:
«Es wird mich – wie soll ich sagen? – inspirieren.»
«Wollen Sie vielleicht dieses Verbrechen mit Hellseherei lösen, Monsieur Poirot?», fragte Lydia höhnisch.
«Nennen wir es so, Madame: Ich will nicht nur die physischen Augen dabei benützen, sondern auch die geistigen.»
Sie zuckte die Achseln.
«Ferner möchte ich die wahren Umstände kennen lernen, unter welchen der Gatte Ihrer Schwester, Juan Estravados, starb.»
«Ist das notwendig?», fragte Lydia.
Doch Alfred beantwortete die Frage bereits.
«Juan Estravados tötete im Verlauf eines Streits um eine andere Frau einen Mann in einem Kaffeehaus.»
«Wie brachte er ihn um?»
Alfred sah Lydia bittend an.
«Er erstach ihn», fuhr Lydia gleichmütig fort. «Juan Estravados wurde nicht zum Tod verurteilt, weil er zu seiner Tat herausgefordert worden war. Er bekam eine Zuchthausstrafe und starb im Gefängnis.»
«Weiß seine Tochter davon?»
«Ich glaube nicht.»
«Nein, Jennifer sagte ihr nichts davon», murmelte Alfred.
Plötzlich fuhr Lydia auf. «Sie glauben doch nicht etwa, dass Pilar… Das wäre Unsinn!»
Poirot überhörte diesen Einwurf.
«Nun, Mr Lee, würden Sie mir vielleicht auch nähere Einzelheiten über Ihren Bruder Harry anvertrauen?»
«Was wollen Sie wissen?»
«Soviel ich begriffen habe, wird er irgendwie als Schandfleck der Familie angesehen. Warum?»
Alfreds Gesicht bekam wieder etwas Farbe.
«Er stahl einmal eine große Summe Geld, indem er den Namen meines Vaters auf einem Scheck fälschte. Natürlich hat mein Vater ihn nicht dafür zur Rechenschaft gezogen. Harry war immer ein Tunichtgut. Überall auf der ganzen Welt ist er in Schwierigkeiten geraten. Immer musste er telegrafieren, man solle ihm Geld schicken, weil er in einer Klemme steckte. Er hat auch einige Gefängnisstrafen abgesessen.»
«Das weißt du nicht bestimmt, Alfred», wies Lydia ihn zurecht.
Aber er fegte ihren Einwand mit einer Handbewegung beiseite. «Harry ist ein Lump! War immer einer!»
«Sie scheinen Ihren Bruder nicht zu mögen», stellte Poirot fest.
«Er hat meinen Vater ausgenützt – auf schändliche Weise!»
Lydia seufzte kurz und ungeduldig auf. Poirot hörte es und warf ihr einen scharfen Blick zu.
«Wenn doch wenigstens diese Diamanten gefunden werden könnten», sagte sie. «Mich dünkt, dort liegt die Lösung des ganzen Falls.»
«Sie sind gefunden worden, Madame. Und zwar in Ihrem kleinen Garten, der das Tote Meer darstellt.»
«Sie sind… In meinem Garten? Wie seltsam!»
«Nicht wahr, Madame?»