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Jede Glückssträhne war einmal zu Ende, und die Frenchs war es jetzt.

Es begann mit dem Heulen - einem schrillen, in den Ohren schmerzenden Laut, der zuerst kaum wahrnehmbar war, aber rasch an Intensität gewann und dabei auf- und abschwoll, bis er jede einzelne Faser seines Korpers zum Vibrieren und seine Zähne schmerzhaft aufeinanderschlagen ließ. Das Geräusch schwoll an, brach ab, schwoll an, brach ab, in einem endlosen, monotonen Rhythmus, der immer hektischer und schneller wurde, bis er Frenchs Herzschlag in seinen Takt zu zwingen und sein bewußtes Denken auszuschalten schien. French taumelte stöhnend und blind durch den rostzerfressenen Gang, und er nahm kaum wahr, wie einige Spinnen mit raschen, eckigen Bewegungen an ihm voruberhasteten, ohne ihn auch nur zu registrieren. Er stürzte, und die Tonnenschwere, mit denen dieser Teil der Spinnenwelt seine Glieder ausfüllte, machte es ihm unmöglich, sich wieder in die Höhe zu stemmen.

Endlich hörte es auf. Das Wimmern verstummte nach einem letzten, schrillen Kreischen, das diesmal so intensiv gewesen war, daß es French das Atmen unmöglich gemacht hatte, und er blieb minutenlang schwer atmend auf der Seite und mit geschlossenen Augen liegen. Sein Körper fühlte sich an, als wäre er mit Hämmern bearbeitet worden, und jede Bewegung war eine Qual. Aber er konnte nicht hierbleiben. Er glaubte, das Verhalten der Spinnen zumindest so weit durchschaut zu haben, daß sie ihn so lange für einen der ihren zu halten schienen, wie er sich so benahm; ungeachtet seines Aussehens. Aber die Kreaturen, die er gesehen hatte, waren unter dem gräßlichen Geräusch nicht zusammengebrochen, sondern im Gegenteil zu hektischer Aktivität erwacht. Wenn er hierblieb, dann würde früher oder später eines dieser Ungeheuer stehenbleiben und nach seinem vermeintlich kranken Bruder sehen. Und das wäre sein Ende.

Der Gedanke gab ihm noch einmal die Kraft, sich wenigstens auf Hände und Knie hochzustemmen. Einen Moment lang blieb er so hocken und schöpfte Atem, dann biß er die Zähne zusammen, suchte ungeschickt mit der plumpen Handattrappe des Tarnanzuges an der Wand Halt und zog sich in die Höhe.

Alles drehte sich um ihn. Der Boden unter seinen Füßen zitterte, und in der Luft waren plötzlich Geräusche, die er erst nach und nach wahrzunehmen begann, denn seine Ohren klingelten noch immer von dem schrillen Geheul und Gewimmer. Er hörte ein dumpfes Grollen, wie das Anlaufen schwerer Maschinen, tief unter seinen Füßen, und schrille, zwitschernde Pfeif- und Klicklaute, die ihn auf beunruhigende Weise an die Sprache der Spinnen erinnerten, aber so klangen, als würden sie von einem Wesen aus Metall erzeugt.

Zitternd sah er sich um. Im Moment waren keine anderen Spinnen zu entdecken, aber er befand sich nur wenige Schritte vom Eingang eines großen Raumes entfernt, in dem er hastige Bewegung wahrnahm. Beinahe ohne selbst genau zu wissen warum, wankte er gegen die Wand gelehnt auf diese Tür zu und sah hindurch.

Der Saal war fast so groß wie der, hinter dessen durchsichtiger Wand er die Erde gesehen hatte, aber in drei ineinandergeschachtelte Ebenen unterteilt, auf denen sich Dutzende der großen sechsarmigen Kreaturen bewegten. French vermochte keinen Sinn in dieser Bewegung zu erkennen, aber sie wirkte hektischer und nervöser als alles, was er zuvor gesehen hatte, und er vermutete, daß es etwas mit dem furchtbaren Lärm zu tun hatte; und mit der Veränderung, die anschließend mit der Spinnenwelt vor sich gegangen war.

Voller plötzlichem Schrecken fiel ihm die Möglichkeit ein, daß es vielleicht ein Alarm gewesen war, den er gehört hatte, und daß dieser Alarm vielleicht niemand anderem als ihm gegolten hatte - vielleicht hatten sie sein Eindringen endlich bemerkt und begannen, nach ihm zu suchen.

Er hörte ein Geräusch hinter sich, drehte mühsam den Kopf und fuhr entsetzt zusammen, als er sah, daß sich gleich ein halbes Dutzend der riesigen schwarz-glitzernden Kreaturen auf ihn zubewegte. Der allergrößte Teil davon schien ihn nicht einmal zu bemerken, aber French registrierte voller Unbehagen, wie sich die Blicke zweier der gewaltigen Ungeheuer direkt auf ihn richteten. Mit einer Anstrengung, zu der er sich noch vor einer Sekunde nicht in der Lage gefühlt hätte, stieß er sich von der Wand ab und richtete sich gerade auf, obgleich dabei ein Schmerz durch seinen Rücken schoß, als würden ihm sämtliche Knochen gebrochen. Aber irgendwie brachte er das Kunststück fertig, hoch aufgerichtet und reglos stehenzublieben, bis die Spinnen an ihm vorübergegangen waren. Dann machte er einen vorsichtigen Schritt, spürte, wie er das Gleichgewicht zu verlieren drohte, streckte erschrocken die Hand aus, um sich an der Wand abzustützen - und fiel beinahe durch die Tür. Im letzten Moment fand er seine Balance wieder und rettete sich durch einen ungeschickten Schritt nach vorn und ein Stück zur Seite. Ein Prickeln eisigen Entsetzens durchfuhr French. Er war direkt in eine der hektisch arbeitenden Spinnengruppen hineingestolpert. Es war eine große, metallisch-silbern schimmernde Maschine voller sinnverwirrender Skalen und Hebel, an der sie sich zu schaffen machten. Nur um überhaupt etwas zu tun, hob French die Hände und täuschte ebenfalls eine gewisse Aktivität vor - was vielleicht ein Fehler war, denn die neben ihm stehende Spinne drehte sich mit einer schnellen Bewegung herum und pfiff ihm etwas zu. Natürlich verstand er nicht, was sie ihm sagte, aber er begriff, was sie meinte. Hastig zog er die Hand zurück, blickte das Wesen eine Sekunde lang an und drehte sich dann in eine Haltung herum, von der er zumindest hoffte, daß die Spinne es für Schuldbewußtsein und Demut hielt, und schlurfte davon. Die Kreatur blickte ihm noch eine Sekunde nach, dann wandte sie sich wieder ihrer Tätigkeit zu und schien ihn auf der Stelle zu vergessen.

Frenchs Herz schlug zum Zerspringen. Er durfte sich keinen weiteren solchen Fehler leisten. Aber er konnte auch nicht einfach so stehenbleiben und gar nichts tun, denn inmitten all dieser nervösen Aktivität des Hin- und Herhastens und Pfeifens und Hantierens wäre er dadurch nur um so mehr aufgefallen. So ging er mit mühsamen kleinen Schritten weiter und sah sich dabei nach einem Versteck um.

Natürlich fand er keins, aber er entdeckte etwas anderes.

Im hinteren Drittel des Raumes, auf der höchsten der drei verschiedenen Ebenen, erhob sich eine Konstruktion, die selbst in dieser Welt aus Wunder und unverständlichen Dingen noch sonderbar wirkte: Es war ein Ring aus silberfarbenem Metall, kaum so dick wie zwei nebeneinandergelegte Finger und vielleicht drei oder vier Meter durchmessend. Und er schwebte ohne irgendeinen sichtbaren Halt einen halben Meter über dem Boden.

Irgend etwas ... ging von ihm aus. French spürte es, und obwohl er noch nicht einmal zu raten wagte, was es war, machte es ihm angst. Ja, mehr noch - es erfüllte ihn mit Entsetzen und Panik. Obwohl es, abgesehen von der Tatsache seines Schwebens, nichts anderes als ein simpler Ring aus Stahl zu sein schien, hatte er das Gefühl, etwas unsagbar Fremdem, vielleicht nicht Bösem, auf jeden Fall aber Gefährlichem gegenüberzustehen. Es war, als ginge ein eisiger Hauch von diesem Metallring aus, eine Kälte, die nicht seinen Körper, wohl aber seine Seele streifte und etwas darin zu Eis erstarren ließ.

Für einige Momente fiel es French sogar schwer, seinen Blick wieder von der unheimlichen Konstruktion loszureißen. Mühsam drehte er den Kopf und starrte sekundenlag eine der bizarren, in ein halb zerrissenes Netz aus klebrigen, grauen Fäden eingesponnenen Spinnenmaschinen an, die ihn noch vor Augenblicken bis ins Mark erschreckt hatten. Jetzt schien es ihm, als wäre ihr Anblick trotz allem hundertmal normaler als der dieses scheinbar so schlichten, harmlosen Metallreifens.

Ziellos ging er ein paar Schritte weiter, drehte sich wieder herum und wollte zurück zum Ausgang gehen, um den Saal wieder zu verlassen, als der Boden unter seinen Füßen plötzlich abermals zu vibrieren begann; gleichzeitig erscholl ein neuer, schriller Heulton, der sich aber auf diesen einen Raum zu beschränken schien. Er sah, wie sämtliche Spinnen von ihren Arbeiten aufblickten und sich auf einen Punkt hinter ihm konzentrierten, und ganz automatisch blieb auch French stehen und hob wieder den Kopf.

Was er sah, das paralysierte ihn im ersten Moment, und vermutlich rettete ihm diese Lähmung das Leben, denn hätte es sie nicht gegeben, dann hätte er vor Schreck laut aufgeschrien.

Der Ring, der noch vor einer Sekunde nichts als ein schmuckloser Kreis aus Metall gewesen war, hatte sich mit wabernder Schwärze gefüllt. Es war nichts Körperliches, nichts, das wirklich da war, sondern die Schwärze der Unendlichkeit, die Abwesenheit von Licht, von Materie, vielleicht von Raum. Etwas wie eine Bewegung wogte darin, und noch bevor Frenchs Verstand bei dem Versuch, es wirklich zu erkennen, endgültig zusammenbrechen konnte, schien sich die Dunkelheit zu einem Körper zusammenzuballen. Und plötzlich trat eine riesige, sechsgliedrige Spinne von strahlendweißer Farbe aus der Schwärze heraus.

French starrte das Geschöpf entsetzt an. Er spürte, daß diese Spinne etwas Besonderes war, und es lag nicht nur an ihrer Farbe. In ihren Augen glomm eine beunruhigende Intelligenz, und eine Aura von fast körperlich greifbarer Macht umgab sie.

Die Dunkelheit hinter dem weißen Riesengeschöpf verblaßte langsam, so daß wieder der dahinterliegende Teil des Raumes zum Vorschein kam, und gleichzeitig hörte das Zittern des Bodens unter seinen Füßen auf. Die weiße Kreatur begann mit langen, aber nicht hastigen Schritten die metallenen Stufen vor dem Ring herabzuschreiten, und French erwachte endlich aus seiner Erstarrung und wich so schnell wie er es gerade noch wagte, ohne daß er auffiel, hinter eine der klobigen grauen Maschinen zurück.

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