»Das ist völlig unmöglich!« sagte Stone. Und obwohl Charitys logisches Denken ihr sehr deutlich sagte, daß es nicht sein konnte, glaubte sie einen nervösen Unterton in seiner Stimme zu vernehmen und ein leichtes, fast ängstliches Flackern in seinen Augen zu sehen. Aber konnte eine Computersimulation Angst haben?
»Wenn Sie noch eine Weile am Leben bleiben wollen«, fuhr Stones Gesicht auf dem winzigen Monitor fort, »dann vergessen Sie diesen hirnrissigen Plan und verschwinden aus dem Läufer, so schnell Sie nur können.«
»Wir würden draußen erfrieren«, antwortete Charity, aber Stone schüttelte heftig den Kopf und schnitt ihr das Wort ab:
»Ihre Anzüge schützen Sie eine Weile; vor allem, wenn Sie in Bewegung bleiben. Die Läufer dringen nie sehr weit in die Sperrzone ein. Und draußen sind Sie auf jeden Fall sicherer als hier drinnen. Glauben Sie mir - daß Sie noch nicht entdeckt worden sind, ist ein pures Wunder.«
Charity antwortete nicht sofort, sondern senkte das Gerät und schaltete es nach einem kurzen Zögern ganz aus, damit das darin gespeicherte alter ego Daniel Stones nicht hörte, was sie den anderen zu sagen hatte. Ganz sicher war sie allerdings nicht, daß es dies nicht trotzdem tat. Sie war vom ersten Moment an nicht sicher gewesen, ob sie diesen Apparat überhaupt ausschalten konnte. So wenig, wie sie wirklich sicher war, daß es nur ein Computer war.
»Dein Freund kommt mir ein bißchen nervös vor«, sagte Skudder, der hinter ihr gestanden und ihre Unterhaltung mit dem Apparat verfolgt hatte. »Ich frage mich, warum.«
»Es ist nicht unbedingt in seinem Interesse, wenn wir umgebracht werden - oder gefangengenommen«, antwortete Charity. Die Antwort vermochte nicht einmal sie selbst zu überzeugen.
Skudder nickte grimmig. »Ich beginne mich immer ernsthafter zu fragen, was überhaupt in seinem Interesse ist.«
»Sie sollten auf ihn hören«, sagte Phillipsen nervös. »Bis jetzt hat er uns noch nicht belegen.«
»Bis jetzt«, verbesserte ihn Leßter ruhig, »ist uns noch keine Lüge aufgefallen.«
Phillipsen wollte widersprechen, aber Charity beendete das Gespräch mit einer unwilligen Geste und schaltete den Minicomputer wieder ein. Als sich Stones Gesicht auf dem briefmarkengroßen Bildschirm wieder stabilisierte, glaubte sie einen vorwurfsvollen Ausdruck darauf zu erkennen.
»Es ist sehr unhöflich, seinen Gesprächspartner einfach abzuschalten«, sagte er.
»Es ist auch nicht höflich, wenn man versucht, ihn umzubringen«, antwortete Charity.
»Das war ich nicht«, sagte Stone gelassen. »Sie vergessen immer wieder, daß Sie nur mit einem Computer reden, Captain Laird.«
»Vielleicht sollte ich dich aufschrauben und nachsehen, ob das auch wirklich stimmt«, antwortete Charity. Abrupt kam sie wieder zum Thema zurück. »Wir haben über Ihren Vorschlag abgestimmt, Stone«, sagte sie. »Es tut mir leid, aber ich fürchte, es bleibt dabei. Wir werden versuchen, dieses Ding zu kapern.«
Stone wollte auffahren, aber Charity hob drohend den Daumen und senkte ihn dann auf den Knopf, der das Gerät deaktivierte, und Stone schluckte seine Antwort herunter.
»Also, Stone«, fuhr Charity fort. »Sie können uns helfen - oder ich schalte dieses verdammte Ding ab, und Sie lassen sich überraschen, was passiert. Ich muß allerdings zugeben, daß unsere Aussichten, es ganz allein zu schaffen, nicht besonders hoch sind. Und wenn man uns gefangennimmt und dieses Gerät bei uns findet...«
»Das ist Erpressung«, sagte Stone.
Charity nickte. »Ja.«
Stone schwieg einen Moment, als müsse er überlegen. Dann nickte er zögernd, wenn auch mit sichtlichem Widerwillen. »Also gut. Ich liefere Ihnen einen Aufriß des Läufers. Allerdings kenne ich nur die prinzipielle Konstruktion. Jede Maschine ist anders. Es kann also durchaus sein, daß der Plan nicht ganz stimmt.«
»Dieses Risiko nehmen wir in Kauf«, sagte Charity lakonisch.
»Genau diese Antwort habe ich befürchtet«, sagte Stone. »Und - noch etwas, nur der Ordnung halber. Ich beuge mich nicht Ihrer Erpressung, Captain Laird. Im Fall, daß Sie getötet oder gefangengenommen werden, wird sich dieses Gerät selbst vernichten, und es wird nicht die mindeste Spur zurückbleiben, mein Wort darauf.«
Charity ersparte sich eine Antwort darauf. Es erschien ihr wenig sinnvoll, mit einer Maschine zu streiten. Statt dessen wartete sie, bis die versprochene Konstruktionszeichnung des Läufers auf dem Bildschirm erschien und hielt das Gerät am ausgestreckten Arm so weit von sich weg, daß sie alle den winzig kleinen Bauplan sehen konnten. Es war tatsächlich nur eine grobe Skizze, aber immerhin sah Charity, daß Leßters Vermutung richtig gewesen war - die Steuereinheit des Maschinenkolosses befand sich tatsächlich in jener silbernen Halbkugel auf der anderen Seite der Fabrikhalle.
»Wie kommen wir dorthin, ohne gesehen zu werden?«
Auf dem Bildschirm erschien wieder Stones Gesicht. »Es müßte einen Laufsteg geben, der unter der Decke der Halle entlangführt.«
Charity machte eine Geste zu Leßter. »Bitte sehen Sie nach.«
Der junge Soldat ging, und Charity wandte sich wieder an Stone. »Wie wird dieses Ding gesteuert?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Stone, und sie hörte am Ton seiner Stimme, daß es die Wahrheit war.
»Aber selbst wenn es Ihnen gelingen würde, ihn zu kapern, wäre das völlig sinnlos«, fuhr er fort. »Sie glauben doch nicht, daß Sie mit dem Läufer unbemerkt auch nur in die Nähe der Stadt kämen?«
»Wer sagt, daß wir das wollen?« erwiderte Charity. »Vielleicht genügt es uns ja, ein bißchen Aufregung zu stiften.«
Sie schenkte sich selbst eine Sekunde, in der sie sich an dem verblüfften Gesicht Daniel Stones weidete, dann schaltete sie das Gerät ab und steckte es mit einer raschen Bewegung in die Tasche.
Als sie den Reißverschluß zuzog, kehrte Leßter zurück.
»Der Steg ist da«, antwortete er, als sie ihn fragend ansah. »Genau wie Stone gesagt hat. Er führt unter der Decke entlang.«
»Bis zur Kuppel?«
Leßter zuckte mit den Schultern. »Das konnte ich nicht erkennen. Die Halle ist voller Dampf und Rauch. Aber das wird uns auch schützen. Wenn Sie nicht direkt nach uns suchen, werden sie uns kaum sehen.«
Charity hoffte inständig, daß Leßter recht hatte und die Ameisen nicht zum Beispiel sehr viel besser sahen, als sie annahmen.
Vorsichtig und einer nach dem anderen traten sie wieder in die große Halle hinaus. Die Tatsache, daß fast jeder Fußbreit Boden und jeder nur irgendwie erreichbare Quadratmeter der Wände mit Maschinen und Apparaturen übersät war, erwies sich nun als sehr nützlich, denn sie mußten nur wenige Schritte deckungsloses Gelände überwinden, ehe sie sich wieder hinter eine der zyklopischen Apparaturen ducken konnten.
Charity blickte angestrengt nach oben und glaubte nach einigen Augenblicken tatsächlich ein dünnes, geländerloses Silberband hoch über sich zu erkennen. Bei dem bloßen Gedanken, darüber laufen zu sollen, schwindelte ihr schon.
»Und wie kommen wir hinauf?« fragte Skudder.
»Das ist kein Problem«, antwortete Leßter. Er hob den Arm und deutete auf einen Punkt ein Stück rechts von ihnen, vielleicht zwanzig Schritte entfernt. »Es gibt eine Leiter, sehen Sie?«
Skudders Augen wurden groß, und auch Charity zuckte unmerklich zusammen, als sie sah, was Leßter in einem Anfall von Größenwahn als Leiter bezeichnet hatte. Es waren die gleichen falsch angeordneten Sprossen wie die, die sie schon einmal in die Höhe gestiegen waren, aber diese Leiter führte gute hundertfünfzig Meter weit an der Wand hinauf, und sie führte nicht durch einen engen Schacht, an dessen Wänden sie immer wieder Halt finden und sich einen Moment ausruhen konnten.
»Du willst doch nicht im Ernst da hinauf?« keuchte Faller.
»Eigentlich nicht«, antwortete Leßter. »Wenn jemand eine bessere Idee hat...?«
Aber die hatte niemand.