21


Nach allem, was sie auf dem Weg hierher erlebt - und vor allem erwartet! - hatte, war es beinahe zu leicht. Das Luftkissenfahrzeug legte die restliche Distanz zu den Doppeltürmen des World Trade Centers mit der gleichen Selbstverständlichkeit zurück wie bisher, umkreiste das Gebäude zur Hälfte und glitt dann in eine Tiefgarage, deren Tore sich selbsttätig vor ihm öffneten, als es näher kam.

Das Fahrzeug glitt in die riesige unterirdische Halle, und Gurk schaltete die Scheinwerfer ein. Das bleiche Licht riß verrostete Autowracks aus der Dunkelheit, fünfzig Jahre alten Unrat und den Staub eines halben Jahrhunderts, hier und da auch ein menschliches Skelett, das fortzuschaffen sich niemand die Mühe gemacht hatte.

»Ich glaube kein Wort«, sagte Skudder. »Das ist eine Falle! Ich spüre es einfach!«

Er begann unruhig auf seinem Sitz hin- und herzurutschen und fingerte immer nervöser am Abzug seines Gewehres herum, so daß sich Charity mit einem verstohlenen Blick davon überzeugte, daß die Waffe gesichert war. Aber sie sagte nichts. Ihr selbst erging es kaum anders - etwas in ihr wußte einfach, daß sie Stone nicht trauen konnten. Gurks Geschichte paßte einfach ein wenig zu gut zu der, die Stone ihr selbst erzählt hatte. Auch sie selbst spürte eine immer stärker werdende Nervosität, die es ihr fast unmöglich machte, weiter stillzusitzen.

Sie wandte sich mit einem Blick an Gurk. »Und jetzt?«

Der Zwerg löste die linke Hand vom Steuer und deutete auf die geschlossenen, rostzerfressenen Türen eines Liftes am anderen Ende der Halle. Das Luftkissenfahrzeug bewegte sich langsam darauf zu. »Dieser Aufzug dort hinten wartet auf uns«, sagte er, drehte am Steuer und wich fast im rechten Winkel von ihrem bisherigen Kurs ab. »Aber wir werden ihn nicht nehmen.«

»Wieso?«

Gurk machte ein abfälliges Geräusch. »Weil ich dieser Ratte ebensowenig traue wie du, Schätzchen«, sagte er. »Es gibt noch einen anderen Weg nach oben. Und den werden wir nehmen.«

Er steuerte das Fahrzeug nahezu ans andere Ende der Halle und hielt an, löschte aber weder die Scheinwerfer, noch schaltete er den Motor aus.

Charity drehte sich mit einer erzwungen langsamen Bewegung zu Leßter auf dem Rücksitz herum - und riß erstaunt die Augen auf.

Leßter hatte sich aufgesetzt. Er hockte vornübergebeugt und in verkrampfter Haltung da, und sein Gesicht war noch immer blaß und seine Mundwinkel zuckten vor Schmerz. Aber er sah sie an, und das Lächeln auf seinem Gesicht war nicht nur echt, sondern beinahe triumphierend. »Ich habe Ihnen doch gesagt, ich brauche nur ein paar Minuten«, sagte er. »Ich will nicht unbedingt behaupten, daß ich mich in der Verfassung fühle, einen Marathon-Lauf zu bewältigen. Aber ich denke, ich kann aus eigener Kraft gehen.«

»Das ist doch ... unmöglich!« flüsterte Charity.

»Ich werde Ihnen nicht zu Last fallen, Captain Laird«, fuhr Leßter fort.

Charity starrte ihn an. Für einen Augenblick weigerte sie sich einfach zu glauben, was sie sah. Aber gleichzeitig war es wieder da - dieses Gefühl, im Grunde ganz genau zu wissen, was hier vorging, kein bißchen überrascht, sondern eigentlich nur erstaunt und allerhöchstens erschrocken zu sein. Aber wie beim ersten Mal entglitt ihr der Gedanke, als sie danach greifen wollte, und zurück blieb nichts als eine tiefe, mit Fassungslosigkeit gepaarte Verwirrung.

»Wie haben Sie das gemacht?« flüsterte sie.

»Ein altes Hausrezept meiner Mutter«, antwortete Leßter grinsend. »Vielleicht verrate ich es Ihnen bei Gelegenheit.«

Charity schluckte die Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag. Jetzt war nicht der Moment, mit Leßter zu streiten. Aber sie fügte der langen Liste von Fragen, die sie diesem Mann stellen wollte, einige weitere Punkte hinzu.

Nacheinander stiegen sie aus dem Fahrzeug. Leßter bewegte sich mühsam und mit verkrampften Rucken, aber sie konnte beinahe sehen, wie sich sein Zustand besserte. Für einen Mann, der noch vor zehn Minuten mit dem Tod gerungen hatten, fand sie, war er sogar in Topform.

Sie wartete darauf, daß Gurk die Maschinen des Wagens abstellte, aber statt dessen kletterte der Zwerg plötzlich zurück hinter das Steuer, fuchtelte wild mit den Händen, damit sie einige Schritte beiseite traten, und ließ das Luftkissenfahrzeug dann auf der Stelle herumschwenken. Charity konnte nicht mehr erkennen, was er tat, aber plötzlich heulten die Turbinen des Wagens auf, und Gurk fand gerade noch Zeit, sich mit einem fast grotesken Hüpfer aus der Tür zu werfen, als der Wagen losschoß und immer schneller werdend in der Dunkelheit der Tiefgarage verschwand.

»Los jetzt!« befahl Gurk. »Weg hier!«

Sie stürmten los, wobei Charity und Skudder Leßter kurzerhand unter den Armen ergriffen und zwischen sich herzerrten, denn er war zwar in der Lage, aus eigener Kraft zu gehen, aber nicht zu rennen. In der fast vollkommenen Dunkelheit hier unten fiel es Charity schwer, irgend etwas zu erkennen, das weiter als drei oder vier Meter von ihnen entfernt war, aber Gurk schien seinen Weg mit schon fast unheimlicher Sicherheit zu finden. Haken schlagend wich er rostigen Trümmerstücken und Betonpfeilern aus und näherte sich mit weit ausgreifenden Schritten einer schräg in den Angeln hängenden Metalltür.

Einen Augenblick, bevor sie sie erreichten, hörte Charity ein ungeheures Krachen und Bersten, und im gleichen Sekundenbruchteil wurde die Tiefgarage ins blutrote Licht einer gewaltigen Explosion getaucht. Sie nahm sich nicht die Zeit, einen Blick zurückzuwerfen, sondern griff im Gegenteil noch schneller aus, um zu Gurk aufzuholen, der die Tür mittlerweile erreicht hatte und sich vergeblich bemühte, sie weit genug aufzustoßen, um hindurchschlüpfen zu können. Eine zweite Explosion ließ den Boden unter ihren Füßen zittern, und hinter ihnen schössen Flammen in die Höhe.

»Das wird sie eine Weile aufhalten«, sagte Gurk, während er weiter mit aller Kraft, aber vergeblich an der festgerosteten Tür zerrte. »Bis sie merken, daß der Wagen leer war, sind wir vielleicht schon auf dem Mars.«

Skudder und sie halfen dem Zwerg, und mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die Tür so weit zu öffnen, daß sie sich mühsam durch den schmalen entstandenen Spalt zwängen konnten.

Der Raum dahinter lag in vollständiger Dunkelheit da, aber Charitys Füße ertasteten die unterste Stufe einer steil in die Höhe führenden Treppe aus rissigem Beton. Sie machte einen Schritt, blieb stehen und suchte im Dunkeln nach Leßters Arm, aber der Soldat schob ihre Hand zur Seite.

»Es geht schon«, sagte er. »Ich komme allein zurecht. Danke.«

Charity konnte ihn nicht sehen, obwohl er kaum einen halben Meter neben ihr stand - aber seine Stimme klang deutlich kräftiger als zuvor. Erneut schauderte sie. Wer war dieser Mann?

Dem trappelnden Geräusch von Gurks Schritten folgend liefen sie die Treppe hinauf. Gurk öffnete eine Tür an ihrem oberen Ende und schloß sie so hastig wieder, daß Charity nur das flüchtige Aufblitzen eines schmalen Lichtstrahles sah.

»Was ist los?« fragte sie.

»Ameisen!« antwortete Gurk alarmiert. »Hunderte. Hier oben ist der Teufel los.«

»Was hast du nach dem Feuerwerk erwartet, das du veranstaltet hast?« fragte Skudder.

Sie konnte Gurks Kopfschütteln nicht sehen, aber deutlich hören. »Es sind Krieger«, sagte er. »Entweder es ist wirklich eine Falle, oder...«

»Oder?« hakte Charity nach, als Gurk nicht weitersprach.

»Oder irgend etwas ist schiefgelaufen«, sagte der Zwerg. »Hier kommen wir jedenfalls nicht durch.«

Sie stiegen zum nächsten Stockwerk hinauf, und wieder öffnete Gurk vorsichtig eine Tür und spähte durch den Spalt. Diesmal schloß er sie nicht ganz so hastig wieder.

»Nun?« fragte Skudder.

»Nichts«, antwortete Gurk. »Alles ruhig.« Er überlegte einen Moment, dann: »In welchem Raum steht dieser ominöse Computer, den ihr in die Luft sprengen sollt?«

Charity nannte ihm die Nummer des Apartments, und wieder vergingen Sekunden, in denen Gurk schweigend in der Dunkelheit hockte.

»Das sind noch zwei Stockwerke«, sagte er schließlich. »Das gefällt mir nicht.«

Skudder deutete in der Dunkelheit nach oben. »Was ist mit dieser Treppe?« fragte er. »Wird sie überwacht?«

»Das nicht«, antwortete Gurk auf eine Art, die Charity aufhorchen ließ. »Aber wir können sie nicht nehmen. Es ist schon gefährlich genug, hier zu sein.«

»Wieso?«

»Sperr doch einfach mal deine Ohren auf«, rief ihr Gurk.

Im ersten Moment konnte Charity mit dieser Antwort herzlich wenig anfangen - aber dann tat sie, was Gurk vorgeschlagen hatte, und lauschte angestrengt. Einige Sekunden vergingen, ohne daß sie mehr registrierte als das Geräusch ihres eigenen Herzschlages und die schnellen Atemzüge der anderen; aber dann hörte sie doch etwas. Es war ein Geräusch dicht an der Grenze des überhaupt noch Wahrnehmbaren, ein Schaben und Kratzen, als bewege sich ein schwerfälliger gepanzerter Körper auf Hunderten und Aberhunderten von Beinen langsam über Beton oder Metall, und darunter etwas wie die Atemzüge eines asthmatischen Darth Vader. Eine Sekunde lang versuchte sie, in ihrer Phantasie das Bild des zu diesen Geräuschen passenden Körpers heraufzubeschwören. Aber es gelang ihr nicht, und eigentlich war sie auch ganz froh darüber.

Gurk öffnete abermals die Tür und spähte auf den Gang hinaus. In dem blassen Licht, das durch den Spalt hereinfiel, wirkte sein Gesicht grau und um Jahrhunderte gealtert. Für einen Moment glaubte sie wieder diesen Ausdruck uralten, verborgenen Wissens in seinen Augen zu erkennen; das wirkliche Gesicht dieses sonderbaren Wesens, das sich sonst stets hinter der Maske des Clowns verbarg. Aber auch jetzt war sie nicht ganz sicher. Es war, als wäre Gurks wirkliches Ich etwas, das man stets nur am Rande des Sichtbaren erkennen konnte, wie etwas, das man aus den Augenwinkeln sah und das immer verschwunden war, wenn man versuchte, genauer hinzusehen.

»Also gut«, sagte Gurk schließlich schweren Herzens. »Riskieren wir es.«

Vorsichtig stieß er die Tür ganz auf und trat auf den dahinterliegenen Korridor hinaus, und Charity, Skudder und Leßter folgten ihm.

Ein unheimliches Gefühl des déjà vu überkam Charity, als sie hinter dem Zwerg in den breiten, sonnendurchfluteten Korridor trat. Die Luft hier oben roch frisch, nicht abgestanden und nach fünfzig Jahre altem Staub wie die unten in der Garage oder im Treppenhaus. Auf dem Boden lag ein flauschiger Teppich, der so aussah, als wäre er erst gestern frisch verlegt worden, und an den Wänden hingen die gleichen farbigen Kunstdrucke und Bilder wie vor fünfzig Jahren.

Nirgendwo war das mindeste Anzeichen von Verfall oder gar Zerstörung zu sehen. Die gleichförmigen Türen mit den polierten Messingnummern, hinter denen sich früher Büroräume und Apartments befunden hatten, wirkten so, als müßten sie jeden Moment aufgehen und eine Sekräterin auf dem Weg in die Mittagspause, einen Botenjungen, ein Manager in Maßanzug und Krawatte entlassen, und für einen winzigen Moment bildete Charity sich sogar ein, die dazu passenden Geräusche zu hören. Der Moment verging so schnell, wie er gekommen war, aber er hinterließ einen bitteren Nachgeschmack in Charity. Es waren Situationen wie diese, der Anblick vollkommener Unversehrtheit inmitten einer Zerstörung, die einen ganzen Planeten befallen hatte, die ihr immer wieder vor Augen führten, was wirklich hier geschehen war. Selbst wenn es ihnen gelang, die Insektenkrieger von Moron zu vertreiben, und vielleicht sogar die möglicherweise noch größere Gefahr, die sie mit ihrer Invasion heraufbeschworen hatten, dieser Planet würde nie wieder sein, was er gewesen war.

Sie vertrieb den Gedanken und konzentrierte sich wieder auf den Zwerg, der mit langsamen, aber trotzdem zielsicheren Schritten auf einen Aufzugschacht zuging. Jeden Moment rechnete sie damit, eine der Türen aufspringen und Scharen bewaffneter Ameisen herausquellen zu sehen, aber nichts dergleichen geschah. Unbehelligt erreichten sie den Lift, dessen Türen offenstanden und nichts als eine leere Kabine zeigten.

Sie traten ein, und Charity streckte die Hand aus, um den Knopf für die dritte Etage zu drücken, aber Gurk schlug ihren Arm mit einer erschrockenen Bewegung herunter und schüttelte den Kopf. Gleichzeitig deutete er mit der anderen Hand zur Kabinendecke hinauf. »Dort hinauf«, sagte er.

Charity sah ihn fragend an.

»Wie bitte?« fragte Skudder überrascht.

»Sicher ist sicher«, antwortete Gurk. »Außerdem ist die Luft dort oben sowieso gesünder. Beeilt euch.«

Skudder starte den Zwerg an, richtete sich aber dann zu seiner vollen Größe und streckte die Arme aus. Seine Hände glitten über das Dach der Kabine und fanden den Notausstieg. Mühelos schob er die Klappe auf, half zuerst Charity und dann Gurk, auf das Kabinendach hinaufzusteigen, und streckte schließlich die Hand nach Leßter aus. Aber der junge Soldat schüttelte den Kopf.

»Was soll das?« fragte Skudder ungeduldig.

»Irgend jemand muß dieses Ding bedienen, oder?« sagte Leßter ruhig. Er stand jetzt ganz aufrecht da. Die Blässe war aus seinem Gesicht gewichen, und seine Hände hatten aufgehört zu zittern. »Sie werden mir nichts tun. Sie suchen Sie und Captain Laird und allenfalls noch diesen komischen Zwerg.«

»Wen meinst du mit komischer Zwerg?« keifte Gurk vom Dach herab.

Leßter überging die Frage und streckte die Hand aus. »Gib mir diesen Ausweis, den Stone dir gegeben hat«, verlangte er.

»Fällt mir nicht ein!« sagte Gurk aufgebracht.

»Nun, dann ist es vielleicht besser, wenn ich hinaufsteige und du hier herunterkommst, um den Lift zu bedienen«, antwortete Leßter ruhig. »Und den Kriegern erklärst du, was du hier tust, falls du recht hast und sie wirklich dort oben auf uns warten.«

Gurk riß verblüfft die Augen auf, griff aber dann gehorsam unter sein Cape und förderte den kleinen Impulsgeber zutage, den er Leßter mit einer lässigen Bewegung in die Kabine hinabwarf. Der Soldat fing ihn auf und steckte ihn in die Tasche, dann half er Skudder, sich selbst als letzten auf das Kabinendach hinaufzuziehen. Charity wollte noch etwas sagen, aber Gurk warf mit einem Knall die Klappe zu und stellte sich demonstrativ darauf. »Wer ist dieser Kerl?« fragte er zornig.

»Das würde ich auch gern wissen«, antwortete Charity. Skudders Beitrag zu der kurzen Unterhaltung beschränkte sich auf einen finsteren Blick.

Sie hörten, wie Leßter unter ihnen die Türen zugleiten ließ, dann setzte sich die Kabine ruckend, aber nahezu lautlos in Bewegung. Charity machte einen halben Schritt zur Seite, um dem rauhen Beton auszuweichen, der plötzlich neben ihr in die Tiefe glitt, und achtete gleichzeitig darauf, den schwirrenden Kabeln nicht zu nahe zu kommen. Die Kabine näherte sich den geschlossenen Türen des zweiten Stockwerkes, passierte sie - und hielt mit einem so plötzlichen Ruck an, daß Charity um ein Haar von den Füßen gerissen worden wäre.

»Was...« begann Gurk erschrocken, brach mit einem keuchenden Laut wieder ab, als Skudder ihm kurzerhand seine riesiege Pranke auf den Mund legte. Auch Charity erstarrte für einen Moment. Sie konnte hören, wie die Lifttüren unter ihnen quietschend aufglitten, dann drang das harte klackende Geräusch nichtmenschlicher, horniger Füße zu ihnen herauf.

Charity und Skudder tauschten einen erschrockenen Blick. Der Hopi ließ Gurk vorsichtig los, während Charity sich behutsam auf ein Knie herabsinken ließ und die Klappe in der Kabinendecke um eine Winzigkeit anhob; gerade weit genug, um hindurchblicken zu können.

Was sie sah, ließ ihr vor Schrecken fast das Blut in den Adern gefrieren. Die Kabine hatte angehalten, und die Gestalten zweier riesiger Insektenkrieger waren durch die Tür auf Leßter zugetreten. Einer von ihnen stand in eindeutig drohender Haltung da und richtete gleich zwei Waffen auf ihn, der andere redete mit schriller, pfeifender Stimme auf ihn ein - und Charity riß erstaunt die Augen auf, als sie hörte, wie Leßter in der gleichen Art antwortete. Auch er gestikulierte heftig mit den Armen, und etwas an seinen Gesten war falsch. Charity konnte das Gefühl nicht in Worte kleiden, aber es schien irgendwie nicht die Gestik eines Menschen zu sein; die Bewegungen waren kompliziert und abgehackt und wirkten manchmal fast grotesk, aber sie spürte, daß sie eine ebenso gewichtige Bedeutung hatten wie die unverständlichen Pfeif- und Zischlaute, die er ausstieß; Laute überdies, wie sie ein menschlicher Stimmapparat im Grunde gar nicht hervorbringen konnte.

»Was geht da vor?« flüsterte Skudder.

Charity machte eine hastige Geste, still zu sein. Gebannt beobachtete sie, was weiter geschah. Es war ihr ebensowenig möglich wie irgendeinem anderen Menschen, die Körpersprache und Gestik der Ameisen zu interpretieren, aber sie spürte die Spannung, die zwischen den ungleichen Wesen herrschte. Und dann geschah etwas Unheimliches: Etwas im Klang von Leßters Stimme änderte sich. Selbst Charity spürte die zwingende, suggestive Macht, die plötzlich in seinen Worten lag - und sie konnte regelrecht sehen, wie der Wille der beiden Krieger erlosch. Ihre Arme sanken schlaff nach unten, und für Augenblicke standen sie einfach reglos das, wie groteske, riesige Statuen. Dann wandten sie sich ohne einen Laut um, verließen die Kabine, und Leßter streckte die Hand nach der Schalttafel aus und ließ die Tür hinter ihnen wieder zugleiten. Dann drehte er sich auf der Stelle herum, hob den Kopf und lächelte zu Charity hoch.

Sie hielt seinem Blick nur eine halbe Sekunde stand, ehe sie die Klappe mit einem fast erschrockenen Ruck wieder zufallen ließ und sich verwirrt aufrichtete.

»Was war da los?« fragte Skudder noch einmal.

»Ich gäbe meine linke Hand dafür, es zu wissen«, flüsterte Charity. Die Worte galten nur ihr selbst, und als sie Skudders irritierten Blick bemerkte, beeilte sie sich, in verändertem Tonfall hinzuzufügen: »Er hat mit zwei von ihnen gesprochen.«

»Gesprochen?« wiederholte Skudder ungläubig.

»In ihrer Sprache«, bestätigte Charity.

Skudder blickte sie einen Moment lang aus weit aufgerissenen Augen an, dann verdüsterte sich sein Gesicht. »Vielleicht gehört er zu ihnen«, sagte er. »So wie Raoul damals.«

Charity fuhr unmerklich zusammen, als Skudder den Namen seines ehemaligen Stellvertreters und Vertrauten erwähnte, aber dann schüttelte sie den Kopf. Auch Raoul war äußerlich ein Mensch geblieben, obgleich in seinem Inneren ein Parasitenwesen genistet hatte, das ihn nicht nur langsam von innen heraus aufgefressen, sondern auch zu einer Marionette der Moroni gemacht hatte. Aber das war bei Leßter nicht der Fall. Sie hätten es gespürt, so wie sie es alle in Raouls Nähe gespürt hatten.

Selbst Skudder war das fast körperliche Unbehagen aufgefallen, das ihn immer überkam, wenn Raoul in seiner Nähe war. Er hatte nur nicht gewußt, was es bedeutete.

»Nein«, sagte sie entschieden. »Ich glaube, er ist...«

»... ein Jared«, sagte Gurk.

Skudder starrte ihn ungläubig an, während Charity nur nickte. Gurk hatte in Worte gekleidet, was sie schon seit einer Weile gefühlt hatte.

»Er hat recht«, sagte sie leise.

»Aber das ist unmöglich«, protestierte Skudder. »Ich war selbst dabei, als er aus dem Tiefschlaf geweckt wurde!«

»So wie alle anderen, die sie im Schlaf übernommen haben!«

Skudder schwieg. Ein bestürzter Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Aber wieso?« flüsterte Charity. »Wieso ... hat er uns geholfen, hierher zu kommen?«

»Vielleicht hat er das gar nicht«, murmelte Gurk. Charity sah ihn fragend an, und der Zwerg fuhr mit einer grimmigen Grimasse fort: »Vielleicht habt ihr ihm geholfen, hierher zu kommen.«

Der Aufzug kam abermals zum Halten, und Leßters Stimme drang gedämpft durch das Dach. »Ich könnt herunterkommen. Es ist alles in Ordnung.«

Charity öffnete die Klappe, sprang mit einer kraftvollen Bewegung in die Kabine hinab und trat beiseite, um Skudder und dem Zwerg Platz zu machen. »Finden Sie?« fragte sie. »Ich glaube nicht, daß hier irgend etwas in Ordnung ist, Leßter.«

Leßter sah sie fragend an.

»Wer sind Sie?« fragte Charity scharf. »Was sind Sie, Leßter? Und warum sind Sie hier?«

Für einen winzigen Augenblick spürte sie genau, daß Leßter nach einer Ausrede suchte, alles ableugnen wollte. Aber dann schien er einzusehen, wie wenig Sinn das noch hatte. Er zuckte mit den Schultern, lächelte ein fröhliches Kinderlächeln und breitete die Hände aus. »Ich kann verstehen, daß Sie das alles sehr verwirren muß, Captain Laird«, sagte er. »Aber bitte glauben Sie mir, daß ich auf Ihrer Seite stehe. Ihr und wir kämpfen gegen den gleichen Feind.«

»Für dieses Geständnis ist es ein bißchen spät, finden Sie nicht?« fragte Charity.

»Das stimmt«, gestand Leßter. »Aber der Zeitpunkt für dieses Gespräch ist auch nicht besonders günstig. Ich schlage vor, wir besprechen alles später. Vertrauen Sie mir.«

Er deutete durch die offenstehenden Aufzugtüren auf den Gang hinaus. »Ich kann sie für eine kurze Weile täuschen. Aber nicht sehr lange. Wir müssen gehen.«

Charity hielt ihn am Arm zurück, als er die Kabine verlassen wollte. »Wohin?« fragte sie scharf.

Leßter wollte sich losreißen, aber Charity hielt seinen Arm mit eiserner Kraft fest, so daß er schon Gewalt hätte anwenden müssen, um ihren Griff zu sprengen. Eine Sekunde lang blickte er fast vorwurfsvoll auf ihre Hand herab. »Der Transmitter befindet sich nur wenige Schritte entfernt«, sagte er dann. »Wir können ihn erreichen - wenn wir nicht noch mehr Zeit verlieren.«

Sie verließen die Kabine. Wie Leßter gesagt hatte, war der Korridor zu beiden Seiten verlassen. Nirgends rührte sich etwas. Nicht der mindeste Laut war zu hören. Der Gedanke, daß sie sich praktisch im Zentrum der Macht der Moronikolonie auf diesem Planeten befanden, kam Charity fast absurd vor. Es konnte nicht so einfach sein.

Und das war es auch nicht.

Sie gingen bis zum Ende des Korridors, bogen nach rechts ab - und Charity riß erschrocken ihre Waffe in die Höhe, als sie sah, daß der Gang vor ihnen voller Krieger war. Sie führte die Bewegung nicht zu Ende. Es war aussichtslos. Vor ihnen standen gut dreißig oder vierzig Insektenkrieger, und die meisten von ihnen zielten mit gleich zwei oder drei Waffen auf sie und die anderen. Und noch bevor sie herumfuhr, wußte sie, welcher Anblick sie erwarten würde - hinter ihnen hatten sich lautlos die Türen rechts und links des Korridors geöffnet, und eine zweite, ebenso große Anzahl von Ameisen rührten sich nicht, aber Charitys Bewegung schien eine jener Geste von universeller Bedeutung zu sein, denn sie eröffneten auch nicht das Feuer. Statt dessen teilte sich die stumm dastehende Reihe nach einigen Sekunden und gab den Weg zu einer Tür am anderen Ende des Korridors frei. Auch die Bedeutung dieser Bewegung war eindeutig.

Charitys Gedanken drehten sich wild im Kreis. Trotz allem weigerte sich etwas in ihr zu glauben, daß Gurk recht hatte. Es ergab einfach keinen Sinn, sie so weit kommen - und so viel Schaden anrichten! - zu lassen, nur um eines billiges Triumphes wegen. Hätte Stone ihnen eine Falle stellen wollen, hätte er das auf dem Weg hierher zehnmal bequemer und ungefährdeter tun können.

Die Tür am Ende des Korridors öffnete sich, und sie traten hindurch, begleitet von vier schweigenden Insektenkriegern, deren Waffen drohend auf ihre Rücken gerichtet waren.

Der Raum war sehr groß und vollkommen leer bis auf einen drei Meter durchmessenden, silberfarbenen Metallring, der schwerelos einen halben Meter über dem Boden schwebte. Und Daniel Stone und drei weitere Moroni.

Eines der Insektenwesen war eine ganz normale Ameise, wie sie sie alle kannten, die beiden anderen unterschieden sich sowohl in Größe als auch in ihrer Farbe von diesen. Sie wirkten schlanker, irgendwie zerbrechlich, und sie waren ein gutes Stück größer als die normalen Krieger und Arbeiterinnen. Ihr Hornpanzer war noch strahlend weißer, beinahe leuchtender Farbe, und in den Augen der beiden Albinoriesen glomm eine beunruhigende Intelligenz.

Charity trat mit noch immer erhobenen Händen auf Stone zu und blieb stehen, als der Moroni neben ihm eine drohende Handbewegung machte. Sie versuchte vergeblich, Zorn zu empfinden. Alles, was sie spürte, war ein Gefühl tiefer Niedergeschlagenheit; das Wissen, endgültig verloren zu haben. Es tat weh, aber sie fühlte keinen Zorn.

»Schade, Stone«, sagte sie traurig. »Und ich hatte gerade angefangen, Ihnen zu trauen.«

Stone sah sie und die anderen auf eine schwer zu deutende Art an. Sein Gesicht war starr, fast verkrampft, und sie suchte vergebens nach Triumph oder Befriedigung in seinem Blick. Ganz im Gegenteil sah er aus wie ein Mann, der Angst hatte.

»Sie haben Ihr Wort gebrochen, Captain Laird«, sagte er leise. »Wir hatten eine Abmachung.«

»Hatten Sie jemals vor, sie zu halten?« fragte Charity.

»Das hatte ich«, antwortete Stone leise und sehr traurig. »Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.«

Eines der beiden riesigen Albinowesen neben ihm stieß einen mißtönenden Pfiff aus, und eine Sekunde später hörten sie eine monotone Computerstimme, die die Laute in für Menschen verständliche Worte übersetzte: »Schweigen Sie, Governor Stone.«

Stone fuhr wie unter einem Hieb zusammen und warf der Ameise einen nervösen Blick zu, sagte aber nichts mehr, und das Albinowesen wandte sich an Charity.

»Sie haben uns großen Schaden zugefügt, Captain Laird.«

»Leider nicht genug, wie ich sehe«, sagte Charity, aber der Moroni ignorierte ihre Worte.

»Sie und Ihre Begleiter werden sich dafür verantworten müssen«, fuhr er ungerührt fort.

Charity blickte ihn fast haßerfüllt an und wandte sich dann wieder an Stone, und erneut fiel ihr seine Nervosität auf, und die verkrampfte Haltung, in der er dastand. Der Mann, der vor ihnen stand, war kein Sieger.

»Sie haben recht, Captain Laird«, sagte Stone bitter, als er ihren Blick auffing. »Sie sind nicht die einzige, die verloren hat.«

»Ist das wieder eins deiner Spielchen?« fragte Gurk böse.

Stones Lächeln wurde noch bitterer und geriet fast zur Grimasse. »Ich wollte, es wäre so«, sagte er. »Aber das Spiel vom betrogenen Betrüger klappt leider nicht immer. Sie haben es gemerkt.«

»Pech für dich«, sagte Gurk. »Aber ich werde nicht behaupten, daß es mir leid tut. Ich mag einen alten Freund nicht belügen, weißt du?«

»Schweigen Sie!« befahl die Albinoameise wieder. Dann drehte sie sich herum, hob den Arm und berührte eine winzige Schalttafel, die auf halber Höhe in das silberne Metall des Transmitterringes eingelassen war. Das Bild der Rückwand des Zimmers, das bisher durch das Innere des metallenen Kreises sichtbar gewesen war, begann zu verschwimmen und machte dem wesenlosen Wallen und Wogen des zeitlosen Weges durch das Nichts Platz.

»Wohin bringen Sie uns?« fragte Charity.

»An einen Ort, den normalerweise kein lebender Mensch betritt«, sagte Stone. »Sie wollten doch immer wissen, wer die wirklichen Herren Morons sind, nicht wahr, Captain Laird?« Er lachte hart und ohne die mindeste Spur von Humor und deutete auf den Transmitter. »Sie werden sie kennenlernen.«

Neben so vielen anderen Irrtümern hatte Charity auch diesen längst eingesehen: daß nämlich der Weg durch das Nichts keineswegs zeitlos war. Der Bruchteil eines Atemzuges, in dem sie in New York in den Transmitter hinein und Tausende von Meilen entfernt am Nordpol aus einem gleichartigen Gerät wieder heraustrat, war vollkommen identisch, und doch verging dazwischen Zeit; genug Zeit, sie ihre Umgebung fühlen, sie begreifen zu lassen, daß sie sich in einem völlig anderen Kosmos aufhielt, einem Universum, in dem die Naturgesetze ihrer Schöpfung aufgehoben und vielleicht auf den Kopf gestellt waren, Zeit, die nach Gesetzen ablief, die die Grenzen ihres menschlichen Begreifens sprengten. Wie beim ersten Mal, als sie diese unheimliche Art des Reisens erlebt hatte, fühlte sie, wie etwas mit ihr geschah, ihr Körper vernichtet, bis hinab auf eine subatomare Ebene aufgelöst und zu bloßer Information gemacht wurde, keine Materie, sondern nur noch Wissen, aus dem die gleiche unbegreifliche Kraft, die ihn zerstört hatte, etwas Neues, Identisches erschuf. Es war, als wären sie und die anderen für einen unendlich kurzen und doch endlosen Augenblick Teil eines gewaltigen, die gesamte Schöpfung umspannenden Etwas, der Urkraft des Seins, die jedem noch so winzigen Partikel des Universums innewohnte und jedes einzelne Teil so bedeutungslos und gleichzeitig wichtig machte wie die Gesamtheit seiner Summen. Dann spürte sie, wie ihr Körper wieder materialisierte und...

... stolperte ungeschickt einen halben Schritt aus dem Transmitterring heraus, ehe unmenschlich starke Arme sie packten und auffingen. Hinter ihr wankten Skudder, Gurk, Leßter und schließlich Stone und auch die beiden Albinowesen aus dem Empfangsgerät, und die Blässe auf ihren Gesichtern verriet Charity, daß sie das gleiche erschütternde Erlebnis gehabt hatten wie sie selbst.

Selbst Stone, der wahrscheinlich schon Tausende solcher Sprünge hinter sich hatte, wirkte verunsichert und ängstlich. Vielleicht war der Schritt durch das Nichts etwas, woran man sich nicht gewöhnen konnte, ganz egal, wie oft man es tat.

Charity löste ihren Blick von Stone und sah sich in der gewaltigen, von grauem Halbdunkel erfüllten Halle um, in der sie angekommen waren.

Sie erkannte sie sofort wieder, obwohl sich vieles hier verändert hatte. Aber das Grundmuster war gleichgeblieben: ein riesiger, kuppelartig gewölbter Dom aus porösem grauem Eisen, der zum allergrößten Teil nichts anderes als Leere enthielt. Weit entfernt, in dem unheimlichen, düsteren Licht nichts anderes als formlose graue Schatten, die Maschinen sein konnten, ebensosehr aber auch lauernde Ungeheuer, die sprungbereit dahockten und sie anstarrten, erkannte sie Umrisse wieder, die sie vor mehr als einem halben Jahrhundert das letzte Mal gesehen hatte.

Es war nicht der große Transmitter, aus dem sie herausgetreten waren, sondern eines von zahllosen kleineren Geräten, die im Laufe der letzten Jahrzehnte dazugekommen waren - aber es war das Sternenschiff. Sie befanden sich am Nordpol. Im Inneren des riesigen Raumschiffes, das vor einem halben Jahrhundert hier gelandet war und das Tor zu den Sternen aufstieß, aus dem sich soviel Schrecken und Leid über die Erde ergießen sollte.

Sie waren nicht allein. Ein sechs- oder siebenfach gestaffelter, dichter Ring aus Kriegern umgab die meterhohe Plattform, über der der Empfangstransmitter schwebte, und etwas Großes, Formloses bewegte sich aus der Dunkelheit heraus auf sie zu, schien dabei aber auf sonderbare Weise keine Substanz zu gewinnen, sondern blieb ein verschwommener Schatten mit vage erkennbaren, unangenehmen Umrissen.

»Was ist das?« flüsterte Charity.

»Sie«, antwortete Stone. Seine Stimme zitterte. »Die Herren der Schwarzen Festung.«

Charity hatte Angst. Wie oft hatte sie sich gefragt, wie sie aussehen mochten, welche Wesen wirklich hinter diesem Angriff aus dem Weltall steckten, wer sie waren und warum sie taten, was sie taten. Aber plötzlich wollte sie es nicht mehr wissen. Plötzlich hatte sie nur noch Angst, Angst wie niemals zuvor in ihrem Leben, und sie wurde stärker mit jedem Meter, den das körperlose, graue Etwas näher glitt.

Sie begriff plötzlich einen weiteren grundlegenden Irrtum, der ihr und wahrscheinlich allen anderen Menschen auch unterlaufen war: das Unbehagen, das sie und ihre Begleiter damals beim ersten Mal, als sie dieses Schiff betraten, empfunden hatten, das Gefühl eigentlich nicht zu begründender Nervosität, das jeden Bewohner dieses Planeten in der Nähe eines Moroni oder ihrer Technik überkam, es hatte nichts mit den Ameisen zu tun. Die Wesen, die sich selbst Moroni nannten und doch in Wahrheit auch nichts anderes als Sklaven jener gesichtslosen Macht aus den dunklen Regionen des Kosmos waren, waren trotz allem Geschöpfe wie sie; Kinder der gleichen, vielleicht das gesamte Universum umspannenden Evolution, fremd, aber trotzdem lebendig.

Dieser zitternde Schatten war es nicht. Charity und auch alle anderen spürten plötzlich, daß dieses formlose Etwas aus einem anderen Universum kam. Nicht von einem anderen Planeten. Nicht aus dem Licht einer anderen Sonne. Nicht einmal aus einer anderen Milchstraße - seine Heimat waren die Dimensionen des Wahnsinns, ein Kosmos aus Schrecken und Furcht, der nichts, aber auch rein gar nichts mit dem Universum zu tun hatte, wie sie alle es kannten. Es war eine ungeheuerliche, unsagbar fremde Macht, und plötzlich begriff Charity auch, wie sinnlos es war, nach dem Warum seines Handelns zu fragen. Es gab keinen Grund. Dieses Wesen war dazu geschaffen, zu erobern, zu herrschen und zu zerstören, zu nichts anderem sonst.

Instinktiv wich sie einen Schritt zurück und blieb wieder stehen, als eine der beiden Albinoameisen drohend den Arm hob. Sie registrierte die Bewegung nur aus den Augenwinkeln. Es war ihr unmöglich, den Blick von diesem kriechenden, dunklen Etwas loszureißen, das sich dem Ring der Krieger näherte, größer und drohender wurde, aber noch immer keine wirkliche Substanz zu haben schien. Charity fragte sich, ob es etwas wie das absolut Böse an sich gab, und ob man es sehen konnte. Wenn die Antwort auf diese beiden Fragen ja lautete, dann war es das, was sich auf sie zubewegte. Etwas in ihr krümmte sich wie ein getretener Wurm, durch die bloße Nähe dieses finsteren Dinges.

Die Reihen der Krieger teilten sich, das körperlose Etwas kam näher - und hielt plötzlich an.

Irgend etwas geschah. Charity wußte nicht was oder weshalb, aber sie spürte es deutlich. Es war wie ein Erbeben in der Wirklichkeit. Und plötzlich sah sie etwas - sie sah es nicht wirklich. Es war, als balle sich die Dunkelheit zu einem zitternden Etwas zusammen, zu einem schwarzen, peitschenden Schlauch, mit zahllosen Mündern und Augen und gräßlichen Auswüchsen übersät, der sich wie unter Schmerzen wand und den sie mit Sinnen wahrzunehmen schien, von denen sie bisher nicht einmal gewußt hatte, daß sie über sie verfügte. Das Etwas bäumte sich auf wie unter Schmerzen, und ein lautloser, gellender Schrei hallte zwischen Charitys Schläfen wider.

Und plötzlich ging alles unglaublich schnell. Die Armee aus Insektenkriegern, die die Plattform bisher reglos bewacht hatte, schien zu explodieren. Dutzende der schwarzen Kreaturen hetzten gleichzeitig und mit gewaltigen Sprüngen auf sie zu, und Charity sah aus den Augenwinkeln, wie die beiden Albinoameisen in einer synchronen Bewegung herumfuhren und sich auf Leßter warfen.

Den Bruchteil einer Sekunde später waren sie tot, getroffen von Hieben, die so schnell waren, daß Charity sie nicht einmal sah, und die ihre schimmernden weißen Panzer zertrümmerten. Und Leßter bewegte sich weiter mit dieser unfaßbaren Schnelligkeit. Seine Hand fuhr herum, berührte die winzige Schalttafel des Transmitterringes und wurde zu einem rasenden Schemen. Das körperlose Etwas unter ihnen tobte noch immer. Die ersten Krieger erreichten die Plattform und sprangen mit gewaltigen Sätzen hinauf, und dürre, messerscharfe Klauen aus Horn streckten sich nach Charity und den anderen aus. Doch im gleichen Augenblick füllte sich der Kreis hinter ihnen wieder mit kochender Schwärze, und plötzlich fühlte sich Charity von einer unvorstellbaren Kraft gepackt und zurückgerissen.

Diesmal war es anders. Es war das gleiche Gefühl, zerstört und neu geschaffen zu werden, aber es geschah zweimal hintereinander; für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Charity, die gigantische Halle plötzlich aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, fühlte sie Eisen unter ihren Stiefeln, das nicht das der Plattform war, auf der sie gestanden hatten, und sah einen anderen, viel größeren Ring aus schimmerndem Stahl, in dem sich die Schwärze des Nichts zu unbeschreiblichen Formen zusammenballte und sie aufsog. Für einen winzigen Moment glaubte sie, die Gestalten der anderen zu sehen. Skudder, der entsetzt die Arme in die Höhe gerissen hatte. Gurk, auf dessen Gesicht der gleiche Schrecken wie auf denen der anderen zu lesen war, aber auch etwas wie ein wilder Triumph. Und Leßter, der eine vierte menschliche Gestalt gepackt hatte und mit sich zerrte. Aber der Augenblick verging zu schnell, als daß sie sicher sein konnte, und wieder wurden sie und die anderen in das Nichts zwischen den Wirklichkeiten hinausgeschleudert.

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