KAPITEL DREIZEHN Die Zeit gerät aus den Fugen

Indy steckte die Fackel in den Schlamm vor dem leer geräumten Altar und zog ein Paar Lederhandschuhe aus der Tasche. Sein Gesicht war schlämm- und schweißverschmiert, und seine zerschundenen Hände taten weh, als er die eng sitzenden Handschuhe überstreifte. Der Abstieg in den Schlangentempel war ebenso schwierig und gefährlich gewesen wie in seiner Erinnerung, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Diesmal befand sich keine Riesenschlange dort. Die zertrümmerten Knochen der dreißig Fuß langen Anaconda, die Indy vor Jahren getötet hatte, lagen verstreut am Ufer des unterirdischen Beckens.

Indy holte den voluminösen Samtbeutel aus der über seiner Schulter hängenden Mappe und nahm den Kristallschädel heraus. Der Fackelschein brach sich im Inneren des Schädels, wurde dort vergrößert und tanzte über Fußboden und Seitenwände der Höhle. Einen Augenblick lang war Indy wie hypnotisiert von dem Schauspiel und spielte mit dem Gedanken, den .Schädel doch zu behalten.

»Nein«, rief er plötzlich laut. »Ich weiß nicht, wer du warst - oder bist - aber du gehörst hierher.«

Der Altar war aus einer in die Höhlenwände eingelassenen Nische herausgemeißelt worden. Indy setzte die Füße fest auf den Boden, vergewisserte sich, dass sein Gewicht

gleichmäßig verteilt war, und legte den Schädel behutsam auf den Altar. Dann trat er zurück, halb in der Erwartung, eine Falle würde aus dem Altarsockel hervorschnellen oder von oben herabfallen. »Erledigt«, sagte Indy. Lächelnd zog er seine Handschuhe aus und tippte zum Abschied kurz an die Krempe seines Hutes. Als er daraufhin seine Fackel aufnahm und sich zum Gehen wandte, hörte er es: das Plätschern von Wasser, ein schlitterndes Geräusch vom schlammigen Ufer sowie das Grauen erregende Zischen einer sehr großen Schlange, die atmet. Am äußersten Rand des Fackelscheins erblickte er ein bernsteinfarbenes, geschlitztes Auge von der Größe einer Warzenmelone, das sich auf ihn zubewegte. Die Schlange, die er damals in dieser Höhle getötet hatte, war die größte, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte, und bei seiner Rückkehr nach Princeton hatte er einen Herpatologen gefragt, ob jemals Anacondas von zehn Metern Länge beobachtet worden seien. Durchaus, hatte der Experte geantwortet, es gebe Berichte, denen zufolge sie in den Tiefen des Regenwaldes sogar noch größer wurden.

Diese Schlange ließ die andere klein erscheinen. »Nicht schon wieder«, stöhnte Indy. Die Schlange schlitterte auf ihn zu. Indy zog den Revolver.

Es gab keinen Platz zu fliehen; die Schlange war so lang, dass sie den Rückweg zum Eingang des unterirdischen Beckens vollständig versperrte, und der Versuch, schwimmend zu entkommen, hieße, der Schlange einen noch größeren Vorteil einzuräumen.

Indy stolperte nach hinten und feuerte der Schlange drei Kugeln ins Auge. Falls dies irgendeine Wirkung hatte, so ließ sich die Schlange davon nichts anmerken. Sie klappte ihre mit einem Scharniergelenk versehenen Kinnladen

auf - zeigte dabei ihre säbelgroßen Reißzähne - und ließ ihre schwammige, rosafarbene Zunge Richtung Indy schnellen. Wie alle Schlangen hatte sie schlechte Augen, ihr Geruchs- und Tastsinn war dagegen ausgezeichnet. Indy zwängte sich in die Nische neben dem Altar und feuerte zwei weitere Schüsse ab. Die Schlange attackierte, doch ihr Maul war größer als die Nische, und ihre Reißzähne kratzten über den Fels. Indy wich vor dem Angriff zurück, warf sich nach hinten und stieß sich den Kopf am Sturz eines steinernen, in die Rückwand der Nische eingelassenen Portals. Weil das Portal niedrig war -weniger als einen Meter fünfzig hoch - und im Schatten hinter dem Altar verborgen lag, hatte er es zuvor nicht bemerkt. Wichtiger noch, das Portal war zu klein, als dass die Schlange hätte hindurchkriechen können. Es dauerte jedoch einen Augenblick, bevor Indy dies erkannte. Der Schlag auf seinen Hinterkopf hatte ihm beinahe das Bewusstsein geraubt, und einige Minuten lang hockte er auf dem Boden dieses neuen Durchganges, während sich ihm der Magen umdrehte und er Sterne vor den Augen sah. Als er seinen Hinterkopf befühlte, hatte er Blut an der Hand. Trotzdem, Indy schmunzelte über sein großes Glück. Er hob die Fackel auf und rappelte sich mühsam hoch, um den neuen Gang zu untersuchen und das wütende Zischen auf der anderen Seite des Portals hinter sich zu lassen. Die Decke war niedrig, und er war gezwungen, sich zu bücken, während er sich Zoll um Zoll vorwärts tastete. Dann endete der Gang.

Er endete nicht etwa vor einer Türöffnung oder Wand, nicht einmal vor dem Geröllhaufen eines Einbruchs. Er endete in einer Art von Dunkelheit durchdrungener Wolke, die alles an Dunkelheit übertraf, einer feindseligen Leere, die der Schein der Fackel nicht zu zerstreuen vermochte.

Stattdessen schien sie das Licht in sich hineinzusaugen und im Gegenzug nichts dafür preiszugeben. Außerdem weitete sie sich aus - oder kam ganz einfach auf ihn zu. Indy suchte den Gang nach einer erkennbaren Türöffnung, einer Stelle zum Hindurchkriechen oder irgendeinem Ausgang ab, der eine Alternative zu dem bot, was immer sich dort vor ihm befand, und der wütenden und überaus großen Schlange in seinem Rücken. Es gab keine.

Indy wechselte die Fackel in die linke Hand, dann streckte er die Finger seiner rechten Hand aus. Vorsichtig berührte er die Wolke. Seine Hand verschwand in der Leere, doch er hatte überhaupt kein Tastgefühl - er spürte nicht einmal die Finger auf der Handfläche, als er seine Hand zur Faust ballte. Hastig zog er seinen Arm zurück und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass seine Hand noch immer daran hing. Indy warf einen Blick hinter sich, dann sah er sich abermals im leeren Korridor um. Von den drei Möglichkeiten, die sich ihm boten, verhießen zwei den sicheren Tod: Er konnte in den unterirdischen Gefilden des Tempels des Hungertodes sterben, oder er würde in den Windungen einer Riesenanaconda zerdrückt werden. Obwohl die dritte Möglichkeit den sicheren Untergang nur vermuten ließ, statt ihn sicher zu versprechen, zögerte er mit seiner Entscheidung. Als die Wolke jedoch dazu überging, ihn mit ihren feinen Ranken einzuhüllen, wurde seine Fackel dunkler und begann schließlich zu flackern. Aus Angst, wie die Flamme zu ersticken, wenn er sich nicht entschlossen durch die Wolke auf die andere Seite zwängte, hielt er den Atem an und stürzte sich hinein. Er fand sich im Sonnenschein wieder. Ich muss mir den Kopf heftiger gestoßen haben, als ich dachte, sagte Indy bei sich, während er sich den Nacken

rieb und die Augen gegen die gleißende Helligkeit des Tageslichts zusammenkniff. Dann schloss er die Augen und schlug sie abermals auf.

Als seine Augen sich allmählich an die Helligkeit gewöhnten, traten um ihn herum die Umrisse der Stadt Cozan hervor. Indy kniete auf der untersten Stufe des Schlangentempels. In den nahen Bäumen wimmelte es von Vögeln und Affen, und irgendwo knurrte ein Jaguar.

Nur waren dies nicht die Ruinen jener Stadt, die Indy sich erinnerte entdeckt zu haben - dies war eine lebendige Metropole, die sich noch dazu in ihrem frühen Stadium befand. Die Straßen waren voller Menschen, die sich in den Schatten jener Gebäude bewegten, die Indy lediglich als Geröllhaufen inmitten des alles überwuchernden Dschungels kannte. Bei den Gebäuden handelte es sich um prachtvolle Kalksteinmonumente, abgesetzt mit Grün und Terrakotta. Die Anzahl der Gebäude war jedoch geringer, als die Ruinen des gegenwärtigen Cozan vermuten ließen. In seinem Rücken befand sich der Tempel der Schlange, doch er war kleiner - er war erheblich niedriger und wies weniger Schichten auf als in seiner Erinnerung.

Indy kletterte vom Tempel hinunter auf die breiten Steinplatten der geschäftigen Hauptverkehrsstraße. Obwohl er die Menschen, die an ihm vorübergingen, unverhohlen angaffte - stämmige, braunhäutige Menschen, die größtenteils mit aus Fasern der mexikanischen Agave hergestellten Gewändern bekleidet waren -schien kein Einziger von ihnen Indys Starren auch nur zu bemerken.

Viele von ihnen erhandelten an den strohgedeckten Ständen zu beiden Seiten der Straße hastig etwas Mais, Obst oder Spießbraten, während andere nervös irgendeines Ereignisses zu harren schienen. Ab und zu blickten sie kurz in den Himmel oder auf ihre kürzer werdenden Schatten auf den Steinplatten, mit demselben Gesichtsausdruck, mit

dem ein Geschäftsmann auf der Wallstreet auf seine Armbanduhr sieht.

Die Sonne stand fast im Zenit.

Welches Ereignis auch erwartet wurde, es war offenkundig, dass es genau um Mittag stattfinden würde. Obwohl man hier in Britisch Honduras erwartete, Mayas anzutreffen, überlegte Indy, besaßen diese Menschen die schärfer geschnittenen Gesichtszüge der Azteken Zentralmexikos. Und doch war von den unverkennbaren Merkmalen aztekischer Kultur nichts zu sehen. Indy war außer Stande, ihre Sprache zu identifizieren, er wusste jedoch, dass es sich nicht um Nahuatl, die Sprache der Azteken, handelte. Das vorherrschende Merkmal der Schriftzeichen, die die cozanischen Bauwerke zierten, bestand in einer stilisierten, sich nach rechts auflösenden Spirale; möglicherweise handelte es sich um eine Darstellung der Schneckenmuschel, überlegte Indy, oder vielleicht eines Sterns oder Kometen. Über die Geschichte Cozans war nichts bekannt, außer dass es einst eine bedeutende Stadt gewesen sein musste, die jedoch wegen irgendeines verhängnisvollen Vorfalls aufgegeben worden war, und selbst das hatte man lediglich aus irgendwelchen Volkserzählungen geschlossen. Bevor er die Stadt eigenhändig gefunden hatte, war selbst Indy nicht von ihrer Existenz überzeugt gewesen.

Der Name der Stadt, Cozan, war der Übersetzung einer nahezu unverständlichen Maya-Redewendung entlehnt, in der das spanische Wort für Herz, corazon, eine wichtige Rolle spielte. Manchmal wurde sie als del mal corazon oder herzlos wiedergegeben, dann wieder schien sich der Mayaname für die untergegangene Stadt gegen jeden Versuch einer Übersetzung zu sperren, am nächsten jedoch kam vermutlich noch >Herz des Bösen<.

Die Krieger, die allgegenwärtig zu sein schienen, trugen Klingen aus Obsidian in ihren Gürteln und über ihren

Schultern hingen gefährlich aussehende, aus Eichenstäben hergestellte Wurfstöcke. Zu zweit schlenderten sie die Prachtstraße entlang und blieben gelegentlich stehen, um einen Händler oder Bürger zu ermahnen, ihre Geschäfte abzuschließen, da die Zeremonie jeden Augenblick beginnen konnte. Die Klassenunterschiede gingen weit über die von Bürgern und Kriegern hinaus, wie Indy feststellte. Es existierte eine weitere Klasse, die wenigstens ein Drittel der Bevölkerung ausmachte. Ihre Gesichter waren mit blauem Puder bestäubt, was ihnen das Aussehen von Geistern verlieh, die ihren Herren und Herrinnen auf Schritt und Tritt folgten. Ihre Augen wirkten leer, bar jeder Hoffnung, und Indy glaubte auch zu wissen, warum: Blau war die Farbe des Opferrituals.

Indy hatte schon des Öfteren mit den Überresten der Opfer solcher Rituale zu tun gehabt, und sie alle schienen sich, mit wenigen Ausnahmen, freiwillig zum Wohle der Gemeinschaft unterworfen zu haben, oftmals nachdem man sie über eine Periode von etwa einem Jahr wie Helden behandelt und als Mitglieder der königlichen Familie geachtet hatte. Selbst wenn ihre Hände hinter dem Rücken gefesselt waren oder man eine Schlinge um ihre Nackenwirbel geschlungen fand, stets sprach einiges dafür, dass sie sich aus freien Stücken unterworfen hatten und nicht ermordet worden waren. Diese Sklaven, offenkundig im Krieg erbeutet, sahen ihrem Beitrag zum großen Gefüge des Lebens allerdings nicht mit Freude entgegen.

»Entschuldigen Sie«, sagte Indy, von einem Bürger zum anderen gehend. »Verzeihen Sie, hätten Sie vielleicht einen Augenblick Zeit?« Offenbar konnte niemand ihn sehen oder hören. Als Indy die Hand ausstreckte, um einen vorübergehenden Krieger zu berühren, schreckte der Mann zurück, als

wäre er dort, wo Indys Finger seinen Arm gestreift hatten, gestochen worden. Überzeugt, von einem Insekt gebissen worden zu sein, schwenkte er eine Hand vor seinem Gesicht und setzte seinen Weg fort.

Schließlich räumte die Menschenmenge, auf das Erschallen einer Schneckenmuscheltrompete hin, die Straßenmitte und stellte sich zu beiden Seiten auf. Die blaugesichtigen Sklaven fielen auf die Knie und senkten ihre Stirn zum Boden. Die Krieger nahmen Haltung an, die obsidianbestückten Speere einsatzbereit. Ein Schamane näherte sich der Pyramide in gebückter Haltung, mit einem Zweig die Straße fegend. In der anderen Hand hielt er eine aus einem menschlichen Schienbein gefertigte Keule, an deren Ende ein glatt polierter Flusskiesel befestigt war. Er war, bis auf einen Lendenschurz, nackt und kunstvoll mit den von Gott gegebenen rechtsdrehenden Spiralen tätowiert, die Indy bereits auf den Skulpturen angetroffen hatte. Er trug eine Furcht einflößende Maske, die aus der Vorderhälfte eines menschlichen Schädels gefertigt und mit Jade und Obsidian verziert war. Aus Stirn und Nasenhöhle ragten, dem Horn eines Rhinozeros gleich, zwei garstig aussehende Steinspitzen. Immer wieder ging dieses Monstrum, unter dem sich ein Mensch verbarg, bedrohlich die Keule schwingend auf die entsetzte Menschenmenge los und scheuchte sie zurück. Welchen Gott des Todes und der Zerstörung dieser Kerl auch darstellen mochte, die Bürger waren offensichtlich der Ansicht, entschied Indy, dass er es absolut ernst meinte.

Indy tippte ihn auf die Schulter und sah zu seinem Entzücken, wie der Medizinmann zurückzuckte, erschrocken über die offenkundige Manifestation echter Magie. Voller Ingrimm drohte er mit seiner Keule in Indys Richtung, setzte aber seinen Weg zum Tempel fort. Dem Schamanen folgte eine geschlossene Front aus

Priestern, bekleidet mit terrakotta und grün eingefärbten und mit den cozanischen Spiralen verzierten Baumwollgewändern. Der in der Mitte gehende Priester trug eine hutschachtelgroße Eichenkiste in den Armen.

Hinter den Priestern, auf einer von Sklaven getragenen Sänfte, folgte eine Frau von bemerkenswerter Schönheit. Sie war in ein schlichtes Baumwollgewand gehüllt und trug weder Schmuck noch irgendein anderes Zeichen von Rang oder Machtbefugnis. Sie war hoch gewachsen, vielleicht ein Meter achtzig, und die Muskeln ihrer nackten Arme und Waden ließen auf einen athletischen Körperbau schließen. Wegen ihres glatten schwarzen Haars, ihres breiten Gesichts und ihrer klaren Augen erinnerte sie Indy an einen Jaguar.

Ihre Augen schienen sich zu begegnen, als die Sänfte vorüberwankte.

Einen Augenblick lang war Indy sicher, dass sie ihn wahrgenommen hatte. Ein Ausdruck von Verwirrtheit und Bestürzung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, sie richtete sich auf und blickte über ihre Schulter auf jene Stelle, wo der Fremde eben noch gestanden hatte. Diesmal jedoch wanderten ihre Augen suchend über die Menge hinweg, ohne ihn zu sehen. Hinter der Sänfte humpelte, getrieben von einem Trupp Soldaten, ein halbes Dutzend blaugesichtiger Sklaven. Die Sklaven waren beiderlei Geschlechts, jung und alt, und ihre Füße waren mit einem Strick gefesselt, gerade lang genug, sodass sie gehen konnten, mehr jedoch nicht. Als sie vorüberschlurften, bewarf die Menge sie mit Abfall und überschüttete sie mit Schmähungen. Die anwesenden Kinder wurden ermutigt, loszustürzen und mit Stöcken auf die Sklaven einzuschlagen. Sie taten dies voller Schadenfreude, anschließend rannten sie zurück und suchten hinter den Beinen ihrer Mütter Schutz.

Als die Prozession die unterste Stufe der Pyramide erreicht hatte, wurde die Sänfte behutsam auf dem Boden abgesetzt. Die Königin stieg mit der Eleganz und Behändigkeit einer großen Katze von ihrem Thron herab und ging daran, die Stufen zu erklimmen. Die Priester und anderen Personen folgten ihr, und schließlich drängte die übrige Bewohnerschaft auf die Pyramide. Indy folgte dem Menschenstrom die Flanke der Pyramide hinauf und fand, als er den Gipfel erreichte, dort zu seiner Überraschung nicht etwa einen Tempel vor, sondern eine nach innen gewölbte Fläche, in der sich ein heiliger Brunnen befand. Über zwanzig oder dreißig Jahrhunderte hinweg würde die Pyramide Schicht um Schicht aufgestockt werden, und aus dieser Stelle würde das unterirdische Becken auf der Sohle des Schlangentempels entstehen. Der Hohepriester stellte die mitgeführte Holzkiste auf einen steinernen Altar und entnahm ihr den Kristallschädel. Er sah so glatt poliert aus wie an jenem Tag, als Indy ihn gefunden hatte. Der Priester hielt den Schädel in die Höhe, und die Menge wandte die Augen ab, als sich daraufhin das Sonnenlicht in den Prismen hinter den Augenhöhlen brach und als schillernde Regenbogen aus Licht über ihren Köpfen tanzten. Allein die Königin -und natürlich Indy - sahen nicht fort. Dann hob der Priester an zu einem rituellen Sprechgesang, und Indy vermutete, dass er die Geschichte des Schädels vortrug. Der Schamane mit der Totenschädelmaske verfiel in eine Pantomime. Obwohl Indy kein einziges Wort der Ansprache verstand, vermutete er aufgrund der schauspielerischen Darbietung, dass auch sie den Schädel einst im Dschungel gefunden hatten, vielleicht auf dem Grund eines heiligen Brunnens oder einer Höhle, in der die Gebeine unermesslich alter Menschenopfer verstreut umherlagen. Seit jener Zeit war der Schädel offenbar zur Staatsreligion geworden, einer Religion, die sich auf Krieg und Eroberung gründete -

sowie auf einen unstillbaren Hunger nach Menschenopfern. Faschisten, sagte Indy bei sich. Ich kann diese Kerle nicht ausstehen.

Als der Priester seinen Vortrag beendet hatte, entfernte einer der anderen Priester die hölzerne Kiste, und man legte den Kristallschädel auf den Steinaltar, von wo aus er aufgeklappten Kiefers staunend über das heilige Becken hinwegzublicken schien. Als der Hohepriester einen heiligen Sprechgesang anstimmte, watete die Königin mit ausgebreiteten Armen in das Becken hinein. Ihr Baumwollkleid umwirbelte ihren Körper. Als sie schließlich bis zur Brust im Wasser stand, blieb sie stehen und legte ihre Hände auf den Kopf. Im Wasser rings um sie bewegte sich etwas. Ein Anacondapärchen wand sich um ihren Oberkörper und hob die Köpfe aus dem Wasser. Es waren, für Anacondas, keine übermäßig großen Schlangen - sie maßen vielleicht vier oder fünf Meter - dennoch erwartete Indy, jeden Augenblick das Zerbersten ihres Brustkorbs zu hören, wenn die Schlangen ihr das Leben aus dem Körper pressten. Stattdessen umschmeichelten die Schlangen den Oberkörper der Königin wie ein paar zahme Katzen. Der Mund der Königin erschlaffte, und ihre Lider flatterten in religiöser Ekstase.

Schließlich ließen die Schlangen von ihr ab und begaben sich stattdessen zum Rand des Beckens, wo die Sklavenopfer neben den Obsidianklingen der Krieger knieten. »He!«, rief Indy und ging näher heran. »Steht auf! Verschwindet! Versucht doch wenigstens zu fliehen!« Indy zog den Webley, nahm den Kopf der größeren der beiden Schlangen sorgfältig ins Visier und feuerte. Der Webley bellte, doch die Kugel richtete keinerlei Schaden an. Er feuerte die übrigen in der Trommel verbliebenen Pat-

ronen ab, doch man sah, als Beweis, dass überhaupt eine Kugel abgefeuert worden war, nicht einmal das Wasser hinter den Schlangen aufspritzen.

Als Erstes machten sich die Schlangen über das am nächsten hockende Opfer her. Sie schlitterten an seinen Beinen hinauf, schlangen sich um seinen Unterleib und begannen, während es vor Angst zitterte, ihm das Leben aus dem Leib zu pressen. Als sie mit ihm fertig waren, wälzten sie es in den Xenote, das heilige Becken. Dann krochen sie zum Nächsten in der Reihe und gingen daran, den Vorgang zu wiederholen. »Kämpft doch!«, rief Indy. »Wieso wehrt ihr euch nicht!« Eine der Sklavinnen in der Mitte der Opferreihe, eine kräftig gebaute junge Frau, deren Lippen von einer noch nicht lange zurückliegenden Züchtigung immer noch geschwollen waren, hielt den Kopf gesenkt, verfolgte das Näherkommen der Schlangen aber hinter halb geschlossenen Lidern. Indy sah sie tief Luft holen, sah, wie sich die Muskeln an Armen und Beinen spannten, und rief ihr hilflos Ermutigungen zu, als sie sich plötzlich umdrehte und dem sie bewachenden Krieger ein Knie in den Unterleib rammte.

Der Soldat rang nach Atem, und die junge Sklavin entwand den Obsidianspeer aus seinem Griff. In einer einzigen beidhändigen Bewegung riss sie die Klinge hoch, schlitzte ihm die Kehle auf und enthauptete ihn fast dabei. Als die Leiche des Wächters zu Boden sank, stieß sie ein derart alarmierendes Kriegsgeschrei aus, dass die Vögel in den umstehenden Bäumen die Flucht ergriffen. Sie zerschnitt die Stricke, mit denen sie an den Knöcheln gefesselt war. Doch statt die Stufen der Pyramide hinunter in die Freiheit zu fliehen, drehte sie sich zum Hohepriester um. Sie rammte ihm die Klinge in den Leib, dann sprang sie in den Xenote und ruderte wie von Sinnen plantschend auf die Königin zu. Obwohl die Sonne mittlerweile von einer Wolke verdeckt wurde, gleißte der Kristallschädel grimmiger als je zuvor.

Die Königin breitete lächelnd die Arme aus, als wollte sie sie in die Arme schließen.

Dann prallte ein halbes Dutzend baseballgroßer Steine gegen den Körper der jungen Frau, getrieben von der Wucht der schweren Keulen einiger Krieger. Wo sie ihren Körper trafen, zertrümmerten die Steine ihre Knochen: den Rücken, die Rippen, ihren linken Arm. Doch selbst diese Verletzungen konnten ihren Vorwärtsdrang nicht bremsen, und es gelang ihr, mit ihrem unverletzten rechten Arm das Schwert zu ziehen.

Die junge Sklavin war im Begriff, es auf den Kopf der lächelnden Königin niedersinken zu lassen, als ein letzter Stein sie an der Schädelbasis traf und alles Leben aus ihrem Körper wich. Das Schwert fiel kraftlos ins Wasser. Sie stürzte mit dem Gesicht voran ins Wasser, einen immer größer werdenden rotfarbenen Flor um den Kopf.

Indy wandte sich ab.

Der Kristallschädel auf dem Steinaltar leuchtete so gleißend hell, dass er in Flammen zu stehen schien. Dann klappte der Unterkiefer herunter, und eine schwarze Wolke begann aus seinem Mund hervorzuquellen.

Indys Sehvermögen trübte sich, als die Wolke ihn einhüllte.

Als er wieder etwas erkennen konnte, stand er vor den Trümmerhaufen des Schlangentempels. Der Dschungel hatte wieder die Herrschaft übernommen. Auf dem Erdboden zu seinen Füßen aber lag ein Granitbrocken von der Größe eines Baseballs, verklebt mit Haaren und frischem Blut.

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