KAPITEL VIER TyFung


Die Schiffe, groß und klein, die den Schiffbrüchigen zu Hilfe eilten, tauchten scheinbar aus dem Nichts auf, herbeigerufen von den ungeschriebenen Gesetzen des Meeres und dem Feuerwerk über dem Grab der Divine Wind. Die Mannschaft willigte ein, sich von einem Walfänger zurück nach Japan mitnehmen zu lassen, während Snark an Bord eines Postdampfers ging, der auf dem Weg zum Festland war.

»Auf Wiedersehen, Faye!«, verabschiedete sich Snark überschwänglich, als sich das Postschiff stampfend entfernte, und schwenkte, sich gefährlich weit über die Reling lehnend, seinen Hut. »Bis uns das Schicksal das nächste Mal zusammenführt!« »Jedenfalls scheint er anhänglich zu sein«, meinte Indy und griff nach einem Seilnetz, das die Besatzung einer Dschunke über die Bordwand herabgelassen hatte.

»Oh, das ist einfach seine Art«, meinte Faye abwiegelnd, obwohl sie leicht errötete.

Mystery war als Erste das Netz hinauf und an Deck der Dschunke geklettert, dann streckte sie eine Hand aus und half Bryce über die Reling. Indy war auf halbem Weg nach oben, als Faye ihm zurief: »Was machen wir mit ihr?«

Musashi hockte immer noch mit mürrischem Gesicht im Rettungsboot, die Hände vor dem Körper gefesselt.

»Wir lassen sie zurück«, rief Indy.

»Das können wir nicht tun«, protestierte Faye.

»Doch, können wir«, rief Mystery. »Sie hat versucht, uns umzubringen, Mutter. Hör auf Dr. Jones. Er hat Recht.«

»Praktisch denken ist nicht dasselbe wie Recht haben, Mysti«, erwiderte Faye erschöpft. »Sie ist ein Mensch. Wir können sie nicht auf dem Boden eines Rettungsbootes liegen lassen.«

»Und wer soll den Babysitter für sie spielen?«, fragte Indy.

»Ich jedenfalls nicht«, sagte Mystery.

Musashi versuchte, sich zusammenzureißen, doch ihre aufgerissenen Augen verrieten ihre Angst.

»Ich gehe nicht ohne sie«, entschied Faye.

»Dann stellen wir sie doch vor die Wahl«, feuerte Indy zurück.

»Sie kann mitkommen und sich benehmen, oder wir schmeißen sie beim ersten Anzeichen von Ärger über Bord.«

»Haben Sie das verstanden?«, fragte Faye.

»Ja«, sagte Musashi.

»Dr. Jones meint es völlig ernst«, sagte Faye.

»Ich habe verstanden«, erwiderte Musashi ruhig. »Trotzdem sind Sie alle nach wie vor verhaftet.«

»Verstehst du jetzt, was ich meine, Mutter?«, fragte Mystery. »Sie benimmt sich unmöglich.«

»Dann werden wir sie eben als Frachtgut behandeln müssen«,sagte Bryce und warf einen Strick hinunter ins Rettungsboot.

»Binden Sie sie fest, dann ziehen wir sie hoch.«

Faye befestigte das Seil unter Musashis Armen, und Bryce hievte sie an Bord der Dschunke. Sie leistete sogar dann noch Widerstand, als ihre Füße schon das Deck berührten.

»Das wird nichts als Ärger geben«, prophezeite Indy, als Faye an Bord kletterte. Der Kapitän der Dschunke, ein zäher alter Bursche, der eine langstielige Tonpfeife rauchte, hatte das Schauspiel vom Quarterdeck aus verfolgt. Er amüsierte sich lautstark über Musashis aberwitziges Benehmen.

»Ich bin froh, dass wenigstens einer seinen Spaß hat«, meinte Indy.

»Er scheint zu glauben, dass sie Ihre Freundin ist, alter Knabe«, sagte Bryce, während er das Rettungsboot losmachte und seinem Schicksal überließ. »Außerdem denkt er, Sie haben mit ihr alle Hände voll zu tun. Und ich muss gestehen, da gebe ich ihm durchaus Recht.«

»Die kaiserliche Armee wird sich nicht mit einem leeren Rettungsboot zufrieden geben«, versuchte Indy Bryce' Vergnügen über die Situation zu übergehen. »Wenn sie es finden, möchte ich, dass sie glauben, wir seien untergegangen.«

Indy zog den Webley aus dem Halfter, beugte sich über die Reling und feuerte fünf Kugeln in das vorübertreibende Rettungsboot. Das Boot sank langsam bis zu seinen Schandecks, während es im Kielwasser hinter ihnen umhergewirbelt wurde.

»Davon wird sich Sokai Sensei nicht täuschen lassen«, sagte Musashi.

»Das nicht«, erwiderte Indy, während er den Webley wieder lud, »aber vielleicht gewinnen wir dadurch ein wenig Zeit. Mr. Bryce, ich schlage vor, wir reden mal ein Wörtchen mit dem Kapitän, was meinen Sie?«

Nach einer längeren und leicht hitzigen Diskussion wurde man sich schließlich einig.

»Der alte malayische Pirat, der diese Dschunke kommandiert, wollte einhundert amerikanische Dollar dafür, dass er uns in einen Hafen bringt«, berichtete Indy, als er sich wieder bei den Maskelynes auf dem Vorderdeck einfand. »Ich habe ihm alles gegeben, was ich bei mir hatte, das waren fünfunddreißig Dollar sowie ein bisschen Kleingeld.«

»War es genug?«

»Wird es wohl sein müssen«, erwiderte Indy.

»Wo genau fahren wir eigentlich hin?«

»Schanghai«, sagte Indy. »Was insofern günstig ist, als ich dort Freunde habe. Wir dürften dort irgendwann morgen Abend eintreffen. Bis dahin müssen wir es einfach ruhig angehen lassen und uns bedeckt halten.«

Faye nickte.

»Außerdem können wir Ihnen von dort eine Passage zurück nach England besorgen.«

»Wie war das, bitte?«, meinte Faye.

»Wir sind Amerikaner, Dr. Jones«, erklärte Mystery. »Mom benutzt den englischen Akzent auf der Bühne, weil die Menschen das erwarten, und weil mein Vater Engländer ist. Aber Mutter ist in Oklahoma geboren.«

»Also gut«, sagte Indy. »Dann bringen wir Sie eben zurück in die Staaten.«

»Wir gehen nicht zurück«, sagte Faye. »Wir bleiben hier, bis wir Mysterys Vater gefunden haben.«

»Aber in diesem Teil der Welt haben Sie nichts verloren«, sagte Indy. »Hier ist es gefährlich, falls Ihnen das entgangen sein sollte. Sie und Ihre Entfesslungskünstlerin werden sich noch Ihr eigenes Grab schaufeln.«

»Wir sind ganz gut zurechtgekommen«, erwiderte Faye, »bis Sie durch Zufall in die Vorstellung hineingeplatzt sind. Schließlich war die kaiserliche Armee nicht auf der Suche nach uns. Und wenn ich mich recht erinnere, waren wir es, die Ihre Haut gerettet haben, nicht umgekehrt.«

»Ich bin ganz gut zurechtgekommen«, meinte Indy.

Faye lachte.

»Nein, das sind Sie nicht«, sagte sie. »Sie standen mit einem Bein bereits wieder im Gefängnis. Und wo wir gerade beim Thema sind, weswegen hat man Sie überhaupt eingesperrt? Das haben Sie uns nie erzählt.«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Indy.

»Darauf wette ich«, meinte Faye. »Und dieser Name, den Sie sich zugelegt haben? Hätten Sie sich nicht etwas Besseres einfallen lassen können als ausgerechnet Jones? Das beweist einen ausgeprägten Mangel an Fantasie.«

»Das ist mein richtiger Name«, protestierte Indy.

»Aber nur, wenn er nicht gerade Smith lautet, oder?«

»Mutter«, bat Mystery inständig. »Bitte fang keinen Streit an.«

»Angefangen hat er«, erwiderte Faye. »Ich möchte lediglich, dass er sich klar macht, dass wir unsere Suche nach Kaspar fortsetzen werden und erwarten, den durch ihn entstandenen Schaden von ihm ersetzt zu bekommen.«

»Soll das heißen, das alles war die Wahrheit?«, fragte Indy.

»Selbstverständlich war es die Wahrheit«, sagte Faye. »Glauben Sie vielleicht, wir hätten uns das alles ausgedacht?«

»Die Geschichte war so gut«, erwiderte Indy, »dass ich dachte, sie gehört einfach zu Ihrem Auftritt. Verzeihen Sie, aber meiner Erfahrung nach waren Bühnenmagier noch nie die verlässlichsten Informationsquellen. Aber wenn das stimmt, was Sie sagen ... könnten sich daraus einige interessante Möglichkeiten ergeben. Möglicherweise wäre ich sogar geneigt, in Ihrer Nähe zu bleiben.«

»Was macht Ihre Schulter, Dr. Jones?«, erkundigte sich Mystery.

Sie war bemüht, das Thema zu wechseln. »Sie tut weh«, erwiderte Indy, streckte sich auf einem Ballen grober Leinwand aus und zog sich die Krempe seines Hutes über die Augen. Einen Augenblick lang sagte er nichts, schließlich fragte er: »Wollen Sie damit etwa sagen, Ihr Kaspar war tatsächlich auf der Suche nach Aarons Stab?«

Doch bevor Faye ihm antworten konnte, schnarchte Indy schon.

Während die Dschunke ihre gemächliche, traumähnliche Reise nach Südosten fortsetzte, gönnte Indy sich ein wenig Schlaf, um den Qualen seiner schmerzenden Schulter gewachsen zu sein. Vom Wind getrieben und begleitet allein von dem Geräusch der Segel und des Wassers, wurde die Dschunke Teil einer zeitlosen Szene, die sich während irgendeines von eintausend vorangegangenen Septembermonaten zugetragen haben mochte. Verborgen unter einem Schleier aus Geheimnis und Tradition bahnte sich die festungsähnliche Dschunke ihren Weg durch die Meerenge, die Japan vom besetzten Korea trennte. An jenem Nachmittag überquerte die Dschunke bereits das Ostchinesische Meer mit Ziel Schanghai. Obwohl sich im Osten hohe Unwetterwolken zusammenbrauten, war der Tag mild, die See ruhig, und es ging ein mäßiger Wind. Die Luft war von jener ganz eigentümlichen Helligkeit durchdrungen, die Indy nur aus dem Osten kannte,- der Tag schien grün und golden zu leuchten. Dann, am frühen Abend, zog ein Schatten übers Meer. Die Unwetterwolken im Osten hatten eine Kaltfront vor sich hergeschoben, die die Dschunke schließlich eingeholt hatte. Das Sonnenlicht wurde fahl, und die Temperatur fiel um fünfzehn Grad in ebenso vielen Minuten, ließ die Passagiere frösteln und bewirkte, dass Indy aus seinem Schlaf erwachte, als er von den Lippen der Besatzung die geflüsterten Worte vernahm: ty fung. »Wo sind wir?«, fragte Indy, als er an die Reling trat. »Ungefähr einhundert Meilen vor der chinesischen Küste, auf der Höhe von Schanghai«, antwortete Faye. Obwohl es noch nicht regnete, frischte der Wind auf und verwehte ihr Kleid wie einen kleinen Wimpel hinter ihrem Rücken.

Sie hielt sich an der Takelage fest und blickte über das kabbelige Wasser bis hin zum Festungswall aus dunklen Wolken, die von Osten her immer näher kamen. Unvermittelt aufleuchtende Blitze aus Rosa und Blau zuckten am unteren Rand der Wolkenwand, während sich darunter die verräterischen Wind- und Regenstreifen ausbreiteten.

»Was ist das für ein Wort, das sie immerzu wiederholen?«, fragte Faye.

»Ty fung«, sagte Indy.

»Und was bedeutet es?«

»Nichts Gutes«, erwiderte Indy.

»Das fürchte ich auch«, pflichtete Bryce ihm bei, während er ein Streichholz anriss, seine Hände darumwölbte und sich eine Zigarette anzündete. »Es bedeutet Taifun. Und wenn man die Jahreszeit berücksichtigt und um wie viel das Barometer während der letzten Stunde gefallen ist, würde ich sagen, sie liegen verdammt richtig damit.«

»Ein Wirbelsturm?«, fragte Mystery.

»In diesem Teil der Welt nennt man sie Taifun«, erklärte Bryce.

»In Australien heißen sie Willie-willies, el baguio auf den Philippinen, Hurrikan auf dem Atlantik. Aber im Grunde handelt es sich bei allen um tropische Wirbelstürme.«

»Großartig«, meinte Mystery.

»Pech ist, dass wir kein Funkgerät haben«, meinte Bryce. »Ich wüsste zu gern, wie mein alter Freund Clement Wragge den hier nennen wird. Dieser Wragge ist nicht auf den Kopf gefallen. Er ist australischer Meteorologe und hat es sich zur Gewohnheit gemacht, Stürme nach Frauen, die er mag, und nach Politikern, die er nicht ausstehen kann, zu benennen.«

»Wer hat je davon gehört, dass man Stürme nach einer Frau benennt?«, fragte Faye.

»Klingt in meinen Augen vollkommen logisch«, murmelte Indy.

»Können wir ihm entkommen?«, fragte Mystery.

»Der Wirbelsturm hat schätzungsweise einen Durchmesser von vierhundert Meilen«, sagte Bryce. »Und im Allgemeinen ziehen sie nach Südwesten, bis sie auf die Küste treffen. Wir fahren genau vor ihm her und haben nicht den Hauch einer Chance, das Festland zu erreichen, bevor er uns eingeholt hat.«

Musashi, die mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Deck hockte, die Hände vor dem Körper gefesselt, fing an zu lachen.

»Was ist daran so komisch?«, fuhr Indy sie an.

»Sie haben selbst das Wetter gegen sich«, lachte sie.

»Sie hat wirklich einen kranken Sinn für Humor«, meinte Mystery.

»Was können wir tun?«, fragte Faye.

»Ich fürchte, gar nichts«, erwiderte Bryce. »Abwarten und beobachten und darauf hoffen, dass wir es bis zu einer kleinen, geschützten Bucht auf einer Insel oder einem anderen Schlupfwinkel schaffen, bevor der Sturm uns einholt.«

Dann zog Bryce den Gin aus seiner Jackentasche, trank ihn aus und schleuderte die leere Flasche ins Meer.

Sokai trug ein schwarzes Gewand. Seine Füße waren unter den Körper gefaltet, die großen Zehen gekreuzt, und seine Hände ruhten mit den Innenflächen nach unten auf seinen Oberschenkeln. Er senkte seine mit einem Band verzierte Stirn, bis sie den harten Holzfußboden berührte, und verharrte drei respektvolle Sekunden in dieser Haltung. Als er in die sezen, die sitzende Stellung, zurückkehrte, flackerten die Kerzen zu beiden Seiten des Altars. Das Flackern wurde von der schwarz lackierten Scheide seines Samurai-Schwertes zurückgeworfen, das in Reichweite vor ihm auf dem Boden lag, und von den Abbildern seiner toten Meister, die die Wände des Dojos säumten. Das Flackern spiegelte sich auch in der mandelfarbenen Iris von Sokais rechtem Auge.

Das andere Auge, noch immer unter nässenden Verbänden verborgen, war mittlerweile nutzlos geworden. Außerdem hatten die Dorne des Nussknackers Stücke seines linken Ohrs und seiner Wange ausgestochen. In Verbindung mit den unbeholfenen Stichen, mit denen der Dorfarzt in Luchow die Wunden vernäht hatte, verlieh dieser Verlust Sokais abziehbildhaft gutem Aussehen jetzt eher einen Hauch von Boris Karloff. Sokai harrte bereits seit Stunden bewegungslos vor dem Altar in dem abgedunkelten Übungsraum aus und suchte nach dem boon ki - dem eigentlichen Grund, dem Wesen und der wahren Bedeutung dessen, was vorgefallen war. Er hatte den Blick über die Gesichter der Meister des Bushido schweifen lassen, angefangen bei seinem eigenen Meister aus Okinawa, bis hin zum grimmigen, zahnlückigen Antlitz von Dharuma, dem Begründer des Zen-Buddhismus aus dem sechsten Jahrhundert, der auch den Mönchen des Songshan-Shaolin-Klosters die Kampfkünste gebracht hatte. Angeblich hatte Dharuma nach seiner Ankunft im Kloster neun Jahre in stummer Versenkung vor einer Höhlenwand verbracht und auf das Geschrei der Ameisen gelauscht. Einer der Mönche, der diese Glanzleistung der Selbstbeherrschung verfolgt hatte, war so ergriffen, dass er eine seiner Hände abtrennte und sie Dharuma als Zeichen seiner Anteilnahme darbrachte.

Die Geschichte, spürte manch einer, hatte den Zweck, sich jeder Deutung zu entziehen, ein weiteres Zen-Koan, über das Betrachtungen anzustellen waren, das aber niemals wirklich verstanden werden konnte. Verstandesmäßiges Begreifen war ausgeschlossen, das Beste, worauf man hoffen konnte, war eine Art kontemplativen, emotionalen Akzeptierens.

Doch als Sokai seinen Fingerspitzen gestattete, den Verband über seinem geblendeten Auge zu berühren, glaubte er die Botschaft zu verstehen. Die dunkle Nacht seines Lebens war auf eine Weise erhellt worden, so wie ein Blitz die Geheimnisse einer Sommernacht sichtbar werden lässt.

Das Geräusch der schreienden Ameisen hatte einen Namen.

»Jones«, knurrte Sokai.

Und aus dem Namen war ein Fluch geworden.

Der Taifun holte die Dschunke in Gestalt einer finsteren Wand aus Wind und Wasser ein, die den Himmel verdunkelte. Der Rumpf der Dschunke wurde unerbittlich von den Wogen des Sturms vorangepeitscht, einem Surfbrett gleich, das auf einem Wellenkamm reitet. Kapitän und Mannschaft hatten beim ersten Anzeichen des aufkommenden Unwetters das Weite gesucht und sich in den kleinen Booten, die der Dschunke anhingen wie Pilotfische dem Bauch eines Hais, aus dem Staub gemacht. Sie würden den Sturm im Schutz irgendeiner Insel vorüberziehen lassen und anschließend, sollte ihn die Dschunke überstehen, zurückkehren. Wenn nicht, dann kam stets ein anderes Schiff zur rechten Zeit des Weges.

Indy und die anderen hatten weniger Wahlmöglichkeiten. Sie hatten sich an einer Ladeluke auf dem Mitteldeck des Schiffes Rücken an Rücken festgezurrt. Bevor der Sturm losschlug, hatte Bryce das Seil durchtrennt, mit dem Musashis Handgelenke gefesselt waren. Indy hatte seinen Filzhut in seine Jacke gestopft und den Reißverschluss hochgezogen. Anschließend hatte er sich mit Faye auf der einen und Mystery auf der anderen Seite an den Händen gefasst.

Sie hörten, wie der Sturm heranbrauste, und es klang wie einhundert Dampflokomotiven, die über das Wasser auf sie zugerast kamen. »Dr. Jones«, schrie Mystery. »Was ist?« »Ich habe Angst.«

»Ich auch«, erwiderte Indy. »Aber halt dich trotzdem einfach an meiner Hand fest, was auch passiert.« Mit dem ersten gewaltigen Ansturm des Wassers über die Decks wurden die Masten der Dschunke wie Zweige fortgerissen. Der Bootsrumpf legte sich vollständig auf die Seite. Nahezu eine Minute lang waren Indy und die anderen unter Wasser, hielten den Atem an und klammerten sich fest, bis der Rumpf sich endlich wieder aufrichtete.

Unter den wuchtigen Schlägen dreißig Meter hoher Wellen und gepeitscht von Winden, die manchmal zweihundert Meilen in der Stunde erreichten, gingen die befestigten Aufbauten rasch zu Bruch. An den offenen Stellen ragten die Planken des Rumpfes wie die Rippen eines Skeletts empor, und Meerwasser schwappte schäumend in beiden Richtungen durch die Ladeluke, der Mittelteil des Rumpfes jedoch hielt stand. Dann warf ein weiterer Brecher den Rumpf in die entgegengesetzte Richtung, und das Schiff tanzte auf dem Kamm, bis es über einer Schlucht aus brodelndem Wasser schwebte. Mystery schrie, als ihr das Deck unter den Füßen wegglitt. Indys Hand schloss sich noch fester um ihr Handgelenk. Einen Augenblick lang hing sie über dem Abgrund. »Mystery!«, brüllte Faye. »Ich hab sie«, rief Indy.

Im selben Augenblick löste sich Bryce' Griff an der Ladeluke und er stürzte mit den Füßen voran und mit den im weißen Kittel steckenden Armen auf dem gesamten Weg nach unten rudernd in die tosende See. Als das entmastete Wrack anschließend krachend zurück auf die See klatschte, zog Indy Mystery schützend an seine Seite.

Der Sturm hielt über eine Stunde unvermindert an, das unerbittliche Wirken von Wind und Wasser ließen Indy und die anderen jedoch lange vorher das Bewusstsein verlieren. Der der Ladung vorbehaltene Teil des Rumpfes war geflutet, hielt sich jedoch über Wasser. Als der Wind sich legte, lief das Wrack auf dem Ausläufer einer winzigen, hakenförmigen Insel auf Grund.

Faye erlangte als Erste das Bewusstsein wieder.

Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass Mystery normal atmete, befreite sie sich aus den Stricken, die sie an die Frachtluke fesselten, und richtete ihre Kleidung.

Dann rüttelte sie Indy.

»Jones«, rief sie. »Wachen Sie auf.«

»Ich bin wach«, beharrte er. »Wo sind wir?«

»Auf einer Insel«, sagte sie. »Scheint unbewohnt zu sein. Wahrscheinlich ist sie nicht einmal auf einer Karte eingezeichnet. Wir sind ziemlich weit vom Kurs abgetrieben worden, und ich wäre bereit, darauf zu wetten, dass wir uns nicht einmal in der Nähe von Schanghai befinden. Aber wenigstens ist der Sturm vorbei.«

»Das ist unmöglich«, sagte Indy und rieb sich die Augen.

»Es ist so still«, meinte Faye. »Und sehen Sie doch - da oben. Blauer Himmel.«

»Sie machen Scherze.«

»Nein«, erwiderte sie. »Und Vögel gibt es auch.«

»Der Sturm muss einen Durchmesser von mehreren hundert Meilen gehabt haben«, protestierte Indy. »Er kann unmöglich so schnell vorüber sein.«

Faye kam mühsam auf die Knie. Sie beugte sich hinüber und tätschelte Mysterys Wange. Das Mädchen schlug die flatternden Lider auf und starrte mehrere Augenblicke lang hoch zu ihrer Mutter.

»Mr. Bryce«, sagte Mystery. »Es tut mir so Leid, dass er fort ist.« »Mir auch«, meinte Faye. »Fast könnte man meinen, er hätte sich dem Sturm geopfert, damit wir anderen ihn überstehen. « »Denselben Gedanken hatte ich auch«, meinte Mystery. »Es war einfach Pech, weiter nichts«, sagte Indy mit heiserer Stimme, während er sich von der Frachtluke losband. »Dagegen ist es ein Wunder, dass wir drei überlebt haben.« »Vier«, sagte Musashi, ihre Erschöpfung überwindend. »Wir sind zu viert. Ein Offizier der kaiserlichen Armee und drei Gefangene.«

»Sicher«, sagte Indy, während er seinen mit Wasser vollgesogenen Hut aus seiner Jacke zog und aufsetzte. »Ein Wunder ist es trotzdem, wie auch immer Sie es drehen und wenden.« »Das könnte genau der richtige Ausdruck sein«, sagte Faye. »Sehen Sie.«

Ein Doppelregenbogen spannte sich hinter ihnen über die Weite des Himmels.

»Er ist noch nicht vorbei«, sagte Indy, der mit einem Schlag begriff. »Das ist nur eine Atempause. Wir befinden uns genau im Zentrum des Wirbelsturms. Schauen Sie nach unten, auf den Horizont - dort können Sie die Wolkenwand erkennen, die uns auf allen Seiten umkreist.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Mystery. Indy erhob sich.

Mystery zuckte mitfühlend zusammen, als sie das Knarren und Knacken in seinen Knien vernahm. »Wir müssen unbedingt einen Ort finden, wo wir den Rest des Sturmes heil überstehen können«, sagte Indy und

rieb sich die Schulter. »Und das am besten schnell. Wenn du senkrecht nach oben schaust, kannst du sehen, dass das Zentrum bereits über uns hinweggezogen ist. Die Nachhut des Sturms wird bald über uns hereinbrechen, und die wird genauso heftig werden, wie das, was wir bereits hinter uns haben.« »Sehen Sie«, sagte Musashi. Sie zeigte am Strand entlang.

Der Strand war mit entwurzelten Bäumen und anderen Trümmern des Sturms übersät. Inmitten eines kleinen Palmenhains in der Inselmitte jedoch ragte ein grobschlächtiger Kirchturm in die Höhe, und auf dem Dach des Turmes befand sich ein Kreuz aus Holz.

Загрузка...