KAPITEL SECHS Jadoo


Indy zog Musashi an der Hand durch die Menschenmassen, die die Innenstadt von Kalkutta verstopften, dichtauf gefolgt von Faye und Mystery. Über dem verwirrenden Gemisch aus Bengali, Hindi und Urdu - Sprachen, die jeder so laut und hektisch wie möglich zu sprechen schien - hörte man das Lärmen von Hupen und das unablässige Gebrumm der Busse, das Getrappel zehntausender Füße und die allgegenwärtigen Rufe der Bettler am Straßenrand. »Das ist die lauteste Stadt, die ich je erlebt habe«, meinte Faye. »Und außerdem die ärmste«, sagte Indy. »Diese Menschen schlafen zu tausenden auf der Straße, weil sie keinen anderen Platz haben, wo sie hingehen können. Die meisten, die das Glück haben, ein Zuhause zu besitzen, leben in den bustees, den Elendsvierteln, in denen es weder fließendes Wasser noch eine Kanalisation gibt. Hunger und Krankheiten nehmen hier überhand.«

»Nachdem die Depression um sich gegriffen hatte, dachte ich, Oklahoma sei ein hartes Pflaster«, sagte Faye. »Aber je mehr ich von der Welt sehe, desto glücklicher schätze ich mich, Amerikanerin zu sein.« »Vergessen Sie dieses Gefühl niemals«, rief Indy nach hinten.

Nachdem sie sich an jeder Ecke, an die sie kamen, nach dem Weg erkundigt hatten, fanden sie die japanische Botschaft schließlich verborgen vor den wimmelnden Menschenmengen hinter einem von zwei Soldaten der kaiserlichen Armee bewachten Eisentor.

»Also gut«, sagte Indy, während er den Strick löste, mit dem Musashis Hände an seine gefesselt waren, »da wären wir. Sayonara.«

Sie stand vor dem Tor und rieb sich die Handgelenke.

»He!«, rief Indy, den Wachen mit den Armen zuwinkend.

»Hai! Kommt und holt sie ab. Sie ist eine von euch!«

»Sie hätten mich umbringen sollen, als Sie die Gelegenheit dazu hatten«, bemerkte Musashi.

Indy beugte sich dicht zu ihr hin.

»Dafür ist immer noch Zeit«, sagte er.

Die Wachen schlössen das Tor auf, und Musashi trat ein. Sie ging sofort dazu über, Befehle auf Japanisch zu belfern und dabei auf Indy zu zeigen.

»Sie werden es doch wohl nicht wagen«, sagte Indy.

»Und ob sie es wagen«, sagte Faye, als die Soldaten auf sie zukamen.

» Lauft!«, rief Indy.

Im Nu waren sie im Gedränge nicht mehr zu sehen. Die Soldaten, nicht bereit, sich aus der Sichtweite der Botschaft zu entfernen, blieben am Ende der Häuserzeile stehen.

»Feiglinge«, zischte Musashi, als sie zurückkehrten.

Nach zwanzigminütigem Feilschen mit einem Pfandleiher gelang es Indy, seine Armbanduhr für zehn Dollar zu versetzen. Anschließend schickte er vom Büro der Western Union, unmittelbar neben dem Pfandleiher gelegen, ein Telegramm nach New York. Dessen Kürze war nicht nur wegen des heiklen Zustandes ihrer Finanzen geboten, sondern auch wegen Indys Abneigung gegen lange Erklärungen:

AN : MARCUS BRODY, AMERICAN MUSEUM OF NATURAL

HISTORY

VON: INDIANA JONES

BIN IN KALKUTTA, BRAUCHE DRINGEND GELD. STOP.

KEINE FRAGEN, ERKLÄRE ALLES SPÄTER. STOP .

Im Touristenbüro erkundigten sie sich nach der billigsten und sichersten Möglichkeit, die Nacht zu verbringen. Sie wurden zum Atlas House geschickt, einem leicht heruntergewirtschafteten, aber immer noch soliden Hotel, das hauptsächlich Englisch sprechende Handelsreisende der Mittelschicht beherbergte. Das Atlas verlangte zwei Dollar pro Nacht, Verpflegung inklusive. Sie trugen sich für zwei Zimmer ein.

Als der Portier auf ihre Namen blickte, zog er die Brauen hoch.

»Etwas nicht in Ordnung?«, fragte Indy.

»Nein«, erwiderte der Portier. »Es ist nur so, dass Maskelyne ein Name ist, den man nicht häufig sieht. Vor drei, vier Jahren hatte ich mal einen Maskelyne hier wohnen, wenn ich mich recht erinnere.«

»Kaspar Maskelyne?«, frage Faye.

»Ich glaube, ja«, sagte der Portier.

»Sind Sie sicher?«, fragte Faye. »Es ist sehr wichtig.«

Der Portier holte ein altes Melderegister unter der Theke hervor und begann, die Seiten umzublättern. t;

»Richtig, hier ist es«, sagte er und drehte das Melderegister herum, sodass Faye den Eintrag lesen konnte. »14. Februar 1930. Valentinstag. Er wohnte in einem der Zimmer, die Sie jetzt haben.«

Faye fuhr mit dem Finger über die Unterschrift.

»Welches Zimmer war das?«, fragte sie.

»Ihres«, sagte der Portier. »Zweihundertsieben. Sind Sie mit ihm

verwandt?«

»Ich bin seine Frau«, antwortete sie, eine Träne unterdrückend.

»Dies ist seine Tochter.«

»Und wer ist das?«; erkundigte sich der Portier nach Indy.

»Ein Freund«, sagte Faye. »Er hilft uns bei der Suche. Mein Mann ist verschollen.«

»Wieso erinnern Sie sich überhaupt an Kaspar?«, wollte Indy wissen. »Sie haben doch sicher jedes Jahr hunderte von Gästen.«

»Nun, nicht übermäßig viele davon sind Magier«, meinte der Portier. »Manchmal hat er abends kleine Vorstellungen hier draußen im Eingangsbereich gegeben und sich mit den Leuten über Magie und dergleichen mehr unterhalten. Ein überaus freundlicher Bursche. Er hat ungefähr eine Woche hier gewohnt.«

»Erinnern Sie sich an sonst noch was?«, fragte Faye.

»Er fragte mich, ob ich jemals von einem Mann namens Jadoo gehört hätte«, sagte er. »Klar, sage ich, von dem alten Jadoo, dem berühmtesten Magier Indiens, hat jeder schon gehört. Er fragte, ob ich helfen könnte, eine Adresse auf der Bengali zu finden. Das liegt am Rand eines der bustees und ist nicht leicht zu finden, wenn man nicht genau weiß, wonach man sucht.«

»Hätten Sie einen Bleistift und ein Stück Papier?«, fragte Faye.

»Aber sicher.«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns den Weg dorthin zu beschreiben?«

»Ganz und gar nicht«, sagte der Portier. Er schrieb die

Wegbeschreibung auf und meinte dann: »In dieser Gegend sollten Sie sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht erwischen lassen. Ich würde bis morgen warten.«

»Wir können nicht sofort hingehen?«, fragte Mystery.

»Er hat Recht«, meinte Indy. »Warten wir bis morgen früh.«

»Mutter«, sagte Mystery. »Dies ist der erste brauchbare Hinweis, den wir bis jetzt erhalten haben.« »Wir haben vier Jahre lang gewartet«, sagte Faye. »Auf eine Nacht mehr kommt es jetzt nicht mehr an. Außerdem bin ich müde und hungrig, und schließlich können wir keinen Magierkollegen aufsuchen, solange wir wie die Opfer eines Schiffbruchs aussehen - was wir genau genommen natürlich sind.«

Sie entdeckten das Geschäft in einer engen Seitenstraße. Zweimal waren sie bereits daran vorbeigelaufen, bevor Mystery auf einer verblichenen roten Tür die winzigen Zahlen bemerkte, 707. Die Tür führte zu einem Treppenlauf mit ausgetretenen Stufen, die wiederum zu einer weiteren, massiveren Tür im dritten Stock hinaufführten. An dieser Tür - die aus Eichenholz gefertigt war -befand sich ein sorgsam poliertes Namensschild aus Messing -Jadoo: Zauberer von Weltrang. Nur nach Terminabsprache. »Und wie trifft man eine Terminabsprache?«, fragte sich Mystery verwundert.

»Finden wir es heraus«, sagte Indy und klopfte laut und vernehmlich an die Tür.

Nach wenigen Augenblicken ging in der Türmitte eine Klappe auf. Ein blutunterlaufenes Augenpaar spähte heraus. »Wir möchten Jadoo sprechen«, erklärte Indy. »Ich bin Indiana Jones, und das hier sind -«

»Tut mir aufrichtig Leid«, sagte die quäkige, zu den blutunterlaufenen Augen gehörende Stimme im Tonfall der britischen Kolonien. »Nur nach Terminabsprache.« Die Klappe wurde geräuschvoll zugeschlagen. Indy klopfte abermals an, ein wenig härter diesmal. Die Klappe öffnete sich.

»Sie verstehen nicht«, sagte Indy mit bemühter Höflichkeit. »Wir müssen Jadoo, den Zauberer, in einer äußerst wichtigen Angelegenheit sprechen. Wir haben nicht die Zeit, einen Termin zu machen.«

»Nur nach Terminabsprache«, beschied die Stimme ihnen knapp.

Die Klappe wurde erneut zugeschlagen.

Indy rieb sich das Kinn, betrachtete die geschlossene Tür, dann hämmerte er mit den Knöcheln der geballten Faust dagegen. Die Klappe blieb geschlossen. Er versuchte es erneut, diesmal so heftig, dass der Putz von der bejahrten Decke rieselte.

»Hören Sie auf«, sagte Faye.

»Ich dachte, Sie wollten diesen Kerl sehen«, erwiderte Indy.

»Das tue ich auch«, sagte sie, »aber nicht, indem ich sein Haus einreiße.«

»Dann versuchen Sie es«, forderte Indy sie auf.

»Verzeihen Sie«, sagte Faye und klopfte behutsam an die Klappe.

»Es tut uns entsetzlich Leid, dass wir Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten, und mir ist auch bewusst, dass alle Besucher einen Termin benötigen. Aber wenn Sie so freundlich wären, Jadoo auszurichten, dass die Maskelynes hier sind, um -«

Die Klappe wurde ruckartig aufgerissen.

»Wie war gleich der Name, den Sie erwähnten?«

»Maskelyne«, wiederholte Faye. »Ich bin Faye Maskelyne, die Gattin des großen Magiers Kaspar Maskelyne, und dies ist unsere Tochter Mystery.«

»Hallo«, sagte Mystery.

Die Klappe wurde zugeschlagen, und man hörte das Rasseln von Ketten und das Schnappen von Schlössern, die entriegelt wurden.

Die Tür ging auf, und ein schmächtiger Inder in einer weißen Jacke drängte sie mit einer Handbewegung, einzutreten.

»Ich bin der Diener des Meisters«, sagte der Mann. »Nennen Sie mich Pasha.« »Danke«, sagte Faye.

Sie befanden sich in einem verschwenderisch eingerichteten Empfangszimmer, das mit Erinnerungsstücken an mehrere Jahrzehnte der Magie vollgestellt war. Die Regale waren gefüllt mit Büchern über Magie in mehreren Sprachen und quollen über vor Requisiten und anderen Gerätschaften. Unmittelbar nach ihrem Eintreten schloss und verriegelte der Diener hinter ihnen die Tür.

»Tut mir Leid«, meinte er, »aber der Meister ist zurzeit nicht zu Hause. Er wird jedoch sehr bald zurück sein, und ich bin sicher, dass er Sie empfangen möchte. Wollen Sie vielleicht warten?«

»Wir werden warten«, sagte Faye. »Sehr wohl«, sagte Pasha. »Darf ich Ihnen eine Erfrischungreichen? Tee, vielleicht?« »Das wäre freundlich«, sagte Faye. »Sehr wohl«, wiederholte Pasha, legte die Hände aneinander und machte eine winzige Verbeugung. Dann entfernte er sich rückwärts gehend aus dem Zimmer. »Hier sieht es aus wie in einem Museum«, sagte Mystery, als sie einen aus einem menschlichen Schädel gefertigten Trinkpokal zur Hand nahm, der auf einem silbernen Fuß befestigt war. Der Schädel saß verkehrt herum und war entlang der Oberkieferlinie in zwei Hälften geteilt worden, sodass die offen liegende Hirnschale den Kelch des Pokals bildete. Augen- und Nasenhöhlen waren mit getriebenem Gold ausgekleidet. Der Schädel war gebleicht und poliert worden, bis er eine an Elfenbein erinnernde Helligkeit angenommen hatte, die Zähne wirkten allerdings ein wenig gelb. Einer der Backenzähne wies eine goldene Krone auf. »Ist der echt?«, fragte sie. Indy nahm ihn in die Hand. In die Innenseite der Hirn-

schale hatte man Furchen für jene Blutgefäße eingeritzt, die im lebendigen Zustand das Gehirn mit Blut versorgt hatten. »Ich fürchte, ja«, sagte Indy.

»Igitt«, entfuhr es Mystery. Sie zog ein Gesicht und wischte sich die Handflächen an ihren Jeans ab. »Wer könnte so verschroben sein, dass er aus einem menschlichen Schädel trinken will?« »Er wird für magische Rituale benutzt«, erklärte Indy. »Das ist bei primitiven Völkern in der ganzen Welt gebräuchlich. Die Vorstellung besagt, dass man, wenn man den Schädel seines Feindes zu einem Kelch gestaltet, mit jedem Schluck daraus symbolisch seine Kraft zu sich nimmt. Er ist bestimmt nur ein Stück aus der Sammlung.« Faye nahm Indy den Pokal aus der Hand. »Bei manchen Stämmen ist es ein Zeichen des Respekts und sogar der Verehrung«, sagte sie. »Je mächtiger dein Feind, desto größer muss man demzufolge selber sein.« »Wie barbarisch«, meinte Mystery. »Hmm«, sagte Faye. »Im Gegensatz zu den anderen Gegenständen ist er nicht eingestaubt.« »Sie wollen doch nicht etwa andeuten ...«, sagte Indy.

Faye fuhr mit dem Mittelfinger durch die Innenseite der Hirnschale und probierte.

»Wein«, meinte sie. »Weiß. Nicht übermäßig alt, würde ich sagen.«

»Na, großartig«, meinte Indy. Faye stellte den Pokal zurück ins Regal. »Hoffen wir«, sagte sie, »dass der Besitzer dieses Schädels bereits tot war, als Jadoo seinen Kopf als Trinkgefäß begehrte.« »Ich frage mich, ob er einen Termin hatte«, sagte Indy. »Wir werden ihn fragen«, sagte Faye. Pasha kehrte mit einem Tablett zurück. Aus einer silbernen Kanne goss er starken britischen Tee in drei Tassen.

Faye nahm die dampfende Tasse, die ihr gereicht wurde, entgegen, Indy aber lehnte ab.

»Ich auch nicht«, sagte Mystery.

»Nein?«, fragte Pasha. »Darf ich der jungen Dame ein wenig Milch holen, und dem Gentleman vielleicht etwas Wein?«

Mystery schüttelte den Kopf.

»Nein, danke«, antwortete Indy mit einem Lächeln. »Ich bin nicht durstig.«

»Ganz wie Sie wünschen«, sagte Pasha. »Ich erwarte den Meister in Kürze zurück. Gibt es vielleicht etwas anderes, das ich bis dahin für Ihr Wohlbefinden tun kann?«

»Da wäre tatsächlich etwas«, sagte Indy. »Wir erwarten heute Nachmittag ein Telegramm aus den Staaten. Könnten Sie im Büro der Western Union anrufen und darum bitten, dass man es hierher weiterleitet?«

»Wir haben kein Telefon«, erwiderte Pasha. »Aber ich werde einen Boten zum Telegrafenamt schicken. Auf welchen Namen wird die Nachricht ausgestellt sein?«

»Auf meinen«, sagte Indy.

»Sehr wohl, Dr. Jones.«

Indy musterte Pashas Augen, doch der hielt seinem Blick stand.

»Sie müssen über ein phänomenales Gedächtnis verfügen«, sagte Indy.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir?«

»Ich erinnere mich nicht, Ihnen gesagt zu haben, dass ich Professor bin.«

»Wir empfangen hier auf telegrafischem Weg durchaus Nachrichten, selbst in Kalkutta«, sagte Pasha. »Der wäre ein schlecht informierter Bürger des Britischen Imperiums, der nicht den Namen des berühmten Archäologen kennt.«

Pasha entfernte sich rückwärts aus dem Zimmer. »Sie trauen ihm. nicht«, stellte Faye fest.

»Es gibt nicht viele Menschen, denen ich traue«, erwiderte Indy. Als er Mysterys Blicke daraufhin in seinem Nacken spürte, fügte er hinzu: »Anwesende ausgeschlossen.«

Man hörte das Geräusch einer Tür, die irgendwo nicht weit entfernt geschlossen wurde, sowie gedämpfte Stimmen, gefolgt von näher kommenden Schritten. Ein hoch gewachsener, weißhaariger Mann, bekleidet mit einem schwarzen Turban und einem weißen Jackett, betrat das Zimmer. Seine Haut hatte die Farbe von Walnüssen, seine Augen jedoch waren von einem durchdringenden Blau.

»Gäste«, rief er. »Verzeihen Sie, dass ich Sie habe warten lassen.

Wenn ich gewusst hätte, dass Sie hier warten, hätte ich mich beeilt. Bitte kommen Sie durch in mein eigentliches Büro.«

»Danke«, sagte Faye.

Sie folgten ihm in einen dunklen, reichhaltig mit Teppichen ausgelegten Raum, in dem träge ein Deckenventilator kreiste. Der Magier ließ sich in einem üppig gepolsterten Sessel nieder und nahm eine Zigarre aus einer hölzernen Kiste auf einem Beistelltisch, dann hielt er die Kiste Indy hin.

»Nein, danke«, sagte Indy. »Ich rauche nicht.«

»Aber ich«, sagte Faye.

»Wie Sie wünschen«, sagte Jadoo und ließ sie eine Zigarre auswählen.

Jadoo zündete die Zigarre mit einem Streichholz an, dann gab er die Streichhölzer an Faye weiter. Sie biss ein Zigarrenende ab und saugte dann die Flamme in das andere Ende.

»Ich wusste gar nicht, dass du rauchst, Mutter.«

»Ich war gezwungen, es aufzugeben«, erwiderte Faye, als der Rauch, vom Ventilator nach oben gezogen, sich um ihren Kopf kräuselte. »Amerikanische Zigaretten sind schwer zu bekommen, und das hiesige Kraut, das man hier raucht, stinkt zu abscheulich.

Mein Gott, ist die stark.«

Jadoo feixte.

»Von Ihnen habe ich bereits gehört, Dr. Jones. Und was Sie betrifft, Madam, so berichtet mir Pasha, Sie seien die Gemahlin meines Berufskollegen, Kaspar Maskelyne. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Der Grund, weshalb wir hergekommen sind, ist mein Mann«, erklärte Faye. »Man erzählte uns, er habe Sie möglicherweise vor seinem Verschwinden vor gut vier Jahren aufgesucht.«

Jadoo paffte an seiner Zigarre.

»Richtig«, sagte er. »Selbstverständlich erinnere ich mich an ihn. Er verbrachte einen ganzen Tag bei mir, 1930 war das, glaube ich. Er ist verschwunden? Tut mir Leid, das zuhören.«

»Wir hatten gehofft«, sagte Indy, »Sie könnten uns mitteilen, um was es bei Ihrer Unterredung mit ihm im Wesentlichen ging, um so ein paar zusätzliche Informationen für unsere Suche zu erhalten.«

»Ach, das liegt so lange zurück«, sagte Jadoo. »Außerdem ist mein Gedächtnis nicht mehr das, was es einmal war, wie ich zu meiner Schande gestehen muss. Das Erstaunlichste an unserer Unterhaltung war eigentlich, dass sie so angenehm verlief. Wir haben selbstverständlich über die Geschichte der Zauberei gesprochen, und er machte sich Notizen für ein Buch, an dem er, wie er sagte, gerade arbeitete.«

»Ein Buch?«, fragte Faye. »Von einem Buch hat er mir nie erzählt.«

»Augenblick, lassen Sie mich nachdenken«, sagte Jadoo und schloss die Augen. »Mir scheint tatsächlich, dass in unserem Gespräch von einem Buch die Rede war. Wir haben uns über so viele Dinge unterhalten.«

»Kaspar war nicht der Typ, der ein Buch in Angriff nehmen würde«, meinte Faye. »Er war eher der Typ des Abenteurers als der des Gelehrten. Tatsächlich habe ich vor seinem Verschwinden ganze drei Briefe von ihm erhalten, und darin war er aufreizend kurz angebunden. Ich habe mir oft gewünscht, er würde mehr dazu neigen, seine Aktivitäten schriftlich festzuhalten, denn das hätte die Suche nach ihm erheblich einfacher gemacht.«

»Jetzt erinnere ich mich«, sagte Jadoo. »Er schrieb nicht an einem Buch über alte Magie, sondern er war auf der Suche nach einem solchen. Der Titel war mir nicht geläufig, da es sich offenkundig eher mit Religion als mit Magie befasste.«

»Konnten Sie ihm einen Tipp geben?«, fragte Indy.

»Ja. Er fragte mich nach sehr alten Hindu-Texten, und ich konnte etwas über Sanskrit erzählen. Wir sprachen auch über den nahezu in allen Religionen der Welt verbreiteten Glauben, dass es ein Buch oder Schrifttafeln gebe, auf denen die Geschichte jedes Menschen verzeichnet ist, der jemals leben wird.«

»Das Omega-Buch«, sagte Faye.

»So wird es in einigen Kulturen genannt«, meinte Jadoo. »Die alten Ägypter glaubten zum Beispiel, es gebe in der Stadt Heliopolis, in der Nähe Kairos, eine gewaltige heilige Säule mit Namen Annu, die dort schon vor Anbeginn der Zivilisation gestanden habe und die auf 36.535 in ihrem Innern verborgenen Schriftrollen geheimes Wissen berge. Dieses Wissen könne nur verdienten Persönlichkeiten und nur zum Wohl der Welt offenbart werden.«

Indy musste lachen. »Das ist eine Metapher«, sagte er. »Die 36.535 Schriftrollen stehen für die 365 Tage des Jahres, plus dem Bruchteil eines Tages, und einigen Auslegungen zufolge birgt das Wissen nicht die Säule selbst, sondern der Himmel - mit anderen Worten, die Sterne.«

»Wie im Himmel, also auch auf Erden«, zitierte Jadoo eine verbreitete okkulte Weisheit. »Angeblich suchte Plato den Tempel Neith auf, dessen geheime Hallen historische Aufzeichnungen enthielten, die dort mehr als neuntausend Jahre lang aufbewahrt wurden. Der Historiker Manetho, der eine heute noch gebräuchliche Zeittafel der Pharaonen und Dynastien erstellte, soll seine Geschichte angeblich gewissen Säulen entnommen haben, auf die er an unterirdischen Orten gestoßen war und auf denen Hermes das heilige Wissen niedergeschrieben hatte.«

»Von diesen Legenden habe ich gehört«, sagte Indy. »Auch von der über Edgar Cayce, dem so genannten schlafenden Propheten, der vorhersagte, man werde unter den Pranken der Sphinx einen >Saal der Aufzeichnungen< finden, der die Geschichte einer untergegangenen Zivilisation enthält.« »Ganz recht«, sagte Jadoo. »Wir unterhielten uns auch über einige bedeutende archäologische Funde, und dass bei vielen von ihnen offenbar eher Magie als Wissenschaft im Spiel war. Erstaunlich, nicht wahr, an wie vielen Entdeckungen drei Personen beteiligt waren - ein betrügerischer Archäologe, sein Geldgeber und die noch nicht ganz volljährige Tochter seines Auftraggebers.« »Das Grab des Tut-Ench-Amun«, sagte Indy, »oder der Kristallschädel von Lubantuun.« »Genau«, bestätigte Jadoo. »Zweifellos ist hier eine geheimnisvolle Macht am Werk, die vollständig zu begreifen die Wissenschaft nicht fähig ist. Schließlich spielt das Glück beim Graben in der Erde eine außerordentliche Rolle, finden Sie nicht auch?«

»Als Sie sich mit Kaspar über dieses alte Buch unterhielten«, fragte Indy, »war da im Zusammenhang mit dem Auffinden noch von etwas anderem als Glück die Rede?« »Ja«, sagte Jadoo, »vom Stab des Aaron.« »Wieso war Kaspar der Meinung, der Stab werde ihm dabei helfen, diese Aufzeichnungen zu finden?«, wollte Indy wissen. »Schließlich haben wir es mit untereinander nicht verwandten theologischen Systemen zu tun.«

«Weil man mithilfe dieses Stabes alles zu finden vermag«, antwortete Jadoo. »Die Juden, zum Beispiel, fanden mit seiner Hilfe in der Wüste Wasser; man klopft damit auf einen Fels, und eine Quelle sprudelt hervor. Kaspar war überzeugt, eine solche göttliche Fügung sei erforderlich, um die richtige Stelle im Sand zu finden. Schließlich gleicht der Vorgang dem Versuch, eine Nadel im Heuhaufen zu finden, wie Ihr Amerikaner sagt.« »Der Glaube an den Stab hat im Islam, im Judentum und in der Christenheit Tradition«, erwiderte Indy. »Aaron war angeblich 123 Jahre alt, als er starb und am Berg Horeb beigesetzt wurde. Über den Ort, wo sich der Stab zuletzt befand, schweigen die Texte.« »Nicht alle«, wandte Jadoo ein. »Sie sind im Besitz von Informationen, die Sie bereit wären, uns mitzuteilen?« Jadoo zuckte die Achseln. »Gerüchten und Legenden aus dem Volk nachzujagen ist, als wollte man den Wind einfangen«, erwiderte er. »Es existiert allerdings eine Geschichte über den Stab, die sich hartnäckig hält, und derzufolge er von einem Stamm von Teufelsanbetern im Irak verehrt wird, die man Yezidi nennt.« »Teufelsanbeter?«, fragte Mystery. »Warum sollten sie etwas verehren, das so eng mit der biblischen Geschichte des Auszugs der Juden aus Ägypten verbunden ist?«

»Weil Aaron und seine Schwester, eine Magierin mit Namen Miriam, ihren Glauben verlor, als ihr Bruder Moses sich auf dem Berg befand, wo er von Gott die Zehn Gebote überreicht bekam«, sagte Indy. »Sie bedrängten die Juden, das Goldene Kalb zu erschaffen und als Götzen zu verehren.« »Die Yezedi sind ein außergewöhnliches Volk«, fuhr Jadoo fort. »Sie haben sich in einer entlegenen Bergregion im Norden Bagdads niedergelassen, zu der Fremde absolut keinen Zutritt haben. Ich erklärte Kaspar, er täte gut daran, sich in Acht zu nehmen, wenn er bei ihnen eintrifft, da sie leicht in Zorn geraten und für Vernunft nicht zugänglich sind. Wie nennen es die Amerikaner gleich? Eher würden sie jemandem die Kehle durchschneiden, als ihm ins Gesicht zu sehen.«

»Kaspar hatte also vor, in den Irak zu reisen?« »Ja, ich glaube, so lautete sein Plan«, sagte Jadoo. »Aber genau weiß ich es nicht, schließlich habe ich seitdem nichts mehr von ihm gehört. Außerdem hat er seine Reiseroute mit mir nicht abgesprochen.«

»Danke«, sagte Faye, während sie die Asche ihrer Zigarre im Aschenbecher abklopfte. »Sie haben uns den ersten echten Hinweis über den Aufenthaltsort meines Mannes geliefert.«

»Ich wünschte nur, ich könnte genauere Angaben machen«, entschuldigte sich Jadoo. »Eine Frage hätte ich noch«, sagte Faye.

»Nur zu«, forderte Jadoo sie auf.

»In Ihrer Sammlung im Nachbarzimmer befindet sich ein aus einem menschlichen Schädel hergestellter Pokal«, sagte sie. »Uns fiel auf, dass er, im Gegensatz zu den anderen Stücken, nicht eingestaubt war. Außerdem roch er nach Wein.«

»Verstehe«, sagte Jadoo und lächelte. »Und da haben Sie sich gefragt, ob ich, um meinem Namen gerecht zu werden, daraus Erfrischungen zu mir nehme? Nein, es tut mir Leid, da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe diese Reliquie vor einigen Jahren in Tibet erstanden, und durch Nachlässigkeit geschah es, dass eine Mäusefamilie sich darin einnistete. Als ich dies vergangene Woche bemerkte, bat ich Pasha, ihn zu reinigen. Er verwendete dazu Essig, daher der Geruch.«

»Das erklärt es«, sagte Faye.

»Was meinen Sie mit >um meinem Namen gerecht zu werden

Der Magier wirkte verlegen.

»Jadoo«, erläuterte Indy, »bedeutet >Schwarze Magie<.«

»Ein Name, den ich mir für die Bühne zugelegt habe«, sagte der Magier.

An der Tür klopfte es, und Pasha trat ins Zimmer. In der Hand hatte er ein Tablett, und auf dem Tablett lag ein schweres, gelbes Stück Papier, so gefaltet, dass es seinen eigenen Umschlag bildete.

»Verzeihung«, sagte er. »Eine Nachricht für Dr. Jones.«

»Danke«, sagte Indy.

Indy öffnete das Telegramm und las.

»Es ist von Marcus Brody«, sagte er mit beinahe brechender Stimme. »Er schreibt, er sei untröstlich zu erfahren, dass ich in Indien statt in China bin, er dennoch einen Geldtransfer zur hiesigen Britischen Handelsbank veranlasst habe. Ich brauche nichts weiter zu tun, als zur Bank zu gehen und unser übliches Kodewort anzugeben.«

»Sie scheinen überrascht zu sein, von Ihrem alten Freund zu hören«, meinte Faye.

»Überrascht nicht«, erwiderte Indy. »Nur von Heimweh ergriffen.«

»Sie haben ein Kodewort?«, fragte Mystery.

»Ja«, antwortete Indy stolz. »Eine Gedächtnisstütze, die wir uns gemeinsam ausgedacht haben, etwas aus unserer Kindheit. Er ist wirklich praktisch.«

»Und was ist, wenn jemand es errät?«, fragte sie.

»Das wird mit Sicherheit nicht geschehen«, erwiderte er. »Das Kodewort ist Bestandteil eines Satzes, und jedes Mal, wenn wir ihn benutzen, rückt es um eine Position weiter. Oh, verdammt.«

»Was haben Sie, Dr. Jones«, erkundigte sich Faye. »Sie sehen plötzlich so blass aus.«

»Ich weiß nicht mehr, an welcher Position des Satzes wir im Augenblick sind«, stammelte er.

»Also, Dr. Jones«, sagte der Bankier freundlich. »Mein Name ist Mr. Hyde, ich werde die Überweisung aus Amerika beaufsichtigen. Eintausend amerikanische Dollar.«

Sie saßen in einem elegant eingerichteten Büro der Britischen Handelsbank, während Faye und Mystery draußen in der Eingangshalle warteten. Der Bankier schien ein wenig beunruhigt über Indys ungepflegtes Äußeres und hatte darauf bestanden, dass er Peitsche und Revolver bei Faye zurückließ.

»Großartig«, sagte Indy. »Sie glauben gar nicht, was für eine Hilfe das ist.«

»Unterschreiben Sie hier, bitte.«

Er schob ein Formular zu Indy herüber. Indy unterzeichnete und datierte es, dann reichte er es zurück.

»Das Datum«, meinte der Bankier.

»Was? Oh, Verzeihung. Ich bin nach dem Jahreswechsel immer ein wenig im Rückstand.«

»Sie sind wohl eher ein Vierteljahrhundert voraus«, bemerkte der Bankier.

»Dazu gibt es eine komische Geschichte«, sagte Indy.

»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte der Bankier ohne jede Gefühlsregung. »Haben Sie irgendetwas bei sich, womit Sie sich ausweisen können? Ihr Pass würde genügen.«

»Tut mir Leid, nein«, sagte Indy.

»Sie reisen ohne Pass?«

»Der ging in dem Sturm verloren, der unser Schiff versenkt hat«, sagte Indy.

»Dann etwas anderes. Eine Geburtsurkunde?«

»Die gehört nicht zu den Dingen, die ich normalerweise bei mir trage.«

»Dann vielleicht ein Bibliotheksausweis?«

»Ich sagte Ihnen doch«, sagte Indy. Seine Augen funkelten, und seine Wangen begannen sich zu röten. »Ich habe alles während des Taifuns verloren. Wir befinden uns hier in einer verzweifelten Lage, sonst hätte ich meinen Freund Marcus Brody wohl kaum in einem Telegramm um Geld gebeten.«

»Also gut, Dr. Jones, kein Grund, sich zu ereifern«, sagte Hyde.

»Es besteht eine letzte Möglichkeit, zu der wir Zuflucht nehmen können. Ich muss lediglich Ihre Identität mittels des Kodewortes feststellen, das Mr. Brody uns angegeben hat.«

Indy grinste verlegen.

»Das ist wieder so eine komische Geschichte«, sagte er.

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort«, versetzte der Bankier.

»Könnte ich Ihnen vielleicht den vollständigen Satz geben, aus dem -«

»Das Kodewort, Dr. Jones«, beharrte der Bankier. Indy murmelte etwas.

»Wie war das bitte?«

»Bursche«, sagte Indy.

»Nein, tut mir Leid.«

»Denkt.«

»Völlig falsch.«

»Fehlerfrei«, versuchte Indy es ein weiteres Mal.

»Tja«, meinte der Bankier.

»Das ist es«, sagte Indy. »Ich konnte mich nicht erinnern, welchen Ton wir beim letzten Mal verwendet haben. Ein Gerissener Bursche Denkt Fehlerfrei. Der Satz steht für die Linien des Notensystems, und beim letzten Mal haben wir D verwendet.«

Der Bankier musterte ihn argwöhnisch.

»Hören Sie, ich habe Ihnen soeben den Kode gegeben«, sagte er.

»Telegrafieren Sie Brody, wenn es nicht anders geht, und bitten Sie ihn um eine Bestätigung - wir müssen ihn jetzt ohnehin ändern.«

»Warten Sie hier, bitte«, sagte der Bankier. »Ich gehe das Geld für Sie holen.«

Der Bankier verließ das Büro, und Indy wartete nervös. Als der Mann zurückkehrte, wurde er von einem Sicherheitsbeamten der Bank begleitet.

»Etwas nicht in Ordnung?«, fragte Indy.

»Sie sind verhaftet wegen Betruges«, sagte Hyde. »Die korrekte Antwort lautete >Ein<.

»Sie machen einen großen Fehler«, protestierte Indy.

»Ich fürchte, nein, Dr. Jones - oder wer immer Sie sein mögen«, versetzte Hyde. »Unsere Beschreibung von Dr. Jones bezieht sich auf einen Mann, der beträchtlich jünger ist als Sie. Ganz sicher hätte er kein grau meliertes Haar. Darüber hinaus teilte Mr. Brody uns mit, dass Sie sich seiner Ansicht nach in Südamerika aufhalten. Also müssen wir zwangsläufig zu der Schlussfolgerung gelangen, dass Sie ein Hochstapler sind, der versucht, Dr. Jones' Identität anzunehmen, um über Mr. Brodys Museum schnell an Geld zu kommen.«

»Holen Sie mir Marcus ans Telefon«, sagte Indy. »Lassen Sie mich mit ihm sprechen.«

»Das ist völlig ausgeschlossen«, sagte Mr. Hyde.

»Bitte«, sagte Indy. »Sie verstehen nicht.«

»Ich fürchte, leider doch«, erwiderte Hyde. »Die Polizei Kalkuttas wird Sie festhalten, bis wir die Angelegenheit geklärt haben.«

»Und benehmen Sie sich«, riet ihm der Wachmann, während er ihm die Hände hinter dem Rücken in Handschellen legte. »So ist es recht. Widerstand ist zwecklos. Als Indy durch die Eingangshalle abgeführt wurde, rief Faye ihm etwas zu.

»Wo bringen die Sie hin?«, wollte sie wissen.

»Ins Gefängnis von Kalkutta.«, rief Indy zurück. »Sie sind der Meinung, ich wolle sie berauben. Sie glauben mir nicht, dass ich bin, wer ich bin.«

»Sie machen einen Fehler«, wandte sich Faye an sie. »Das ist Dr. Jones.«

»Offenbar hat dieser Mann Sie ebenfalls zum Narren gehalten«, meinte der Wachmann. »Woher wissen Sie, dass dies Dr. Jones ist?«

»Er hat es uns gesagt.«

»Wie lange kennen Sie ihn?«

»Einige Tage«, sagte sie.

»Haben Sie uns etwa angelogen?«, fragte Mystery.

»Unsinn«, gab Indy zurück.

»Haben Sie sonst irgendeinen Beweis?«, fragte der Wachmann.

»Naja, das nicht gerade«, meinte Faye, »aber ich vertraue ihm.«

»Ich bitte um Verzeihung«, meinte der Wachmann. »Aber das war Ihr erster Fehler, Madam. Tut mir Leid, aber ich werde Sie und das Mädchen ebenfalls zum Verhör mitnehmen müssen. Geben Sie mir die Waffe, bitte.«

»Indy«, sagte Faye. »Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«

»Geben Sie sie ihm«, riet Indy ihr.

Sie gab dem Wachmann den im Halfter steckenden Webley. Der klemmte ihn sich unter den Arm, dann zog er ein zweites und ein drittes Handschellenpaar aus seiner Gesäßtasche.

»Weil ich alleine bin und Sie zu dritt«, entschuldigte er sich, während er die zusätzlichen Handschellenpaare in die Höhe hielt, um sie ihnen zu zeigen. »Der Mann hier wandert ins Gefängnis, Sie beide wird man jedoch freilassen, sobald die Polizeiinspektoren Gelegenheit hatten, Sie zu verhören.«

»Lassen Sie sie gehen«, sagte Indy.

»Tut mir Leid, Kumpel.«

Der Wachmann fesselte Mystery mit Handschellen die Hände auf den Rücken, dann wandte er sich ihrer Mutter zu. Mystery hatte sich nach wenigen Sekunden von den Handschellen befreit und schnappte sich den Webley unter seinem Arm.

»Mir reicht's«, sagte Mystery, zog den Revolver aus dem Halfter und richtete ihn auf den Wachmann der Bank.

»Ich bitte Sie, Miss«, meinte der Wachmann. »Sie könnten jemanden damit verletzen.«

»Genau darum geht es«, erwiderte sie. »Ich werde nicht zulassen, dass Sie Dr. Jones verhaften. Wissen Sie überhaupt, wie man das Gefängnis hier nennt? Das schwarze Loch. Die Menschen wandern hinein und kommen nie wieder raus. Lassen Sie ihn laufen.«

»Also gut«, sagte der Wachmann und ließ Indy los.

»Verschwinden wir von hier«, sagte Mystery.

Indy nahm die Waffe aus dem Halfter des Wachmanns an sich.

»Noch nicht«, sagte Indy. »Ich werde jetzt das Geld an mich nehmen, Mr. Hyde.«

»Sie rauben mich aus?«

»Keineswegs«, sagte Indy. »Diese eintausend Dollar sind tatsächlich für mich bestimmt. Das Geld gehört nicht Ihnen, sondern Marcus Brody - oder zumindest seinem Museum.«

»Ganz wie Sie wollen«, meinte Hyde. »Es wird allerdings einen Augenblick dauern.«

»Es ist mir gleich, ob es in Dollar, Pfund oder Rupien ist«, sagte Indy. »Wenn Sie sich nur beeilen. Und versuchen Sie keine Tricks, denn wir sind in einer verzweifelten Lage.«

»Genau«, meinte Mystery.

»Gib das mir«, sagte Faye und nahm ihr den Revolver ab. »Du wirst niemanden damit erschießen.«

»Faye«, meinte Indy. »Dies ist eine brenzlige Situation. Würden Sie also bitte unsere Position nicht untergraben?«

»Ich werde nicht mit ansehen, wie meine Tochter mit Waffen herumfuchtelt«, erwiderte sie.

»Schön«, sagte Indy. »Dann fuchteln Sie eben damit herum.«

Hyde kam mit dem Geld zurück, in Pfundnoten. Indy stopfte es in seine Jacke und tippte kurz an seinen Hut.

»Denken Sie daran«, sagte er. »Ich habe mir lediglich genommen, was mir gehört.«

Dann liefen alle drei zur Tür.

Die schwarze Seidenklappe über seinem rechten Auge war für Sokai noch ungewohnt, daher legte er den Kopf unbeholfen in den Nacken, als er den alten Magier ansah. Sokai, der einen weißen Anzug unter seinem schwarzen Wettermantel trug, steckte sich eine amerikanische Zigarette an und schlug die Beine übereinander, während Jadoo nervös mit einer Zigarre hantierte. Musashi stand hinter Sokais Stuhl.

»Dieser Jones«, sagte Sokai schlicht. »Erzählen Sie mir, was Sie über ihn wissen.«

»Er war hier«, meinte Jadoo. »Mit seinen beiden Begleiterinnen, einer Frau mit Namen Maskelyne und ihrer Tochter. Sie dürften inzwischen längst auf dem Weg nach Bagdad sein.«

»Was wollten sie?«

»Sie waren auf der Suche nach Hinweisen über den verschollenen Ehemann der Frau«, erklärte Jadoo. »Ich erzählte ihnen, er sei vor etwa vier Jahren hier gewesen.«

»Reden Sie weiter«, forderte Sokai ihn auf.

»Ich habe sie zu dem Glauben verleitet, ich stünde ihrer Suche wohlwollend gegenüber.«

»Schön«, meinte Sokai. »Was weiter?«

»Jones erhielt ein Telegramm aus New York. In der Britischen Handelsbank wartete Geld auf ihn.«

»Das dürfte seine Ergreifung zusätzlich erschweren«, meinte Sokai.

»Warum wollen Sie ihn haben?«

»Aus persönlichen Gründen«, sagte Sokai und berührte die Augenklappe. »Darüber hinaus suchen sie etwas, das mich interessiert. Wieso fahren sie nach Bagdad?«

»Weil ich ihnen erzählt habe, dieser Ehemann habe geglaubt, er werde den Stab des Aaron bei den Yezedi im Norden des Irak finden«, erklärte Jadoo. »Soweit ist die Geschichte wahr.«

»Aber sie werden den Ehemann dort nicht finden«, sagte Sokai.

»Nein«, erwiderte Jadoo.

»Wieso haben Sie nie selbst nach diesem legendären Stab gesucht, wo dieser Ehemann Ihnen doch verraten hat, wo er zu finden ist?«

»Weil ich nicht scharf darauf bin, einen Stamm wie die Yezedi aufzusuchen«, meinte Jadoo. »Ich war noch nie versucht, mein

Leben für ein Ungewisses Risiko aufs Spiel zu setzen.«

»Aha«, sagte Sokai. »Aber was wäre, wenn jemand anderes die eigentliche Arbeit machte, indem er die Beute als Erster findet?«

»Dann brauchte man nur noch zuzugreifen«, sagte Jadoo.

Sokai lachte.

»Offenbar verfügen wir über miteinander vereinbare Weltanschauungen«, stellte Sokai fest. »Vereinen wir unsere Kräfte und führen wir die Vernichtung dieses Jones und seiner Begleiterinnen herbei. Wir werden bekommen, was ihm gehört.«

»Wir haben ein Problem«, sagte Indy, als er sich in dem übervollen, in das Herz des indischen Subkontinents hineinfahrenden Eisenbahnwaggon zwischen Faye und Mystery zwängte. Der Schaffner hatte ihre Fahrkarten gelocht, ohne sie auch nur eines zweiten Blickes zu würdigen. »Außer, dass wir Flüchtlinge sind?«, fragte Mystery. »Nicht so laut«, sagte Indy. »Nein, ich denke, im Augenblick sind wir sicher. Das Problem ist, dass, sobald wir die pakistanische Grenze erreichen - von jetzt an gerechnet in ein oder zwei Wochen, je nach Glück und den Tücken des indischen Eisenbahnsystems - die Schienen enden.« »Also gut«, meinte Faye. »Dann heuern wir eben einen Fahrer an.«

»Es gibt dort keine Straßen«, sagte Indy. »Jedenfalls nicht im modernen Sinn des Wortes. Über fünfzehnhundert Meilen quer durch Fels und Wüste gibt es dort nichts als Ziegenpfade, Zickzackstraßen und namenlose Gräber. Die beiden Länder zwischen uns und Bagdad, Pakistan und Irak gehören eher dem Mittelalter an als dem zwanzigsten Jahrhundert.« »Und wie reisen die Menschen durch dieses Land?«, fragte Mystery.

»Im Allgemeinen überhaupt nicht«, sagte Indy. »Wenn sie unbedingt müssen, ziehen sie in Karawanen wie vor tausend Jahren auf der alten Seidenstraße.« »Dann suchen wir uns eben eine Karawane«, schlug Faye vor. »Es dauert sechs Wochen, eine solche Entfernung in der Wüste auf einem Kamel zurückzulegen«, sagte Indy. »Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, aber ich glaube nicht, dass ich so viel Zeit erübrigen kann - von den Schwierigkeiten ganz zu schweigen. Sind Sie je auf einem Kamel geritten?« »Nein«, gestand Faye.

»Es ist erbärmlich«, sagte Indy. »Der Gestank alleine reicht, um einen um den Verstand zu bringen. Aber wenn wir mit unserem Zeitplan richtig liegen, können wir uns von einer der Ölgesellschaften ein Flugzeug borgen. Mit Glück finden wir sogar eine Maschine, die noch im Stande ist, mehr als fünfzig Meilen ohne Zwischenlandung zurückzulegen. Bekanntermaßen setzt die Wüste Flugzeugen mächtig zu.«

»Das ist also unser Plan?«, fragte Mystery.

»Genau, Dr. Jones«, meinte Faye. »Was werden wir als Nächstes tun?«

»Das Klügste wäre, nach Hause zu fahren«, schlug Indy vor.

»Mein Zuhause«, erwiderte Faye, »ist dort, wo mein Mann ist.«

»Hören Sie, Faye«, sagte Indy. »Sie brauchen nichts mehr zu beweisen. Niemand würde Ihnen einen Vorwurf machen, wenn Sie jetzt aufgäben und ihn offiziell als im Kampf gefallen erklären ließen und Ihr Leben weiterlebten. Tut mir Leid, aber genauso ist es.«

»Sie begreifen es einfach nicht, hab ich Recht?«, fragte Faye.

»Begreifen? Was?«, sagte Indy.

»Wir müssen Gewissheit haben«, sagte Faye. »Wenn er noch lebt, will ich ihn finden. Wenn er tot ist, werde ich damit fertig. Aber wie auch immer, ich muss Gewissheit haben - es sind die Höllenqualen der Ungewissheit, die ich nicht ertragen kann. Wenn Sie uns nicht helfen, werden Mystery und ich es auf eigene Faust zu Ende bringen.«

Indy biss die Zähne aufeinander und wandte den Blick ab.

»Sie scheinen eines zu vergessen, Dr. Jones.«

»Ach, ja? Und das wäre?«, fauchte Indy gereizt.

»Die geringfügige Chance, dass Kaspar den Stab des Aaron tatsächlich gefunden hat, und vielleicht sogar das Omega-Buch. Vielleicht haben Sie Recht, Dr. Jones - gut möglich, dass Kaspar schon lange nicht mehr lebt. Aber möglicherweise hält er noch immer den Stab des Aaron in seinen kalten, toten Fingern, der wiederum zum Omega-Buch weist. Das wäre der gewaltigste archäologische Fund und Schatz unserer Zeit. Stellen Sie sich vor, Dr. Jones. Ihre Karriere stünde im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Sie wären nicht mehr gezwungen, mitten in der Nacht Gräber auszurauben und dabei vor irgendwelchen Gangstern mit Maschinenpistolen in Deckung zu gehen.« »Mir gefällt meine Arbeit«, rechtfertigte sich Indy. »Wem würde sie nicht gefallen?«, sagte Faye. »Sie kommen viel rum und lernen Menschen mit interessanten und im Allgemeinen sadistischen Hobbys kennen. Wann haben Sie Ihrem Museum in York das letzte Mal etwas wirklich Wertvolles mitgebracht?« Indy räusperte sich verlegen.

»Es gab da verschiedene Gegenstände aus Qins Grabmal, die ganz interessant waren«, antwortete er kleinlaut. »Ich habe noch andere Abenteuer erlebt, aber über die meisten darf ich nicht sprechen. Es würde mir ohnehin niemand glauben.« »Was kann Ihnen also ein weiteres Abenteuer ausmachen?«, fuhr Faye fort, »ein einziger weiterer Versuch, das große Glück zu finden. Sie wissen doch selbst, dass Sie nicht widerstehen können.«

»Also schön«, sagte Indy und rieb sich mit der Hand über das stoppelige Kinn. »Wir machen entschlossen weiter -hoffen weiter auf das Beste und erwarten das Schlimmste. Und noch etwas: Da wir die Strapazen dieser Expedition zu gleichen Teilen auf uns nehmen, werden wir auch allen Lohn, der dabei ans Licht kommt, gleichmäßig aufteilen. Abgemacht?« »Abgemacht, Dr. Jones.« Dann hielt Faye inne. »Aber nur unter der Voraussetzung, dass Mystery im Falle meines Ablebens ... meinen vollen Anteil erhält, und Sie alles daransetzen, sie sicher zurück nach Oklahoma zu bringen.« »Das wäre das Mindeste«, sagte Indy. »Ich kann alleine auf mich aufpassen, Sie altes Fossil«, protestierte Mystery und schlug Indy seinen Filzhut vom Kopf. »Und was Mutter betrifft, sie ist ebenso fähig wie ich, ihr wird nichts zustoßen. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass doch, werde ich Sie persönlich dafür verantwortlich machen, Dr. Jones, dass Sie mich zur Waise gemacht haben.«

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