4. Karlsson wettet

Lillebror kam eines Tages von der Schule nach Hause. Er sah grimmig aus und hatte eine große Beule auf der Stirn. Mama war in der Küche, und sie war so entsetzt über die Beule, wie Lillebror es sich gewünscht hatte.

„Liebster Lillebror, was war denn los?" sagte sie und nahm ihn in die Arme.

„Krister hat mich mit Steinen geschmissen", sagte Lillebror böse.

„Nein, nun hört doch aber alles auf, sagte Mama, „so ein Lümmel! Warum kommst du denn nicht rauf und sagst es mir?"

Lillebror zuckte die Achseln.

„Wozu denn? Du kannst doch nicht mit Steinen schmeißen. Du würdest nicht mal eine Scheunenwand richtig treffen." „Ach, du kleines Dummerchen", sagte Mama. „Du denkst doch nicht etwa, daß ich Krister mit Steinen schmeißen will?" „Womit willst du denn aber sonst schmeißen?" fragte Lillebror erstaunt. „Was anderes gibt es nicht, wenigstens nichts, was ebenso gut geht."

Mama seufzte. Es war kein Zweifel, daß nicht nur Krister zuschlug, wenn es nötig war. Ihr eigener Liebling war nicht eine Spur besser. Wie war es aber möglich, daß ein kleiner Bengel, der so liebe blaue Augen hatte, ein solcher Haudegen war?

„Wie schön wäre es, wenn ihr es euch abgewöhnen könntet, euch zu hauen", sagte Mama. „Man kann doch statt dessen über die Dinge sprechen! Weißt du, Lillebror, es gibt tatsächlich nichts, was man nicht ins Reine bringen kann, wenn man die Dinge ordentlich durchspricht." „Das gibt es aber doch", sagte Lillebror. „Zum Beispiel gestern. Da habe ich mich auch mit Krister gehauen ..." „Völlig unnötig", sagte Mama. „Ihr hättet ebensogut durch ein vernünftiges Gespräch klären können, wer recht hatte." Lillebror setzte sich an den Küchentisch und stützte seinen verletzten Kopf in die Hände.

„Denkst du, ja", sagte er und sah seine Mama finster an. „Krister hat nämlich zu mir gesagt: ,Ich kann dir eins reinhauen', und da hab' ich drauf gesagt: ,Das kannst du ja mal versuchen'. Wie können wir so was wohl durch ein vernünftiges Gespräch klären? Kannst du mir das mal sagen?" Das konnte Mama nicht, und sie beendete unverzüglich ihre Friedenspredigt. Ihr Haudegen von einem Sohn sah ziemlich finster aus, und sie stellte ihm eiligst heiße Schokolade und frische Wecken hin. Das war etwas für Lillebror. Er hatte den lieblichen Duft von frischgebackenem Weißbrot schon im Treppenhaus gerochen, und Mamas herrliche Zimtwecken machten ihm das Leben wenigstens ein bißchen leichter. Lillebror biß nachdenklich in einen Wecken, und während er aß, legte Mama ihm ein Pflaster auf die Beule an der Stirn. Dann küßte sie ihn leicht auf das Pflaster und fragte: „Worüber habt ihr euch denn heute gezankt, Krister und du?" „Krister und Gunilla sagen, daß Karlsson vom Dach eine Einbildung ist. Sie haben gesagt, er wäre nur ein Gedanke", sagte Lillebror.

„Ist er denn das nicht?" fragte Mama ein wenig tastend. Lillebror starrte sie über die Schokoladentasse hinweg verdrießlich an.

„Kannst du denn nicht wenigstens glauben, was ich sage?"

meinte er. „Ich habe Karlsson gefragt, ob er ein Gedanke ist. ..."

„Und was hat Karlsson gesagt?" fragte Mama. „Er sagte, wenn er ein Gedanke wäre, dann wäre er der beste Gedanke der Welt. Aber nun ist er zufällig keiner", sagte Lillebror und nahm sich einen neuen Wecken.

„Karlsson meint, Krister und Gunilla sind Gedanken. Außerordentlich dumme Gedanken, sagt er, und das finde ich auch."

Mama antwortete nicht. Sie sah ein, daß es müßig war, mit Lillebrors Phantasien zu Rande kommen zu wollen, und darum sagte sie nur:

„Ich finde, du solltest ein bißchen mehr mit Gunilla und Krister spielen und nicht so viel an Karlsson denken." „Karlsson schmeißt mich wenigstens nicht mit Steinen", sagte Lillebror und befühlte die Beule auf der Stirn. Dann kam ihm ein Gedanke, und er lächelte Mama mit sonniger Miene an. „Heute darf ich übrigens sehen, wo Karlsson wohnt", sagte er, „das hätte ich ja beinahe vergessen."

Er bereute es, kaum daß er es gesagt hatte. Wie konnte er so dumm sein und es Mama gegenüber erwähnen?

Aber in Mamas Ohren klang es nicht gefährlicher und beunruhigender als irgend etwas anderes, was er über Karlsson erzählte, und sie sagte, ohne nachzudenken:

„So so, das ist aber nett für dich."

Ganz so ruhig wäre sie wohl kaum gewesen, wenn ihr richtig aufgegangen wäre, was Lillebror sagte. Und wenn sie darüber nachgedacht hätte, wo dieser Karlsson wohnte. Lillebror stand vom Tisch auf, satt und zufrieden und plötzlich sehr einverstanden mit seiner Welt. Die Beule an der Stirn tat nicht mehr weh, er schmeckte noch immer die herrlichen Zimtwecken im Munde, die Sonne schien durch das Küchenfenster, und Mama sah so lieb aus mit ihren runden Armen und ihrer karierten Schürze. Er drückte sie ganz kurz und fest und sagte:

„Ich mag dich gern, Mama."

„Wie bin ich froh darüber", sagte Mama.

„Ich hab — ich hab dich gern, weil du rundherum so lieb bist."

Dann ging er in sein Zimmer und setzte sich hin, um auf Karlsson zu warten. Er durfte ihn aufs Dach hinauf begleiten — was machte es dann aus, wenn Krister sagte, Karlsson sei nur ein Gedanke!

Lillebror mußte lange warten.

„Ich komme so ungefähr um drei Uhr oder um vier oder fünf, aber nicht eine Minute vor sechs", hatte Karlsson gesagt. Lillebror hatte trotzdem nicht so recht verstanden, wann Karlsson zu kommen gedachte, und er hatte ihn noch einmal gefragt.

„Auf alle Fälle nicht später als sieben", hatte Karlsson gesagt. „Aber schwerlich vor acht. Und, paß auf, ungefähr so um neun Uhr ungefähr, da klappt es!"

Lillebror mußte eine ganze Ewigkeit warten, und zuletzt glaubte er fast, Karlsson sei ein Gedanke geworden. Aber da hörte er plötzlich das übliche Brummen, und herein kam Karlsson, munter und vergnügt.

„Oh, und ich habe so gewartet", sagte Lillebror. „Was hattest du gesagt, wann du kommen würdest?"

„Ungefähr", sagte Karlsson. „Ich sagte, ich würde ungefähr kommen, und das habe ich ja auch getan." Er trat an Lillebrors Aquarium heran, steckte das ganze Gesicht ins Wasser und trank in langen Zügen.

„Oh, nimm dich in acht mit meinen Fischen", sagte Lillebror ängstlich.

Er hatte Sorge, daß Karlsson seine kleinen Fische austrinken könnte, die so munter im Aquarium herumschwammen. „Wenn man Fieber hat, dann muß man einen kippen", sagte Karlsson. „Und ob da der eine oder andere kleine Fisch mit durchschlüpft, das stört keinen großen Geist." „Hast du Fieber?" fragte Lillebror.

„Und ob! Fühl mal", sagte Karlsson und legte Lillebrors Hand auf seine Stirn.

Aber Lillebror fand nicht, daß Karlsson sich besonders heiß anfühlte.

„Wieviel Fieber hast du?" fragte er.

„Tja, so etwa dreißig, vierzig Grad", sagte Karlsson. „Mindestens!"

Lillebror hatte kürzlich die Masern gehabt und wußte, was es hieß, Fieber zu haben. Er schüttelte den Kopf.

„Ich glaube nicht, daß du krank bist", sagte er.

„Oh, wie bist du gemein", sagte Karlsson und stampfte mit dem Fuß auf. „Darf ich denn niemals krank sein wie andere Menschen?"

„Möchtest du denn krank sein?" fragte Lillebror verwundert.

„Das möchten doch alle Menschen", sagte Karlsson. „Ich möchte in meinem Bett liegen und viel, viel Fieber haben, und du sollst fragen, wie ich mich fühle, und ich werde sagen, ich sei der Kränkste der Welt, und du sollst fragen, ob ich gern irgendwas haben möchte, und ich werde sagen, ich bin so krank, so krank, so daß ich nicht das geringste haben möchte außer einem Berg Torte und ziemlich viel Kuchen und einer Menge Schokolade und einem ganzen Haufen Bonbons." Karlsson schaute Lillebror erwartungsvoll an, der ganz hilflos dastand und nicht wußte, wo er plötzlich all das herbekommen sollte, was Karlsson haben wollte.

„Ich möchte, daß du wie eine Mutter zu mir bist", fuhr Karlsson fort, „und du sollst sagen, daß ich irgend so'ne gräßliche Medizin einnehmen muß — aber dafür bekäme ich dann auch fünf Öre. Und dann mußt du mir einen warmen Wollschal um den Hals wickeln, aber dann sage ich, der kratzt — wenn ich nicht noch fünf Öre dazukriege." Lillebror wollte gern wie eine Mutter zu Karlsson sein. Und das hieß, daß er seine Sparbüchse ausleeren mußte. Sie stand auf dem Bücherregal, ein schweres, prächtiges rosa Schwein. Lillebror holte ein Messer aus der Küche und machte sich daran, Fünförestücke herauszuholen. Karlsson half ihm mit größtem Eifer und jubelte bei jeder Münze auf, die herauskam. Es rutschten auch eine ganze Menge Zehner und Fünfundzwanziger heraus, aber Karlsson mochte am liebsten die Fünfer, weil sie viel größer waren.

Dann lief Lillebror zum Kaufmann hinunter und kaufte Bonbons und Schokolade für beinahe das ganze Geld. Als er sein Kapital herausholte, dachte er einen Augenblick dar-an, daß er all dies Geld gespart hatte, um sich einen Hund zu kaufen. Er seufzte ein wenig bei diesem Gedanken. Aber ihm war klar, daß derjenige, der wie eine Mutter zu Karlsson sein wollte, es sich nicht leisten konnte, einen Hund zu kaufen. Lillebror ging auf dem Rückweg wie von ungefähr in die Wohnstube hinein — die köstlichen Dinge gut in den Hosentaschen verstaut. Alle saßen sie hier beisammen, Mama und Papa und Birger und Betty, und tranken ihren Kaffee nach dem Essen. Aber heute hatte Lillebror keine Zeit, dabeizusein. Er überlegte flüchtig, ob er sie bitten sollte, mitzukommen und Karlsson guten Tag zu sagen, aber nach kurzem Nachdenken beschloß er, es zu lassen. Sie würden ihn ja doch nur daran hindern, Karlsson zum Dach hinaufzubegleiten. Es war bestimmt das beste, sie begrüßten ihn ein andermal. Lillebror nahm sich ein paar Mandelkekse vom Tablett — denn Karlsson hatte ja gesagt, er wolle auch Kuchen haben —, und dann rannte er in sein eigenes Zimmer zurück. „Wie lange soll man hier sitzen und warten, so krank und elend wie man ist?" sagte Karlsson vorwurfsvoll. „Das Fieber steigt mehrere Grade in der Minute, und jetzt kann man Eier auf mir kochen."

„Ich habe mich beeilt, so sehr ich konnte", sagte Lillebror. „Und ich habe so viel gekauft..."

„Aber du hast doch noch Geld übrig, damit ich fünf Öre kriegen kann, falls der Wollschal kratzt?" fragte Karlsson ängstlich.

Lillebror beruhigte ihn. Ein paar Fünfer hatte er zurückbehalten.

Karlssons Augen funkelten, und er machte einen Satz in die Luft vor Wonne.

„Ach, ich bin der Kränkste der Welt", sagte er. „Wir müssen mich so schnell wie möglich ins Bett bringen." Erst jetzt begann Lillebror, darüber nachzugrübeln, wie er aufs Dach hinaufkommen sollte, da er doch nicht fliegen konnte. „Ruhig, nur ruhig", sagte Karlsson. „Ich nehm' dich auf den Rücken, und heißa hopsa fliegen wir zu mir hinauf! Nur mußt du dich in acht nehmen, daß du die Finger nicht in den Propeller bekommst."

„Glaubst du denn wirklich, daß du mich tragen kannst?" fragte Lillebror.

„Das müssen wir mal sehen", sagte Karlsson. „Es ist ganz interessant zu sehen, ob ich mehr als den halben Weg schaffe, so krank und elend wie ich bin. Aber ich habe immer den Ausweg, daß ich dich rauskippen kann, wenn ich merke, daß es nicht geht."

Lillebror fand diesen Ausweg, auf halbem Wege rausgekippt zu werden, nicht gut, und er machte ein etwas bedenkliches Gesicht.

„Aber es wird schon gut gehen", sagte Karlsson. „Wenn ich bloß keinen Motorschaden kriege."

„Denk bloß, wenn du den kriegst, dann stürzen wir ja ab", sagte Lillebror.

„Klar tun wir das", sagte Karlsson vergnügt. „Aber das stört keinen großen Geist." Und er holte mit dem Arm aus. Lillebror entschloß sich auch, als großer Geist sich nicht dadurch stören zu lassen. Er schrieb einen kleinen Zettel an Mama und Papa und legte ihn auf den Tisch:

ICH BIN OM BEI KALSON AUFM DACH.

Am besten wäre es, er könnte zurück sein, ehe sie den Zettel gelesen hatten. Sollten sie Lillebror aber zufällig vermissen, dann war es notwendig, daß sie erfuhren, wo er steckte. Sonst würde vielleicht ebensolche Aufregung entstehen wie damals, als sie bei der Großmutter waren und Lillebror auf eigene Faust Eisenbahn gefahren war. Mama hatte hinterher geweint und gesagt:

„Aber Lillebror, wenn du durchaus Eisenbahn fahren wolltest, warum hast du es mir dann nicht gesagt?" „Na, weil ich Eisenbahn fahren wollte", sagte Lillebror. Es war jetzt genau so. Er wollte mit Karlsson aufs Dach hinauf, und daher war es am besten, keinen zu fragen. Wenn sie entdeckten, daß er fort war, konnte er sich immer damit verteidigen, daß er jedenfalls diesen Zettel da geschrieben hatte. —

Karlsson war zum Abflug bereit. Er drehte am Knopf, den er auf dem Bauch hatte, und der Motor begann zu brummen. „Spring auf", schrie er, „jetzt geht's los!" Und es ging los. Hinaus aus dem Fenster und hinauf in die Luft. Karlsson machte eine kleine Extrakurve über die nächsten Hausdächer, um zu sehen, ob der Motor auch ordentlich lief. Er brummte gleichmäßig und schön, und Lillebror hatte nicht ein bißchen Angst, sondern fand es bloß vergnüglich.

Zu guter Letzt landete Karlsson auf dem eigenen Dach. „Jetzt wollen wir mal sehen, ob du mein Haus finden kannst", sagte Karlsson. „Ich verrate nicht, daß es hinterm Schornstein steht. Das mußt du selber rauskriegen."

Lillebror war nie zuvor auf einem Dach gewesen. Aber mitunter hatte er gesehen, wie Männer von oben Schnee herunterschaufelten und mit einem Seil um den Leib auf dem Dach herumstiegen. Lillebror fand immer, die hätten Glück, daß sie das tun durften. Aber jetzt hatte er selbst das Glück — obwohl er natürlich kein Seil um den Leib hatte. Und es kribbelte ihm so komisch im Magen, als er auf den Schornstein zu balancierte.

Dahinter lag tatsächlich Karlssons kleines Haus. Oh, es war so süß und hatte grüne Fensterläden und eine gemütliche Treppe davor, auf der man sitzen konnte, wenn man Lust hatte. Aber eben jetzt wollte Lillebror nur so schnell wie möglich ins Haus hinein und all die Dampfmaschinen und Gockelhahnbilder und alles andere sehen, was Karlsson hatte.

An der Tür war ein Schild, damit man wußte, wer hier wohnte.

Karlsson vom Dach Der beste Karlsson der Welt stand auf dem Schild.

Und Karlsson machte die Tür sperrangelweit auf und schrie: „Willkommen, lieber Karlsson — und du auch, Lillebror!" Alsdann stürzte er vor Lillebror hinein.

„Ich muß ins Bett, denn ich bin der Kränkste der Welt!" schrie er und warf sich kopfüber auf ein rotgestrichenes Holzsofa, das an der einen Wand stand.

Lillebror trat hinter ihm ein. Er platzte fast vor Neugierde.

Es war riesig gemütlich bei Karlsson, das sah Lillebror auf den ersten Blick. Außer dem Holzsofa stand da eine Hobelbank, die Karlsson offenbar auch als Tisch benutzte, und dann standen da noch ein Schrank und ein paar Stühle, und ein offener Kamin mit einem eisernen Rost darin war auch da. Hier machte sich Karlsson wohl sein Essen. Aber irgendwelche Dampfmaschinen waren nicht zu erblicken. Lillebror sah sich lange um, konnte aber nicht eine einzige entdecken, und schließlich fragte er: „Wo hast du deine Dampfmaschinen?"

„Hrrrhm", machte Karlsson. „Meine Dampfmaschinen — die sind alle miteinander explodiert. Ein Fehler an den Sicherheitsventilen, weiter nichts! Aber das stört keinen großen Geist, und darüber braucht man nicht zu trauern." Lillebror sah sich noch einmal um.

„Aber deine Gockelhahnbilder? Sind die auch explodiert?" fragte er und hatte einen richtig spöttischen Ton gegen Karlsson.

„Natürlich nicht", sagte Karlsson. „Was ist denn wohl das da?" fragte er und zeigte auf ein Stück Pappe, das neben dem Schrank an die Wand genagelt war. Ganz unten in der einen Ecke der Pappe saß tatsächlich ein Hahn, ein winzigkleiner roter Gockelhahn. Sonst war die Pappe leer. „,Ein sehr einsamer Hahn' heißt dies Bild", sagte Karlsson. Lillebror sah sich den kleinen Gockelhahn an. Karlssons tausend Gockelhahnbilder — waren sie, wenn man es bei Lichte besah, nichts weiter als dies kleine Hahnengerippe da? „,Sehr einsamer Hahn', von dem besten Gockelhahnmaler der Welt gemalt", sagte Karlsson mit zittriger Stimme. „Ach, wie ist das Bild wunderschön und traurig! Aber jetzt darf ich nicht anfangen zu weinen, sonst steigt das Fieber."

Er schmiß sich rücklings auf die Kissen und faßte sich an die Stirn.

„Du mußt wie eine Mutter zu mir sein, fang an", sagte er.

Lillebror wußte nicht so recht, wie er anfangen sollte.

„Hast du irgendeine Medizin?" fragte er zögernd.

„Ja, aber keine, die ich einnehmen mag", sagte Karlsson.

„Hast du noch 'n paar Fünfer?"

Lillebror holte ein Fünförestück aus der Hosentasche.

„Gib erst mal her", sagte Karlsson.

Lillebror gab ihm den Fünfer. Karlsson hielt ihn ganz fest in der Hand und sah sehr pfiffig und zufrieden aus.

„Ich weiß, was für eine Medizin ich einnehmen muß", sagte er.

„Was denn für eine?" erkundigte sich Lillebror. „Karlsson vom Dachs Kuckelimuck-Medizin. Die muß halb aus Schokolade und halb aus Bonbons sein, und dann rührst du alles mit'n paar Kuchenkrümeln tüchtig zusammen. Tu das, dann kann ich jetzt sofort eine Dosis einnehmen", sagte Karlsson. „Das ist gut gegen Fieber." „Das glaube ich nicht", sagte Lillebror.

„Wollen wir wetten?" fragte Karlsson. „Ich wette einen Schokoladenkuchen, daß ich recht habe." Lillebror überlegte, daß Mama vielleicht so etwas meinte, wenn sie sagte, man könne durch ein vernünftiges Gespräch feststellen, wer recht hätte.

„Wollen wir wetten?" fragte Karlsson noch einmal. „Gemacht", sagte Lillebror.

Er holte einen der beiden Schokoladenkuchen heraus, die er gekauft hatte, und legte ihn auf die Hobelbank, damit man sehen konnte, was die Wette galt. Dann rührte er eine Medizin nach Karlssons Angaben zusammen. Er nahm saure Drops und Himbeerbonbons und gewöhnliche Bonbons und mischte sie in einer Tasse mit ebenso vielen Stückchen Schokolade, und dann zerbrach er die Mandelkekse in kleine Krümel und streute sie darüber. So eine Medizin hatte Lillebror in seinem ganzen Leben nicht gesehen, aber sie sah gut aus, und er wünschte fast, er selber hätte auch ein bißchen Fieber, damit er sie probieren könnte.

Aber Karlsson saß im Bett und sperrte den Mund weit auf wie ein junger Vogel, und Lillebror holte schleunigst einen Löffel herbei.

„Tu mir eine große Dosis in den Mund", sagte Karlsson. Und das tat Lillebror.

Dann saßen die beiden still da und warteten darauf, daß Karlssons Fieber sinke.

Nach einer halben Minute sagte Karlsson:

„Du hattest recht. Es hat nicht geholfen gegen das Fieber. Gib mir den Schokoladenkuchen!"

„Bekommst du den Schokoladenkuchen?" fragte Lillebror verwundert. „Dabei habe ich doch gewonnen." „Wenn du gewonnen hast, dann ist es doch wohl nicht zuviel verlangt, wenn ich den Schokoladenkuchen kriege", sagte Karlsson. „Gerecht muß es auf dieser Welt doch zugehen. Übrigens bist du ein garstiger kleiner Schlingel, sitzt da und willst Kuchen essen, bloß weil ich Fieber habe."

Widerstrebend reichte Lillebror Karlsson den Schokoladenkuchen. Karlsson hieb sogleich die Zähne hinein und sagte, während er kaute:

„Kein saures Gesicht, wenn ich bitten darf. Nächstes Mal gewinne ich, und dann kriegst du den Schokoladenkuchen." Er kaute eifrig weiter, und als er auch das allerletzte bißchen Kuchen aufgegessen hatte, legte er sich in die Kissen zurück und seufzte schwer.

„All die armen Kranken!" sagte er. „Und ich Armer! Es ist klar, man sollte es mit einer doppelten Dosis von der Kuckelimuck-Medizin versuchen, aber ich glaube nicht eine Sekunde, daß sie hilft."

„Doch, eine doppelte Dosis, glaub' ich, hilft", sagte Lillebror schnell. „Wollen wir wetten?"

Lillebror konnte fürwahr auch schlau sein. Er glaubte keineswegs, daß Karlssons Fieber selbst durch eine dreifache Dosis Kuckelimuck-Medizin geheilt werden könnte, aber er wollte so gern eine Wette verlieren. Denn er hatte nur noch einen Schokoladenkuchen, und den würde er ja bekommen, wenn Karlsson die Wette gewann.

„Meinetwegen können wir ruhig wetten", sagte Karlsson. „Rühre eine doppelte Dosis an! Bei Fieber darf man nicht das geringste unversucht lassen. Das einzige, was wir tun können, ist: versuchen und abwarten."

Lillebror rührte eine doppelte Dosis der Medizin an und trichterte sie Karlsson ein, der bereitwillig den Mund aufsperrte und sich's gefallen ließ. Dann saßen sie still da und warteten.

Nach einer halben Minute hüpfte Karlsson freudestrahlend aus dem Bett.

„Ein Wunder ist geschehen", rief er. „Ich bin fieberfrei! Du hast wieder gewonnen. Her mit dem Schokoladenkuchen!" Lillebror seufzte und gab den letzten Schokoladenkuchen her. Karlsson blickte ihn ungehalten an.

„Solche Trotzköpfe wie du sollten niemals wetten", sagte er. „Das müssen so Leute sein wie ich, die immer wie eitel Sonnenschein herumlaufen, ob wir nun gewinnen oder verlieren."

Es war eine Weile still, abgesehen von Karlssons Schmatzen, als er den Schokoladenkuchen vertilgte. Danach sagte er: „Da du nun aber so ein gefräßiger kleiner Bengel bist, ist es wohl das beste, wir teilen den Rest brüderlich. Hast du noch Bonbons übrig?"

Lillebror kramte in der Hosentasche.

„Drei", sagte er und holte zwei Bonbons und einen Himbeerdrops hervor.

„Drei", sagte Karlsson, „die kann man nicht teilen, das weiß jedes Kind."

Er nahm den Himbeerdrops aus Lillebrors ausgestreckter Hand und verschlang ihn schleunigst. „Aber jetzt geht es", sagte er.

Alsdann sah er mit hungrigen Augen auf die beiden Bonbons. Der eine war eine Kleinigkeit größer als der andere. „Gutmütig und bescheiden wie ich bin, lasse ich dich zuerst wählen", sagte Karlsson. „Aber du weißt wohl", fuhr er fort und sah Lillebror mit strengem Blick an, „wer zuerst wählen darf, muß den kleineren nehmen." Lillebror überlegte einen Augenblick.

„Ich möchte, daß du zuerst wählst", sagte er sehr erfinderisch. „Na ja, wenn du so darauf bestehst", sagte Karlsson und schnappte sich den größeren Bonbon, den er schleunigst in den Mund stopfte.

Lillebror blickte auf den kleinen Bonbon, der noch in seiner Hand lag.

„Na, nun hör mal, du hattest doch gesagt, wer zuerst wählen darf, muß den kleineren nehmen ..."

„Paß mal auf, du kleine Naschkatze", sagte Karlsson. „Wenn du hättest zuerst wählen dürfen, welchen würdest du dann genommen haben?"

„Ich hätte den kleineren genommen, bestimmt", sagte Lillebror ernsthaft.

„Was beschwerst du dich dann", sagte Karlsson. „Den hast du ja jetzt auch bekommen!"

Lillebror überlegte von neuem, ob es so etwas war, was Mama mit „einem vernünftigen Gespräch" meinte.

Aber Lillebror war nie sehr lange mißgestimmt; wie es auch sein mochte, so war es jedenfalls schön, daß Karlsson kein Fieber mehr hatte.

Das fand Karlsson auch.

„Ich werde an alle Doktoren schreiben und ihnen erzählen, was gegen Fieber hilft. Probiert Karlsson vom Dachs Kuckelimuck-Medizin, werde ich schreiben. Die beste Medizin der Welt gegen Fieber!"

Lillebror hatte seinen Bonbon noch nicht aufgegessen. Der sah so ergiebig und gut und herrlich aus, und er wollte ihn erst ein bißchen anschauen. Wenn man erst anfing, ihn zu essen, war er ja bald alle.

Karlsson sah auch auf Lillebrors Bonbon. Eine ganze Weile sah er auf Lillebrors Bonbon. Dann sagte er: „Wollen wir wetten, daß ich deinen Bonbon wegzaubern kann, ohne daß du es siehst?"

„Das kannst du nicht", sagte Lillebror. „Nicht, wenn ich hier stehe und ihn in der Hand halte und die ganze Zeit daraufschaue."

„Wollen wir wetten?" fragte Karlsson.

„Nein", sagte Lillebror. „Ich weiß, daß ich gewinne, und dann kriegst du bloß den Bonbon ..."

Lillebror hatte das Gefühl, daß diese Art des Wettens falsch war, denn so ging es nie zu, wenn er mit Birger oder Betty wettete.

„Aber wir können so wetten, wie man es gewöhnlich tut, so daß der, der gewinnt, den Bonbon bekommt", sagte er. „Wie du willst, du gefräßiger kleiner Bengel", sagte Karlsson. „Wir wetten, daß ich den Bonbon wegzaubern kann, ohne daß du es siehst."

„Man los", sagte Lillebror.

„Hokuspokus fidibus", sagte Karlsson und schnappte sich den Bonbon. „Hokuspokus fidibus", sagte er und stopfte ihn in den Mund.

„Halt!" schrie Lillebror. „Ich hab* doch gesehen, daß du ihn weggezaubert hast..."

„Hast du?" sagte Karlsson und schluckte heftig. „Dann hast du wieder gewonnen. So'n Jungen hab' ich wirklich noch nie gesehen, der jede Wette gewinnt."

„Ja ... aber ... der Bonbon", sagte Lillebror völlig verwirrt. „Der, der gewinnt, sollte doch den Bonbon kriegen." „Richtig, das ist allerdings wahr", sagte Karlsson. „Aber

den Bonbon habe ich weggezaubert, und ich wette, daß ich ihn nicht wieder hervorzaubern kann."

Lillebror schwieg. Aber er dachte, sowie er Mama wiedersah, wollte er ihr sagen, daß vernünftige Gespräche kein bißchen zu brauchen waren, wenn man feststellen wollte, wer recht hatte.

Er steckte die Hände in seine leeren Hosentaschen. Und — war es zu glauben — da lag noch ein Bonbon, den er nicht bemerkt hatte! Ein großer fester, herrlicher Bonbon. Lillebror lachte.

„Ich wette, daß ich noch einen Bonbon habe. Und ich wette, daß ich ihn auf der Stelle aufesse", sagte er und stopfte den Bonbon geschwind in den Mund. Karlsson setzte sich aufs Bett und grollte. „Du solltest wie eine Mutter zu mir sein", sagte er. „Und dann tust du nichts weiter, als in dich reinstopfen, soviel du reinkriegst. Ich habe noch nie einen so gefräßigen kleinen Bengel gesehen."

Er saß einen Augenblick schweigend da und sah noch finsterer aus.

„Übrigens habe ich noch kein Fünförestück bekommen dafür, daß der Wollschal gekratzt hat", sagte er. „Ja, aber du hast ja gar keinen Wollschal umbekommen", sagte Lillebror.

„Es gibt im ganzen Haus keinen Wollschal", sagte Karlsson brummig. „Aber wenn es einen gegeben hätte, dann hätte ich ihn umbekommen, und dann hätte er gekratzt, und dann hätte ich fünf Öre bekommen."

Er blickte Lillebror verlangend an, und seine Augen füllten sich mit Tränen.

„Muß ich darunter leiden, daß es keinen Wollschal im Hause gibt? Findest du das richtig?"

Das fand Lillebror nicht richtig. Und da schenkte er Karlsson vom Dach seinen letzten Fünfer.

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