5. Karlsson macht Streiche

„Jetzt fühle ich mich zu einem kleinen Schabernack aufgelegt", sagte Karlsson nach einer Weile. „Wir machen einen Ausflug über die Dächer hier herum. Dabei kommt einem immer ein Gedanke."

Das wollte Lillebror gern. Er nahm Karlsson bei der Hand, und sie zogen mitsammen durch die Tür aufs Dach hinaus. Es hatte jetzt angefangen zu dämmern, und alles war wunderschön. Die Luft war so blau wie immer im Frühling, alle Häuser sahen geheimnisvoll aus, wie Häuser in der Dämmerung aussehen, der Park, in dem Lillebror immer spielte, leuchtete seltsam grün von unten herauf, und von der großen Balsampappel auf Lillebrors Hof roch es so herrlich bis zum Dach hinauf.

Es war ein wunderbarer Abend für Dachspaziergänge. Alle Fenster standen offen, und man konnte viele verschiedene Geräusche und Stimmen hören. Menschen, die sprachen, und Kinder, die lachten, und Kinder, die weinten. Und aus einer Küche in der Nähe hörte man Geschirr klappern, das gerade abgewaschen wurde, und ein Hund bellte, und irgendwo saß jemand und klimperte auf einem Klavier. Von der Straße unten hörte man das Geknatter eines Motorrades, und als das verhallte, kam ein Ackergaul mit einem Wagen angeklappert, und jeder Tritt war bis zum Dach hinauf zu hören.

„Wenn die Leute ahnten, wieviel Spaß es macht, auf dem Dach herumzugehen, dann würde nicht einer unten auf der Straße bleiben", sagte Lillebror. „Ujj, was macht das für einen Spaß."

„Ja, und dann ist es auch aufregend", sagte Karlsson. „Denn man kann so leicht abstürzen. Ich zeige dir ein paar Stellen, wo man jedesmal beinahe abstürzt."

Die Häuser waren so nah aneinandergebaut, daß man von dem einen Dach aufs andere gelangen konnte. Es gab eine Menge kleiner, sonderbarer Erker und Dachstuben und Schornsteine und Winkel und Ecken, so daß es nie eintönig wurde. Und es war wirklich aufregend, genau wie Karlsson gesagt hatte, eben weil man hin und wieder beinahe abstürzte. An der einen Stelle war ein ziemlich breiter Abstand zwischen zwei Häusern — das war eben so eine Stelle, wo Lillebror beinahe abstürzte. Aber Karlsson packte ihn noch schnell, als Lillebror mit dem einen Bein schon über die Dachrinne hinausgeraten war.

„Großartig, was?" sagte Karlsson und zog Lillebror zurück. „So was meinte ich gerade. Mach es noch mal!" Aber Lillebror wollte es nicht noch mal machen. Ihm war es ein bißchen zuviel „beinahe". Es gab mehrere solcher Stellen, wo man sich mit Armen und Beinen anklammern mußte, um nicht hinunterzufallen, und Karlsson wollte, daß Lillebror so viel Spaß wie möglich von dem Ausflug hätte — daher nahm er nicht immer den leichtesten Weg.

„Ich finde, wir sollten ein bißchen Streiche machen", sagte Karlsson. „Ich habe die Angewohnheit, abends immer auf dem Dach umherzuklettern und den Leuten, die hier in all diesen Dachstuben wohnen, einen kleinen Streich zu spielen." „Wie machst du das?" erkundigte sich Lillebror. „Ich spiele den verschiedenen Leuten verschiedene Streiche, natürlich. Niemals denselben Streich zweimal. Der beste Streichemacher der Welt — rate, wer das ist!" Da begann ein kleines Kind ganz in der Nähe zu schreien. Lillebror hatte dies Kindergeschrei schon vorher gehört, aber dann war es einen Augenblick still gewesen. Das Kind hatte sich wohl ein bißchen ausgeruht. Aber jetzt fing es wieder an, und das Weinen kam aus der nächsten Dachstube. Es hörte sich so kläglich und verlassen an.

„Armes Kind", sagte Lillebror. „Es hat vielleicht Bauchweh?"

„Das werden wir bald heraushaben", sagte Karlsson. „Komm mit!"

Sie krochen in der Regenrinne entlang, bis sie genau unterhalb des Dachfensters angekommen waren. Karlsson reckte vorsichtig den Kopf und sah hinein.

„Sehr einsames kleines Kind", sagte er. „Mama und Papa sind wohl weg und treiben sich herum, kann ich mir denken." Das Kind schrie jetzt noch kläglicher.

„Ruhig, nur ruhig", sagte Karlsson, zog sich hoch und wälzte sich über das Fenstersims. „Hier kommt Karlsson vom Dach, der beste Kinderaufpasser der Welt."

Lillebror wollte nicht allein draußen stehen bleiben. Er rutschte hinter Karlsson her über das Fenstersims, wenn er auch bange war bei dem Gedanken, was geschehen würde, wenn die Eltern des Kindes unversehens nach Hause kamen. Aber Karlsson war nicht eine Spur bange. Er trat an das Bett, in dem das Kind lag, und kraulte ihm mit einem kurzen dicken Zeigefinger das Kinn.

„Buschi-buschi-buschi", sagte er schalkhaft.

Dann wandte er sich zu Lillebror um.

„So redet man zu kleinen Kindern! Das gefällt ihnen."

Der Säugling hörte vor lauter Verwunderung auf zu schreien, aber sobald er sich ein wenig gefaßt hatte, fing er von neuem an.

„Buschi-buschi-buschi — und dann macht man so", sagte Karlsson.

Er riß das Kind aus dem Bett und schleuderte es mehrmals hintereinander in die Luft. Vielleicht gefiel das dem Kind, denn es lachte plötzlich ein kleines, zahnloses Lächeln. Karlsson war stolz.

„Keine Kunst, Kindern eine Freude zu machen", sagte er. „Der beste Kinderaufpasser der We ..."

Weiter kam er nicht, denn das Kind begann von neuem zu schreien.

„Buschi-buschi-buschi!" schnauzte Karlsson erzürnt und schleuderte das Kind noch heftiger gegen die Decke. „Buschi-buschi-buschi habe ich gesagt, und das meine ich auch!"

Das Kind schrie aus vollem Halse, und Lillebror streckte die Arme nach ihm aus.

„Komm, ich werd' sie mal nehmen", sagte er.

Er mochte kleine Kinder furchtbar gern, und er hatte ziemlich viel mit Mama und Papa hin und her beraten, ob sie ihm nicht eine kleine Schwester besorgen konnten, wenn sie ihm nun durchaus keinen Hund schenken wollten.

Er nahm Karlsson das kleine Bündel ab und hielt es zärtlich in seinen Armen.

„Sei lieb und hör auf zu schreien", sagte er.

Das Kind verstummte und blickte ihn mit einem Paar ganz blanker, ernsthafter Augen an. Dann lachte es von neuem sein zahnloses Lächeln und lallte leise.

„Siehst du, das kommt von meinem Buschi-buschi-bu-schi", sagte Karlsson. „Sowas schlägt nie fehl, das habe ich tausendmal ausprobiert."

„Ich möchte mal wissen, wie das Kind heißt", sagte Lillebror und strich mit dem Zeigefinger über die weiche kleine Wange. „Wie soll sie schon heißen?" sagte Karlsson. „Goldsophie natürlich — wie sie alle heißen."

Lillebror hatte nie von einem Kind gehört, das Goldsophie hieß, aber er dachte, der beste Kinderaufpasser der Welt wisse wohl besser darüber Bescheid, wie Kinder im allgemeinen heißen.

„Kleine Goldsophie", sagte Lillebror, „ich glaube, du hast Hunger."

Denn Goldsophie hatte seinen Zeigefinger gepackt und wollte daran lutschen.

„Hat Goldsophie Hunger? Nun, hier stehen Wurst und Kartoffeln", sagte Karlsson mit einem Blick auf die Kochnische. „Kein Kind braucht zu verhungern, solange Karlsson Wurst und Kartoffeln herbeizuschaffen vermag." Lillebror glaubte nicht, das Goldsophie Wurst und Kartoffeln essen könne.

„So kleine Kinder bekommen sicher Milch", sagte er. „Denkst du, der beste Kinderaufpasser der Welt wüßte nicht, was Kinder bekommen und was nicht?" fragte Karlsson. „Aber von mir aus — ich kann wegfliegen und eine Kuh holen."

Er warf einen wütenden Blick auf das Fenster.

„Wenn es auch schwierig sein wird, das Kuhgestell durch dies kleine, schmale Fenster zu kriegen."

Goldsophie suchte verzweifelt nach Lillebrors Zeigefinger und weinte kläglich. Es klang wirklich so, als habe sie Hunger. Lillebror sah in der Kochnische nach, aber er fand keine Milch. Dort lagen nur drei Wurstscheiben auf einer Platte. „Ruhig, nur ruhig", sagte Karlsson. „Mir fällt eben gerade ein, wo es Milch gibt. Ich selber trinke dort immer mal einen Schluck. Heißa hopsa, ich komme bald wieder." Dann drehte Karlsson an dem Knopf, den er auf dem Bauch hatte, und brummte durch das Fenster von dannen, bevor Lillebror sich auch nur umgesehen hatte. Lillebror bekam fürchterliche Angst. Wenn Karlsson nun stundenlang wegblieb, wie es seine Art war! Und wenn die Eltern des Kindes dann nach Hause kamen und Lillebror mit ihrer Goldsophie im Arm vorfanden!

Aber Lillebror brauchte nicht lange unruhig zu sein. Diesmal hatte Karlsson sich beeilt. Stolz wie ein Gockelhahn brummte er durchs Fenster herein, und in der Hand hielt er so eine Säuglingsflasche.

„Wo hast du denn die her?" fragte Lillebror ganz verblüfft. „Von meiner gewöhnlichen Milchstelle", sagte Karlsson. „Einem Balkon drüben auf Oestermalm." „Hast du sie geklaut}" fragte Lillebror völlig entgeistert. „Ich habe sie geliehen", sagte Karlsson.

„Geliehen — wann willst du sie wieder zurückgeben?" fragte Lillebror.

„Niemals", sagte Karlsson.

Lillebror sah ihn streng an, aber Karlsson holte mit dem Arm aus und sagte:

„Eine kleine Flasche Milch — das stört keinen großen Geist! Die, von denen ich sie geliehen habe, die haben Dril-linee und die stellen haufenweise Flaschen in Eiseimern auf den Balkon raus, und die mögen es gern, wenn ich mir Milch für Goldsophie von ihnen leihe."

Goldsophie streckte ihre kleinen Händchen nach der Flasche aus und schrie vor Hunger.

„Ich mache die Milch ein wenig warm", sagte Lillebror schnell und überließ Karlsson das Kind, und Karlsson schrie: „Buschi-buschi-buschi!" und schleuderte Goldsophie zur Decke empor, während Lillebror in die Kochnische ging und die Flasche wärmte.

Und eine Weile später lag Goldsophie in ihrem Bett und schlief wie ein kleiner Engel. Sie war satt und zufrieden, und Lillebror hatte die Decke um sie her festgestopft, und Karlsson hatte sie mit seinem Zeigefinger gepiekst und „buschi-buschi-buschi" geschrien, aber trotz allem schlummerte Goldsophie, weil sie satt und müde war.

„Jetzt machen wir einen kleinen Streich, bevor wir weggehen", sagte Karlsson.

Er ging in die Kochnische und holte die Wurstscheiben. Lillebror sah ihm mit großen Augen zu.

„Hier wirst du mal einen Scherz erleben", sagte Karlsson und hängte eine der drei Wurstscheiben auf den Griff der Küchentür.

„Nummer eins", sagte er und nickte befriedigt.

Alsdann ging er mit raschen Schritten zum Schreibtisch. Hier stand eine hübsche weiße Taube aus Porzellan, und ehe Lillebror es sich versah, hatte die weiße Taube eine Wurstscheibe im Schnabel.

„Nummer zwei", sagte Karlsson. „Und Nummer drei bekommt Goldsophie."

Er steckte die Wurstscheibe auf ein Hölzchen und gab es der schlummernden Goldsophie in die Hand. Es sah wirklich lustig aus. Man hätte fast meinen können, Goldsophie hätte sich die Wurstscheibe selber geholt und wäre darüber eingeschlafen. Aber Lillebror sagte doch: „Nein, sei so gut und laß das."

„Ruhig, nur ruhig", sagte Karlsson. „Da werden ihre Eltern es sich abgewöhnen, sich abends rumzutreiben." „Wieso denn?" fragte Lillebror.

„Ein Kind, das selber aufstehen und sich eine Scheibe Wurst holen kann, das wagen sie nicht mehr allein zu lassen. Wer weiß, was es sich das nächste Mal holt — am Ende Vaters Sonntagsbier?"

Er steckte das Hölzchen ein wenig fester in Goldsophies kleine Hand.

„Ruhig, nur ruhig", sagte er. „Ich weiß schon, was ich tue, denn ich bin der beste Kinderaufpasser der Welt." In diesem Augenblick hörte Lillebror Schritte auf der Treppe draußen, und er zuckte ordentlich zusammen vor Schreck. „Oh, jetzt kommen sie", flüsterte er.

„Ruhig, nur ruhig", sagte Karlsson, und dann stürzten sie beide zum Fenster. Lillebror hörte, wie ein Schlüssel ins Schloß gesteckt wurde, und er glaubte, jetzt sei keine Hoffnung mehr, aber siehe da, es gelang ihm gerade noch, sich nach Karlsson über das Fenstersims zu wälzen. Gleich danach hörte er, wie die Tür aufging und eine Stimme sagte: „Susanne, Mamas kleine Susanne — sie schläft und schläft." „Ja, sie schläft und schläft", sagte eine andere Stimme. Aber dann ertönte ein Schrei. Und Lillebror wußte, jetzt hatten Goldsophies Eltern die Wurst entdeckt.

Er wartete nicht darauf, wie es weiterging, sondern rannte schleunigst hinter dem besten Kinderaufpasser der Welt her, der sich soeben hinter einem Schornstein versteckte. „Willst du zwei Strolche sehen?" fragte Karlsson, als sie sich etwas ausgeruht hatten. „Ich habe zwei prima Strolche in einer anderen Dachkammer hier drüben."

Es hörte sich fast so an, als ob es Karlssons eigene Strolche seien. Das waren sie nun nicht, aber Lillebror wollte sie unter allen Umständen sehen.

Aus der Dachkammer der Strolche hörte man Gerede und Gelächter und Gejohle.

„Jubel und Trubel", sagte Karlsson. „Komm, wir sehen nach, was die da so Lustiges vorhaben."

Sie schlichen an der Regenrinne entlang, und Karlsson reckte den Kopf und lugte hinein. Vor dem Fenster hingen Gardinen, aber es war doch ein Spalt offen, durch den sie hindurchschauen konnten. „Die Strolche haben Besuch", flüsterte Karlsson. Lillebror lugte auch. Drinnen saßen zwei, die wohl die Strolche sein mochten, und außerdem ein netter, kleiner, gutmütiger Mann, der aussah, als ob er vom Lande käme, wo die Großmutter wohnte.

„Weißt du, was ich glaube?" flüsterte Karlsson. „Ich glaube, diese Strolche sind dabei, ganz allein ihre Streiche zu machen. Aber das sollen sie mal hübsch bleiben lassen." Er blickte noch einmal hinein.

„Ich möchte meinen Kopf wetten, daß sie dabei sind, diesem armen Schlucker mit dem roten Schlips einen Streich zu spielen", flüsterte er Lillebror zu.

Die Strolche und der mit dem roten Schlips saßen um einen kleinen Tisch herum dicht am Fenster. Sie aßen und tranken, und die Strolche klopften dem mit dem roten Schlips herzlich auf die Schulter und sagten:

„Wie ist es nett, daß wir dich kennengelernt haben, lieber Oskar."

„Für mich ist es auch nett", sagte Oskar. „Wenn man so in die Stadt kommt, dann ist es von Wert, daß man sich gute Freunde zulegt, bei denen man sicher ist. Sonst weiß man nicht, was einem so alles passieren kann. Man kann auch Betrügern in die Hände fallen." Die Strolche nickten.

„Ach ja, man kann Betrügern in die Hände fallen", sagte der eine. „Was für ein Glück, daß du Fille und mich getroffen hast."

„Ja, wenn du nicht Rulle und mich getroffen hättest, dann hätte es dir ganz schön schlimm ergehen können", sagte der andere.

„Aber jetzt mußt du essen und trinken und dir's wohl-sein lassen", sagte der mit dem Namen Fille, und dann klopfte er Oskar wieder auf die Schulter.

Allerdings tat er danach etwas, was Lillebror ganz stutzig machte. Er steckte gleichsam zufällig seine Hand in die Hintertasche von Oskars Hose und zog eine Brieftasche heraus, und die stopfte er in die Hintertasche seiner eigenen Hose. Und Oskar merkte nichts. Vielleicht kam es daher, weil Rulle ihn in dem Augenblick gerade umarmte und streichelte. Als Rulle aber genug gestreichelt hatte und seine Hand zurückzog, geschah es, daß Oskars Uhr mitging. Die stopfte Rulle in die Hintertasche seiner Hose. Und Oskar merkte nichts.

Aber nun steckte Karlsson vom Dach vorsichtig eine kurze dicke Hand durch den Gardinenspalt und zog die Brieftasche aus der Hintertasche von Filles Hose, und Fille merkte nichts. Und dann steckte Karlsson eine kurze dicke Hand hindurch und holte die Uhr aus der Hintertasche von Rulles Hose, und Rulle merkte nichts.

Nach einer kleinen Weile aber, als Rulle und Fille und Oskar noch mehr gegessen und getrunken hatten, steckte Fille die Hand in die Hintertasche und merkte, daß die Brieftasche weg war. Und da warf er Rulle einen bitterbösen Blick zu und sagte:

„Du, Rulle, komm mit raus auf den Flur, ich hab' mit dir zu reden!"

In diesem Augenblick fühlte Rulle in seiner Hintertasche nach und merkte, daß die Uhr weg war. Und er warf Fille einen bitterbösen Blick zu und sagte:

„Das trifft sich gut, denn ich hab' auch mit dir ein Wort zu reden!"

Da gingen Fille und Rulle auf den Treppenflur hinaus, und der arme Oskar blieb allein zurück. Das schien er ziemlich langweilig zu finden, denn nach einer Weile stand er auf und ging ebenfalls auf den Flur hinaus, um zu sehen, wo Fille und Rulle geblieben waren. Da kletterte Karlsson geschwind über das Fenstersims und legte Oskars Brieftasche in die Suppenschüssel. Aber Fille und Rulle und Oskar hatten alle Suppe aufgegessen, so daß die Brieftasche nicht naß wurde. Und Oskars Uhr befestigte Karlsson an der Deckenlampe, und hier hing sie und baumelte, und es war das erste, was Oskar und Rulle und Fille sahen, als sie wieder vom Flur hereinkamen. Aber Karlsson sahen sie nicht, denn er war unter das Tischtuch gekrochen, das ganz bis auf die Erde herabhing. Und zu diesem Zeitpunkt saß auch Lillebror unter dem Tisch, denn er wollte da sein, wo Karlsson war, wenn er es auch gräßlich fand.

„Guckt mal, da hängt meine Uhr", sagte Oskar. „Wie in aller Welt ist die da hingekommen?"

Und er holte die Uhr herunter und steckte sie in die Westentasche.

„Und hier liegt doch wahrhaftig meine Brieftasche", sagte er, als er in die Suppenschüssel guckte. „Wie sonderbar!" Rulle und Fille schauten Oskar bewundernd an, als der beides an sich nahm, und Fille sagte:

„Ihr seid gar nicht mal so auf den Kopf gefallen bei euch da auf dem Lande, wie mir scheint."

Danach setzten sich Rulle und Fille und Oskar wieder an den Tisch.

„Lieber Oskar, du mußt ein bißchen mehr essen und trinken", sagte Fille.

Und Oskar und Rulle und Fille aßen und tranken und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Und nach, einer Weile steckte Fille seine Hand unter das Tischtuch und legte Oskars Brieftasche vorsichtig auf den Fußboden. Er meinte sicher, sie wäre dort besser aufgehoben als in seiner Hosentasche. Aber das war sie nicht, denn Karlsson ergriff die Brieftasche sogleich und reichte sie Rulle hinauf, und Rulle nahm sie und sagte:

„Fille, ich habe dir unrecht getan, du bist ein Ehrenmann." Nach einer Weile steckte Rulle seine Hand unter das Tischtuch und legte vorsichtig Oskars Uhr auf den Fußboden. Und Karlsson nahm die Uhr und kratzte Fille ein ganz klein bißchen am Bein und reichte ihm Oskars Uhr, und Fille sagte: „Es gibt keinen besseren Kumpan als dich, Rulle." Aber nach einer Weile sagte Oskar:

„Wo ist meine Brieftasche? Und wo ist meine Uhr?" Und da kamen blitzschnell die Brieftasche wie auch die Uhr unter das Tischtuch, denn Fille getraute sich nicht, die Uhr, und Rulle getraute sich nicht, die Brieftasche bei sich zu behalten, falls Oskar anfinge, Krach zu machen. Und Oskar fing auch richtig an, Krach zu machen, mächtigen Krach, und schrie, er wolle jetzt seine Uhr und seine Brieftasche wiederhaben. Aber da sagte Fille:

„Wir können doch nicht wissen, wo du deine alte Brieftasche hingeschmissen hast!" Und Rulle sagte:

„Wir haben deine alte Uhr nicht gesehen. Paß doch auf deine Sachen auf!"

Aber da nahm Karlsson erst die Brieftasche und dann die Uhr und steckte sie Oskar zu, und Oskar stopfte beide in seine Taschen und sagte:

„Vielen Dank, lieber Fille, vielen Dank, Rulle. Aber ein andermal laßt solche Spaße lieber bleiben."

Darauf gab Karlsson dem Fille einen Stoß gegen sein Bein, so doll er konnte, und Fille schrie:

„Das werd' ich dir heimzahlen, Rulle!"

Jetzt gab Karlsson dem Rulle einen Stoß gegen sein Bein, so doll er konnte, und Rulle schrie:

„Bist du nicht bei Verstand, Fille! Weshalb stößt du mich?" Und nun stürzten Rulle und Fille aufeinander los und fingen an, sich zu prügeln, so daß alle Teller vom Tisch flogen und entzweigingen und Oskar Angst bekam und sich mit seiner Brieftasche und seiner Uhr aus dem Staube machte und nicht mehr wiederkam.

Lillebror bekam auch Angst, aber er konnte sich nicht aus dem Staube machen, er mußte still und stumm unter dem Tischtuch sitzen bleiben.

Fille war stärker als Rulle, und er trieb Rulle in den Flur hinaus und folgte selber nach, um ihn noch ärger zu verprügeln. Da krochen Karlsson und Lillebror unter dem Tischtuch hervor und sahen alle Teller in Scherben auf dem Fußboden liegen, und Karlsson sagte:

„Weshalb soll die Suppenschüssel heil bleiben, wenn alle Teller kaputt sind? Sie würde sich bloß einsam fühlen, die arme Suppenschüssel."

Und so schmiß er die Suppenschüssel mit einem Knall auf den Fußboden, und dann stürzten er und Lillebror zum Fenster und kletterten hinaus, so schnell sie konnten. Und nun hörte Lillebror, wie Fille und Rulle ins Zimmer zurückkamen, und Fille sagte:

„Warum in aller Welt hast du ihm die Uhr und die Brieftasche zurückgegeben, du Schafskopf?"

„Bist du nicht ganz bei Trost?" sagte Rulle. „Das bist du ja gewesen."

Da lachte Karlsson, daß ihm der Bauch auf- und niederhüpfte, und dann sagte er:

„Nun will ich heute keinen Streich mehr machen." Lillebror hatte auch das Gefühl, daß er heute von Streichen genug habe.

Es war jetzt dunkel, und Lillebror und Karlsson nahmen sich bei der Hand und wanderten über das Dach zu Karlssons Haus zurück, das oben auf Lillebrors Haus stand. Als sie dort ankamen, hörten sie ein Feuerwehrauto, das mit lautem Getute näherkam.

„Du sollst mal sehen, es brennt irgendwo", sagte Lillebror. „Die Feuerwehr ist da."

„Wenn es nun in diesem Haus ist?" sagte Karlsson hoffnungsvoll. „Dann brauchen sie mir nur Bescheid zu sagen. Ich kann ihnen helfen, denn ich bin der beste Feuerlöschmann der Welt."

Sie sahen, daß das Feuerwehrauto gerade unter ihnen auf der Straße anhielt und eine Menge Menschen sich darum versammelten. Aber Feuer konnten sie nicht entdecken. Dagegen sahen sie plötzlich, wie eine Leiter sich auf das Dach zu bewegte, so eine lange Ausziehleiter, wie die Feuerwehr sie hat.

Da begann Lillebror zu überlegen.

„Ob die ... ob die... etwa kommen, um mich zu holen?"

Denn ihm fiel plötzlich der Zettel ein, den er unten in seinem Zimmer hinterlassen hatte. Und es war schon ziemlich spät geworden.

„Wieso denn bloß, um Himmels willen?" fragte Karlsson. „Kein Mensch kann doch etwas dagegen haben, daß du ein bißchen oben auf dem Dach bist?"

„Doch, meine Mutter kann etwas dagegen haben", sagte Lillebror. „Sie hat so viel Nerven, daß sie sich immer aufregt." Mama tat ihm so leid, wenn er daran dachte, und er hatte Sehnsucht nach ihr.

„Man könnte selbstverständlich der Feuerwehr einen kleinen Streich spielen", schlug Karlsson vor.

Aber Lillebror wollte keine Streiche mehr machen. Er blieb stehen und wartete auf den Feuerwehrmann, der die Leiter heraufgeklettert kam.

„Na ja", sagte Karlsson, „für mich ist es wohl auch Zeit, daß ich reingehe und ins Bett. Zwar haben wir es sacht angehen lassen und nicht so viele Streiche gemacht, aber ich hatte heute morgen auch mindestens dreißig, vierzig Grad Fieber, das dürfen wir nicht vergessen!"

Und dann sprang er über das Dach davon.

„Heißa hopsa, Lillebror", schrie er.

„Heißa hopsa, Karlsson", sagte Lillebror.

Aber er blickte die ganze Zeit auf den Feuerwehrmann, der immer näher kam.

„Du, Lillebror", rief Karlsson, bevor er hinter dem Schornstein verschwand. „Erzähl dem Feuerwehrmann nichts davon, daß ich hier bin. Denn ich bin der beste Feuerlöschmann der Welt, und dann würde man mich ewig und immer wieder belämmern, sobald irgendwo Feuer ausgebrochen ist." Der Feuerwehrmann war jetzt fast oben. „Steh still, wo du stehst", rief er Lillebror zu. „Rühr dich nicht vom Fleck, ich komme und hole dich."

Das war nett von ihm, fand Lillebror, aber ziemlich unnötig. Lillebror war ja den ganzen Abend auf dem Dach herumgegangen und -geklettert. Die paar Schritte konnte er schließlich auch noch gehen.

„Hat dich meine Mutter hier herauf geschickt?" fragte er, als er im Arm des Feuerwehrmannes auf dem Weg nach unten war.

„Ja, was denkst du sonst?" sagte der Feuerwehrmann. „Aber sag mir mal, mir kam es einen Augenblick fast so vor, als wären da oben auf dem Dach zwei kleine Jungen gewesen .. ?"

Lillebror erinnerte sich daran, was Karlsson gesagt hatte, und er antwortete ernsthaft:

„Nein, ein anderer Junge war außer mir nicht da oben."

Mama hatte wirklich solche Nerven, daß sie sich immer aufregte. Sie und Papa und Birger und Betty und eine Menge anderer Menschen standen unten auf der Straße und nahmen Lillebror in Empfang. Und Mama riß ihn an sich und drückte ihn und lachte und weinte abwechselnd. Und Papa trug ihn ganz bis in die Wohnung hinauf und hielt ihn die ganze Zeit fest an sich gedrückt. Und Birger sagte:

„Du kannst einen wirklich zu Tode erschrecken."

Und Betty weinte auch und sagte:

„So was darfst du nie wieder tun, merk dir das."

Als Lillebror etwas später in seinem Bett lag, versammelten sie sich alle um ihn, ganz so, als habe er Geburtstag. Aber Papa sagte sehr ernst:

„Konntest du dir nicht denken, daß wir in Sorge waren? Konntest du dir nicht denken, daß Mama weinen und traurig sein würde?"

Lillebror wand und drehte sich in seinem Bett.

„So furchtbar doll in Sorge, das konnte ich mir nicht gerade denken", murmelte er.

Mama umarmte ihn fest und sagte:

„Stell dir vor, wenn du abgestürzt wärst! Stell dir vor, wenn wir dich verloren hätten!"

„Wäret ihr dann sehr traurig gewesen?" fragte Lillebror hoffnungsvoll.

„Ja, was meinst du sonst?" sagte Mama. „Wir wollen dich doch um keinen Preis der Welt verlieren, das kannst du dir doch denken."

„Auch nicht um hunderttausend Millionen Kronen?" fragte Lillebror.

„Nein, nicht um hunderttausend Millionen Kronen." „Bin ich so viel wert?" fragte Lillebror verblüfft. „Aber gewiß doch", sagte Mama und drückte ihn noch einmal an sich.

Lillebror überlegte. Hunderttausend Millionen Kronen — was für eine unheimliche Menge Geld. Konnte es möglich sein, daß er so viel wert war? Wo man für fünfzig Kronen einen jungen Hund bekommen konnte?

„Du, Papa", sagte Lillebror, als er fertig überlegt hatte. „Wenn ich hunderttausend Millionen Kronen wert bin — dann könnte ich doch fünfzig Kronen in bar bekommen und mir einen kleinen Hund kaufen?"

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