Erst am nächsten Tag beim Abendessen fingen sie an, Lillebror auszufragen, wie er auf das Dach hatte hinaufkommen können.
„Bist du durch die Bodenluke hinausgestiegen?" fragte Mama. „Nein, ich bin mit Karlsson vom Dach hinaufgeflogen", sagte Lillebror.
Mama und Papa schauten sich gegenseitig an. „Nein, das geht nun aber nicht so weiter", sagte Mama. „Dieser Karlsson vom Dach macht mich noch verrückt." „Lillebror, es gibt keinen Karlsson vom Dach", sagte Papa. „Den gibt es nicht?" sagte Lillebror. „Gestern gab es ihn aber noch."
Mama schüttelte den Kopf.
„Es ist nur gut, daß die Schule bald zu Ende ist und du zu Großmutter fahren kannst", sagte sie. „Dorthin kommt Karlsson hoffentlich nicht mit." Das war nun allerdings eine Sorge, die Lillebror ganz vergessen hatte. Er sollte den Sommer über zur Großmutter fahren und Karlsson zwei Monate lang nicht sehen. Nicht,
daß es ihm bei Großmutter nicht gefiel, da gab es immer so viel Abwechslung — aber ach, wie würde er Karlsson vermissen! Und wenn nun Karlsson nicht mehr auf dem Dache wohnte, wenn Lillebror zurückkam?
Die Ellbogen auf dem Tisch und den Kopf in die Hände gestützt, saß er da und versuchte, sich auszumalen, wie das Leben ohne Karlsson werden würde.
„Nicht die Ellbogen auf den Tisch stützen, das weißt du doch", sagte Betty.
„Das geht dich gar nichts an", sagte Lillebror.
„Nicht die Ellbogen auf den Tisch stützen, Lillebror", sagte
Mama. „Möchtest du noch ein wenig Blumenkohl?"
„Nee, lieber tot sein", sagte Lillebror.
„Pfui, so was sagt man doch nicht", sagte Papa. „Man sagt ,nein, danke'."
War das nun eine Art, mit einem Hunderttausend-Millionen-Jungen herumzukommandieren? dachte Lillebror. Aber das sagte er nicht. Statt dessen sagte er:
„Wenn ich sage ,lieber tot sein', dann müßt ihr doch verstehen, daß ich ,nein danke' meine."
„Aber so sagt ein Gentleman nicht", sagte Papa beharrlich. „Und du möchtest doch sicher ein Gentleman sein, nicht wahr, Lillebror?"
„Nee, ich möchte lieber so sein wie du, Papa", sagte Lillebror. Mama und Birger und Betty lachten. Lillebror wußte zwar nicht, weshalb, aber es wollte ihm scheinen, als lachten sie über seinen Vater, und das mißfiel ihm. „Ich will so sein wie du, Papa, genau so'n Netter wie du", sagte er und sah seinen Vater zärtlich an.
„Danke, mein Junge", sagte Papa. „Wie war es doch, möchtest du wirklich nicht noch mehr Blumenkohl haben?" „Nee, lieber tot sein", sagte Lillebror. „Aber er ist gesund", sagte Mama.
„Das dachte ich mir schon", sagte Lillebror. „Je weniger man ein Essen mag, desto gesünder ist es. Warum stopfen sie alle diese Vitamine in Sachen, die schlecht schmecken? Das möchte ich wirklich mal wissen!"
„Ja, ist das nicht eigentümlich?" sagte Birger. „Du findest sicher, die sollten statt dessen lieber in Bonbons stecken oder in Kaugummi?"
„Das ist das Vernünftigste, was du seit langer Zeit gesagt hast", meinte Lillebror.
Nach dem Essen ging er in sein Zimmer hinüber. Er hoffte von ganzem Herzen, daß Karlsson kommen möge. Lillebror mußte ja bald verreisen, und er wollte Karlsson vorher so oft wie möglich sehen.
Karlsson hatte das vielleicht gefühlt, denn er kam angeflogen,
sobald Lillebror die Nase aus dem Fenster steckte.
„Hast du heute kein Fieber?" fragte Lillebror.
„Fieber — ich?" sagte Karlsson. „Ich hab' nie Fieber gehabt.
Das war nur Einbildung."
„Hast du dir nur eingebildet, daß du Fieber hattest?" sagte Lillebror verdutzt.
„Nee, aber ich hab' dir eingebildet, daß ich welches hätte", sagte Karlsson und lachte vergnügt. „Der beste Streichemacher der Welt — rate, wer das ist!"
Karlsson verhielt sich nicht eine Sekunde still. Die ganze Zeit, während er redete, wirbelte er im Zimmer herum und zupfte neugierig an allen Sachen, öffnete so viele Schränke und Kästen, wie er konnte, und untersuchte alles mit größter Anteilnahme.
„Nein, heute habe ich kein Fieber", sagte er. „Heute bin ich kolossal obenauf und zu einem kleinen Streich aufgelegt." Lillebror war auch zu einem kleinen Streich aufgelegt. Aber vor allen Dingen wollte er, daß Mama und Papa und Birger und Betty Karlsson sehen sollten, damit endlich all das Geschwätz aufhörte, daß es Karlsson nicht gebe.
„Warte einen Augenblick", sagte er schnell. „Ich komme sofort zurück."
Und dann stürzte er davon, ins Wohnzimmer hinüber. Birger und Betty waren gerade weggegangen, das war dumm, aber Mama und Papa saßen jedenfalls da, und Lillebror sagte voll Eifer:
„Mama und Papa, kommt doch gleich mal mit in mein Zimmer rüber."
Er wagte nicht, Karlsson zu erwähnen, es war besser, sie sahen ihn ohne vorherige Ankündigung.
„Willst du nicht lieber hier bleiben und bei uns sitzen?" fragte Mama. Aber Lillebror zerrte sie am Ärmel mit.
„Nein, ihr sollt mit zu mir rüberkommen und euch was ansehen."
Nach einiger Überredung kamen sie beide mit, und Lillebror öffnete erfreut und glücklich die Tür zu seinem Zimmer. Jetzt endlich sollten sie ihn sehen!
Er hätte heulen können, so enttäuscht war er. Das Zimmer war leer — genau wie das erste Mal, als er Karlsson zeigen wollte.
„Was sollten wir uns denn ansehen?" fragte Papa.
„Ach, nichts Besonderes", murmelte Lillebror.
Zum Glück klingelte im selben Augenblick das Telefon, so daß Lillebror keine weiteren Erklärungen abzugeben brauchte.
Papa ging hinaus, um sich zu melden. Und Mama hatte einen Topfkuchen im Ofen, nach dem sie sehen mußte. Lillebror
blieb allein. Er setzte sich ans Fenster. Er war richtig wütend auf Karlsson und beschloß, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, wenn er angeflogen käme.
Aber es kam niemand angeflogen. Statt dessen ging die Tür zum Wandschrank auf, und Karlsson steckte sein vergnügtes Gesicht heraus. Da war Lillebror verblüfft.
„Was in aller Welt hast du in meinem Wandschrank gemacht?" sagte er.
„Eier ausgebrütet — nein! Dagesessen und über meine Sünden nachgedacht — nein! Auf dem Bord gelegen und mich ausgeruht — ja", sagte Karlsson.
Lillebror vergaß ganz, daß er wütend war. Er freute sich nur, daß Karlsson doch wieder zum Vorschein gekommen war.
„Dieser Wandschrank ist prächtig zu brauchen, wenn man Versteck spielen will", sagte Karlsson. „Das tun wir, ja? Ich leg' mich wieder auf das Bord, und du rätst, wo ich bin."
Bevor Lillebror noch eine Antwort geben konnte, war Karlsson im Wandschrank verschwunden, und Lillebror hörte, wie er kletterte, um auf das Bord zu kommen. „Jetzt such!" schrie Karlsson.
Lillebror öffnete die Schranktür sperrangelweit und fand Karlsson ohne weitere Schwierigkeiten auf dem Bord. „O pfui, bist du aber gemein!" schrie Karlsson. „Du kannst doch schließlich erst mal im Bett suchen und unterm Tisch und überall woanders. Ich spiel' nicht mit, wenn du'« so machst. Pfui, wie bist du gemein!"
In dieser Sekunde läutete es an der Wohnungstür, und kurz darauf rief Mama vom Korridor her:
„Lillebror, Krister und Gunilla sind da."
Mehr brauchte es nicht, um Karlsson wieder in gute Laune zu versetzen.
„Denen wollen wir einen Streich spielen", flüsterte er. „Mach die Tür hinter mir zu."
Lillebror schloß die Schranktür, und kaum hatte er das getan, da kamen Gunilla und Krister. Sie wohnten in derselben Straße wie Lillebror und waren in der Schule in derselben Klasse. Lillebror hatte Gunilla sehr gern, er redete immer wieder einmal mit seiner Mutter von ihr und wie „phenominonal goldig" sie sei. Krister mochte er auch und hatte ihm schon die Beule an der Stirn verziehen. Es kam ziemlich häufig vor, daß er sich mit Krister prügelte, aber hinterher waren sie immer gleich wieder gute Freunde. Übrigens geriet Lillebror nicht nur mit Krister in Prügeleien; er hatte mit fast allen Kindern auf der Straße wilde Sträuße ausgefochten.
Aber auf Gunilla ließ er nichts kommen. „Wie kommt es eigentlich, daß du Gunilla nie verhaust?" fragte ihn seine Mutter einmal.
„Nee, sie ist so phenominonal goldig, das brauche ich nicht", sagte Lillebror.
Aber Gunilla konnte ihn selbstverständlich auch hin und wieder piesacken. Gestern, als sie von der Schule kamen, hatte Lillebror von Karlsson vom Dach erzählt, und da hatte Gunilla gelacht und gesagt, Karlsson sei nur eine Einbildung, nur ein Gedanke. Und Krister hatte ihr recht gegeben, so daß Lillebror gezwungen war, ihn zu verhauen, und da war es dann passiert, daß Krister dem Lillebror jenen Stein an den Kopf geschmissen hatte.
Aber jetzt kamen sie zu ihm, und Krister hatte Joffa mitgebracht. Und um Joffas willen vergaß Lillebror sogar Karlsson, der auf dem Bord im Wandschrank lag. Hunde waren das Süßeste, was es auf der Welt gab, fand Lillebror. Joffa sprang hoch und bellte, und Lillebror legte die Arme um seinen Hals und streichelte ihn. Krister stand daneben und sah ruhig zu. Er wußte ja, das Joffa sein Hund war und niemand anderem gehörte, und darum mochte Lillebror ihn streicheln, soviel er wollte.
Als Lillebror gerade im besten Streicheln war, sagte Gunilla mit einem spöttischen Kichern:
„Wo hast du denn deinen alten Karlsson vom Dach? Wir dachten, er wäre hier."
Erst jetzt fiel es Lillebror ein, daß Karlsson auf dem Bord im Wandschrank lag. Da er aber nicht wußte, was für einen Streich Karlsson diesmal vorhatte, konnte er es Krister und Gunilla nicht erzählen. Darum sagte er nur:
„Pfff, du sagst ja, Karlsson vom Dach ist nur eine Einbildung.
Du sagtest gestern, er sei nur ein Gedanke."
„Ja, das ist er doch auch nur", sagte Gunilla und lachte so, daß die beiden Grübchen zum Vorschein kamen, die sie in den Wangen hatte.
„Denk mal, und dabei ist er das nicht", sagte Lillebror. Er sah sehr überlegen aus.
„Doch ist er es", sagte Krister.
„Das ist er gerade gar nicht", sagte Lillebror.
Er überlegte, ob es einen Sinn hätte, dies „vernünftige Gespräch" fortzusetzen, oder ob es nicht ebenso gut wäre, Krister gleich eine runterzuhauen. Aber ehe er sich noch hatte entscheiden können, hörte man aus dem Wandschrank drinnen ein lautes und vernehmliches „Kikiriki".
„Was war denn das}" fragte Gunilla und sperrte ihren Mund, der klein und rot wie eine Kirsche war, vor Verwunderung weit auf.
„Kikiriki", machte es noch einmal, und es hörte sich genau wie ein richtiger Gockelhahn an.
„Hast du einen Hahn im Schrank?" fragte Krister betroffen. Joffa knurrte. Aber Lillebror lachte. Er konnte kein Wort hervorbringen, so lachte er. „Kikiriki", kam es aus dem Wandschrank. „Ich mache auf und sehe nach", sagte Gunilla. Sie machte die Tür auf und guckte hinein. Und Krister sprang hinzu und guckte ebenfalls hinein. Zuerst sahen sie nichts weiter als einen Haufen Kleidungsstücke, die hier hingen. Aber dann hörten sie von oben ein Gekicher, und als sie hinaufblickten, bekamen sie einen kleinen dicken Mann zu Gesicht, der oben auf dem Bord lag. Er lag bequem auf den einen Ellenbogen gestützt und ließ das eine kurze dicke Bein baumeln, und er hatte vergnügte blaue Augen, die hell leuchteten.
Weder Gunilla noch Krister sagten zunächst ein Wort, nur Joffa knurrte von neuem. Als Gunilla aber ihre Sprache wiedergefunden hatte, sagte sie: „Wer ist das?"
„Nur eine kleine Einbildung", sagte die absonderliche Gestalt da oben auf dem Bord und ließ das eine Bein noch mehr baumeln. „Eine kleine Einbildung, die hier liegt und sich ausruht. Kurz gesagt — ein Gedanke!"
„Ist das ... ist das ...", stammelte Krister.
„'n kleiner Gedanke, der daliegt und kräht, schlicht und recht, nichts weiter", sagte der kleine Mann.
„Ist es Karlsson vom Dach?" fragte Gunilla flüsternd.
„Ja, was denkst du sonst?" sagte Karlsson. „Denkst du, es sei die alte Frau Gustafsson aus Nr. zweiundneunzig, die sich hier heraufgeschlichen und für eine Weile zusammengerollt hat?"
Lillebror lachte nur, weil Gunilla und Krister dastanden, die Münder aufsperrten und so dumm aussahen.
„Jetzt glaube ich, ihr habt eins drauf gekriegt, so daß ihr künftig schweigt", sagte Lillebror endlich.
Karlsson hopste mit einem leichten Satz vom Bord herunter. Er trat auf Gunilla zu und kniff sie schelmisch in die Wange.
„Was ist denn das hier für ein kleiner alberner Gedanke, was?" sagte er.
„Wir ..." begann Krister.
„Was hast du eigentlich sonst noch für einen Namen außer August?" fragte Karlsson.
„Ich heiße nicht August", sagte Krister.
„Gut, mach so weiter", sagte Karlsson.
„Die heißen Gunilla und Krister", sagte Lillebror.
„Ja, es ist kaum zu glauben, was den Leuten so alles
widerfahren kann", sagte Karlsson. „Aber laßt es euch nicht
verdrießen — alle können ja leider nicht Karlsson heißen."
Er blickte sich neugierig um und fuhr fort, ohne Atem zu holen:
„Ich fühle mich zu einem kleinen Schabernack aufgelegt. Können wir nicht die Stühle aus dem Fenster schmeißen oder so was Ähnliches?"
Lillebror meinte, das sei nicht gerade gut, und er war sicher, daß es auch Mama und Papa nicht gefallen würde. „Nein, wer altmodisch ist, der ist eben altmodisch", sagte Karlsson, „dabei ist nichts zu machen. Dann müssen wir uns eben etwas anderes ausdenken, denn einen Schabernack will ich machen. Sonst spiel' ich nicht mehr mit", sagte er und kniff eigensinnig den Mund zusammen.
„Ja, wir können uns vielleicht was anderes ausdenken", sagte Lillebror bittend.
Aber Karlsson war offenbar entschlossen, zu maulen. „Hütet euch, daß ich euch nicht davonfliege", sagte er. Sowohl Lillebror als auch Krister und Gunilla waren sich darüber klar, welch ein Unglück das sein würde, und sie flehten und bettelten Karlsson, bei ihnen zu bleiben. Karlsson saß eine Zeitlang da und sah noch immer ziemlich bockig aus.
„Es ist nicht sicher", sagte er, „aber vielleicht bleibe ich da, wenn die da mich streichelt und ,guter Karlsson' sagt", meinte er und zeigte mit seinem kurzen dicken Zeigefinger auf Gunilla.
Und Gunilla streichelte ihn schleunigst.
„Guter Karlsson, bleib hier, damit wir uns irgendeinen Schabernack ausdenken können", sagte sie. „Na meinetwegen, dann tu' ich es", sagte Karlsson, und die Kinder seufzten erleichtert auf. Aber es war etwas verfrüht. Lillebrors Eltern machten hin und wieder einmal einen Abendspaziergang. Und gerade jetzt rief Mama von der Diele her:
„Auf Wiedersehen bis nachher! Krister und Gunilla dürfen bis acht bleiben. Dann gehst du aber flink ins Bett, Lillebror. Ich komme noch und sage dir gute Nacht."
Sie hörten die Wohnungstür zuklappen.
„Sie hat nicht gesagt, wie lange ich bleiben darf", sagte Karlsson und schob die Unterlippe vor. „Ich spiel' nicht mit, wenn es so ungerecht zugeht."
„Du kannst bleiben, solange du willst", sagte Lillebror.
Karlsson ließ die Unterlippe noch mehr hängen. „Warum kann ich denn nicht auch um acht an die Luft gesetzt werden wie alle anderen Menschen?" sagte Karlsson. „Ich spiel' nicht mit ..."
„Ich werde Mama bitten, daß sie dich um acht an die Luft setzt", sagte Lillebror schnell. „Was für einen Streich wollen wir uns denn ausdenken?"
Plötzlich war Karlssons schlechte Stimmung wie weggeblasen. „Wir können Gespenst spielen und die Leute zu Tode erschrecken", sagte er. „Ihr ahnt nicht, was ich allein mit einem kleinen Laken aufstellen kann. Wenn ich für jeden einzigen, den ich zu Tode erschreckt habe, nur fünf Öre hätte, dann könnte ich mir viele Bonbons kaufen. Ich bin das beste Gespenst der Welt", sagte Karlsson, und seine Augen funkelten lustig.
Lillebror und Krister und Gunilla wollten gern Gespenst spielen, aber Lillebror sagte:
„Wir brauchen ja vielleicht niemand einen so schrecklichen Schrecken einzujagen!"
„Ruhig, nur ruhig", sagte Karlsson. „Du brauchst dem besten Gespenst der Welt nichts über Gespensterei beizubringen. Ich werde sie nur ein ganz klein bißchen zu Tode erschrecken. Die merken es kaum."
Karlsson trat an Lillebrors Bett und zerrte das Überlaken heraus.
„Das kann ein hübsches kleines Gespensterkostüm werden", sagte er.
In Lillebrors Schreibtischschublade fand er ein Stück Zeichenkohle, und mit dieser malte er ein gruseliges Gespenstergesicht auf das Laken. Alsdann nahm er Lillebrors Schere und schnitt zwei Löcher für die Augen hinein, bevor Lillebror ihn noch daran hindern konnte.
„Das Laken — ach, das stört große Geister nicht", sagte Karlsson. „Und ein Gespenst muß sehen können, sonst kann es auf- und davonflattern und in Hinterindien oder sonstwo landen."
Dann warf er sich das Laken über den Kopf wie einen Umhang. Nur seine kurzen dicken Hände staken an den Seiten heraus. Obwohl die Kinder wußten, daß es nur Karlsson war, der unter dem Laken steckte, bekamen sie dennoch ein wenig Furcht, und Joffa fing an, ganz wild zu bellen. Es wurde auch nicht etwa besser, als das Gespenst seinen Motor anließ und um die Deckenlampe herumzufliegen begann, wobei das Laken durch die Geschwindigkeit bald hierhin, bald dorthin flatterte. Es sah ganz unheimlich aus. „Ich bin ein kleines motorisiertes Gespenst, wild, aber schön", sagte Karlsson.
Die Kinder standen still und starrten ihn scheu an, Joffa bellte. „Eigentlich mag ich es gern, daß es um mich herum knattert, wenn ich komme", sagte Karlsson. „Aber, wenn ich gespenstern will, dann ist es vielleicht besser, den Schalldämpfer aufzusetzen. Paßt auf, so!"
Und dann schwebte er fast geräuschlos heran und wirkte noch gespenstischer als vorher.
Nun galt es nur, jemand ausfindig zu machen, dem man etwas vorgespenstern konnte.
„Ich kann ja mal anfangen, im Treppenflur zu gespenstern, da kommt ja immer mal einer vorbei, und der kriegt den Schock seines Lebens", sagte Karlsson.
Da klingelte das Telefon, aber Lillebror hatte keine Lust, hinzugehen und sich zu melden. Er ließ es klingeln. Karlsson begann, einige gute Seufzer und Ächzer zu üben. Ein Gespenst, das nicht ächzen und seufzen konnte, war wertlos, behauptete Karlsson. Das sei das erste, was ein kleines Gespenst in der Gespensterschule lernen mußte. All dies nahm Zeit. Als sie endlich im Korridor standen, bereit, sich ins Treppenhaus hinauszubegeben und mit dem Gespenstern anzufangen, hörten sie ein eigentümliches Kratzen an der Wohnungstür. Erst glaubte Lillebror, es seien die Eltern, die schon nach Hause kamen. Aber da erblickte er einen langen Draht, der durch den Briefschlitz gesteckt wurde. Und da erinnerte sich Lillebror an etwas, was sein Papa der Mama ganz kürzlich aus der Zeitung vorgelesen hatte. In der Zeitung hatte gestanden, daß augenblicklich viele Wohnungsdiebe hier in der Stadt am Werke waren. Die Diebe waren schlau: Erst läuteten sie die Telefonnummer an und hörten, ob jemand daheim war. Bekamen sie keine Antwort, so eilten sie auf dem schnellsten Wege zu der Wohnung, in der sie angeläutet hatten, und dann galt es nur, den Kniff zu finden, um das Türschloß aufzukriegen, hineinzugehen und alles zu stehlen, was an Werten zu finden war.
Lillebror bekam fürchterliche Angst, als ihm klar wurde, daß es Diebe waren, die sich Einlaß verschaffen wollten, und Krister und Gunilla erging es nicht anders. Krister hatte Joffa in Lillebrors Zimmer eingesperrt, damit er während des Gespensterns nicht bellen sollte, und das bereute er jetzt. Einen aber gab es, der hatte keine Angst, und das war Karlsson.
„Ruhig, nur ruhig", flüsterte er. „Bei solchen Gelegenheiten ist ein Gespenst das beste, was man haben kann. Komm, wir schleichen jetzt ins Wohnzimmer, denn dort hat dein Vater sicher seine Goldbarren und Diamanten aufbewahrt", sagte er zu Lillebror.
Karlsson und Lillebror und Gunilla und Krister schlichen ins Wohnzimmer hinüber, so leise und behutsam und schnell, wie sie konnten. Sie krochen hinter die Möbel und versteckten sich. Karlsson stieg in den schönen alten Schrank, den Mama als Leinenschrank benutzte, und zog die Tür hinter sich zu, so gut es ging. Er hatte es kaum getan, als die Diebe auch schon angeschlichen kamen. Lillebror, der hinter dem Sofa neben dem offenen Kamin lag, lugte vorsichtig um die Ecke. Mitten im Zimmer standen zwei Diebe und sahen greulich aus. Und — hat man so was schon erlebt? — es war niemand anders als Fille und Rulle.
„Tja, nun ist die Frage, wo die ihre Kronjuwelen haben", sagte Fille mit leiser, heiserer Stimme.
„Da drin natürlich", sagte Rulle und zeigte auf den antiken Sekretär, der so viele kleine Schubfächer hatte. Lillebror wußte, daß Mama das Wirtschaftsgeld in einem der Schubfächer aufbewahrte, und in einem anderen hatte sie den schönen, kostbaren Ring und die Brosche, die sie von Großmama geschenkt bekommen hatte. Und Papas goldene Medaille, die er beim Preisschießen gewonnen hatte, lag auch hier.
Es wäre aber auch ganz schrecklich, wenn die Diebe das alles mitnähmen, dachte Lillebror, und er konnte seine Tränen fast nicht zurückhalten, während er da hinter dem Sofa lag. „Nimm du dir dies Ding da vor", sagte Fille. „Ich gehe unterdes in die Küche und sehe nach, ob sie silberne Löffel haben."
Fille verschwand, und Rulle begann, die Schubfächer herauszuziehen. Er pfiff leise vor sich hin vor Zufriedenheit. Jetzt hat er bestimmt das Wirtschaftsgeld gefunden, dachte Lillebror, und er wurde immer niedergeschlagener. Rulle zog die nächste Schublade heraus und pfiff abermals. Denn jetzt hatte er sicher den Ring und die Brosche gefunden. Aber dann pfiff Rulle nicht mehr. Denn aus dem Schrank kam ein Gespenst geflogen und ließ ein Stöhnen hören. Und als Rulle sich umwandte und das Gespenst erblickte, stieß er einen röchelnden Ton aus, und er ließ das Wirtschaftsgeld und den Ring und die Brosche und alles miteinander fallen. Das Gespenst flatterte um ihn herum und ächzte und seufzte, und plötzlich sauste es in die Küche hinaus. Und eine Sekunde nur, und Fille kam angerannt, schneeweiß im Gesicht, und schrie: „Spulle, ein Gerenst!"
Er meinte „Rulle, ein Gespenst", aber er war so entsetzt, daß er statt dessen „Spulle, ein Gerenst" sagte. Es war auch kein Wunder, daß er so entsetzt war, denn das Gespenst folgte ihm dicht auf den Fersen und ächzte und seufzte ganz fürchterlich. Und Rulle und Fille rasten auf die Tür zu, während ihnen das Gespenst fortwährend um die Ohren flatterte, und sie rannten auf den Korridor hinaus und durch die Tür davon. Aber das Gespenst kam einfach hinterdrein und jagte sie die Treppe hinunter und schrie mit einer hohlen, schrecklichen Gespensterstimme hinter ihnen her: „Ruhig, nur ruhig! Ich hab' euch gleich eingeholt, und dann wird's lustig!"
Aber da wurde das Gespenst der Sache müde und kam ins Wohnzimmer zurück.
Lillebror hatte inzwischen das ganze Wirtschaftsgeld aufgehoben und den Ring und die Brosche und alles in den Sekretär zurückgelegt, und Gunilla und Krister hatten alle silbernen Löffel aufgesammelt, die Fille hatte fallen lassen, als er zwischen der Küche und dem Wohnzimmer hin- und hergerannt war.
„Das beste Gespenst der Welt, das ist Karlsson vom Dach", sagte das Gespenst und legte das Gespensterkostüm ab. Die Kinder lachten und freuten sich, und Karlsson sagte: „Nichts kann sich mit einem Gespenst messen, wenn es sich darum handelt, Diebe zu verscheuchen. Wenn die Leute wüßten, wie gut das ist, dann würden sie an jedem Geldschrank in der ganzen Stadt ein kleines, bösartiges Gespenst antüdern."
Lillebror freute sich so, daß er vor Vergnügen hüpfte, weil Mamas Wirtschaftsgeld und Ring und Brosche und Papas goldene Medaille und alle silbernen Löffel gerettet waren, und er sagte: „Wenn man bedenkt, wie dumm die Leute sind, daß sie an Gespenster glauben! Es gibt nichts Übernatürliches, hat Papa gesagt." Er nickte heftig. „Wie dumm die Diebe waren, daß sie glaubten, es sei ein Gespenst gewesen, was aus dem Schrank kam, und dabei war es überhaupt nichts Übernatürliches, sondern nur Karlsson vom Dach."