Peter

»Also, ich bin gespannt wie ein Regenschirm, was es heute mittag gibt«, erklärte Peter, als sich Arno von ihm verabschiedete. Arno seinerseits wackelte mit den Ohren, weil er das stets tat, wenn ihm nicht wohl war, und sagte: »Meine Vier im Diktat hat mich satt gemacht. Mein Alter wird furchtbar ausholen, wenn er die Zensur sieht.« Peter hieb ihm eins auf den Schulranzen und lachte. Aber Arno blickte ihn böse an, machte »Bäh!« und ging seines Wegs.

Peter pfiff sich die Treppen hinan, klingelte dreimal und murmelte fortwährend vor sich hin: »Denk’ dir, Muttchen! Ich hab’ im Diktat die Eins.« Er klingelte sicherheitshalber noch zweimal und beschloß dabei, von Arnos Vier, noblerweise, nichts zu sagen. Obwohl es natürlich guten Effekt gemacht hätte ...

Er klopfte in kurzen Abständen sechsmal und klingelte wieder. - Er legte das Ohr an die Tür. Drinnen schlug ein angelehntes Fenster. - Er wurde ungeduldig, rundete den Mund dicht am Schlüsselloch und rief: »Mama! Mama, Ma-ma!«

Aber sie kam nicht. - Er trommelte mit der Faust an den Briefkasten und klingelte wie das Telephon klingelt, wenn es allein in der Wohnung ist. Dann wurde er unruhig, bekam es mit der Angst und trat mit dem Stiefel gegen die Tür!

Nichts rührte sich. Wo sie nur stecken mochte? Wenn sie nur beim Fensterputzen nicht auf die Straße - ... Doch das hätten die Leute ja merken müssen. Und dabei roch es so gut nach Eierkuchen! Jetzt freilich hätte er gar keinen Eierkuchen gemocht.

Er klingelte noch einmal. Aber ganz behutsam, als wollte er nicht stören ... Dann setzte er sich auf die Treppe, holte tief Atem, stopfte die Fäuste unters Kinn und guckte zum Schlüsselloch hinüber, als sei es ein verzaubertes Auge ...

Na ja, und dann stand mit einem Mal ein Schutzmann da. Alle Wetter! Der zwirbelte seinen Schnurrbart, zog das Notizbuch zwischen den Uniformknöpfen heraus und fragte: »Welche Hausnummer ist das hier?« - Peter antwortete: »Achtundvierzig.« Der Schutzmann preßte den Bleistift in die Unterlippe, murmelte: »So, so. Hm. Sechs mal acht ist achtundvierzig«, blätterte in seinem Buch, zuckte die Achseln und meinte: »Meldungen liegen nicht vor.« Peter traten die Tränen in die Augen.

»Heul bloß nicht«, bat der Schutzmann, griff in die Tasche und holte ein ganz, ganz kleines Automobil heraus. Das hielt er an den Mund blies die Backen auf. Er sah dabei aus wie einer vom Posaunenchor. Und das Auto wurde immer größer und immer größer, bis es auf der Treppe kaum noch Platz hatte. Der Schutzmann setzte sich ans Steuer und sagte: »Hopp! Jetzt wollen wir die Mama suchen.« Peter kletterte in den Wagen. Der Motor begann zu laufen, und dann rumpelten sie die Treppe hinunter. Das war kein Spaß. Vor allem die Kurven machten Schwierigkeiten. - Unten kam gerade Frau Pfennigwert aus dem Keller. Sie hatte Kohlen und Briketts geholt und verlor vor Schreck die Eimer. Und Augen machte sie! Peter mußte sich wegdrehen.

Sie fuhren viele Straßen entlang. Peter musterte alle Leute, und manchmal dachte er wirklich, die Mutter war’s! Sie war es aber nicht. - Sooft der Schutzmann hupte, nahmen die vorübergehenden Frauen die Hüte ab, damit man sie besser anschauen konnte.

»Noch nicht gefunden?« fragte der Schutzmann.

»Nein«, sagte Peter, »noch nicht.«

Tante Haubold begegneten sie, aber die wußte auch nichts und entschuldigte sich wegen ihrer Eile, aber sie müsse schleunigst zum Zahnarzt, um sich von ihm die Hühneraugen ziehen zu lassen. Es wäre nicht mehr zum Aushalten.

Ein paarmal fuhren sie auch direkt in die Geschäfte hinein, in denen die Mutter für gewöhnlich einkaufte. Im Konsumverein war sie nicht, bei Fleischer Augustin nicht und bei Bäcker Ziesche auch nicht. Der Schutzmann grüßte immer durch Anlegen der rechten Hand an die Kopfbedeckung, und Peter machte es ihm nach. Die Ladenfräuleins im Konsumverein wollten gleich mitfahren. Aber der Lagerhalter sagte, dann würde er weinen. Und da blieben sie eben im Laden.

Als sie wieder auf der Straße waren, borgte der Schutzmann Peter sein Taschentuch, ließ den Schnurrbart tieftraurig hängen und meinte: »Wir wollen mal nach der Hauptwache fahren, ob sie doch abgegeben worden ist.« Er schaltete den dritten Gang ein, und dann sausten sie, wie es das sonst nur noch im Kino gibt, nach der Polizeihauptwache. Der Portier rief: »Hurra«. Sie sausten an ihm vorbei, die Freitreppen hinauf und Gänge entlang und in ein Zimmer hinein, an dessen Tür »Fundbüro«

geschrieben stand!

Drin saß ein Beamter vor einem Schreibtisch, frühstückte, klapperte dazu mit einem großen Schlüsselbund und fragte, warum sie draußen am Strohdeckel die Autoreifen nicht abgeputzt hätten und was sie eigentlich wollten. Als sie es ihm erklärt hatten, ging er mit seinem großen Schlüsselbunde zu einer langen Reihe riesiger Schränke, die an der Wand standen, und schloß sie auf.

Das waren ja nun wirklich komische Schränke!

Sie hatten große, breite Fächer, und in diesen Fächern standen Knaben und Mädchen, und Männer und Frauen, und warteten, daß sie von ihren Angehörigen abgeholt würden. - Ein kleiner Junge war schon über eine Woche da und hatte verweinte Augen. Er hatte vergessen, wie er hieß! Es hilft eben nichts, man muß sich seinen Namen merken ... Peter ging vor den Schränken hin und her und suchte. Er sah ganz kleine Kinder, die auf Topfstühlchen saßen und Schlagsahne löffelten; und er sah einen Professor, der sich einbildete, er sei ein abgegebener Regenschirm. Und ein anderer Herr war da, der hatte sich, spaßeshalber nur, seinen Vollbart abnehmen lassen, und wie er nach Hause kam, warf ihn seine eigene Frau die Treppe hinunter und behauptete, er sei gar nicht ihr Mann! Nun stand er hier im Schrank und wartete, bis er wieder einen Vollbart bekäme. - Viele Kinder waren da, die beim Einholen das Geld verloren hatten und sich nicht nach Hause wagten.

Alles in allem, es waren merkwürdige Schränke.

Aber Peters Mutter war nicht darin. Und da meinte der Schutzmann betrübt, weiter könne er nun auch nichts tun. Er wolle ihn wieder nach Hause bringen.

Unterwegs fuhren sie an einem langen Gebäude vorüber. Es hatte kein Dach. Die Fenster fehlten. Und Peter fragte, was das denn sei. Der Schutzmann blickte sich nicht um, antwortete nichts, sondern wendete nur den Wagen und ratterte durch das Haustor in den Hof. Sie stiegen aus, und Peter las ein Schild, auf dem stand: »Kaserne für böse Eltern«. Er wollte gleich wieder umkehren. Doch der Schutzmann sagte, es käme oft vor, daß versehentlich auch gute Eltern hierhergebracht würden. Man könne ja ganz schnell einmal durchgehen.

Zuerst führte sie der Inspektor in die »Station für leichtere Fälle«. Hier waren Männer und Frauen - in Kinderanzügen, mit Haarschleifen und Matrosenmützen - gerade dabei, aus Zeitungspapier Schiffe und Helme zu falten, andere kreiselten. Und wer es nicht zustande brachte, wurde auf einen Stuhl geschnallt und elektrisiert, bis er »Au!« schrie. Andere mußten an Reckstangen den Aufschwung und die Kniewelle üben. Andere sagten Schillers »Lied von der Glocke« her, bis sie es, ohne steckenzubleiben, konnten. Einer, erzählte der Inspektor, deklamiere nun schon drei Tage und drei Nächte hintereinander, ohne zu pausieren . Und wieder andere mußten das große Einmaleins vor- und rückwärts herunterschnurren oder dreißig Pfund Pudding essen.

Sie wurden hier behandelt, wie sie ihre Kinder behandelt hatten, und durften nicht eher wieder nach Hause gehen, bis sie schriftlich erklärten, gute Eltern werden zu wollen.

In der »Station für schwere Fälle« traf Peter seinen Klassenkameraden Arno. Der sah furchtbar verprügelt aus und zeigte stumm auf seinen Vater, der, in kurzen Hosen, vor einem Magnetofen stand und zusehen mußte, wie seine mit geriebener Semmel panierte Hand in einem Tiegel schmorte. Der rohe, grobschlächtige Mann war blaß und starrte entsetzt auf die Hand, die einem Kotelett immer ähnlicher wurde. Peter fand das abscheulich, aber der Inspektor sagte ihnen, Arnos Vater verdiene es nicht besser, und man habe an seinesgleichen schon die verschiedensten Methoden probiert; aber das Händebraten habe sich als das wirksamste Mittel erwiesen. Man wende es auch nur bei ganz besonders bösen, grausamen Eltern an, die dächten, Kinder wären zum Quälen da. - Es wäre trotzdem besser, wenn sie bald gingen. Denn vermutlich werde gleich die Brüllerei anfangen. Peter rannte wie besessen auf die Straße heraus.

Und nun, sagte der Schutzmann, wäre er mit seinen Kenntnissen zu Ende. - Er brachte Peter wieder auf die Treppe zurück, gab ihm die Hand, ließ die Luft aus seinem Auto, steckte es in die Tasche und ging.

Jetzt saß der Junge wieder auf seiner kalten Stufe und war recht unglücklich. Die Eierkuchen dufteten durchs Schlüsselloch, daß der Magen wie ein kleiner geärgerter Hund zu knurren anfing; und Peter wurde immer trauriger. Nirgends war die Mama zu finden gewesen. Wo mochte sie nur sein? Ihm war, er wartete schon viele, viele Stunden .

Dann schlug unten die Haustür, und er dachte: Das ist sie! Es war aber ein schwerer, langsamer Schritt, als ob jemand ein Klavier heraufschleppe. Und dann wars der Briefträger. Er stellte einen Riesenkarton neben die Tür und fragte: »Mutter zu Hause?«

»Nein«, sagte Peter, »was bringen Sie denn da Schönes?« Der Briefträger wußte es nicht, obwohl er es gern gewußt hätte, und zeigte auf den Karton. Dort stand in großen bemalten Buchstaben: »Vorsicht! Lebendig!« Peter nahm sein Taschenmesser und schnitt den Strick durch. Der Briefträger hätte zu gern gewartet, aber er hatte noch viele Wege vor und mußte weiter. - Peter hob den Deckel ab und sah nichts als Holzwolle. Mit beiden Händen griff er hinein und warf sie auf die Treppenstufen.

Als er wieder in den Karton hineinlangte, kriegte er eine Nase zu packen und erschrak mordsmäßig. Und dann bewegte sich die Holzwolle - irgend etwas krabbelte drin herum, pustete, hob sich empor - und das war: Peters Mama!

Er stand wie versteinert. Sie aber lachte herzlich, weil sie ihn so überrascht hatte, hopfte vollends aus dem Karton, stupste ihn vor die Nase ...

Es war schon so. Die Mama gab ihm einen Nasenstüber und rief fröhlich: »Aber wer wird denn auf der Treppe einschlafen!«

»Donnerlüttchen!« sagte Peter, »endlich. Also, wo ich dich überall gesucht habe! Im Konsum, bei Augustins, bei Ziesches, auf dem Fundbüro . « Aber da merkte er, daß der Karton und die Holzwolle nicht mehr auf der Treppe lagen . Er schüttelte den Kopf und fragte: »Wo warst du nur so lange?«

»Bei Frau Rößler!« rief sie, »die soll mein blaues Kleid umändern! Und heute gibt’s Eierkuchen!«

»Hab’ ich längst gerochen«, meinte er stolz. »Mit Preiselbeeren oder mit Pflaumen?«

»Mit Quittenmarmelade!«

»O, das ist fein! - Was wollte ich doch noch sagen . Ja! Denk’ dir, Muttchen, ich hab’ im Diktat die Eins.«

»Du bist ein tüchtiger Junge.«

»Und Arno - du kennst doch Arno! - Arno hat die Vier!«

»Der arme Kerl«, sagte die Mutter und schloß die Tür auf.

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