Ein Menschenleben

Solange es eben ging, hatte er arbeiten gemußt.

Jeden Morgen ... Noch lagen die Straßen leer und müd und übernächtigt. Die Schritte klapperten tönern auf dem Pflaster. Hinter grau verhängten, gähnenden Fenstern klirrten die Weckuhren. (Da standen sie jetzt auf. Mit eingekniffenen Augen. Und abwesenden Gesichtern.) ... Die Bäume in den Anlagen froren. Ein Vogel plusterte sich. Und hatte noch keinen Mut zum Singen. Und der Mond schwamm fahl in einen unendlich trostlosen Himmel hinaus . Ein Lastwagen polterte in ein Brückenloch. Wie ein Sarg. Und auf dem Wagen stand ein kleiner Hund. Der kläffte wütend. Aber eigentlich nur aus Angst .

Plötzlich stand die Fabrik da. Schluckte ihn ein. Mit tausend andern.

Abends trabte er dann heim. Lahm in den Knien. Der blecherne Kaffeekrug hing schwer in der Hand. - Die Bäume in den Anlagen froren. In einem Sandhaufen steckte ein zerbrochenes Spielzeug. Auf den Bänken hatten schwatzende Frauen gesessen. - Die Straßen ertranken in tiefen Schatten. An den Schaufenstern schnatterten die Rolladen herunter. Die letzten Kinder wurden ins Haus gerufen . In einem Gasthaus rasselte ein Orchestrion. Ein Dienstmädchen trug Bier über die Straße .

Tagaus, tagein. Manchmal lag Schnee. Manchmal waren die Bäume bunt. Wie Feldblumensträuße. Aber immer brannten ihm die Augen. Und immer hastete er vorbei. Ohne sich umzusehen. Jahraus, jahrein. Nur sonntags war Ruhe. Da saß er am Fenster. Und sah die Sonne. - Und wenn seine Frau schalt, weil er auf seiner alten Geige herumstrich, konnte er sogar lächeln. Denn dann war er glücklich. Er spielte nicht etwa gut. Die Hände waren steif und schwer. Aber ihm klang es wundervoll. Immer wieder spielte er diese paar Lieder, die er als Junge gelernt hatte. Was sie nicht alles zu erzählen wußten! Seine Frau hörte das nicht. Denn er spielte wirklich schlecht. Aber er lächelte dabei .

Jahrzehnte sanken wie Blätter von den Bäumen. Und immer die Fabrik! Und immer nur der eine Sonntag. - Das Kind wurde konfirmiert. Die Frau starb. Das änderte nichts ... Die Haare wurden grau. Die Tochter heiratete.

Das änderte nichts ... Er arbeitete. Und gab sein Geld hin. Wie zuvor ... Sonntags spielte er auf seiner Geige. Und sie schalten. Wie zuvor .

Aber eines Tages schickte man ihn aus der Fabrik fort. Konnte ihn »beim besten Willen« nicht mehr brauchen. - Da saß er das erstemal in den Anlagen auf der Bank. Mitten unter den Frauen. Die Sonne schien. Die Kinder lärmten und lachten. Er hörte alles wie durch dicke Mauern. Da traf ihn ein Stein! Er ging. Heim ...

Die Tochter kreischte: »Wovon willst du denn jetzt leben!« Der Schwiegersohn pfiff vor sich hin. Und spuckte in den Kohlenkasten. - Wenn sie ihn riefen: »Komm! Mußt doch was essen!« blieb er am Fenster sitzen. Und sah auf die Straße hinunter. Mitten in einen Fleischerladen hinein . Eines Morgens steckte er seine Geige unter die Jacke. Niemand sollte es sehen. Und drüber lachen . Dann stieg er irgendwo Treppen. In einem entfernten Stadtviertel. Lehnte gegen eine feuchte Wand. Und spielte seine Lieder. »Aus der Jugendzeit« war sein Lieblingslied. Er hatte es als erstes gelernt. Vor sechzig Jahren. Er konnte es noch immer nicht. Und die Hände zitterten. Er hatte Angst. Seine Geige klang gell und frech durch die schmutzigen Korridore. Jemand schlug die Tür zu. Kinder beugten sich über das Treppengeländer. Neugierig. Und ihm zitterten die Hände.

Manchmal brachte man ihm einen Teller Suppe. Oder ein Stück Brot. In Zeitungspapier gewickelt. Oder ein Kind wurde aus einer Tür gestoßen. Kam zögernd näher. Und reichte ihm etwas Geld. Manchmal schimpften sie. Wie zu Hause. Dann steckte er traurig die Geige wieder unter die Jacke. Stieg die Stufen langsam hinunter. Und andere hinauf. Stand in anderen Korridoren. Treppen. Korridore. Bis zum Abend ... Mitunter saß er in den Anlagen. Und fror. Auch in der Sonne. - Zu Hause nahmen sie ihm sein Geld ab. Damit er wenigstens seinen Mietzins zahle!

Es tat ihm nicht gut, jeden Tag seine Kinderlieder zu geigen. Er dachte an seine Mutter. Wenn sie nach Hause kam. Vom Waschen bei fremden Leuten. Die Geige hatte sie ihm geschenkt. Seine Mutter ...

Immer öfter saß er in den Anlagen. Ihm war: Er sei ein kleiner Junge . Es wollte nicht mehr gehen. Von früh bis abends saß er auf der Bank. Sie kannten ihn schon alle. Dann ging er nach Hause. Sie fragten auch nicht mehr nach Geld. Sie fragten auch nicht mehr, ob er Hunger habe. -

Einmal stand er schon mittags von der Bank auf. Ging heim. Sie waren auf der Arbeit. Er wollte etwas essen. Der Küchenschrank war abgeschlossen. - Da setzte er sich ans Fenster. Und weinte. Es tat gar nicht weh, das Weinen ... Dann zählte er sein Geld. Er wußte genau, daß es beinahe 500 M waren. Markscheine, Zweimarkscheine, Fünfmarkscheine. Auch ein Hundertmarkschein war dabei. Er entsann sich: Ein kleines blondes Mädchen hatte ihn hingestreckt. Sehr schüchtern. Er legte das Geld auf den Tisch. Auf ein Stück Zeitungsrand schrieb er mit unsicherer Hand: »Für die Miethe! Vater.« Die Sonne spielte mit den Gardinen. Und in den Fenstern über der Straße blühten Geranien.

Und dann erhängte er sich in der Schlafkammer. An der Türklinke .

Meine Mutter hat mir von ihm erzählt. Auch auf unserer Treppe hat er gestanden. Und gegeigt. »Aus der Jugendzeit!« ... Sie haben ihn alle gekannt. -

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