Ich muß ein geradezu reizendes Kind gewesen sein. -
Wer mich noch nicht lange genug oder gar nicht kennt, der kann das nicht beurteilen. Denn ich habe mich im Laufe der Jahre ziemlich verändert . Trotzdem soll mich niemand um Photographien aus jener Zeit bitten, damit er meine damaligen Vorzüge begreife! Nicht etwa, daß solche Photographien nicht existieren! Aber sie werden mir nicht gerecht; ich bin darauf einfach nicht gut getroffen.
Eher möchte ich schon empfehlen, sich an meine Mutter zu wenden, deren Adresse mitzuteilen ich gern erbötig bin. Ihre Auskünfte, sicher auch die meiner Tante Lina, ferner die weit zurückreichenden Erinnerungen des Fräuleins Haubold aus der Färbereifiliale und der Bäckermeisterin Wirth - um nur einige Kronzeugen meiner Kindheit zu nennen -, kurz, eine imposante Summe des vollsten Vertrauens werter mündlicher Überlieferung wäre recht wohl dazu geeignet, auch den letzten Zweifel gegenüber meiner Behauptung zu entkräften, die ich zu meinem eigenen Bedauern wie einen mathematischen, jedes Beweises gern entratenden Lehrsatz wiederholen muß: Ich muß ein geradezu reizendes Kind gewesen sein. -
Nichts wird dem, der Gemüt zu besitzen vorgibt, verständlicher sein, als daß ich mich mit einer ans Leidenschaftliche grenzenden Vorliebe jenes vergangenen Lebensabschnittes erinnere, in dem es mir vergönnt war, staunende Beachtung zu finden. Ja, ohne Übertreibung darf ich es aussprechen: Ich werde mir unvergeßlich bleiben .
Wie wundervoll war es doch, das Raunen der Erwachsenen zu kosten, wenn ich anläßlich der öffentlichen Osterprüfungen vor das Katheder trat, um ein Gedicht von Viktor Blüthgen oder Ludwig Uhland zu deklamieren! Wie ergriff mich die Feststellung, daß die Augen des Oberlehrers voller Zärtlichkeit auf mir ruhten und daß über die Wangen auch der neidischsten Mütter Tränen der Rührung bis zu Erbsengröße rollten!
Oft hat man böse Worte gegen die Musterschüler gesprochen und geschrieben; man hat sehr unrecht daran getan. Mehr sage ich nicht, obwohl gerade ich dazu berufen wäre; denn ich war ein Musterschüler, wie er prächtiger und exemplarischer nicht wieder zur Welt kommen dürfte .
Musterschüler zu sein ist eine keineswegs jedem Beliebigen zugängliche Aufgabe. Es ist vielmehr ein Talent, dessen Geheimnis darin besteht, den Lehrern nicht nur Freude zu machen, sondern sogar Freude an ihnen zu haben. Wer zweifelt noch daran, daß dies besondere Eignung voraussetzt?
Am liebsten rufe ich Erinnerungen an das erste Schuljahr wach .
Denn jener Schritt, mit dem ich über die Schwelle des Klassenzimmers stolperte, daß die Zuckertüte ihre bunte Spitze und ihren süßen Inhalt verlor - jener Schritt bedeutete das Heraustreten des Kindes aus dem engen Kreis der Familie in die Bezirke des öffentlichen Lebens; jener Schritt galt gewissermaßen der erstmaligen Ausübung staatsbürgerlicher Pflichten.
Ich wage nicht zu behaupten, daß mir damals die ganze Schwere jenes stolpernden Schrittes klar zum Bewußtsein gekommen wäre. Das wohl nicht. Aber im Herzen des zum Bürger geborenen Kindes muß sich dergleichen instinktiv geltend machen, ehe es mit dem Kopfe begriffen wird. So erging es mir. -
Und ähnlich, wie ich die Bedeutung des Schulbeginns empfand, sollte ich bald auch die der Persönlichkeit nachteiligen Folgen des öffentlichen Lebens spüren. - Der Lehrer meines ersten Schuljahres hieß Bremser. Genauer: Herr Bremser.
Ihm verdanke ich wesentliche Förderungen. Sein Name soll mich nicht ungerecht machen. Ohne jede Übertreibung darf ich sogar sagen: Ich habe seitdem nicht mehr allzuviel hinzugelernt. Natürlich einzelne Dinge, tausend Zahlen, windige Neuigkeiten, das wohl. Doch was ich ihm verdanke, ist weit mehr. Er lehrte mich die Wirklichkeit sehen: er ließ mich wissen, daß nichts ohne Ursachen und Folgen geschieht und daß die Phantasie ein Organ ist, das weggeschnitten zu werden verdiente, da es doch nichts nützt und, wenn es sich bemerkbar macht, schlimme Erkrankungen hervorruft.
Und das kam so: Die letzte Stunde vor den Osterferien - ein ganzes Jahr war bereits verflossen -, diese letzte Stunde wurde weder mit komplizierten Schreibübungen, noch mit einstelligen Rechenkünsten zugebracht, sondern mit improvisierten Darbietungen des Lehrers selber. Eine fraglos schöne alte Sitte. Er ging so weit, daß er uns fragte,
was er denn nun erzählen solle.
Wie ein Magier, der jeden Wunsch zu erfüllen imstande ist, lehnte er seine halbkugelrunde Weste gegen die Bordkante des Katheders und ließ Blicke väterlicher Güte über die kleinen Männer gleiten. Da zuckte es in den vorschriftsmäßig gefalteten Händen; da wurden die arglosen Gesichter nachdenklich; da gingen die wunderlichsten Wünsche und Rätsel hinter den sauber gekämmten Haarschöpfen spazieren.
Herr Bremser war die Geduld in Person. Ermunternd wanderten seine Augen von einem zum anderen. Schließlich sagte irgendein munteres Stimmchen: »Etwas vom Osterhasen!« Dieser Wunsch war, da Ostern vor der Schultür stand, vollkommen begreiflich. Und ebenso begreiflich war es, daß alle einverstanden waren. Jeder war willens, etwas vom Osterhasen zu hören. Freilich nicht die allgemein bekannten Tatsachen vom Legen, Färben und Verstecken der Eier, nein, etwas Apartes! Am liebsten eine kleine spannende Geschichte, in der jener wundervolle Hase die Heldenrolle spielen sollte .
Herr Bremser nickte mit dem Kopf, schwenkte das eine Bein über die Kathederecke, wie er das so zu tun liebte, schaute sinnend in den Schulgarten hinaus, der schon zu grünen anhub, räusperte sich und sagte: »Ja, glaubt ihr denn noch an den Osterhasen?« Und von dem Bedürfnis hingerissen, Kinderpsychologie experimentell zu betreiben, fuhr er fort: »Also - wer noch an den Osterhasen glaubt, der hebe die Hand!« Schon reckte er den Arm, um besser zählen zu können. -
Aber niemand hob die Hand . So sicher es war, daß alle an den Osterhasen glaubten, so klar wurde es ihnen plötzlich, daß dieser Glaube ein Zeichen von Dummheit sei. Welcher Mensch aber hat den Mut, sich zu seiner Dummheit zu bekennen? Und gar welches Kind?
Mit einem Male wußten alle, daß es keinen Osterhasen gab. Niemand wußte noch, wie sich das Eierlegen sonst erklären lasse. Nun, diesen Bildungsdefekt zu beheben, war das Werk einer kurzen Stunde.
Der radikale Inventurausverkauf unseres Märchenglaubens kam überraschend. Ich kann es nicht leugnen. Und daß ich zu Hause schrecklich geheult habe und daß meine Mutter sehr geschimpft hat, weiß ich noch recht gut.
Aber, nicht wahr, was will das besagen gegenüber der Tatsache, daß man uns an diesem Tage menschenunwürdigen Einbildungen entriß! Nun waren wir doch auf der kerzengeraden Marschroute in den Konfirmationsanzug! Noch ein paar Jahre Addieren und Dividieren, Bibelsprüche und Gesangbuchverse, Jangtsekiang und Ludwig den Bayern - das war das wenigste .
An jenem Tage ging eine neue Sonne auf und eine alte Welt unter .
Im Ernst: Wenn ich meinem Lehrer noch einmal begegnen sollte - der Wahrscheinlichkeitsrechnung nach kann er noch rüstig am Leben sein -, ich würde ihm sagen: »Werter Herr! Sie waren seinerzeit so liebenswürdig, mich etwas plötzlich auf die Wirklichkeit vorzubereiten, als Sie den Osterhasen umbrachten. Beim Fortschritt der Menschheit, an den Sie glauben, das war für mich ein wenig hart. Und wüßte ich, daß Sie noch heute an jenen Fortschritt glauben - ich bin gern bereit, Sie von diesem Märchen zu erlösen. Eine Liebe ist der andern wert.«
Aber er wird mir nicht begegnen. Und das ist ebenso gut.
Heute hat sich wohl auch das geändert. Heute sagen die Kinder, während sie zur Welt kommen, zu ihren Eltern: »Also, daß ihr es wißt! Die Geschichte mit dem Storch, die könnt ihr euch schenken! Apropos, was haltet ihr vom Darwinismus?«
Ja, der Fortschritt .