LEO PERUTZ NACHTS UNTER DER STEINERNEN BRÜCKE
Ein Roman
aus dem alten Prag
Herausgegeben
und mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller
Lizenzausgabe mit Genehmigung der
Paul Zsolnay Verlag Gesellschaft m.b.H., Wien • Dannstadt
für die Deutsche Buch-Gemeinschaft
C.A. Koch's Verlag Nachf., Berlin • Darmstadt • Wien Diese Lizenz gilt auch für:
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die EBG Verlags GmbH, Kornwestheim
die Buchgemeinschaft Donauland Kremayr & Scheriau, Wien und die Buch- und Schallplattenfreunde GmbH, Zug/Schweiz © Paul Zsolnay Verlag Gesellschaft m.b.H., Wien • Darmstadt 1988 Schutzumschlag- und Einbandgestaltung: Manfred Waller Umschlagfoto: »Grab des Rabbi Loew auf dem Alten Jüdischen Friedhof« Satz: Fotosatz Otto Gutfreund, Darmstadt
Druck und Bindung: May + Co, Darmstadt
Printed in Germany • Buch-Nr. 05585 0
11
Des Kaisers Tisch 24
Das Gespräch der Hunde 38
Die Sarabande
5i
Der Heinrich aus der Hölle 65
Der entwendete Taler 84
Nachts unter der steinernen Brücke 99
Der Stern des Wallenstein 105
Der Maler Brabanzio 146
Der vergessene Alchimist 162
Der Branntweinkrug 195
Die Getreuen des Kaisers 208
Das verzehrte Lichtlein 229
Der Engel Asael 254
Epilog 261
Nachwort 269
Editorische Notiz 295
Im Herbst des Jahres 1589, als in der Prager Judenstadt das große Kindersterben wütete, gingen zwei armselige Spaßmacher, ergraute Männer, die davon ihr Leben fristeten, daß sie bei den Hochzeiten die Gäste belustigten, durch die Belelesgasse, die vom Nicolasplatz zum Judenfriedhof führte.
Es dunkelte. Sie waren schwach vor Hunger, beide, denn seit zwei Tagen hatten sie nicht viel mehr als ein paar Bissen Brot gegessen. Die Zeiten waren schlimm für Spaßmacher. Denn in diesen Tagen, da der Zorn Gottes über die unschuldigen Kinder gekommen war, gab es keine Hochzeiten und keine Freudenfeste in der Judenstadt.
Der eine von den beiden, Koppel-Bär, hatte schon eine Woche vorher seinen zottigen Pelz, in dem er, als wildes Tier verkleidet, seine drolligen Sprünge machte, zum Geldverleiher Markus Koprivy getragen. Der andere, Jäkkele-Narr, hatte seine silbernen Schellen verpfändet. Jetzt besaßen sie nichts als ihre Kleider und ihre Schuhe, und Jäckele-Narr hatte auch noch seine Geige, für die wollte der Pfandleiher nichts geben.
Sie gingen langsam, denn noch war es nicht völlig dunkel geworden, und sie wollten nicht gesehen werden, wenn sie den Friedhof betraten. So viele Jahre hindurch hatten sie sich mit ehrlicher Arbeit das Brot für alle Tage und den Bedarf des Sabbats verdient, und nun stand es so mit ihnen, daß sie des Nachts auf den Grabsteinen nach Kupferpfennigen suchen mußten, die die frommen Besucher des Friedhofes bisweilen für die Armen zurückließen.
Als sie an das Ende der Belelesgasse gekommen waren und die Friedhofsmauer zu ihrer Linken sahen, blieb Jäkkele-Narr stehen und deutete auf die Tür des Flickschusters Gerson Chalel.
»Sicherlich«, sagte er, »ist des Schusters Blümchen noch wach. Ich will ihr aufspielen das Lied: >Sechs Jahre erst zähl' ich, das Herz ist mir fröhliche, so wird sie zur Tür herauskommen und auf der Gasse tanzen.«
Koppel-Bär wachte auf aus einem Traum von einer warmen Rettichsuppe mit kleinen Fleischbrocken darin.
»Du bist ein Narr«, brummte er. »Wenn der Messias kommt und die Kranken heilt, — du wirst ein Narr bleiben. Was schert mich des Schusters Blümchen? Was soll mir ihr Tanzen? Ich bin krank vor Hunger in allen meinen Gliedern.«
»Wenn du bist krank vor Hunger, so nimm ein Messer, schleif es und häng dich auf«, sagte Jäckele-Narr, und dann nahm er seine Geige vom Rücken und begann zu spielen.
Aber soviel er auch spielte, des Schusters Töchterchen wollte nicht kommen. Jäckele-Narr ließ die Geige sinken und dachte nach. Dann ging er über die Gasse und blickte durch das offene Fenster in des Schusters Stube.
Sie war dunkel und leer, die Stube, aber aus der Kammer kam ein Lichtschein, und Jäckele-Narr sah den Schuster und sein Weib, die saßen auf niederen Schemeln einander gegenüber und sangen die Sterbegebete für ihr Kind Blümchen, das sie am Tag zuvor begraben hatten.
»Sie ist tot«, sagte Jäckele-Narr. »So ist denn der Schuster auch vom Himmel herab auf die harte Erd' gefallen. Ich habe nichts und möchte doch alles dafür geben, nur daß sie noch am Leben wär'. So klein war sie und doch war es mir, wenn ich sie sah, als war' die Welt in ihrem Aug'. Fünf Jahre war sie alt und muß nun auch die kalte Erde kauen.«
»Wenn der Tod zu Markt geht, kauft er alles«, murmelte Koppel-Bär. »Nichts ist ihm zu klein, nichts zu gering.«
Und mit leiser Stimme sagten sie, indes sie weitergingen, die Worte aus dem Psalm des Königs David vor sich hin:
»Nun, da du ruhest im Schatten der Allmacht, kann dir kein Unheil widerfahren. Denn Er gebietet den himmlischen Geistern, und sie werden dich auf deinem Weg geleiten, und sie werden dich auf ihren Händen tragen, daß dir kein Stein an deine Füße stoße.«
Jetzt war es völlig Nacht geworden. Am Himmel stand zwischen dunkeln Regenwolken ein bleicher Mond. So still war es in den Gassen, daß man vom Flusse her das Rauschen des Wassers hörte. Angstlich und voll Scheu, als ob das, was sie zu tun im Sinne hatten, wider Gottes Gebot wär', traten sie durch das enge Tor in den Garten der Toten.
Er lag im Mondlicht, schweigend und regungslos wie der geheimnisdunkle Strom Sam-Bathjon, dessen Wellen stillestehen am Tage des Herrn. Die weißen und die grauen Steine standen aneinander gelehnt, als ob sie allein die Last ihrer Jahre nicht zu tragen vermöchten. Die Bäume streckten ihre entlaubten Äste wie in verstörter Klage zu den Wolken des Himmels empor.
Jäckele-Narr ging voran, und Koppel-Bär folgte ihm wie ein Schatten. Sie gingen den schmalen Pfad zwischen den Jasminbüschen und den Holunderbäumen, bis sie zu dem verwitterten Stein des Rabbi Abigdor gelangten. Hier, auf dem Grabe des großen Heiligen, dessen Name ein Licht war in der Finsternis der Verbannung, fand Jäckele-Narr einen platten Mainzer Pfennig und einen Kupferdreier und zwei welsche Heller. Nun ging er weiter, dorthin, wo unter einem Ahornbaum der Grabstein des Rabbi Gedalja stand, des hochberühmten Arztes.
Plötzlich aber blieb Jäckele-Narr stehen und haschte nach dem Arm seines Gefährten.
»Horch!« flüsterte er. »Wir sind nicht allein. Hörst du nicht ein Huschen und Raunen?«
»Narr!« sagte Koppel-Bär, der gerade einen krummen böhmischen Groschen gefunden und zu sich gesteckt hatte. »Narr! Der Wind treibt die verwelkten Blätter über die Erd'.«
»Koppel-Bär!« flüsterte Jäckele-Narr. »Siehst du nicht dort an der Mauer ein Flimmern und ein Leuchten?«
»Wenn du ein Narr bist«, brummte Koppel-Bär, »so sauf Essig und reit auf Stecken und melk die Ziegenbock', aber mich laß zufrieden. Was du siehst, das sind die weißen Steine, die glänzen im Mondlicht.«
Da aber verschwand mit einemmal der Mond am Himmel hinter dunkeln Wolken, und nun sah Koppel-Bär, daß es nicht die weißen Steine waren, nein, dort hart an der Friedhofsmauer schwebten leuchtende Gestalten in den Lüften, Kinder in langen weißen Hemdchen, die hielten einander an den Händen und wiegten sich im Tanz über den frischen Gräbern. Und über ihnen stand, unsichtbar dem menschlichen Aug', der Engel Gottes, der als Hüter über sie bestellt war.
»Möge Gott sich meiner erbarmen!« stöhnte KoppelBär. »Jäckele-Narr! Siehst du auch, was ich seh'?«
»Gepriesen sei der Schöpfer der Welt, er allein tut Wunder«, flüsterte Jäckele-Narr. »Ich sehe Blümele, das Täubchen, die Unschuld, und die beiden Kinder meines Nachbars, die vor sieben Tagen gestorben sind, seh' ich auch.«
Und nun, da sie erkannten, daß es die andere Welt war, die sich ihren Augen offenbarte, kam das Entsetzen über sie, und sie wandten sich und liefen, sie sprangen über die Steine und stießen an die Äste, sie fielen nieder und rafften sich auf, sie liefen um ihr Leben und blieben nicht stehen, eh' sie nicht wieder draußen auf der Gasse waren
Dort erst blickte sich Jäckele-Narr nach seinem Gefährten um. »Koppel-Bär«, fragte er und die Zähne schlugen ihm aneinander, »lebst du noch und bist du da?«
»Ich lebe und lobpreise meinen Schöpfer«, kam KoppelBärs Stimme aus der Dunkelheit. »Wahrlich, die Hand des Todes ist über mir gewesen.«
Und daran, daß sie beide am Leben geblieben waren, erkannten sie den Willen Gottes, daß sie Zeugnis ablegen sollten von dem, was sie gesehen hatten.
Eine Weile noch standen sie flüsternd im Dunkeln, und dann gingen sie und suchten den verborgenen König in seinem Haus, den hohen Rabbi, der kundig war der Sprache der Toten, der die Stimmen der Tiefe hörte und die furchtbaren Zeichen Gottes zu deuten vermochte.
Er saß in seiner Kammer über das Buch der Geheimnisse gebeugt, das genannt wird Indraraba oder die große Versammlung. Verloren in die Unermeßlichkeit der Zahlen, der Zeichen und der wirkenden Mächte, hörte er die Schritte der Eintretenden nicht, und erst als sie ihn grüßten: »Friede dem heiligen Licht!«, kehrte seine Seele aus der Geisterferne zurück in die irdische Welt.
Und nun, da die Augen des hohen Rabbi auf sie gerichtet waren, begannen die beiden zu sprechen, sie riefen Gott an und priesen seine Macht, und Jäckele-Narr berichtete, atemlos und mit fliegenden Worten, wie ihn das Lispeln und Flüstern, das Flimmern und Leuchten zwischen den Holunderbäumen des Friedhofs erschreckt hatte, was er zu Koppel-Bär gesagt und welche Antwort er bekommen hatte, und daß sie dann, als der Mond sich verbarg, der Gestalten der toten Kinder gewahr geworden waren, die im Geisterreigen über den Gräbern schwebten.
Der hohe Babbi, der in den dunkeln Nächten die zweiunddreißig verborgenen Wege der Weisheit gegangen war und in magischer Verwandlung die sieben Tore des Erkennens durchschritten hatte, — der hohe Babbi verstand das Zeichen Gottes. Er wußte nun, daß in den Gassen der Judenstadt ein Sünder lebte, der in seiner Verborgenheit immer wieder von neuem frevelte, Tag um Tag. Und um dieses Sünders willen war das große Sterben über die Stadt gekommen, und um dieses Sünders willen fanden die Seelen der Kinder keinen Frieden in ihrem Grab.
Schweigend blickte der hohe Rabbi vor sich hin. Dann erhob er sich und verließ die Kammer, und als er wiederkam, hatte er in der Rechten eine Schüssel mit Grütze und zwei Fladen und in der Linken eine kleine Schale aus getriebenem Silber, in der war gewürztes Apfelmus, die süße Speise des Osterfestes.
»Greift zu und eßt«, sagte er und wies auf die Grütze und die Fladen. »Und wenn ihr euch gesättigt habt, so nehmt diese Schale mit süßer Speise und geht zurück zu den Gräbern der Kinder.«
Sie erschraken, als sie hörten, daß sie ein zweites Mal auf den Friedhof sollten. Doch der hohe Rabbi fuhr fort:
»Fürchtet euch nicht. Der, durch dessen Wort die Welt entstanden ist, hat die Macht über die Lebenden und die Toten, und sein Ratschluß allein besteht. Ihr werdet bei den Gräbern sitzen und warten, bis eines von den Kindern sich euch nähert und von der süßen Speise zu kosten begehrt, denn die Geister der Verstorbenen haben die irdische Nahrung noch nicht vergessen. Ihr aber erfaßt mit beiden Händen den Saum seines Kleides und fragt im Namen dessen, der der Ursprung ist und das Ende, um welcher Sünden willen das große Sterben über diese Stadt gekommen ist.«
Und er sprach über sie die Worte des Priestersegens. Da wich die Angst von ihnen, und sie erhoben sich und gingen, entschlossen, dem Gebot des hohen Rabbi zu gehorchen.
Sie saßen zwischen den Gräbern, an die Friedhofsmauer gelehnt, und vor ihnen stand auf der feuchten Erde die Schale mit dem gewürzten Apfelmus. Rings um sie her war Stille und tiefe Dunkelheit, kein Grashalm regte sich, kein Lichtschein kam vom wolkenbedeckten Himmel. Und während sie saßen und warteten, kam wiederum die Angst über sie, und Koppel-Bär begann mit sich selbst zu reden, denn er konnte die Stille nicht länger ertragen.
»Ich wollt', ich hätt' ein Groschenlicht«, sagte er. »Ich mag nicht hier im Dunkeln sitzen. Es sollt' heut Vollmond sein, aber ich seh' ihn nicht, da hat sicherlich ein Hahn gekräht, und der Mond ist davon. Jetzt wär' es besser, zu sitzen daheim hinter dem Ofen. Aus der Erd' kommt ein Frost, der kriecht in meinen Rock, der Frost, der ist mein Feind. Jäckele-Narr, friert dich auch, ich mein', du zitterst. Hier unter der Erd' sind viele hundert Stuben, alle wohlgebaut, die haben kein Fenster und keine Tür. Der Frost kann nicht hinein und der Hunger auch nicht, müssen beide draußen bleiben, sollen einander die Zeit vertreiben. Jung und alt, arm und reich, unter der Erd' sind alle gleich...«
Er verstummte, das letzte Wort blieb ihm in der Kehle stecken, denn vor ihnen stand, von weißem Licht umflossen, des Flickschusters Kind, Blümchen, und hielt die silberne Schale in den Händen.
»Blümchen!« sagte Jäckele-Narr mit gepreßter Stimme. »Ach, daß du gehen mußtest! Erkennst du mich? Ich bin Jäckele-Narr, und neben mir sitzt Koppel-Bär. Denkst du daran, wie du hüpftest und tanztest, wenn ich in den Gassen auf meiner Geige spielte? Und wie du lachtest, wenn Koppel-Bär auf allen vieren lief und seine Späße trieb?«
»Das alles«, sagte das Kind mit einer fremden Stimme, »das alles ist vorüber und war nur für die Zeit. Jetzt aber bin ich in der Wahrheit und in der Ewigkeit, die hat nicht Maß noch Ziel.«
Die silberne Schale glitt zur Erde nieder, und das Kind wandte sich und wollte zurück zu seinen Gefährten. Da entsann sich Jäckele-Narr des Auftrags, der ihn hierhergeführt hatte. Er hielt das Kind am Saum seines Hemdchens fest und ließ nicht los und rief:
»Im Namen dessen, der der Ursprung ist und das Ende, beschwöre ich dich: Sag und bekenne, um welcher Sünde willen das große Sterben über diese Stadt gekommen ist.«
Eine Weile hindurch war Stille, das Kind regte sich nicht und blickte in die Dunkelheit, dorthin, wo über den Gräbern, unsichtbar dem Aug' der Lebendigen, der Engel Gottes stand, der Hüter der Seelen. Dann sagte es:
»Der Engel Gottes hat gesprochen, der Diener des Herrn hat gesagt: >Es ist geschehen um der Sünde Moabs willen, die eine unter euch begangen hat. Und Er, der Ewige, hat es gesehen, und Er, der Ewige, wird euch vertilgen, wie Er vertilgt hat Moab<.«
Da ließ Jäckele-Narr den Saum des Hemdchens los. Und das Kind entschwebte, als wäre es vom Wind dahingetrieben, und sein Glanz und sein Leuchten verlor sich hinter den dunkeln Schatten der Holunderbäume.
Die beiden aber, Jäckele-Narr und Koppel-Bär, verließen den Friedhof und gingen in das Haus des hohen Rabbi und hinterbrachten ihm die Worte, die sie vernommen hatten.
Als der Morgen graute, schickte der hohe Rabbi seine Boten von Tür zu Tür. Er rief die Gemeinde in das Haus Gottes, und sie kamen in Scharen, Männer und Frauen, und niemand blieb zurück. Und als sie alle versammelt waren, stieg er die drei steinernen Stufen empor, und unter seinem Mantel trug er die weißen Sterbekleider, und über seinem Haupte rauschte die Fahne, auf der geschrieben stand:
»Der Herr Zebaoth erfüllt mit seiner Herrlichkeit die ganze Welt.«
Da nun ringsum alles still geworden war, begann der hohe Rabbi zu sprechen. Er sagte, daß unter ihnen eine sei, die dahinlebe in der Sünde des Ehebruchs, den Kindern des verfluchten Stammes gleich, den Gott vertilgt hat. Und er rief die Sünderin an, daß sie vortrete und bekenne und die Strafe auf sich nehme, die Gott, der Her, über sie verhängen wollt'.
Unter den Frauen erhob sich ein Flüstern und Raunen, sie blickten einander voll Schrecken an, aber keine von ihnen trat vor, keine wollte die Sünde Moabs begangen haben.
Zum zweitenmal erhob der hohe Rabbi seine Stimme. Er sagte und verkündete, daß um dieser verborgenen Sünde willen das große Kindersterben über die Stadt gekommen sei. Und er beschwor die Sünderin bei den heiligen Buchstaben und den zehn furchtbaren Namen Gottes, sie möge hervortreten und bekennen, damit die Not ein Ende hätte.
Aber wiederum hatte der hohe Rabbi vergeblich gesprochen. Die die Sünde begangen hatte, schwieg und wollt' sich nicht abkehren von ihrem Weg.
Da kam die finstere Wolke des Zornes über den hohen Rabbi. Er nahm die heiligen Rollen aus ihrem Schrein und sprach die Worte des großen Bannes über die Sünderin, daß sie verdorren möge wie die Felsen von Gilboa, die David verflucht hat. Daß die Erde ihr tun möge, wie sie getan hat dem Datam und dem Abirom. Daß ihre Name ausgelöscht und ihr Geschlecht verflucht sei im Namen der Funkelnden und im Namen der Flammenden und im Namen der strahlenden Lichter und das Z adekiel, der das Ohr ist und das Auge. Und daß ihre Seele hinabsteigen möge in den Schrecken und dort verbleiben bis an das Ende der Zeiten.
Dann verließ er das Haus Gottes. Und in den Gassen der Judenstadt war Angst und Jammer und Ratlosigkeit und Verzweiflung.
Als der hohe Rabbi wieder daheim in seiner Kammer saß, kam ihm ein Tag und ein Geschehnis aus den vergangen Jahren in den Sinn. Da waren zwei Metzger vor ihn hingetreten und hatten Klage geführt, sie hätten in dieser Nacht all das Ihrige verloren. Ein Dieb war in ihre Fleischbank eingedrungen und hatte mit ihrem Gut als ein Übeltäter gehaust. Soviel er konnte, hatte er von dem Fleisch mit sich fortgeschleppt, und was übrig geblieben war, das war besudelt.
Auch damals hatte der hohe Rabbi die Gemeinde zusammengerufen und den Dieb ermahnt, er möge bekennen und den Schaden gutmachen, soweit es in seinen Kräften stehe. Doch da der Dieb schwieg und im Bösen verharrte, hatte der hohe Rabbi den Bann über ihn verhängt, der ihn und sein Geschlecht ausstieß aus der Gemeinschaft der Kinder Gottes.
In der Nacht darauf aber war ein Hund vor des hohen Rabbi Haus gestanden, der hatte laut geheult und nicht aufgehört mit seinem Jammern und so furchtbar anzuhören war seine Klage gewesen, daß der hohe Rabbi den Dieb in ihm erkannte und den Bann von ihm nahm.
Wenn also die Gewalt des Bannes so groß ist, sagte sich der hohe Rabbi, daß selbst die Kreatur ihn nicht erträgt, in deren dunkle Seele kein Leuchten der Erkenntnis Gottes dringt, wie soll es möglich sein, daß diese Ehebrecherin fortlebt unter der Last des Fluches und nicht vor mich hintritt und ihre Sünde bekennt, eh' noch der Tag vorüber ist.
Aber die Stunden liefen, die Nacht kam und ging dahin, und der hohe Rabbi hatte vergeblich gewartet. Da rief er seinen schweigenden Diener, das Werk seiner Hände, der den Namen Gottes zwischen den Lippen trug, und hieß ihn, den Koppel-Bär und den Jäckele-Narr in den Gassen suchen, denn er bedurfte ihrer.
Und als sie kamen, sagte er zu ihnen:
»Wenn der Tag verweht und die Schatten fliehen, werdet ihr wiederum auf den Friedhof gehen, und du, JäckeleNarr, wirst auf deiner Geige eines von den Liedern spielen, die die Kinder an den Tagen des Laubhüttenfestes singen. Und die Geister der Verstorbenen werden dich hören, denn sie bleiben sieben Tage lang durch die irdischen Melodien mit dieser Welt verbunden. Dann kehrt ihr hierher zurück und du, Jäckele-Narr, hörst nicht auf zu spielen. Sobald ihr aber diese Kammer betreten habt, sollt ihr sie sogleich wieder verlassen, und hütet euch, zurückzublicken. Denn das, was ich zu tun begehre, ist ein Geheimnis, das den Flammenden gehört, die auch genannt sind die Throne, die Räder, die Mächte und die Scharen, und eure Augen sollen es nicht sehen.«
Sie gingen und taten nach seinem Befehl. Jäckele-Narr spielte auf seiner Geige die fröhlichen Weisen des Laubhüttenfestes, und Koppel-Bär machte seine Sprünge, und so gingen sie zwischen den Gräbern des Friedhofs und zurück durch die einsamen Gassen und hinter ihnen schwebte ein Leuchten, das stieg mit ihnen die Treppe hinauf und trat mit ihnen in die Kammer des hohen Rabbi.
Sobald sie aber die Kammer verlassen hatten, sprach der hohe Rabbi das verbotene Wort aus, das geschrieben steht im Buch der Finsternisse, das Wort, das die Erde erbeben macht und die Felsen entwurzelt, das Wort, das die Toten zurück ins Leben ruft.
Da stand das Kind vor ihm in irdischer Gestalt und war von Fleisch und Blut, und sein Leuchten war erloschen. Und es warf sich zur Erde nieder und weinte und bat und klagte und wollte zurück in den Garten der Toten.
»Ich lasse dich nicht zurück in die Wahrheit und in die Ewigkeit«, sagte der hohe Rabbi, »und du mußt von neuem beginnen das irdische Leben, es sei denn, daß du mir Antwort gibst auf meine Frage. Im Namen dessen, der der Einzige ist und der Alleinige, im Namen dessen, der war und der sein wird, beschwöre ich dich: Sprich und bekenne, wer jene Sünde begangen hat, um derentwillen das große Sterben über die Stadt gekommen ist.«
Das Kind senkte den Blick zur Erde und schüttelte den Kopf.
»Wer jene Sünde begangen hat«, sagte es, »um derentwillen uns Gott zu sich rief, das weiß ich nicht und auch der Diener des Herrn weiß es nicht, der über uns gesetzt ist. Das weiß nächst Gott nur einer und der bist du.«
Da kam ein Stöhnen aus der Brust des hohen Rabbi. Und er sprach das Wort, das den Zauber löste, und das Kind floh zurück in die Heimat der Seelen.
Der hohe Babbi aber verließ sein Haus und ging einsam durch die nächtlichen Gassen des Ghettos hinab zum Fluß und dem Ufer entlang, an den Fischerhütten vorüber, bis er zur steinernen Brücke kam.
Dort unter der steinernen Brücke stand ein Bosenstrauch, der trug eine rote Rose, und an seiner Seite wuchs ein Rosmarin aus der Erde, und sie hielten einander so eng umschlungen, daß die Blätter der Rose die weiße Blüte des Rosmarins berührten.
Der hohe Rabbi bückte sich und grub den Rosmarin aus der Erde. Dann nahm er den Bann von dem Haupte des Weibes, das die Ehe gebrochen hatte.
Schwarze Wolken jagten über den Himmel, das bleiche Licht des Mondes hing an den Pfeilern und Bogen der steinernen Brücke. Der hohe Rabbi trat an das Ufer und warf den Rosmarin hinab in den Fluß, daß er dahintrieb mit den Wellen und in den rauschenden Tiefen versank. In dieser Nacht erlosch die Pest in den Gassen der Judenstadt.
In dieser Nacht starb in ihrem Haus auf dem Dreibrunnenplatz die schöne Esther, die Frau des Juden Meisl.
In dieser Nacht fuhr auf seiner Burg zu Prag der Kaiser des Römischen Reiches, Rudolf II., mit einem Schrei aus seinem Traum.
Des Kaisers Tisch
An einem Frühsommertag des Jahres 1598 gingen zwei junge böhmische Herren von Adel Arm in Arm durch die Gassen der Prager Altstadt. Der eine war Herr Peter Zaruba von Zdar, Student der Rechte an der Universität Prag, ein unruhiger und unternehmender Geist, der Pläne schmiedete, wie man der utraquistischen Kirche zu ihren Rechten verhelfen, die landesherrliche Gewalt des Kaisers mindern und die der Stände mehren und wie man vielleicht sogar einen König böhmischer Nation und reformierten Glaubensbekenntnisses erlangen könnte. Solchen Gedanken hing der Peter Zaruba nach. Der andere, ein wenig älter an Jahren, hieß Georg Kaplir von Sulavice und saß im Rerauner Kreis auf seinem Gut. Er befaßte sich nicht viel mit Politik und Glaubenssachen, seine Gedanken kreisten um das Schmalz, das Federvieh, die Butter und die Eier, die er dem Obersthofmeisteramt für die kaiserliche Küche geliefert hatte, und um die Juden, denen er die Schuld an den schlechten Zeiten beimaß. Er war nach Prag gekommen, um nach seinem Geld zu sehen, denn das Obersthofmeisteramt war seit vielen Monaten mit der Begleichung der Rechnungen im Rückstand. Er und der Peter Zaruba waren ein Jahr zuvor in Verwandtschaft zueinander getreten, — einer von den Kaplirs hatte eine Zaruba zur Frau genommen.
Sie waren in der Heiligen-Geist-Kirche gewesen, und der Georg Kaplir hatte sich gewundert, daß sie auf ihrem Weg so vielen Juden begegnet waren. Der Peter Zaruba hatte ihm erklärt, die Juden seien hier bei sich zu Hause, denn diese Kirche sei auf allen vier Seiten von Judengassen und Judenhäusern umgeben. Der Kaplir sagte, das sei eine Schande, daß man nicht zur Andacht in die Kirche gehen könne, ohne auf die breiten Judenbärte zu stoßen, und der Peter Zaruba meinte, die Juden könnten Bärte so breit wie die Zuber tragen, ihm sei's gleich.
Für einen, der wie der Georg Kaplir seine Tage im Berauner Kreis verbrachte, gab es in der Prager Altstadt vielerlei zu sehen. Der spanische Gesandte fuhr in seinem Galawagen, von Hartschierern und Hellebardieren geleitet, zum erzbischöflichen Palais. Im Wacholdergäßlein sprach ein närrischer Bettler die Vorübergehenden mit den Worten um ein Almosen an, er nehme alles: Dukaten, Dublonen, Rosenobels und Portugalöser, nichts sei ihm zu gering. In der Teinkirche wurde unter großem Gepränge die Taufe eines Mohren, der zur Dienerschaft des Grafen Kinsky gehörte, vollzogen, und der hohe Adel Böhmens drängte sich zu diesem Schauspiel. Die Buchdrucker und die Zeltmacher, die beide an diesem Tage ihr Innungsfest hatten, begegneten einander in der Plattnergasse mit ihren Fahnen und gerieten in Streit, weil keiner der beiden Züge dem anderen den Weg freigeben wollte. Auf dem Johannesplatz hielt ein Kapuzinermönch eine Ansprache an die Moldaufischer, in der er sagte, er sei auch ein Fischer, das Miserere sei seine lange Rute, an der hänge das Paternoster als eine goldene Angel, und das de profundis, der Toten liebste Speise, sei der Köder, und damit zöge er die armen Seelen wie Karpfen oder Weißfische aus dem Fegefeuer. Und vor einer Schenke auf dem Kreuzherrnplatz waren zwei Schlächtermeister aneinander geraten, weil der eine das Pfund Schweinefleisch um einen Heller billiger hergab als der andere.
Für all dies hatte aber der Georg Kaplir von Sulavice weder Aug' noch Ohr, er sah nur die Juden, denen er auf seinem Weg begegnete. Auf dem Altstädter Ring stand einer im Halseisen am Pranger, weil er sich, wie auf einem an seiner Brust befestigten Zettel zu lesen war, wiederholtermaßen und gröbliche gegen die Marktordnung vergangen hatte. Und der Georg Kaplir ließ es sich nicht nehmen, diesem Juden ins Gesicht zu sagen, was er von ihm dachte. Er sprach ihn dabei mit Moises und mit Eisig an, denn so hießen die beiden Berauner Juden, die er kannte.
»He, du Moises oder Eisig!« rief er. »Hast du heute deinen Büß- und Wehetag? Wenn heute dein Messias kam' und dich da stehen sah', der hätte wenig Freud' an dir.«
Da er keine Antwort erhielt und auch keine erwartete, ging er weiter. Auf dem Kleinen Ring holte er den Peter Zaruba ein.
Hinter der Moldaubrücke, wo die Insel lag, gerieten sie in einen ganzen Trupp von Juden, die unter scharfer Bewachung, daß keiner echapieren könnt', in die Kirche »Maria an der Lake« geführt wurden. Dort sollten sie die Judenpredigt anhören, die ein Jesuitenpater in hebräischer Sprache hielt, um sie für die Taufe zu gewinnen. Sie gingen wie Trunkene, denn sie hatten, um die Predigt nicht anhören zu müssen, zu einem alten und erprobten Mittel gegriffen: Zwei Tage und zwei Nächte hatten sie durchwacht, und nun waren sie in einem solchen Zustand der Erschöpfung, daß sie in Schlaf fallen mußten, sobald sie sich in der Kirche zum Sitzen niederließen.
»Juden hier, Juden dort, Juden drüben, Juden herüben, überall Juden«, erzürnte sich der Kaplir. »Sie haben sich dermaßen vermehrt, daß ihrer bald mehr sein werden als Christen im Land.«
»Das steht in der Allmacht Gottes«, sagte der Zaruba, den es zu verdrießen begann, daß sein neuer Verwandter von nichts anderem zu reden wußte, als von seinem Schmalz, seinen Eiern und von den Juden.
»Ich sehe«, fuhr dieser fort, »in ihrer Menge und in ihrem Reichtum nur ein trauriges Zeichen, daß Gott wider uns Christen erzürnt ist.«
Der Zaruba ging auf diesen Gedanken ein und spann ihn weiter.
»Vielleicht«, meinte er, »hat sie uns Gott, da sie doch Unbekehrte sind, als einen Spiegel der Besserung und zu unserer Erleuchtung vor Augen gesetzt.«
»Ach, geh du mit deiner Erleuchtung, daß ich dich nicht auslach'!« schrie der Kaplir halb belustigt und halb erzürnt. »Sie kommen bei uns auf die adeligen Höfe, aber nicht wegen der Erleuchtung, sondern sie kaufen das Schmalz, die Butter, den Käse, die Eier, die Leinwand, die Schafwolle, die Häute und das Groß- und Kleinvieh. Sie zahlen bar, das ist wahr, für den Stein Wolle legt der Jude dir vier Gulden auf den Tisch. Und wenn sie nicht bar zahlen, so geben sie Sicherheiten und gute Bürgschaft. Und dann bringen sie dem Gutsherren die Schnüre und die Litzen für die Livreen der Dienerschaft ins Haus, Zimt, Ingwer, Nägelein und eingemachte Muskatnüsse für die herrschaftliche Küche, und Seidenfransen, Flor und Schleier für die Frau und die Töchter.«
»Du siehst also selbst«, sagte der Peter Zaruba, »und gibst es zu, daß durch die Juden die Kommerzien florieren.«
»Mein Vater hochseligen Gedächtnisses«, sprach Georg Kaplir weiter, »hat mich aber unterwiesen, daß man den Juden nichts verkaufen soll. Jeder zu den Seinen, hat er immer gesagt, der Jud' soll mit Juden Handelschaft treiben und der Christ mit Christen. Und so hab' ich es auch mein Leben lang gehalten. Wenn nur die oben in der Burg nicht gar so säumige Zahler wären! Sag mir, Peter, wohin geht das viele Geld? Wohin gehen die Zollgefälle, die Landeskontributionen, die Kreissteuer, die Haussteuer, die Kopfsteuer, die Akzisen, der Kammerzins, die Umlagen, die Bierkreuzer, die Mautgebühren —, wohin läuft des Kaisers Geld?«
Sie waren auf dem Platz vor der Burg angelangt, da war ein großes Kommen und Gehen von Lakaien, Kanzlisten, Kurieren, Stallknechten, Standespersonen, hohem und niederem Klerus und Offizieren zu Pferd und zu Fuß. Armbrustschützen von des Kaisers Leibgarde hielten die Wache am Tor.
»Da mußt du den Philipp Lang fragen«, sagte der Zaruba und wies mit der Hand auf die hohen Fenster der Burg. »Der ist des Kaisers Leib- und Kammerdiener, und es heißt, daß er seine Hände in allen Staatsgeschäften hat. Vielleicht weiß der, wohin des Kaisers Geld geht.«
Der Georg Kaplir war stehengeblieben.
»Hör mich, Peter!« schlug er seinem Anverwandten vor. »Hätt'st du nicht Lust, mit dabei zu sein, wenn ich mein
Geschäft dort oben erledige? Ich werd' dich dem Johann Osterstock präsentieren, zweitem Sekretär im Obersthofmeisteramt, der ist's, der mir mein Geld auszahlt, wenn der erste Sekretär die Rechnung durchgesehen und für richtig befunden hat. Ein freundlicher Herr, der Johann Osterstock, von meinem Vater im zweiten Glied ein Vetter, spricht auch immer von unserer Verwandtschaft, und das Ende wird sein, daß er uns beide, dich und mich, zu einer Collation an des Kaisers Tisch lädt.«
»An des Kaisers Tisch?« unterbrach ihn der Peter Zaruba. »Mich an des Kaisers Tisch?«
»Ja, dich auch, Peter, wenn du mit mir kommst«, erklärte ihm der Kaplir. »Wie man so sagt, an des Kaisers Tisch. Wir werden mit den Herren Offizieren von der Leibwache speisen. Diese Ehre hat mir der Johann Osterstock immer erwiesen.«
»Hör mich an, Georg!« sagte der Peter Zaruba nach einem kurzen Schweigen. »Wie lang ist es jetzt her, daß die Anna Zaruba mit deinem Bruder Heinrich zusammengegeben worden ist?«
»Am Freitag nach Invocavit war's ein Jahr«, gab der Kaplir verwundert zur Antwort. »In der Chrudimer Kirche.«
»Und in dieser Zeit hat sie euch nie gesagt, daß kein Zaruba von Zdar von des Kaisers Tisch ißt, noch je gegessen hat?« fuhr ihn der Peter Zaruba an. »Und sie hat euch nie von der Prophezeiung des Johannes Zischka erzählt?«
Der Georg Kaplir zuckte die Achseln.
»Vielleicht hat sie's dem Heinrich erzählt, das mag sein, mir hat sie's nicht erzählt«, sagte er. »Du siehst drein, als wäre dir damit, daß ich's nicht weiß, irgendein Unrecht angetan worden. Was ist das also für eine Prophezeiung?«
»Das war, als der Johannes Zischka im Sterben lag«, berichtete der Peter Zaruba, »im Pfibislauer Lager, wenn du dich erinnerst. Da ließ er seine Feldhauptleute kommen, und einen von ihnen, den Lischek Zaruba von Zdar, meinen Urahn, den rief er ganz nahe zu sich heran und sagte: >Ja, du bist der Zaruba, du bist der Lischek, ich erkenne dich an deinem Schritte Und weiter sagte er: >Ich hab' mein Werk nicht zu Ende gebracht, mir war's versagt, aber einer aus deinem Geschlecht, ein Zaruba von Zdar, der wird nicht ein Fuchs sein wie du, sondern ein Löwe, er wird's zu Ende bringen, er wird die heilige böhmische Freiheit wieder aufrichten, aber merk dir das eine, Lischek, merk es dir: Er soll nicht von des Kaisers Tisch essen, sonst ist's verspielt, dann ist er der Rechte nicht, und Blut und Jammer kommen über das Böhmerland. <«
»Und dann drehte er sich um und starb?« erkundigte sich der Kaplir.
»Ja, dann starb er«, bestätigte der Zaruba.
»Das tun sie nämlich immer, wenn sie ihre prophetischen Worte losgelassen haben«, meinte der Kaplir. »Aber sieh her, Peter, jede Familie hierzulande hat solche Historien. Was hat mir meine Großmutter nicht alles von den Kaplirs erzählt, wie einer den König Wenzel den Faulen unter den Tisch getrunken hat, drei Tage und zwei Nächte haben sie miteinander auf dem Wyschehrad gesoffen, die Helden, und ein anderer Kaplir hat den letzten böhmischen Drachen umgebracht, das Tierchen soll irgendwo in der Saazer Gegend gelebt haben, wo jetzt der Hopfen steht. Aber nimm schon an, daß die Geschichte heiligwahr ist — wahr wie das Evangelium —, wer sagt dir denn, daß der Zischka solch ein großer Prophet war? Ein Kriegs- und Freiheitsheld war er, das bestreit' ich nicht, aber daß er auch ein Prophet gewesen ist, davon hab' ich nichts gehört.«
»Vergiß nicht, der Zischka war blind, hat im Krieg erst das eine, dann das andere Auge verloren«, erklärte ihm der Zaruba. »Bisweilen verleiht Gott den Blinden prophetische Gaben, läßt sie mit dem geistigen Aug' in die Zukunft sehen. Und ich glaub' an Zischkas Prophezeiung, wie mein Vater und mein Großvater an sie geglaubt haben, ich glaub' daran, daß ein Zaruba unsere alte böhmische Freiheit wiederaufrichten wird, und vielleicht... Kurzum, ich esse nicht von des Kaisers Tisch.«
»Halt es damit, wie du willst«, sagte der Georg Kaplir. »Ich hab' ja nicht die böhmische Freiheit zu retten, ich halt's anders. Wo man mir aufspielt, dort tanz' ich, und wo man mir aufträgt, dort greif ich zu. Also mit Gott, Peter, du triffst mich heut abend in meiner Herberge.«
Und damit ging er.
Der Peter Zaruba war jetzt in einer recht verdrießlichen Laune. Er hatte damit gerechnet, daß ihn der reiche Georg Kaplir zum Mittagessen in seinen Gasthof bitten werden, weil das doch unter Verwandten so üblich war. Damit war es nun nichts. Er und zwei seiner Kommilitonen führten gemeinsamen Haushalt, eine Frau aus der Nachbarschaft besorgte ihnen die Küche. Es ging nicht gar hoch bei ihnen her. Wenn er jetzt nach Hause kam, erwartete ihn gehacktes Lungenfleisch in brauner Sauce und Küchlein oder Fladen, die mit Pflaumenmus bestrichen und mit Weißkäse bestreut waren. Aber dieser beiden groben Gerichte war er herzlich überdrüssig, er bekam sie mit ermüdender Regelmäßigkeit jede Woche am gleichen Tage vorgesetzt.
Wie er nun zur Moldaubrücke hinunterging, kam er an einem Wirtshausgarten vorbei, und der Wirt stand am Eingangspförtchen und dienerte und lachte ihn an. Der Peter Zaruba war ein sparsamer Mann und trug sein Geld nicht gern den Wirten zu. Doch dieser da sah so freundlich und vertrauenerweckend aus, als hätte er nur das Wohl seiner Gäste im Sinn, und der Zaruba dachte, den Kopf könnt's nicht kosten, und so blieb er stehen und fragte, was er zu essen haben könnt'.
»Ich weiß noch nicht, was mein französischer und mein italienischer Küchenmeister heute zuwege gebracht haben«, gab der Wirt zur Antwort. »Aber das eine kann ich dem Herrn schon jetzt sagen: Es wird vier Haupt- und acht kleine Schüsseln geben und dazu noch ein letztes Gericht, das als Überraschung aufgetischt wird. Und für das alles wird der Herr drei böhmische Groschen zu bezahlen haben. Aber soweit ist es noch nicht. Eine halbe Stunde wird sich der Herr bis zum Essen noch gedulden müssen.«
Der böhmische Groschen war kein geringes Geld, sondern eine breite und gewichtige Silbermünze. Aber für solch eine Mahlzeit mit vier Haupt- und acht Nebenschüsseln und einer Überraschung noch hinterher waren drei Groschen nicht viel, und so trat der Peter Zaruba in den Garten und nahm an einem der schon gedeckten Tische Platz.
Es waren noch acht oder neun andere Gäste im Garten, die schienen einander alle zu kennen, sprachen von Tisch zu Tisch miteinander, und keiner von ihnen bezeigte Ungeduld darüber, daß das Essen so ungebührlich lange auf sich warten ließ. Denn es war fast eine Stunde vergangen, als endlich der Wirt an den Tisch des Peter Zaruba trat und sich die Ehre ausbat, dem hochedelgeborenen Herrn in eigner Person aufwarten zu dürfen. Zugleich stellte er die erste von den verheißenen zwölf Schüsseln auf den Tisch und sagte:
»Der Herr lasse es sich wohl bekommen. Eine feine Wildsuppe oder potage chasseur.«
Nach der Suppe trug er zweierlei Eierkuchen auf. Der eine war nach Bauernart, der andere mit Schnittlauch und Kerbelkraut zubereitet. Dann kamen zwei weitere Vorgerichte: Karpfenmilch mit Trüffeln und ein Chaudfroid aus gehacktem Hühnerfleisch.
Nach einer kleinen Pause erschien, feierlich vom Wirt serviert, das erste von den vier Hauptgerichten: Gespickter und gefüllter Hecht. Dann gab es Nierenschnitten am Spies gebraten, Spargel in Fleischbrühensauce, junge Zuckererbsen und eine kalte Schüssel: Kalbszünglein und gefüllten Schweinsfuß.
Der Peter Zaruba dachte mit ein wenig Mitleid an seine beiden Kommilitonen, die sich heute an gehacktem Lungenfleisch und Pflaumenmusfladen sattessen mußten. Er bedauerte es auch nicht mehr, daß ihn der Kaplir nicht in seinen Gasthof geladen hatte, denn so gut wie hier hätte er es dort nicht getroffen. Von dem Fasanenmischgericht, das der Wirt ihm jetzt anbot, kostete er nur. Dann kam die angekündigte Uberraschungsschüssel: Wachteln auf gerösteten und mit Ochsenmark bestrichenen Brotschnitten. Zum Schluß gab es noch Marzipankügelchen mit Zuckerguß, welsche Trauben und scharfen ungarischen Büffelkäse.
Der Peter Zaruba war jetzt ein wenig müde und schläfrig geworden. Er saß und träumte vor sich hin, so, dachte er, speist vielleicht der Abt des Strahover Klosters an den hohen Festtagen. Aber trotz der Schlafsucht, die über ihn gekommen war, gewahrte er den Georg Kaplir, der mit zornrotem Gesicht die Gasse herunterkam und im Gehen mit sich selber sprach und gestikulierte.
Er rief ihn an.
»He, Georg! Komm herein, Georg! Hier bin ich.«
Der Georg Kaplir blieb stehen und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Dann kam er in den Garten. Er nickte dem Zaruba zu und stützte sich mit der Hand auf die Tischplatte.
»Hast du hier auf micht gewartet, Peter?« fragte er. »Das ist gut, daß ich einen habe, mit dem ich reden kann. Peter, ich habe soviel Arger mit denen oben gehabt, nicht eine Unze mehr hätt' ich davon ertragen können.«
»Was für Ärger?« fragte der Peter Zaruba mit einem leichten Gähnen.
Der Georg Kaplir ließ sich ächzend in einen Stuhl fallen.
»Mit dem Osterstock«, berichtete er. »Er sagte, er könnt' mir nichts bezahlen, er hätt's nicht. Redete des langen und breiten, wie schwer sie's in der Burg hätten mit dem Geld und ich sollt' doch um der nahen Verwandtschaft willen Geduld mit ihm haben und ein andermal kommen.«
»Seid ihr denn so nahe Verwandte, du und der Osterstock?« fragte der Zaruba verschlafen.
»Verwandte?« rief der Kaplir entrüstet. »Meines Großvaters Hahn hat vielleicht einmal in seiner Mutter Hühnerhof hineingekräht, das ist unsere Verwandtschaft. Und dann hat er mich zum ersten Sekretär geführt, und das ganze Hin und Her >Wir haben's nicht und woher nehmen!« hat wieder von vorn begonnen. Und der Herr Sekretär hat mir gezeigt, wie man auf allen Seiten vom Kaiser Geld begehrt, hat mich ein ganzes Konvolut von Bittgesuchen und Beschwerdebriefen sehen lassen —, Himmel, da geht es zu! Ja, Peter, wohin läuft des Kaisers Geld? Der Herr von Kollonitsch, Kriegsoberster in Ungarn, braucht's, um die Grenzhäuser instand zu setzen. Der Kommandant der Festung Baab klagt über Mangel an Vorräten, muß befriedigt werden. Der Vizedom von Linz verlangt Geld für Ihro Majestät Bausachen, soll warten. Die drei Tigerkatzen, die im vorigen Jahr aus Florenz in des Kaisers Tiergarten eingetroffen sind, sind bis heute nicht bezahlt. Graf Wolf von Degenfeld will für vierzigjährige Dienste durch ein kaiserliches Gnadengeschenk erfreut sein, soll warten. Die Hartschierer in der Burg haben ihre Löhnung noch nicht empfangen, beginnen störrisch und obstinat zu werden ...«
»Man sagt aber«, sprach ein Mann, der am Nachbartisch saß, den Kaplir an, »daß der Olmützer Bischof dem Obersthofmeisteramt vor drei Tagen achthundert Dukaten für die kaiserliche Tafel vorgestreckt hätt', davon müßt' doch noch etwas vorhanden sein.«
»Man sagt! Man sagt!« äffte ihn der Kaplir nach, denn er liebte es nicht, wenn sich fremde Leute in sein und seiner Freunde Gespräch einmengten. »Ich geb' nichts drauf, was fremde Leut' daherreden. Ein Tauber hat gehört, wie ein Stummer erzählt hat, daß ein Blinder gesehen hat, wie der Lahme auf dem Seil tanzte.«
Er streifte den Mann am Nebentisch mit einem geringschätzigen Blick und fuhr dann, zum Zaruba gewendet, fort:
»Wie ich ihnen dann immer wieder sagte: Kein Geld, kein Schmalz, und mir wolle man meine Zahlungen auch nicht stunden, da fragte mich der Herr Sekretär, ob ich mich für diesmal mit zwanzig Gulden zufrieden geben wolle, und schrieb mir eine Anweisung aus, mit der soll ich... «
Er hielt inne, schüttelte den Kopf, fuhr sich über die Stirne und sagte dann:
»Was ist doch das Leben für eine Pulcinell-Komödie!«
»Wohin sollst du mit deiner Anweisung?« fragte der Zaruba.
»Halt dich fest, Peter, daß du nicht vom Tisch fällst!« sagte der Kaplir. »Zum Meisl-Juden ins Haus auf dem Dreibrunnenplatz soll ich gehen, der wird mir mein Geld auszahlen. Ich, der Georg Kaplir auf Sulavice, soll zum Juden in die Judengasse! Ist das zu glauben?«
Er zog die Anweisung aus der Tasche, sah sie durch, faltete sie zusammen und steckte sie wieder ein.
»Zuletzt«, berichtete er, »hat mich dann der Johann Osterstock an die Offizierstafel gesetzt, aber mir hat der rechte Appetit gefehlt, ich hab' dem Essen wenig Ehre erwiesen. Von der Suppe hab' ich ein paar Löffel genommen, eine Wildsuppe war es ...«
»Eine Wildsuppe hab' ich auch gehabt«, fiel ihm der Peter Zaruba ins Wort. »Und nachher Eierkuchen, ein Chaudfroid von Hühnerfleisch und noch ein zweites Vorgericht ...«
»So?« sagte der Kaplir in gedehntem Ton. »Das hast du gehabt? Und was noch weiter?«
»Gespickten Fisch und weiß Gott, was noch alles«, sagte, gegen ein Gähnen ankämpfend, der Zaruba. »Zwölf Schüsseln, es war zuviel.«
»Auch ein Fasanenragout?« wollte der Kaplir wissen, »auch Wachteln auf geröstetem Brot?«
»Ja«, bestätigte der Zaruba. »Woher weißt du das?«
»Und zum Schluß Marzipan, Trauben und ungarischen Käse?«
»Ja. Woher weißt du das?«
Der Kaplir lehnte sich in seinen Stuhl zurück und rief den Wirt herbei.
»Wie geht das zu«, fragte er ihn, »daß du deinen Gästen heute die gleichen Schüsseln gereicht hast, die man mir oben auf der Burg vorgesetzt hat?«
»Bei mir geht es ganz ordentlich zu«, erwiderte der Wirt. »Jedermann darf wissen, wie es zugeht. Es wird viel gesotten und gebraten in der kaiserlichen Küche, aber verzehrt wird dort oben nicht gar viel, und was übrig bleibt, das verkaufen die Tafelaufwärter den Wirten in der Umgebung, und da hab' ich auch meinen Teil. Aber nur an Werktagen, denn an Sonntagen, da kommen die kleinen Leute, die wollen nicht drei böhmische Groschen fürs Essen zahlen.«
Der Peter Zaruba war bleich geworden. Der Schlaf war ihm vergangen.
»Georg!« stieß er hervor. »Ich hab' von des Kaisers Tisch gegessen.«
»Wahrhaftig, ja!« lachte der Kaplir. »Nun -? Ist nicht das Leben eine Pulcinell-Komödie?«
Aber dem Peter Zaruba war es, als ob ihm ein Mühlstein auf der Brust läge.
»Ich hab' von des Kaisers Tisch gegessen«, flüsterter er. »Was wird aus dir, evangelische Freiheit? Mein goldenes Böhmerland, was wird aus dir?«
»Er hat gedacht«, sagte mein Hauslehrer, der stud. med. Jakob Meisl, der mir fünfzehnjährigem Jungen auf seiner »Bude« in der Zigeunergasse die Geschichte vom Peter Zaruba und dem Tisch des Kaisers erzählt hatte, »er hat, wie er in den Wirtshausgarten ging, der Peter Zaruba, gedacht, den Kopf kann's nicht kosten, - es hat ihn aber doch den Kopf gekostet, denn er ist nach der Schlacht am Weißen Berg mit vierundzwanzig anderen Herren vom böhmischen Adel auf dem Altstädter Ringplatz hingerichtet worden. Und da kannst du wieder sehen, wie die Geschichtsprofessoren am Gymnasium und die Herren, die die Geschichtsbücher für die Schulen verfassen, wie die alle zusammen nichts wissen und nichts verstehen. Sie werden dir erzählen und haargenau beweisen, daß die böhmischen Aufständischen die Schlacht am Weißen Berge verloren haben, weil auf der anderen Seite der Tilly kommandierte und weil ihr Feldherr, der Graf von Mansfeld, in Pilsen geblieben war, oder weil sie ihre Artillerie nicht richtig postiert hatten und weil ihre ungarischen Hilfstruppen sie im Stiche ließen. Das ist alles Unsinn. Die böhmischen Aufständischen haben die Schlacht auf dem Weißen Berg verloren, weil der Peter Zaruba damals im Wirtshausgarten nicht den Verstand gehabt hat, den Wirt zu fragen: >Wie kannst du zwölf solche Portionen für drei böhmische Grosehen geben, das ist doch, Mensch, eine volkswirtschaftliche Unmöglichkeit! < Und so hat also Böhmen seine Freiheit verloren und ist österreichisch geworden, und wir haben jetzt das k.u.k. Tabakmonopol und die k.u.k. Militärschwimmschule und den Kaiser Franz Joseph und die Hochverratsprozesse, weil der Peter Zaruba von den böhmischen Dalken und Golatschen, die ihm seine Hauswirtin gemacht hat, schon genug gehabt hat, sie waren ihm nicht fein genug, und weil er also von des Kaisers Tisch gegessen hat.«
Das Gespräch der Hunde
An einem Wintertage des Jahres 1609, einem Sabbat, wurde der Jude Berl Landfahrer aus der Stube, die er in einem Hause des Ufergäßleins in der Prager Judenstadt innehatte, herausgeholt und in das Altstädter Gefängnis abgeführt, das die Prager Juden in Erinnerung an die Zwingburgen Ägyptens »Pithon« oder auch »Ramses« nannten. Er sollte am nächsten Morgen auf dem Schindanger zwischen zwei Straßenhunden gehängt und auf diese Art vom Leben zum Tode befördert werden.
Dieser Berl Landfahrer war sein ganzes Leben lang vom Unglück verfolgt. Von Jugend aufwar ihm alles mißraten. Er hatte es mit vielen Berufen versucht und war dabei mit aller Mühe und Plage so arm geblieben, daß er am Sabbat und an Wochentagen den gleichen Rock trug, und andere haben doch für jeden Halbfeiertag einen anderen Rock. Zuletzt hatte er in den Dörfern der Umgebung die Häute des geschlagenen Viehs, die ihm die christlichen Fleischhauer übrigließen, gekauft, aber das geschah zu einer Zeit, in der sich die Bauern in den Kopf gesetzt hatten, zwölf Kreuzer für eine Haut zu verlangen, die nicht achte wert war. Wenn der Berl Landfahrer, sagten seine Nachbarn in der Ufergasse, beginnt, mit Kerzen zu handeln, so geht die Sonne gewiß nicht mehr unter. Wenn es Dukaten regnet, sagten sie, sitzt er in der Stube, aber wenn Steine vom Himmel fallen, da ist er auf der Gass'. Es gibt keinen Knüppel, über den er nicht stolpert, und wenn er Brot hat, so fehlt ihm das Messer, und hat er beides, so findet er kein Salz.
Daß er am heiligen Sabbat, aus der Festesfreude heraus, verhaftet und hinweggeführt worden war, das gehörte auch zu seinem Unglück. Dabei konnte man nicht sagen, daß er in dieser Sache völlig unschuldig war, denn das wahre Mißgeschick kommt ja nicht von Gott. Er hatte von einem Soldaten einen mit Zobelpelz verbrämten Mantel und ein Samtgewand mit hängenden Armein zu einem, wie er selbst zugab, ungewöhnlich billigen Preis gekauft. Er wußte nicht, daß der Herr Oberst Strassoldo, Kommandant der in der Altstadt liegenden kaiserlichen Truppen, der vom Kaiser der unruhigen Zeiten wegen große Vollmachten erhalten hatte, zwei Tage zuvor mit Androhung des Galgens ein Verbot erlassen hatte, irgend etwas von Soldaten zu kaufen, wenn diese nicht eine Bescheinigung ihres Hauptmannes vorweisen konnten, daß ihnen der Verkauf erlaubt sei. Es waren nämlich in der Altstadt von unbekannten Soldaten Einbrüche verübt und aus adeligen Häusern kostbare Stoffe, Vorhänge und Kleider entwendet worden. Das Verbot war dem Brauche gemäß in allen Gotteshäusern der Judenstadt, in der Alt- und in der Neuschul, in der Pinchas-, der Klaus-, der Zigeuner-, der Meisl-, der hohen und der Altneuschul, ausgerufen worden, aber just an diesem Tage war Berl Landfahrer daheim in seiner Stube so tief in die geheimen Lehren des Buches »Raja Mehemna« oder »Der getreue Hirte« versenkt gewesen, daß er darüber den »Schulgang« versäumt hatte. Wohl hatte er den Zobelmantel und den Samtrock dem Vorsteher der Judengemeinde übergeben, sobald er erfahren hatte, daß ihm Diebsgut in die Hände geraten war. Aber es war zu spät. Der Kommandant der Altstädter Truppen war ergrimmt darüber, daß sein Verbot mißachtet worden war, und wollte nicht mit sich reden lassen. Und so sollte der Berl Landfahrer am nächsten Morgen als warnendes Exempel zwischen zwei Hunden am Galgen hängen.
Die Judenältesten und die Judenräte taten alles, was sie vermochten, um dieses Los von ihm abzuwenden, sie liefen hierhin und dorthin, sie baten, sie versprachen, — es war alles vergeblich. Es schien, als hätten sich die Mächte des Schicksals gegen den Berl Landfahrer verschworen. Eine Audienz beim Kaiser in der Burg war auch durch die Gunst seines Ofenheizers nicht zu erlangen, — der Kaiser lag mit Fieber zu Bett, und im Kapuzinerkloster auf dem Hradschin beteten neun Mönche Tag und Nacht für seine Genesung. Die Ehefrau des Herrn Czernin von Chudenitz war mit dem Strassoldo verschwägert, aber sie befand sich auf ihrem Gut Neudeck, drei Tagesreisen weit von Prag. Der Prior des Kreuzherrenklosters, der den Juden wohlgesinnt war und sich oft für sie verwendet hatte, war auf dem Weg nach Rom. Und der hohe Rabbi, das Haupt und die Leuchte der Verbannung, auf dessen Wort auch die Christen gehört hatten, war schon lange in der andern Welt.
Die beiden Straßenhunde hatten nichts verbrochen. Nur um die Schmach des Juden zu vergrößern, sollten sie mit ihm zugleich den Tod erleiden. Sie hatten niemanden, der für sie sprach.
Der eine von ihnen war schon in der Gefängniszelle, als der Schließer den Berl Landfahrer hineinführte. Es war ein großer, bis auf die Knochen abgemagerter, armseliger Bauernköter mit struppigem rotbraunem Fell und großen, schönen Augen. Er mochte seinen Herrn verloren haben oder ihm entlaufen sein, denn schon seit einigen Tagen hatte er sich hungernd in den Gassen der Altstadt umhergetrieben. Jetzt nagte er an einem Knochen, den ihm der Schließer hingeworfen hatte. Er hob, als der Schließer mit dem Berl Landfahrer in die Zelle trat, den Kopf und knurrte sie an.
Der Berl Landfahrer besah sich seinen Schicksalsgenossen mit Besorgnis. Den großen Hunden traute er nicht, sie waren auf den Bauernhöfen seine schlimmsten Feinde gewesen, hatten ihm die Häute, die er hinwegführte, immer mißgönnt.
»Beißt er?« fragte er.
»Nein«, sagte der Schließer. »Tu du ihm nichts, so wird er dir nichts tun. Vertrag dich mit ihm, denn ihr müßt morgen miteinander in das Tal Hinnom fahren.«
Und er ließ den Berl mit dem Hund allein und schloß die Türe hinter sich zu.
Das Tal Hinnom, — so heißt die Hölle in der Redeweise der Juden. Der Schließer kannte die Sprache der Juden, er hatte ihrer genug bei sich beherbergt.
»Ins Tal Hinnom!« murmelte der Berl Landfahrer mit einem Erschauern. »Was weiß denn der, wohin ich gehe! Kennt er mich denn? Aus Bosheit hat er es gesagt, er hat solchen Blick, wenn er ins Wasser schaut, sterben die Fische. Ins Tal Hinnon! Ewiger und gerechter Gott, — nicht daß ich Dir es vorhalte, aber Du weißt es, Du hast es gesehen, wie ich mein Leben mit Lernen, Beten und Fasten verbrachte und wie ich mein Stücklein Brot in Ehren gesucht habe.«
Er seufzte und blickte durch das vergitterte Fenster zum Himmel hinauf.
»Drei Sterne seh' ich«, sagte er, »der Sabbat ist zu Ende. Zuhaus' bei mir, in der Stube nebenan, da sitzen sie jetzt, der Simon Brandeis, der Bierzapfer, und sein Weib, die Gittel. Er hat die Hawdala gesprochen, das Gebet der Unterscheidungen, und jetzt singt er den Segen für die kommende Woche, er wünscht sich und seinem Weib, >viel Freuden und Gesund, soviel begehrt dein Mund zu jeder Zeit und Stund'<, und die Gittel fällt wie an jedem Sabbatausgang mit ihrem Sprüchlein ein: >Amen! Amen! Es soll werden wahr, der Meschiach soll kommen in diesem Jahr.< Und jetzt sprechen sie vielleicht, während das Feuer im Herd gemacht und die Abendsuppe auf den Tisch gestellt wird, von mir, und sie nennen mich den armen Berl Landfahrer oder, mag sein, den guten Berl Landfahrer, denn ich hab' der Gittel erst gestern wieder Ol für die Sabbatlampen gegeben und Wein auf Kiddusch, sie hatte nicht Geld, das Notwendige einzukaufen. Heute bin ich in der Menschen Mund der arme oder der gute Berl Landfahrer und morgen bin ich der Berl Landfahrer seligen Angedenkens oder der Berl Landfahrer, Friede sei mit ihm. Heut bin ich der Berl Landfahrer, der in der Ufergasse im Haus >Zum Hahn< wohnt, und morgen heiß' ich der Berl Landfahrer, der in der Wahrheit ist. Gestern wüßt' ich nicht, wie gut es mir in der Welt erging: Ich hab' gegessen, was mich gelüstete, hab' in der Schrift gelesen und mich des Abends in mein Bett gelegt. Heut ist die Hand des Feindes über mir. Wem soll ich's klagen? Den Steinen in der Erde muß ich es klagen. Was hilft's? Ich muß ertragen, was Er über mich beschlossen hat. Gelobt seist Du, ewiger und gerechter Richter! Ein Gott der Treue bist Du, Dein Tun ist ohne Fehle.«
Und da es dunkel geworden war, wendete er sein Gesicht gegen Osten und sprach das Abendgebet. Dann kauerte er sich in einen Winkel der Zelle auf der Erde nieder, so daß er den Hund, der wiederum knurrte, im Auge behalten konnte.
»Kalt ist es, als ob Himmel und Erde zusammenfrieren wollten«, sagte er. »Der Hund will auch nicht Frieden halten, knurrt und bleckt die Zähne. Wenn er erst wüßt', was ihm bevorsteht! Aber solch ein Tier, — was verliert es, was kann man ihm nehmen? Nur das sinnliche Leben. Der Mensch verliert den Ruach, sein geistiges Wesen, und wir Juden, wir verlieren mit dem Leben mehr als alle anderen Menschen, denn was wissen denn die anderen von der süßen Freude, die wir gewinnen, wenn wir uns in die Bücher der Frommen versenken, in das >Buch der Ährenlese«, in das >Buch der vier Reihen«, in das >Buch des Lichtes«.«
Er schloß die Augen und flüchtete mit seinen Gedanken in die Höhen und Tiefen der geheimen Lehre, von der es heißt, daß sie über zehn Stufen zu den Engeln Gottes hinaufführt. Er tat dies, weil geschrieben steht: »Beschäftige dich mit den Geheimnissen der Weisheit und der Erkenntnis, so wirst du die Angst vor dem Morgen in dir überwinden.« Und die Angst vor dem Morgen war groß in ihm und fast nicht zu ertragen.
Er durchmaß in seinem Geiste die Welt der göttlichen Gewalten, die von den Eingeweihten »Apirjon«, das ist »die Hochzeitssänfte« genannt wird, dort sind die »ewig Leuchtenden« zu Hause, die auch »die Bringer der Einsicht« heißen, sie sind in dieser Weklt die Stützen und die Säulen. Er sann über die bewegenden Kräfte nach, die der vierbuchstabige Gottesname in sich birgt, und über den Geheimnisvollen, der sie beherrscht, der »der Verborgenste unter den Verborgenen« genannt wird, »der, der gänzlich unerkennbar ist«. Er ließ die Buchstaben des Alphabetes mit ihrer nur dem Wissenden verständlichen Bedeutung an sich vorüberziehen; wie er aber zur Betrachtung des Caf gelangte, das, wenn es am Ende eines Wortes steht, das Lächeln Gottes ist, da wurde die Türe aufgeschlossen und geöffnet, und der Schließer stieß den zweiten Hund zu ihm hinein.
Dieser Hund war ein weißer Pudel mit zottigem Haar und je einem schwarzen Fleck unter dem rechten Auge und über dem linken Ohr. Der Berl Landfahrer kannte ihn, die ganze Prager Judenstadt kannte ihn, denn dieser Pudel war viele Jahre lang im Hause des reichen Mordechai Meisl gehalten worden, der dann als armer Mann gestorben war. Und seit dem Tod des Mordechai Meisl strich der ' Hund in den Gassen der Alt- und Judenstadt umher, suchte sich seine Nahrung bald hier, bald dort und war mit jedermann gut Freund, doch er wollte keinen neuen Herrn haben.
»Meisls seligen Angedenkens Pudelhund«, murmelte der Berl Landfahrer betroffen. »Dem wollen sie also auch ans Leben! Wer das dem Meisl selig gesagt hätt', daß sein Pudelhund einmal am Galgen hängen müßt'!«
Er sah den beiden Hunden zu, wie sie einander nach Hundeart begrüßten, indem sie kläffend übereinander herfielen und sich balgten. Bald aber wurde ihm ihr Lärmen verdrießlich, denn die Hunde wollten nicht aufhören, einer hinter dem anderen in der Zelle hin und her zu jagen und dabei zu knurren und zu kläffen. Und nun begannen auch die Hunde des ganzen Viertels sich in den Lärm zu mengen, sie bellten und heulten bald aus der Nähe und bald aus der Ferne.
»Stille!« rief der Berl Landfahrer erzürnt den beiden Hunden zu. »Müßt ihr denn immer knurren und kläffen, könnt ihr nicht Ruhe halten? Es ist spät, die Leut' wollen schlafen.«
Aber das war wie in den Wind gesprochen, die Hunde hörten nicht auf ihn und fuhren fort, zu lärmen und zu toben. Der Berl Landfahrer wartete eine gute Weile, er dachte, die beiden Hunde würden vielleicht doch ihres Spieles müde werden und sich zum Schlafen niederlegen. Er selbst dachte nicht an Schleif, er wußte, er würde ihn nicht finden. Er wollte in dieser Nacht bis zu ihrer letzten Stunde in tiefer Versenkung mit den heiligen Gegenständen verbunden sein, aber die Hunde ließen es nicht zu.
Nun verleiht die geheime Lehre, die Kabbala, denen, die in ihre tiefsten Tiefen eingdrungen sind, die ihre Abgründe durchmessen und ihre Höhen erklommen haben, große Kräfte von besonderer Art. Er durfte diese Kräfte nicht verwenden, um sein Leben zu retten, denn damit hätte er dem göttlichen Ratschluß entgegen getrachtet. Aber er konnte sich durch sie zum Meister über diese Kreaturen machen, die ihm nicht gehorchen wollten.
Von dem hohen Rabbi sagte man, er habe mit den Melochim — den Engeln — gesprochen, als wären sie seine Diener gewesen. Er aber, der Berl Landfahrer, hatte sich der enthüllten Geheimnisse und ihrer magischen Kräfte in seinem Leben nie bedient, denn er war von furchtsamer Natur und er wußte: Die Feuerflamme der geheimen Lehre zündet und verzehrt, was nicht Feuer ist wie sie. Jetzt aber, in dieser Stunde, entschloß er sich zitternd und in großer Bangigkeit, es zu versuchen und sich mit Hilfe der geheimen Formel und der magischen Anrufung zum Herrn über die lästigen Hunde zu machen, die ihm in seiner letzten Nacht den Frieden der Seele und die Gottesnähe nicht vergönnen wollten.
Er wartete, bis der Mond hinter den Wolken hervortrat, und dann schrieb er mit dem Finger in den Staub, der die Wände der Zelle bedeckte, den Buchstaben Waw. Mit diesem Zeichen muß jede Beschwörung beginnen, denn im Waw vereinigt sich der Himmel mit dem Weltengrund. Unter das Waw schrieb er das Zeichen des Stiers, denn in diesem Zeichen sind alle Kreaturen inbegriffen, die auf der Erde unter den Menschen leben. Daneben schrieb er das Zeichen des göttlichen Thronwagens in den Staub und darunter in der vorgeschriebenen Reihenfolge sieben von den zehn Gottesnamen und als ersten Ehieh, das ist »das Immer«, denn die Kräfte dieses Namens sind es, von denen der Stier gelenkt und geleitet wird. Und unter das Ehieh setzte er den Buchstaben des Alphabets, der die Kraft und die Gewalt in sich birgt.
Nun wartete er, bis der Mond wieder hinter den Wolken verschwunden war. Dann rief er die zehn Engel mit ihren Namen, die Werkleute Gottes, die zwischen Gott und der Welt stehen. Sie sind genannt: »Die Krone«, »das Wesen«, »die Gnade«, »die Gestalt«, »das hohe Gericht«, »das strenge Beharren«, »die Pracht«, »die Majestät«, »der Urgrund« und »das Reich«. Er beschwor flüsternd die drei himmlischen Urmächte. Und zuletzt rief er mit lauter Stimme die Engelscharen der unteren Bereiche: Die »Lichter«, die »Räder« und die »Tiere der Heiligkeit«. »Ich weiß nicht, warum er schreit. Nicht immer kann man sie verstehen. Vielleicht hat er Hunger«, sagte in diesem Augenblick der Pudel zu dem Bauernköter. Der Berl Landfahrer ist sich nie darüber klar geworden, welcher Fehler sich in seine magische Formel eingeschlichen hatte. Er hatte unter den ersten der sieben Gottesnamen den Buchstaben Theth gesetzt, aber sein Gedächtnis hatte ihn dabei getäuscht. Denn der Buchstabe Theth begreift nicht die Kraft und die Gewalt in sich, sondern das Eindringen und das Erkennen. Und diese Veränderung der Beschwörungsformel hatte bewirkt, daß er nicht die Gewalt über die Kreaturen gewann, sondern nur ihrer Sprache kundig wurde.
Er dachte darüber nicht nach. Er wunderte sich auch nicht darüber, daß er plötzlich verstehen konnte, was der Pudel zu dem Bauernhund sagte. Es erschien ihm selbstverständlich, daß er es verstand. Es war so einfach und so leicht. Er konnte nur nicht begreifen, wieso er es bisher nicht verstanden hatte.
Er lehnte sich in seinem Winkel zurecht und hörte zu, was die Hunde einander sagten.
»Hunger habe ich auch«, knurrte der Bauernköter.
»Ich werde dich morgen zu den Fleischbänken führen«, versprach ihm der Pudel. »Ihr Landhunde findet euch allein ja nicht zurecht. Du wirst aufrecht auf zwei Beinen gehen und einen Stock im Maul tragen, und für diese Kunst wird man dir einen schönen Knochen geben mit Fleisch und Fett daran.«
»Zu Hause auf dem Hof bekam ich Knochen, ohne daß ich auf zwei Beinen gehen mußte«, sagte der Bauernhund. »Auch Grütze bekam ich. Ich mußte dafür nur den Hof hüten und achthaben, daß sich die Füchse nicht über unsere Gänse hermachten.«
»Was sind das — >die Füchse« fragte der Pudel.
»Füchse«, wiederholte der Dorfköter. »Wie soll ich dir erklären, was Füchse sind? Sie haben keinen Herren. Sie leben in den Wäldern. Sie kommen nachts und stehlen Gänse. Das sind die Füchse.«
»Und was sind Wälder?« erkundigte sich der Pudel.
»Du weißt auch gar nichts«, knurrte der Bauernhund. »Wälder, das sind nicht etwa drei Bäume oder vier, sondern — ich weiß nicht wie ich es dir erklären soll — wohin du schaust, nichts als Bäume. Und hinter den Bäumen wieder Bäume. Von dort her kommen die Füchse. Wenn einer eine Gans wegschleppte, bekam ich Stockprügel.«
»Ich habe niemals Schläge bekommen«, rühmte sich der Pudel. »Auch nicht, als mich mein Herr auf zwei Beinen gehen und tanzen lehrte. Er war immer freundlich zu mir. Wir hatten auch Gänse, aber die Füchse ließen sie in Frieden, denn es gibt hier keine Wälder, aus denen Füchse kommen. Wenn es hier Wälder und Füchse gäbe, hätte mein Herr es mir gesagt. Er sagte mir alles, er verbarg nichts vor mir. Ich weiß sogar, wo er das Geld vergraben hat, das man bei ihm nicht finden sollte, und wem es gehört.«
»Ja, sie vergraben Geld«, bestätigte der Bauernköter. »Wozu? Man kann's nicht essen.«
»Das verstehst du nicht«, wies ihn der Pudel zurecht. »Es ist klug, Geld zu vergraben. Alles, was er tat, war klug. Ich war in jener Nacht bei ihm, in der sie ihn in Leinwand hüllten und davontrugen. Aber vorher kam einer, der brachte ihm das Geld in einem Beutel, achtzig Gulden seien es, sagte er, und damit sei die Schuld beglichen. Mein Herr ging mit ihm zur Tür, er ging sehr langsam, er war krank, und als er zurück kam, fragte er mich: >Was soll ich mit diesem Geld beginnen? Ich hab' das Geld von mir getan, aber es läuft mir nach. Sie sollen es hier nicht finden, wenn sie morgen kommen, nicht einen Groschen davon sollen sie finden, heute nacht noch muß es fort von hier. Aber wohin, sag mir, wohin?< Er hustete und klagte über Schmerzen, hielt immer ein Tüchlein vor den Mund. Dann sagte er: >Ich weiß einen, der niemals Glück gehabt hat, dem könnt' mit diesem Geld geholfen sein. Glück, — das kann ich ihm nicht hinterlassen, aber die achtzig Gulden, die soll er haben.< Gleich darauf aber schlug er sich mit der Hand vor die Stirn und hustete und lachte. >Das sieht ihm gleich, dem Berl Landfahrer<, sagte er. >Wenn es hier Gulden regnet, ist er nicht da, ist er mit seinem Karren über Land gefahren. Wahrhaftig, dem ist schwer zu helfen.< Er dachte eine Weile nach und dann nahm er seinen Stock, seinen Hut und seinen Mantel, und den Beutel nahm er auch, und wir gingen hinaus und durch die Gassen zum Flußufer, und dort hieß er mich die Erde aufscharren und vergrub den Beutel. Er sagte: >Wenn der Berl Landfahrer in die Stadt zurückkommt, dann fasse ihn am Mantel und führe ihn hierher, das Geld ist sein, aber ich kann's ihm nicht mehr geben, denn ich werde heute noch den Weg aller Menschen gehen. Du kennst den Berl Landfahrer, er geht ein wenig schief und vorn im Mund fehlen ihm drei Zähne<.«
»Das ist nicht gut«, meinte der Dorfköter. »Er soll aufhören, Knochen zu nagen. Er soll Grütze essen, sag ihm das.«
»Aber ich kannte ihn nicht und ich kenne ihn auch heute nicht«, rief der Pudel. »Ich kann mich seiner nicht entsinnen. Das Geld liegt noch heute in der Erde. Wie kann ich denn sehen, wem die Zähne fehlen, die Leute gehen doch nicht mit offenem Maul über die Gasse. Wie soll ich wissen, wer von ihnen der Berl Landfahrer ist?«
Der Berl Landfahrer hatte mit Verwunderung gemerkt, daß von ihm die Rede war, und von da an hatte er mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört. Und wie er jetzt vernahm, daß Meisls Pudelhund ihn seit Jahren suchte, kam er aus seinem Winkel hervor und sagte vorwurfsvoll und traurig:
»Ich bin der Berl Landfahrer.«
»Du bist der Berl Landfahrer?« rief der Pudelhund und er stellte sich auf seine Hinterbeine und begann aufgeregt zu wedeln und aufzuwarten. »Laß sehen! Mach das Maul auf! Ja, die Zähne fehlen dir. Du bist also der Berl Landfahrer. Nun gut, — morgen geh' ich mit dir und zeig' dir, wo dein Geld vergraben ist.«
Und er ließ sich wieder auf seine Vorderpfoten fallen.
»Morgen?« rief der Berl Landfahrer mit einem schrillen Lachen. »Morgen? Ich bin doch der Berl Landfahrer! Morgen werden wir alle drei gehängt.«
»Wer wird gehängt?« fragte der Pudel.
»Ich, du und dieser dort«, sagte der Berl Landfahrer und wies auf den Dorfköter, der eingeschlafen war.
»Warum sollt' man mich hängen?« fragte der Pudel verwundert.
»Es ist so der Befehl«, gab der Berl Landfahrer zur Antwort.
»Dich werden sie vielleicht hängen«, meinte der Pudel. »Mich nicht. Mich hängt man nicht. Sie brauchen nur die Türe aufzumachen, so bin ich auch schon fort.
Er begann sich im Kreise zu drehen, und dann ließ er sich auf dem Boden nieder.
»Ich will jetzt schlafen«, sagte er. »Leg auch du den Kopf zwischen die Beine! Du bist also der Berl Landfahrer. Nein, mich hängt man nicht.«
Und damit schlief er ein.
Als der Morgen graute, wurde die Türe geöffnet, aber nicht der Henker kam, den Berl Landfahrer zur Richtstatt zu führen, sondern es traten Rebb Amschel und Rebb Simcha, die beiden Judenräte, in die Zelle. Der Herr Oberst Strassoldo hatte sich auf vieles Bitten und Drängen hin bereitfinden lassen, gegen ein Bußgeld von hundertfünfzig Gulden, das die Judenältesten sogleich zu erlegen hatten, dem Berl Landfahrer die Strafe zu erlassen.
»Wir bringen Freiheit dem Gefangenen und Erlösung dem Gefesselten«, rief Bebb Amschel. »Lobpreiset Gott, der uns seine Gnade nicht entzogen hat.«
Und Rebb Simcha sagte das Gleiche, nur mit nüchterneren Worten: »Ihr seid frei, Rebb Berl. Das Bußgeld ist für Euch bezahlt, Ihr könnt nach Hause gehen.«
Aber es schien, als hätte sie der Berl Landfahrer nicht verstanden.
»Der Hund! Der Hund!« schrie er. »Wo ist der Hund, er war doch eben noch hier. Meisls Hund! Er weiß, wo mein Geld vergraben ist. Achtzig Gulden!«
»Rebb Berl, Ihr seid frei«, wiederholten die Judenräte. »Versteht Ihr nicht? Gott hat geholfen, die Strafe ist Euch erlassen. Ihr könnt nach Hause gehen.«
»Der Hund! Der Hund!« jammerte der Berl Landfahrer. »Habt Ihr ihn nicht gesehen? Er ist zur Tür hinaus. Meisls Pudelhund, ich muß ihn finden. Achtzig Gulden! Ich Unglücklicher, ich Geschlagener! Wo ist der Hund?«
Man sah ihn noch viele Jahre in der Prager Judenstadt und in der Altstadt, er lief den Hunden nach und lockte sie an sich und hielt sie fest und dann fragte er sie, ob sie nicht den weißen Pudel gesehen hätten, den mit dem schwarzen Fleck unter dem Aug' und über dem Ohr, und wenn sie ihn träfen, so sollten sie ihm doch sagen, er, der Berl Landfahrer, sei nicht gehängt, und der Pudel solle doch zu ihm in die Ufergasse kommen, es werde ihm nichts geschehen, er werde nicht gehängt werden, das Bußgeld sei auch für ihn, den Pudel, gezahlt worden. Die Hunde schnappten nach ihm und rissen sich los, und der Berl Landfahrer lief den Hunden nach, und die Kinder liefen dem Berl Landfahrer nach, und die Erwachsenen schüttelten die Köpfe und sagten: »Der arme Berl Landfahrer! Er hat in jener Nacht in der Zelle vor Angst seine Menschenseele verloren.«
Die Sarabande
Auf einem Fest, das der Geheime Rat und Kanzler von Böhmen, Herr Zdenko von Lobkowitz, aus Anlaß der Taufe seines ersten Enkelkinds in seinem Prager Stadthaus gab, befand sich unter den Gästen auch ein kaiserlicher Hauptmann, ein Baron Juranic, der ein oder zwei Tage vorher aus Kroatien oder aus dem Sklawonierland in der böhmischen Hauptstadt eingetroffen war. Und während die anderen Herren so gekleidet waren, wie es der Anlaß und die Mode vorschrieben, indem sie nämlich den goldgestickten Rock aus purpurfarbenem Samt mit weißgefütterten geschlitzten Ärmeln und dazu mit Goldbrokat besetzte, an den Knien enge Hosen, seidene Strümpfe und Atlasschuhe mit seidenen Schleifen trugen, war der Baron Juranic in Reisekleidern, mit Lederhose und hohen Stiefeln, erschienen, was er damit entschuldigte, daß sein Gepäck in der letzten Poststation liegen geblieben und ihm noch nicht nachgesendet worden sei. Auch hatte er sich nach dem Brauch der Grenzoffiziere das Haar und den Bart mit Schweineschmer eingerieben, aber diese Eigenheit hielt man einem Manne zugute, dem der immerwährende Kampf gegen die Türken, die Erbfeinde der Christenheit, nicht Zeit gelassen hatte, sich darüber zu unterrichten, was die Mode einem Kavalier verstattete und was nach ihrem Gesetz verpönt war.
Der Baron Juranic also ließ es sich auf diesem Fest recht wohl ergehen, er trank und tanzte mit großer Ausdauer und in guter Laune, wobei es freilich mit seinem Tanzen nicht weit her war. Ob nun die Musikanten zu einer Gigue, zu einer Courante oder zu einer Sarabande aufspielten, — ihm machte das keinen Unterschied, er vollführte bei jedem dieser Tänze die gleichen Sprünge und bezeigte dabei weit mehr Eifer als Geschicklichkeit. Kurzum, — dieser tapfere Offizier tanzte so zierlich wie ein dressierter Bär. Wenn die Musik für eine Weile schwieg, dann stieß er mit jedem, der ihm in den Weg kam, auf die Gesundheit des Täuflings an, auch machte er den Damen seine Komplimente, einer jeden versicherte er, er habe ihre Schönheit von Leuten rühmen hören, die etwas von der Sache verstünden. Seine besondere Aufmerksamkeit aber widmete er der jüngsten der drei Töchter des Herrn von Berka, die an diesem Abend zum erstenmal in einer größeren Öffentlichkeit erschienen war. Diesem sehr schönen, aber etwas schüchternen jungen Fräulein berichtete er von seinen Waffentaten, von geglückten Anschlägen, Uberfällen und von anderen Streichen, die er den Türken gespielt hatte, wobei er nie vergaß, zu bemerken, es sei von dieser Sache viel Lärm in der Welt gemacht worden, sie habe aber nicht viel zu bedeuten. Auch ließ er das junge Fräulein wissen, daß er sich in seiner Heimat, wo der Scheffel Korn sieben Weißlinge gelte und die Tonne Bier einen halben Gulden, einen reichen Mann nennen könne, und die Frau, der es dereinst beschieden sei, mit ihm auf seinem Gut zu hausen, die werde im Vollen sitzen mit Federn, Wolle, Honig, Butter, Korn, Vieh und Bier, kurz, mit allem, dessen sie zu einem vergnüglichen Leben bedürfe. Sie müsse nur vom Himmel mit einer guten Figur begnadet sein, setzte er mit einem Blick auf die des Fräuleins hinzu, denn eine solche gelte ihm noch weit mehr als adelige Herkunft und gute Sitten.
Nun war aber unter den Gästen ein junger Graf Collalto, venezianischer Herkunft, ein rechter ä la Mode-Herr, der vermeinte, gewisse Rechte auf die jüngste der drei BerkaFräulein zu haben, und ihm mißfiel sowohl die Person wie auch das Auftreten des kroatischen Edelmanns. Und wie nun dieser wiederum eine Sarabande mit dem Fräulein auf seine Art gehüpft und gesprungen hatte, trat der Graf mit einer Verbeugung auf ihn zu und bat ihn in respektvollem Ton, ihm doch geneigtest zu verraten, bei welchem berühmten Ballettmeister er es in der hohen Schule des Tanzes zu solcher Perfection gebracht habe.
Der Baron Juranic war ein Mann, der einen Spaß, auch wenn er auf seine Kosten ging, mit guter Miene hinzunehmen wußte. Er lachte und sagte, er wisse wohl, daß er in der Tanzkunst nur wenig erfahren sei, er müsse dessenthalben auch alleraufrichtigst um Entschuldigung bitten, jedoch bereite ihm das Tanzen großes Vergnügen, und er hoffe damit der Demoiselle und den übrigen Gästen nicht allzu beschwerlich gefallen zu sein.
»Der Herr wird sich selbst nicht gerecht, er ist zu bescheiden«, meinte der Collalto. »Der Herr wird mit den schwierigsten Tanzfiguren so leicht fertig wie ein anderer mit einer warmen Brotsuppe. In dem großen Wasserspiel und Schäferballett, das man demnächst Seiner Majestät in der Burg vorführen wird, könnte der Herr mit seiner Kunst sehr wohl einen von den Faunen oder vielleicht sogar den Silenum selbst agieren.«
»Ich bin«, sagte der Baron gelassen, »Soldat und daher den Waffentanz besser gewohnt als jeden anderen, hab' auch in meinem Leben die Kanonen öfter spielen lassen als die Flöten und Violen. Für den bocksfüßigen und gehörnten Silen mag der Herr sich also nach einem anderen Darsteller umsehen. Was aber die Brotsuppe betrifft, so geb der Herr nur acht, daß er nicht auslöffeln muß, was er sich einbrockt.«
Und damit verbeugte er sich, bot seiner Dame den Arm und trat mit ihr wiederum in die Reihe der Tanzenden.
Der junge Collalto blickte den beiden nach, und sein Zorn wuchs immer mehr, weil dieser tölpelhafte Baron dem schönen Berka-Fräulein nicht von der Seite weichen wollte, und da er nun sah, daß er seinen Gegner mit Stichelworten nicht aus der Ruhe bringen konnte, entschloß er sich, es auf anderem Wege zu versuchen. Er trat an das tanzende Paar herein und wußte dem Baron so geschickt ein Bein zu stellen, daß dieser der Länge nach hinschlug und im Fallen zwar nicht die Demoiselle, wohl aber den Herrn, der ihm zunächst tanzte, mit sich zu Boden riß.
In den Reihen der Tanzenden entstand ein Durcheinander, die Musikanten unterbrachen ihr Spiel, man vernahm Gelächter, Fragen und bestürzte Rufe, doch die Verwirrung nahm sogleich ein Ende, denn der Baron stand schon wieder auf seinen Beinen und war dem Herrn, den er zu Fall gebracht hatte, beim Aufstehen behilflich. Der sah zuerst recht mißmutig drein, sobald er aber bemerkte, daß an seinen Kleidern, Spitzen und Bändern kein Schaden entstanden war, gewann er seine Contenance wieder, und er sagte, zu dem Baron gewendet, mit vollendeter Höflichkeit, der nur eine kleine Prise Spott beigemegt war:
»Der Herr versteht es, wie ich sehe, einige Abwechslung in das Tanzvergnügen zu bringen.«
Der Baron Juranic lüftete seinen Hut und brachte seine Entschuldigungen vor. Dann suchte er das Berka-Fräulein, doch er fand die Demoiselle nicht mehr an seiner Seite, sie hatte, beschämt und bestürzt über das peinliche Mißgeschick, das ihrem Kavalier zugestoßen war, schon während des Durcheinanders den Saal verlassen. Indessen setzte die Musik wieder ein, die Paare ordneten sich, der Tanz ging weiter, und der Baron Juranic schritt durch die Reihen der Tanzenden und trat auf den Collalto zu.
»Der Herr mag sagen«, sprach er ihn an, »ob er mir das mit Absicht und ex malitia getan hat.«
Der junge Collalto blickte hochmütig über ihn hinweg in die leere Luft und gab keine Antwort.
»Ich will wissen«, wiederholte der Baron, »ob der Herr mir das ex malitia getan hat, daß die junge Demoiselle über mich lachen sollt'.«
»Ich bin nicht verhalten«, sagte jetzt der Graf Collalto, »auf eine Frage Antwort zu geben, die in solch einem insolenten Ton an mich gerichtet wird.«
»Der Herr ist schuldig, mir die Genugtuung zu geben, die mir nach geschehenem Affront als einem Edelmanne zusteht«, erklärte der Baron.
»Es nennt sich hier mancher einen Edelmann, der daheim in Holzschuhen hinter seinem Ochsen herläuft«, meinte der Graf Collalto mit einem Achselzucken.
In dem Gesicht des Barons regte sich kein Muskel, doch eine Säbelnarbe, die vordem kaum zu bemerken gewesen war, flammte jetzt an seiner Stirne auf, rot wie ein Feuermal.
»Da der Herr mir die Genugtuung verweigert«, sagte er, ohne die Stimme zu erheben, »und fortfährt, mich zu offendieren, so kann ich den Herrn nicht länger als einen Kavalier traktieren. Ich werd' ihn mit Stockprügeln zur Raison bringen wie einen gemeinen Bauernknecht.«
Der Graf Collalto hob die Hand, um dem Baron ins Gesicht zu schlagen, der aber hielt sie auch schon mit eisernem Griff fest in der seinen.
Jetzt erst bequemte sich der Collalto dazu, mit dem Baron in anderem Ton zu reden.
»Es ist hier nicht der Ort, noch ist es die rechte Zeit, die Sache auszutragen«, erklärte er, »aber in einer Stunde wird der Herr mich im Kinskyschen Garten vor dem großen Rondeau finden. Das Haupttor ist versperrt, aber das Seitenpförtchen steht offen. Dort werd' ich den Herrn zu bedienen wissen.«
»Das ist ein Wort so kräftig wie spanischer Wein«, sagte der Baron zufrieden, und nun gab er dem Collalto die Hand frei.
Es wurde vereinbart, daß der Zweikampf mit Degen, jedoch ohne Sekundanten ausgetragen werden sollte. Dann gingen die beiden auseinander, und kurze Zeit darauf verließ der Baron, ohne von dem Berka-Fräulein Urlaub zu nehmen, die Gesellschaft und das Haus.
Der junge Collalto ging indessen in einen von den Nebenräumen, dort traf er den Hausherrn, den Zdenko von Lobkowitz, am Kartentisch. Er setzte sich neben ihn und sah eine Weile dem Spiel zu. Dann fragte er:
»Kennen Euer Liebden hier einen, der sich Baron Juranic nennen läßt?«
»Sieh mal her, das hier ist ein Spiel, bei dem gilt die grüne Sieben alles«, erklärte ihm der Herr von Lobkowitz. »Ich spiel' es heute zum erstenmal. Den Juranic? Ja, den kenn' ich.«
»Gehört er zu uns? Ist er von Adel?« erkundigte sich der Collalto. »Er hat recht bäurische Manieren.«
»Der Juranic? Er mag bäurische Manieren haben, ist aber doch von gutem, echtem Adel«, sagte der Zdenko Lobkowitz, der alle adeligen Stammbäume im Kopfe hatte und daher in Fragen der Herkunft wie kein zweiter Bescheid wußte.
Der Collalto sah wiederum eine Weile hindurch dem Spiele zu.
»Es ist zum Lachen«, meinte der Zdenko Lobkowitz. »Wenn einer in diesem Spiele die grüne Sieben und den Schellenbuben hat, dann kann er spielen, wie er will, er mu ß gewinnen. Sonst aber, — so viel kann der Meisl-Jude gar nicht borgen, wie man in diesem Spiel verlieren kann, wenn man mit seinem Kopf nicht bei der Sache ist. Was ist's mit dem Lorenz Juranic? Hat er im Trinken excediert?«
»Nein, aber ich hatte dennoch Händel mit ihm«, berichtete der Collalto. »Ich werd' mich heute nacht noch mit ihm treffen.«
Der Zdenko Lobkowitz legte die Karten aus der Hand.
»Mit dem Juranic?« rief er mit gedämpfter Stimme. »Dann geh nur gleich und empfiehl dich der göttlichen Protection! Der Juranic ist ein mörderischer Fechter.«
»Ich weiß aber meinen Degen auch recht gut zu gebrauchen«, erklärte der Collalto.
»Was, deinen Degen! Er wird dich an deinen Ohren zu packen bekommen, der Juranic«, sagte der alte Edelmann. »Glaub mir, es ist nicht gut mit ihm anzubinden, ich kenn' ihn. Schlag dich mit dem Teufel, aber nicht mit dem Lorenz Baron Juranic. Geh und bring die Sache in Ordnung, es wird dir an deiner Ehre kein Abbruch geschehen, wenn du dich excusierst, oder soll ich es für dich tun?«
»Ich werd' es Euer Liebden vermelden, wenn die Sache in Ordnung gebracht ist«, sagte der Collalto.
Das große Rondeau im Kinskyschen Garten war einer der Orte, an denen der Prager Adel seine Streitigkeiten mit dem Degen auszutragen pflegte. Es war ein Rasenplatz, um den ein Kiesweg lief, und in der Mitte des Rasens gab es zwischen zwei einsam stehenden Ulmen eine Fontäne, deren Plätschern man schon von weitem hören konnte. Ein steinerner, mit Moos bewachsener Meergott lag hingestreckt auf einem Felsenriff, und die Meermädchen, Tritonen und Sirenen aus verwittertem Sandstein, die am Rande des Bassins kauerten, sandten ihre sich kreuzenden Wasserstrahlen auf das Schilfrohr, auf das Felsenriff und in steilem Bogen zum Himmel empor.
Hier auf dem Rasen traf der Collalto den Baron, der zwei kroatische Diener mit sich gebracht hatt, die Fackeln trugen, denn der Mond stand im letzten Viertel. Diese beiden Kroaten, Kerle mit verwegenen Schnauzbärten und mit Haarsträhnen, die im Nacken zu einem dicken Knoten zusammengeflochten waren, standen in gebückter Haltung vor den Steinfiguren der Fontäne, bekreuzten sich und murmelten Gebete.
»Für meine Leute«, erklärte der Baron dem Grafen Collalto, »ist diese Wasserkunst ein großes Mirakel, sie haben dergleichen noch nie gesehen. Sie glauben, in dem Neptun dort den heiligen Laurentius zu erkennen, meinen Schutz- und Namenspatron, und die Meerweiber und die Tritonen halten sie für Engel, die vom Himmel herabgesandt sind, um diesem heiligen Märtyrer beizustehen und ihm mit ihren Wasserstrahlen Kühlung zu bringen, denn er liegt auf dem Rost. Ja, meine Kroaten sind fromme Leute und große Verehrer der Heiligen, und sie würden hier durch alle Kirchen auf den Knien rutschen, wenn es nicht auch Trinkstuben in der Stadt gäbe.«
Er wies den beiden Dienern ihre Plätze an, so daß der Rasen und der Kiesweg im Lichtschein ihrer Fackeln lagen. Die beiden Gegner traten einander im vorgeschriebenen Abstand gegenüber und grüßten einander mit den Degen. Dann warf der Collalto einen Kieselstein, den er vom Boden aufgelesen hatte, steil in die Höhe, sie standen beide regungslos und horchten, und sowie er niederfiel, begann der Kampf.
Er dauerte nicht lange. Der Collalto, der in seinem Leben schon manchen fremden Bock mit dem Degen durchlöchert hatte, sah sich diesmal einem Gegner gegenüber, der es mit vieren zugleich hätte aufnehmen können: Drei von ihnen hätte er, wie man so sagt, auf seinen Hut gesteckt und den vierten gefragt, ob ihrer noch mehr seien. Der Baron Juranic war wahrhaftig, was ihn der Lobkowitz genannt hatte, — ein mörderischer Fechter. Anfangs rührte er sich nicht von der Stelle und ließ den Collalto seine Ausfälle machen. Dann aber trieb er ihn mit Degenhieben und Degenstößen den Kiesweg entlang und über den Rasen bis zur Wasserkunst, fragte ihn dazwischen, ob es ihm nicht zu kühl sei und wann er seinen Vetter, den Franz Collalto, zuletzt gesehen habe, jagte ihn zweimal um das Bassin und wieder über den Rasen auf den Kiesweg und den gleichen Weg zurück, und dann nahm die Sache ein Ende. Der Graf Collalto fand sich in einer Situation, in der kein Widerstand und kein Retirieren möglich war. Er hing, nach Atem ringend, mit dem Oberkörper über den Rand des Bassins hinaus, und der Degen des Barons war auf seine Brust gerichtet.
»Das wäre somit erledigt«, sagte der Baron, »und ich könnte dem Herrn meinen Degen so leicht und mit ruhigem Gewissen durch den Leib jagen, wie ich ein Glas Wein trinke. All den Nöten und Drangsalen dieser armen Welt wär' der Herr enthoben.«
Der Collalto schwieg. Von den Wasserstrahlen der Tritonen sprühten kalte Tropfen in sein Gesicht. Und das Sonderbare war, daß ihn jetzt, nach diesen Worten erst, eine beklemmende Angst befiel, eine Angst so stark, wie er sie während des Zweikampfs nicht empfunden hatte.
»Was hält der Herr«, fragte der Baron, »von der heiligen Barmherzigkeit? Hat man ihm auch soviel davon erzählt, wie lieblich sie dem allmächtigen Gott ist und wie große Verdienste sich der erwirbt, der sie übt?«
»Wenn der Herr mir mein Leben läßt«, sagte der Collalto, von Angst geschüttelt, »so wird er für alle Zeiten einen wahren Freund an mir besitzen.«
Der Baron stieß einen kurzen und scharfen Pfiff aus.
»Ich hab' um des Herrn Freundschaft nicht geworben«, erklärte er, »wüßt' auch nicht, was mit ihr beginnen.«
In diesem Augenblick hörte der Collalto eine leise Musik, ein Flötenspielen, ein Geigen und ein Trommeln. Es war die feierlich bewegte Weise einer Sarabande, die sich hinter den Büschen vernehmen ließ und langsam näher kam.
»Vielleicht ist der Herr im Tanzen geschickter als mit dem Degen«, fuhr der Baron fort. »Mit Fechten hat der Herr sein Leben an mich verspielt, mit Tanzen kann er es von mir zurückgewinnen.«
»Mit Tanzen?« fragte der Collalto, und es schien ihm plötzlich, als ob dies alles, die Stimme des Barons, das Plätschern der Fontäne, die Degenspitze an seiner Brust und die Musik, die jetzt ganz aus der Nähe erklang, nur ein schwerer Traum wäre.
»Mit Tanzen, jawohl. Wenn der Herr sein Leben behalten will, so wird er tanzen«, sagte der Baron, und wiederum flammte die Säbelnarbe an seiner Stirne auf. »Der Herr hat's dahin gebracht, daß die junge Demoiselle über mich gelacht hat. Der Herr wird tanzen.«
Er trat einen halben Schritt zurück, und der Collalto richtete sich auf. Er sah jetzt, daß hinter dem Baron nicht nur die beiden Fackelträger, sondern noch fünf andere kroatische Diener standen, die alle des Barons Livree trugen. Drei von ihnen waren Musikanten und zwei, die recht gefährlich dareinsahen, hielten Terzerole in den Händen.
»Der Herr wird tanzen von jetzt bis in den lichten Morgen«, erklang die Stimme des Barons. »Durch alle Gassen Prags wird der Herr tanzen. Er wird nicht müde werden, ich rat's ihm nicht, denn wenn er innehält, bekommt er eine Kugel in den Leib. Ist's dem Herrn nicht recht, so mag er's sagen. Nun? Läßt der Herr mich warten?«
Die beiden Kroaten hoben ihre Terzerole, die Musikanten spielten, und der Graf Collalto begann, von Todesangst getrieben, eine Sarabande zu tanzen.
Es war ein sonderbarer Zug, der sich durch die Gassen und über die Plätze des nächtlichen Prag bewegte. An der Spitze schritten die Fackelträger, dann kamen mit Flöte, Geige und Trommel die Musikanten, hinter ihnen tanzte Graf Collalto, die beiden Kerle mit den Terzerolen folgten ihm und ließen ihn nicht aus den Augen, und der Baron Juranic machte, obwohl er als letzter ging, den Führer, denn er wies mit seinem Degen den Fackelträgern den Weg, den sie einzuschlagen hatten.
Es ging durch enge, winkelige Gassen bergauf und bergab, vorbei an adeligen Palästen und an schmalen, windschiefen Giebelhäusern, vorbei an Kirchen, Gartenmauern, Weinschenken und steinernen Brunnen. Die Leute, denen sie begegneten, fanden nichts Verwunderliches an diesem Zug, sie meinten, der Kavalier, der da hinter den Musikanten hertanzte, habe ein wenig über den Durst getrunken und sei in fröhlicher Laune, und einer seiner guten Freunde brächte ihn mit Musikanten und Lakaien in sein Quartier, und niemand ahnte, daß da einer verzweifelt um sein Leben tanzte. Und wie nun der Collalto so abgemattet und erschöpft war, daß er glaubte, er könne nicht weiter und das Herz müsse ihm in Stücke springen, und doch kein Erbarmen fand und weitertanzen mußte, — da traf es sich, daß sie just auf einem kleinen Platz angelangt waren, in dessen Mitte eine Muttergottes stand. Und sobald die Kroaten dieses steinerne Bildwerk erblickten, warfen sie sich auf die Knie, schlugen das Kreuz und sagten Gebete her, und da ließ sich der Collalto auf die Erde gleiten und schöpfte Atem.
Der Baron Juranic lachte laut und schallend. »Bei meiner armen Seele, so war das nicht gedacht«, sagte er und schlug nun auch ein Kreuz. »Aber ich hätt' es wissen müssen, daß das so kommen wird. Ja, meine Kroaten sind fromme Leut', die wissen, was sie Christo und seiner Mutter schuldig sind, und der Lange dort, der mit dem Terzerol, der ist von ihnen allen der Frömmste. Der schlägt sich lieber die Hand ab, als daß er an einem Sonntag ein Pferd stehlen geht.«
Indessen hatten die Kroaten ihre Andacht beendet und nur der eine, der am Sonntag kein Pferd stehlen wollte, lag noch auf den Knien, und den fuhr der Baron nun an:
»Steh auf, daß dich das Mäuslein beiß'! Die heilige Jungfrau will auch einmal etwas anderes sehen als dein Gesicht.«
Es gab - und es gibt heute noch — viel hundert Kruzifixe und steinerne Heilige in der Stadt Prag, sie stehen leidend, segnend oder beschwörend auf den Plätzen und in den Nischen und Winkeln; vor den Kirchenportalen stehen sie, vor den Hospitälern, vor den Armenhäusern und auf der steinernen Brücke. Und wo die Kroaten an solch einem Bildwerk vorüberkamen, fielen sie auf die Knie und murmelten Gebete oder sangen Litaneien, und der Collalto hatte eine kurze Rast. Anfangs nahm dies der Baron Juranic gelassen hin, er wußte, in den heiligen Dingen war mit den Kroaten nicht zu spassen. Dann aber begann es ihn immer mehr zu verdrießen, daß seine Diener in ihrer frommen Einfalt seinem Feinde solchen Beistand taten, und er dachte nach, wie dem abgeholfen werden könnte. Und da, wie er so nachsann, kam ihm ein Gedanke, der erschien ihm so über die Maßen spaßhaft, daß er laut auflachte. Ja, das sollte der letzte Streich sein, den er in dieser Nacht dem Collalto spielen wollte. In den Gassen der Judenstadt sollte der Collalto seine Sarabande tanzen, denn dort gab es keine Kruzifixe und keine Heiligenfiguren.
Damals war die Prager Judenstadt noch nicht mit einer Mauer umgeben, die wurde erst in der Zeit der Schwedenbelagerung errichtet. Man konnte aus den Gassen der Altstadt in die Judenstadt gelangen, ohne erst an ein verschlossenes Tor pochen zu müssen. Und so führte der Baron seine Schar durch das Valentinsgäßlein in das Judenquartier, durch enge und verschlungene Gassen ging es, an der Friedhofsmauer entlang bis an das Moldauufer und wieder zurück, vorbei am Judenbad, vorbei am Rathaus, vorbei am Backhaus, an den versperrten Fleischbänken vorbei und über den Trödelmarkt, der verlassen dalag, und die Musikanten spielten und der Collalto tanzte, und kein Heiligenbild, das ihm Rast verschafft hätte, lag auf diesem Wege. Hier und dort wurde, wenn der Zug vorüberkam, ein Fenster geöffnet, verschlafene und verängstigte Gesichterblickten hinaus, und das Fenster schloß sich wieder. Hier und dort bellte ein Hund, dem der Zug verdächtig erschien, Und wie nun die beiden Fackelträger und die Musikanten hinter ihnen aus der Zigeunergasse in die Breite Gasse einbogen, dort wo das Haus des hohen Rabbi Loew lag, da war der Collalto am Ende seiner Kräfte. Er stöhnte, taumelte, griff sich an die Brust und schrie mit schwacher Stimme um Hilfe.
Der hohe Babbi, der oben in der Stube über den heiligen und zaubergewaltigen Büchern saß, hörte diese Stimme, und er wußte, daß sie aus den Tiefen der Verzweiflung kam.
Er trat ans Fenster, beugte sich hinaus und fragte, wer da rufe und womit ihm geholfen sein könnte.
»Ein Jesusbild!« keuchte der Collalto mit seinem letzten Atem und dabei tanzte und taumelte er immer noch weiter, »um der Liebe Gottens willen, ein Jesusbild, oder es ist aus mit mir.«
Der hohe Babbi Loew umfaßte mit einem Blick die Fakkelträger und die Musikanten, den tanzenden Collalto, die beiden Lakeien mit den Terzerolen und den lachenden Baron, und mit diesem einen kurzen Blick war es ihm klar geworden, warum dieser Tanzende nach einem Jesusbild schrie, und daß ein Mensch aus Todesnot zu retten war.
Gegenüber, auf der anderen Seite der Gasse, war ein Haus durch Feuer zerstört, und nur eine einzige Mauer stand noch aufrecht, die war vom Alter und von Rauch geschwärzt. Und auf diese Mauer wies der hohe Rabbi mit seiner Hand. Auf dieser Mauer ließ er durch seine zauberische Kraft aus Mondlicht und Moder, aus Ruß und Regen, aus Moos und Mörtel ein Bild entstehen.
Es war ein »Ecce homo«. Aber es war nicht der Heiland, nicht der Gottessohn, auch nicht der Sohn des Zimmermanns, der aus dem galiläischen Gebirge in die heilige Stadt gekommen war, um das Volk zu lehren und für seine Lehre den Tod zu erleiden, — nein, es war ein »Ecce homo« von anderer Art. Doch solche Erhabenheit lag in seinen Zügen, so erschütternd war das Leiden, das aus seinem Antlitz sprach, daß der Baron mit seinem steinernem Herzen von einem Blitzschlag des Selbsterkennens getroffen wurde und als erster in die Knie sank. Und vor diesem »Ecce homo« klagte er sich an, daß er in dieser Nacht ohne Erbarmen und ohne die Furcht Gottes gewesen war.
Mein Hauslehrer, der stud. med. Jakob Meisl, der mir diese Geschichte wie viele andere aus dem alten Prag erzählt hatte, machte eine kurze Pause.
»Viel ist nicht mehr zu sagen«, beendete er dann seine Erzählung, »und was noch zu sagen wäre, ist nicht sehr wichtig. Es heißt, daß der junge Graf Collalto in seinem Leben nie wieder getanzt, und daß der Baron Juranic den Dienst quittiert hat, und mehr weiß ich nicht von ihnen. Der >Ecce homo< des hohen Rabbi Loew? Es war nicht Christus. Es war das Judentum, das durch die Jahrhunderte hindurch verfolgte und verhöhnte Judentum war es, das auf diesem Bild seine Leiden offenbart hat. Nein, geh nicht in die Judenstadt, du würdest es dort vergeblich suchen. Die Jahre, Wind und Wetter haben es zerstört, keine Spuren sind von ihm geblieben. Aber geh durch die Straßen, wo du willst, und wenn du einen alten jüdischen Hausierer siehst, der seinen Binkel von Haus zu Haus schleppt, und die Straßenjungen laufen hinter ihm her und rufen: >Jud! Jud!< und werfen mit Steinen nach ihm, und er bleibt stehen und sieht sie mit einem Blick an, der nicht der seine ist, der von seinen Ahnen und Urahnen herkommt, die wie er die Dornenkrone der Verachtung getragen und die Geißelhiebe der Verfolgung erduldet haben, — wenn du diesen Blick siehst, dann hast du vielleicht etwas, ein Kleines und Geringes, von dem >Ecce homo< des hohen Rabbi Loew gesehen.«
Der Heinrich aus der Hölle
Rudolf II., Römischer Kaiser und König von Böhmen, hatte eine schlaflose und unruhvolle Nacht.
Schon gegen elf Uhr hatte seine Angst begonnen, die Angst vor etwas, dessen Kommen er vorhersah und das er nicht abwenden konnte, auch nicht, wenn er die Fenster und die Türe verriegelte. Er hatte sich von seinem Bett erhoben und ging, in seinen Mantel gehüllt, mit eiligen Schritten in der Schlafkammer auf und nieder. Bisweilen blieb er vor dem Fenster stehen und blickte hinaus, dorthin, wo hinter dem schimmernden Band des Flusses die Dächer und Giebel des Judenquartiers zu erkennen waren. Von dort war einst, vor Jahren, Nacht für Nacht, seine Liebste, die schöne Jüdin Esther, zu ihm gekommen. Das war vorüber seit jener Nacht, in der die Dämonen der Finsternis sie ihm aus den Armen gerissen hatten. Dort, in einem der Häuser des Judenquartiers, lag auch sein geheimer Schatz, sein verborgener Hort, das Gold und das Silber des Juden Meisl.
Die Geräusche, die aus dem Hirschgraben zu ihm drangen, das Rascheln des welken Laubs, das der Wind dahintrieb, das Schwirren der Nachtfalter, das Rauschen der Baumkronen, der nächtliche Gesang der Wasserfrösche und der Unken, — alle diese Geräusche verwirrten ihn und vermehrten seine Unruhe. Dann, gegen ein Uhr, kamen die Schreckbilder und die Nachtgespenster.
Es war halb zwei, als der Kaiser die Türe aufstieß und mit einem Stöhnen in seiner Stimme nach seinem Leibkammerdiener, dem Philipp Lang, rief.
In diesen Tagen aber war der Philipp Lang wie alljährlich auf seinem Gut in Melnik bei der Obsternte. Statt seiner kam der Kammerdiener Cervenka atemlos, die Nachtmütze schief auf dem Kopf, herbeigelaufen. Mit einem Leinentüchlein wischte er behutsam die Schweißtropfen von des Kaisers Stirn.
»Ich hab' Eure Majestät«, stieß er hervor, »oftmals treugehorsamst gemahnt, mehr auf höchstdero Gesundheit achtzuhaben, sich nicht der kalten Nachtluft auszusetzen. Aber auf einen alten Diener wird nicht gehört.«
»Lauf und hol den Adam Sternberg und den Hanniwald!« gebot ihm der Kaiser. »Ich hab' mit ihnen zu reden. Und lauf zum Colloredo, er soll mir starken Wein reichen, Rheinfall oder Malvasier, bin dessen bedürftig.«
Der Kaiser wußte genau, welcher von den drei Mundschenken und welcher von den elf Vorschneidern der kaiserlichen Tafel dem Turnus gemäß an jedem Tag der Woche den Dienst bei ihm zu versehen hatte. Aber er wußte nicht oder er hatte es vergessen, daß der Graf Colloredo etliche Wochen zuvor an einem Schlagfluß verstorben war und daß nun ein junger Graf Bubna das Amt eines zweiten Mundschenken bei Hof bekleidete.
Der Hanniwald, des Kaisers Geheimsekretär, tratzuerstin die Kammer. Er war ein langer, hagerer Mann mit scharfen Zügen und silberweißem Haare, der Cervenka hatte ihn noch bei der Arbeit angetroffen. Bald hernach kam der Oberststallmeister Graf Adam Sternberg im Nachtgewand und mit nur einem Pantoffel. Der Kaiser ging mit eiligen Schritten in der Kammer auf und nieder, der Mantel war ihm von den Schultern geglitten. Jetzt blieb er stehen. In seinen Zügen drückte sich Erregung, Ratlosigkeit und Übermüdung aus. Er holte Atem und wollte zu erzählen beginnen, was ihm in dieser Nacht und in den beiden vorangegangenen Nächten begegnet war, da wurde die Türe geöffnet und der Cervenkaließdenj ungen Grafen Bubna eintreten und hinter ihm einen Lakaien, der die Weinkannen trug.
Der Kaiser sah dem Bubna starr ins Gesicht, trat dann erschrocken einen Schritt zurück und fragte:
»Wer bist du? Was willst du? Wo ist der Colloredo?« »Eure Majestät geruhe sich zu erinnern«, sagte der Hanniwald, »daß der Graf Colloredo vor kurzem nach Gottes Ratschluß den Weg gegangen ist, den wir alle gehen müssen. Eure Majestät weiß es, war auch bei der Messe anwesend, die für Euer Majestät getreuen Diener in der Domkirche gehalten worden ist.«
»Und das«, nahm jetzt der Graf Sternberg das Wort, »ist sein Nachfolger im Amt, der Vojtech Bubna, Euer Majestät zu dienen. Guter Leute Kind, der Vojtech Bubna.«
»Er sieht aber dem Bernhard Rußwurm gleich«, sagte der Kaiser, und er trat, indem er abwehrend seinen Arm erhob, wiederum einen Schritt zurück. »Ist es nicht zum Erschrecken, wie er dem Rußwurm gleichsieht?«
Der Kaiser fürchtete sich bisweilen vor neuen Gesichtern. Sie beunruhigten ihn. Er glaubte in ihnen die Züge längst Verstorbener zu erkennen, von denen er sich verfolgt wähnte. Den General von Rußwurm hatte er vor vielen Jahren als einen Duellanten gefangensetzen und erschießen lassen, und diese Tat, die er im Jähzorn begangen hatte, lastete schwer auf seiner Seele. Aus jedem neuen Gesicht blickte ihn der Rußwurm feindselig und voll Hohn an, er kam immer wieder aus seinem Grabe, um ihn zu bedrohen.
»Dem Rußwurm? Ach wo!« sagte der Adam Sternberg leichthin. »Der Rußwurm war von kleiner Statur, hatte eine breite Nase und ein fleischiges Kinn. Ich sag' es Euer Majestät, ich kenne den Vojtech Bubna seit den Tagen, da ihm das Hemd aus dem Hosenlatz hing.«
»Er sieht aber dennoch dem Bernhard Rußwurm gleich«, rief der Kaiser, und die Zähne schlugen ihm aneinander. »Wer bist du? Woher kommst du? Kommst du aus der Hölle?«
»Euer Majestät zu dienen, — ich komm' aus Prastice. Das ist unser Gütlein, liegt bei Chotebor im Caslauer Kreis«, erklärte der junge Graf Bubna, der nicht begriff, was da vorging und warum ihn der Kaiser so hart anfuhr.
»Wenn du nicht ein verlogener Geist bist«, sagte der Kaiser, »so bet ein Paternoster, nenn mir die Namen der zwölf Apostel Christi und zähl mir die Artikel des Glaubens auf!«
Der junge Bubna warf einen bestürzten und fragenden Blick auf den Grafen Sternberg, der aber nickte eifrig mit dem Kopf, und so betete er ein Paternoster, sagte die Namen der zwölf Apostel her, wobei er den Apostel Thaddäus vergaß, dafür aber St. Philppum zweimal nannte, und dann zählte er die Artikel des Glaubens auf, und wo er stecken blieb und nicht weiter wußte, da half ihm der Kammerdiener Cervenka, der hinter ihm stand, mit einem geflüsterten Wort aus der Not.
Nach dem zweiten Glaubensartikel gab sich der Kaiser zufrieden.
»Es ist gut. Es ist gut«, meinte er. »Du hast recht, Adam, ich habe mich getäuscht, er sieht dem Bernhard Bußwurm nicht gleich. Er mag in Frieden ruhen, der Rußwurm, ich hab' ihm längst vergeben.«
Der Cervenka war hinter ihn getreten und legte ihm den Mantel um die Schulter. Der Kaiser nahm die Weinkanne aus den Händen des jungen Bubna und leerte sie.
»Lustig! Lustig!« sagte er sodann. »Es geht sonderbar zu hier auf der Burg. Heut nacht war wiederum einer bei mir in der Kammer und hat mich geplagt.«
»Wer war bei Eurer Majestät heute nacht?« fragte der Hanniwald, wiewohl er des Kaisers Antwort im vorhinein wußte.
»Einer von seinen Boten«, sagte der Kaiser, der den Teufel nicht gern beim Namen nannte, mit einem leisen Stöhnen.
»Und wiederum in eines Gewürzkrämers Gestalt?« fragte der Hanniwald, und dabei strich er sich sein silberweißes Haar zurecht.
»Nein, nicht in eines Menschen Gestalt«, erwiderte der Kaiser. »Es ist jetzt zwei Tage her, da kamen sie zum erstenmal, seine Boten, sie kamen zu dritt in der Nacht in einer Krähe, eines Kuckucks und einer Hummel Gestalt. Sie schrien aber nicht, wie diese Vögel zu schreien pflegen, sondern sie sprachen mit Menschenstimmen zu mir und plagten mich.«
»Gott steh' uns Sündern bei!« murmelte der Cervenka entsetzt, und der Lakai, der die Weinkannen hielt, versuchte, eine Hand frei zu bekommen, um hastig ein Kreuz zu schlagen.
»Der Kuckuck«, fuhr der Kaiser fort, »begehrte, ich sollt' den Sakramenten, den Messen, den Vigilien, dem Chrysam und dem Weihwasser absagen. Der in der Hummel Gestalt raunte mir zu, daß der Herr Jesus, unsere Hoffnung, nicht in das Fleisch gekommen und daß die heilige Muttergottes in der Erbsünde empfangen worden sei.«
»Dann ist's wohl klar, von welcher Art und Herkunft diese Vögel waren«, bemerkte nachdenklich der Adam Sternberg.
»Der dritte, der in einer Krähe Gestalt sich zeigte«, berichtete der Kaiser weiter, »der beschwor mich, es sei jetzt die Zeit und ich dürfe nicht länger warten, ich müsse absagen der heiligen Taufe und dem heiligen Kreuz, den Messen und dem geweihten Wasser, sonst werde der, der ihn sende, die Krone von meinem Haupte nehmen und sie mit all meiner Macht in die Hände des Frevlers und Lotterbuben geben.«
Wenn der Kaiser vom Frevler und Lotterbuben sprach, dann meinte er seinen Bruder Matthias, den Erzherzog von Osterreich.
»Gott wird's nicht zulassen«, sagte der Hanniwald. »In seinen Händen liegt des Reichs und Eurer Majestät Geschick und nicht in denen des Widersachers.«
»So ist es. In Ewigkeit Amen«, ließ sich der Cervenka vernehmen.
»Gestern in der Nacht«, fuhr der Kaiser fort, »kamen nur zwei von seinen Boten, der in des Kuckucks und der in der Hummel Gestalt. Der Kuckuck nannte den Papst einen losen spanischen Kaplan, der in Rom residiert, und die Hummel raunte mir zu, ich sollt' mich ihrem Herrn nicht länger widersetzen, sondern ihm seinen Willen tun, sonst werde es mir übel ergehen, der geheime Schatz werde nicht in meine Hände kommen, er werde in Nichts zergehen wie Märzenschnee, und ich müßte verzweifeln.«
»Weiß Eure Majestät von einem geheimen Schatz?« fragte der Sternberg. »Ich weiß nur von Schulden da und Schulden dort.«
»Und heute in der Nacht«, sprach der Kaiser weiter, »kamen sie wiederum zu dritt, aber der in des Kuckucks Gestalt führte allein das Wort.«
»Er wird Eurer Majestät wohl nicht das Benedictus vorgepfiffen haben«, meinte der Sternberg.
Der Kaiser fuhr sich mit dem Rücken seiner schmalen Hand über die feuchte Stirne. Sein Blick war abwesend und in seiner Seele war das Grauen und der Tod.
»Er sagte«, berichtete er, »er und seine beiden Gesellen kämen nun zum letztenmal, mich zu mahnen, und nach ihnen käme nur einer noch, der werde sich mir in eines Menschen Gestalt zeigen, und ihm müßt' ich die Antwort sagen. Und ich sollt' meine Antwort wohl bedenken, denn wenn sie seinem Herrn mißfiele, dann werde er meine Krone und kaiserliche Gewalt dem Frevler, dem Lecker, dem Lotterbuben geben. Und unter des Frevlers Herrschaft werde der Krieg kommen in allen Ländern vom Aufgang bis zum Niedergang, mit Verfinsterung des Mondes und der Sonne, mit vielen feurigen und blutigen Zeichen am Himmel und auf der Erde, mit Rebellion, Blutvergießen, fallenden Seuchen und Hungersnot. Da würden alle Menschen verzagen und viele sterben, und um Bretter zu Särgen werd' überall ein großes Bitten sein. Und ich konnt's nicht länger hören«, so schloß der Kaiser seinen Bericht, »ich lief zur Tür hinaus und dann traf ich diesen dort.«
Und er wies mit einer müden und kraftlosen Bewegung seines Arms auf den Kammerdiener Cervenka.
»Ja«, sagte dieser, »und ich fand Eure Majestät an allen Gliedern zitternd und mit Schweißtropfen an der Stirn, nahm mir daher heraus, Eure Majestät um Schonung höchstdero Gesundheit getreulich zu bitten.«
Der Sternberg machte dem jungen Grafen Bubna ein Zeichen, daß er dem Kaiser die Weinkanne reichen möge. Denn nach der zweiten Kanne Weins pflegte sich des Kaisers Erregung zumeist sehr rasch zu legen, die düsteren Vorstellungen und die schwermütigen Gedanken wichen für einige Zeit von ihm, und es stellte sich das Schlafbedürfnis ein. Der Kaiser nannte das »sein Leid vergessen«.
Indessen fragte der Hanniwald:
»Hat Eure Majestät bereits geruht, die Antwort zu erwägen, die dem angekündigten Ambassadeur des Satans zu erteilen sein wird?«
Der Kaiser schwieg und fuhr sich mit der Hand über die Stirne und durch sein gekraustes Haar. Sein Atem ging hörbar, seine Brust hob und senkte sich. Eine Minute währte dieses Schweigen.
Der Hanniwald, den bisweilen die Furcht beschlich, der Kaiser könnte dem katholischen Glauben untreu werden und sich in seinem Gemüte der utraquistischen Ketzerei zuneigen, flüsterte dem Sternberg zu:
»Metuo, ne Caesar in apostasiam declinet.«
»Optime! Optime!« gab der Sternberg, der kein Wort verstanden hatte, zur Antwort.
Jetzt begann der Kaiser zu reden. Er sprach mit leiser Stimme, langsam und die Worte mit Vorsicht wählend.
»Du weißt es, Hanniwald«, sagte er, »wie so unruhig die Sachen in Böhmen beschaffen sind und wie gefährlich es hier mit dem Landfrieden und der Religion steht. Wir müssen daher durch zeitliche Klugheit den wütenden Feind und Widersacher zu besänftigen trachten und so das Übel abwehren, mit dem er die von Gott uns anvertrauten Länder bedroht. Denn ich will den Krieg nicht, der aller Menschen Nahrung, Vieh und Gewächse, Handel und Hantierung verheert und verstört und der in seinem Mantel das große Sterben trägt. Ich will den Frieden, hab' mich all mein Leben um ihn gemüht, den edlen Frieden will ich, der alle Menschenkinder ernährt.«
»Recht so!« rief der Sternberg. »Mag's regnen, mag's schnei'n, nur gut Wetter soll sein.«
»Die Gewalt, mit der der böse Feind und Widersacher sich so hoffärtig brüstet, ist nicht gar groß«, sagte jetzt der Hanniwald. »Nur in seiner Hölle hat er Gewalt, auf Erden nicht. Sein Drohen ist eitel, ist Teufelstrug und Teufelsgespinst. Und um seinem Netz und Fallstrick zu entgehen, bedarf es weltlicher Klugheit wahrlich nicht, sondern daß wir uns nicht eines Fingers breit von dem Herrn Jesus, der uns erlöst hat, hinwegbegeben, das allein tut not.«
»Das allein tut not«, wiederholte der Sternberg, und er gab dem Bubna wiederum ein Zeichen, daß er dem Kaiser die Weinkanne reichen sollt'. »Gut gesprochen, Hanniwald, gut gesprochen.«
»War also alles nur Teufelstrug und Teufelsgespinst«, flüsterte der Kaiser mit einem tiefen Aufseufzen.
»Ein excellenter Kopf, der Hanniwald, ich hab' es Eurer Majestät immer gesagt«, erklärte der Sternberg, und er gab dem Bubna, der wie ein Stock dastand, ein neues Zeichen.
»... daß wir uns nicht eines Fingers breit von dem Herrn Jesus, der uns erlöst hat, hinwegbegeben«, flüsterte der Kaiser. »Das ist ein gutes Wort, tröstet die Seele, ist stark wie Bezoar.«
Jetzt endlich fiel sein Blick auf den Grafen Bubna, er nahm ihm die Kanne aus der Hand und trank sie leer.
»Alles nur Trug!« sagte er sodann. »Lustig! Lustig! Du bist also der Vojtech Bubna. Ich hab' einen Bubna gekannt, war mit meinem geliebtesten Herrn Vater hochlöblichen Gedächtnisses bei einem Bubna auf der Wildschweinjagd. Und du? Wie steht's mit dir? Wieviel bist du dem MeislJuden schuldig?«
Der junge Bubna wurde blutrot im Gesicht. Wie die meisten jungen böhmischen Herren von Adel hatte er vom Meisl gegen Schuldschein Geld geliehen, denn von zu Hause gab es nur kargen Zuschuß. Er begann zu stammeln:
»Siebzehn rheinische Gulden. Eure Majestät wird verzeihen, — es ist nicht recht, aber ich hatte im Spiel Verluste, wüßt' mir anders nicht zu helfen.«
Dem Kaiser schien dieses Eingeständnis eine Art Vergnügen zu bereiten.
»Ist gut. Ist gut«, unterbrach er ihn. »Nur brav Schulden gemacht! Nur tapfer zum Juden gelaufen! Ist gut. Ist gut.«
Jetzt trat der Kammerdiener Cervenka langsamen Schritts und mit steifer Würde auf den Kaiser zu.
»Eure Majestät!« sagte er. »Es ist mein pflichtheischendes Ersuchen und treugehorsamstes Bitten, daß sich Eure Majestät nunmehr allergnädigst zu Bett begeb'.«
»Die außerordentlichen Dinge«, schrieb einmal der spanische Gesandte seinem König, »sind am Prager Hof die alltäglichen und gewöhnlichsten.«
Zu den außerordentlichen Dingen, die in Prag nur wenig Aufsehen erregten, gehörte der feierliche Aufzug eines kaiserlich-marokkanischen Gesandten, der sich, zwei Tage nach jenem nächtlichen Begebnis, beim Schall der Fagotten, Cornetten, Schalmeien und Kesselpauken vom Haus »Zum Resedenstock«, wo der Gesandte mit seinem Gefolge abgestiegen war, durch die Gassen der Kleinseite und den Hradschin hinauf zur Prager Burg bewegte.
Dieser Gesandte hatte in Venedig Verhandlungen eingeleitet, die die Lieferung von Schiffsgeschützen, Kriegsmunition, Pulver und Tauwerk für die marokkanische Flotte zum Ziele hatten, und war von Venedig nach Prag gekommen, um Rudolf II. ein Begrüßungs-, Ehrerbietungs- und Freundschaftsbezeigungs-Schreiben seines Souveräns zu überreichen, denn dieser hoffte durch Vermittlung des Römischen Kaisers in ein besseres Verhältnis zur spanischen Krone zu gelangen, die ihm durch Unterbindung seines Seehandels Schaden und Abbruch tat.
Auf seiner Fahrt nach Venedig war der Gesandte in Liza Fusina von zwölf in Seide und Scharlach gekleideten venezianischen Edelleuten erwartet worden, die ihm den Willkommensgruß entboten. Er war in eine Gondel gestiegen, die mit Stickereien überdeckt war, und schöne Teppiche waren ausgespannt, auf denen man sich niederließ. Bei den Klängen eines Saitenspiels war er unter einem strahlend blauen Himmel dahingeglitten, das Meer war seicht und ruhig, und in der klaren Flut konnte man Fische aller Art sehen. Dann war vor seinen Augen die Stadt aus dem Wasser aufgetaucht mit ihren Palästen, Klöstern und Glockentürmen. Vor der Kirche St. Andrea hatten ihn wiederum zwölf Edelleute erwartet. Er war in ein anderes, flaches, aber geräumiges Fahrzeug gestiegen, das sie den Bucentoro hießen, und unter einem Sonnendach von karmesinroten Atlas war er die breite Wasserstraße, den canale grande, dahingefahren. Sehr groß und hoch standen hier die Häuser, aus Stein und buntbemalt die einen, aus weißem Marmor die anderen. Am ersten Tag hatte man ihm den Schatz von St. Marco gezeigt, vierzehn Edelsteine, jeder achthundert Karat im Gewicht, und viel goldenen Tand, aber auch Gefäße aus Hyazinth und Amethyst, ja sogar ein Fläschchen, das aus einem einzigen Smaragd geschnitten war. Er hatte auch das Arsenal gesehen, in dem die Venezianer alles herstellten, was für eine Kriegsflotte erforderlich war. Am nächsten Morgen hatte man ihn mit großem Gepränge in die Signoria geführt, und er hatte dem Dogen seine Briefe überreicht.
Paläste und goldene Kuppeln, leises Dahingleiten unter unhörbaren Ruderschlägen, Saitenspiel und blauer Himmel, — das war Venedig, eine triumphierende Stadt, die mit großer Weisheit regiert wurde und ihre Gäste zu ehren verstand.
Hier in Prag war ihm nur wenig Ehre zuteil geworden. Als Quartier hatte man ihm ein Haus mit feuchten, kahlen Wänden zugewiesen, dessen enge und dumpfe Stuben nur dürftig eingerichtet waren. In dieses Quartier war ein Diener oder Sekretär des Kanzlers von Böhmen gekommen, um ihm Tag und Stunde der ihm vom Kaiser bewilligten Audienz anzuzeigen und ihn mit dem Zeremoniell bekannt zu machen, das für Audienzen dieser Art in Übung war. Und jetzt geleiteten zwei kaiserliche Kammerherren, die ohne jeden Prunk gekleidet und nur mäßig gut beritten waren, ihn und sein Gefolge hinauf zur Burg.
Vor dem Burgtor empfing ihn ein Hauptmann der Hellebardiere und führte ihn über den inneren Burghof und eine breite Treppe hinauf und dann durch etliche Korridore in ein Kabinett, in dem der böhmische Kanzler, Herr Zdenko von Lobkowitz, und der Oberstkämmerer Graf Nostiz ihn erwarteten. Ein Mönch vom Orden der geringen Brüder, der aller afrikanischen Sprachen kundig war, machte den Dolmetsch.
Die beiden großen Herren und der gelehrte Mönch geleiteten den Gesandten und sein Gefolge von Mamelukken, Läufern, Aufwärtern und Musikanten in den Audienzsaal.
In der Mitte des Saales stand ein Thronsessel unter einem Baldachin. Teppiche, die auf dem Boden lagen, machten die Schritte unhörbar, Teppiche, die an den Wänden hingen, zeigten mythologische und Jagdszenen. Für den Gesandten waren Kissen und ein Taburett bereitgestellt. Sein dunkler Bart hob sich scharf von seinem weißen seidenen Gewände ab.
Hinter dem Gesandten nahmen drei seiner Mamelukken Aufstellung. Der vornehmste unter ihnen, ein alter Mann, dem ein Auge fehlte, trug in einer krystallenen Schale, die mit einem goldgestickten Schleier bedeckt war, das Handschreiben des Beherrschers von Marokko.
Die Musikanten waren in den Hintergrund verwiesen worden. Der Saal füllte sich mit Würdenträgern, Hofbediensteten und Offizieren der Leibwache. Der Obersthofmarschall, Herr Karl von Lichtenstein, zeigte sich für eine kurze Weile. Er schien mit den getroffenen Anordnungen zufrieden zu sein. Er grüßte und dankte nach allen Seiten und verschwand.
Ein kurzer Trommelwirbel. Eine Tür sprang auf und hinter dem Zeremonienmeister, der dreimal seinen Stab zu Boden stieß, trat der Kaiser mit raschen Schritten und lebhaft umherblickend in den Audienzsaal.
Er lüftete den Hut. Die Würdenträger und die Hofbediensteten richteten sich aus ihren tiefen Verbeugungen auf. Die Offiziere der Leibwache standen unbeweglich wie Bildsäulen. Auf ein Zeichen des Zeremonienmeisters trat nun der Kanzler von Böhmen vor und präsentierte Seiner Majestät den Gesandten des Kaisers von Marokko.
Der Gesandte senkte den Kopf, legt die rechte Hand an seinen Turban und machte dem Kaiser die drei vorgeschriebenen feierlichen Verbeugungen. Dann trat er einen Schritt zurück und nahm aus der krystallenen Schale das Handschreiben seines Souveräns. Er drückte es an seine Lippen und übergab es dem Kanzler von Böhmen, der es dem Kaiser überreichte. Der Kaiser brach die Siegel und entfaltete das Schreiben. Dann legte er es in die Hände des böhmischen Kanzlers zurück, der es nunmehr dem Dolmetsch zur Verlesung übergab.
In diesem Augenblick setzten die Fagotten, die Cornetten, die Schalmeien und die Kesselpauke mit einer kurzen und lärmenden Musik ein. Einer von den Mamelucken machte Tanzbewegungen und stieß langgezogene Rufe aus, - ein Gehaben, das im Zeremoniell nicht vorgesehen gewesen war. Dann trat Stille ein, und der gelehrte Mönch begann mit der Verlesung:
»Ich, Muley Mehemed, aus göttlichem Willen ein gewaltiger Gebieter und Kaiser im occidentischen Afrika diesseits und jenseits des Atlasgebirges, in Fez, Zagora und Tremissa König, Herr über Mauretanien und die Berberei, entbiete meinem Bruder, dem Römischen Kaiser und König von Böhmen, meinen Gruß und wünsche ihm ...«
»Es ist der Heinrich«, sagte plötzlich der Kaiser, der den
Gesandten unverwandt angesehen hatte.
»... und wünsche ihm«, fuhr der Dolmetsch nach einem
kurzen Augenblick der Verwirrung fort, »ein langes Leben
und die rechte Erkenntnis Gottes, die allein...« »Frag diesen dort«, unterbrach ihn der Kaiser, und er
wies dabei auf den Gesandten, »ob er glaubt und bekennt,
daß Jesus Christus zu unserer Erlösung in das Fleisch ge-
kommen ist.«
»... die allein die Tore des Paradieses öffnet, daß er ewig
darin wohne ...«
»Du sollst ihn fragen«, rief der Kaiser jetzt mit überlauter
Stimme, »ob er glaubt und bekennt, daß Jesus Christus in
das Fleisch gekommen ist.«
Unter den Anwesenden erhob sich ein Flüstern. Der
Oberstkämmerer und der Kanzler von Böhmen traten auf
den Kaiser zu, um ihn zu beschwichtigen. Der gelehrte
Mönch ließ das Handschreiben sinken und wandte sich
mit einigen Worten an den Gesandten.
Der Gesandte blickte einen Augenblick lang schweigend
vor sich hin. Dann machte er eine Handbewegung, als ob
er die Frage, die an ihn gerichtet worden war, als eine, die
ihn nicht zu bekümmern habe, von sich wiese.
»Er will nicht bekennen«, rief der Kaiser. »So heiß ihn
die Artikel des Glaubens hersagen.«
Der Dolmetsch übermittelte dem Gesandten das Begehren des Kaisers. Der Gesandte deutete durch eine Kopfbewegung an, daß er außerstande sei, dieses Begehren zu erfüllen.
»Es ist der Heinrich«, sagte jetzt der Kaiser kurz und entschieden. »O Jammer über Jammer! Es ist der Heinrich,
und er kommt aus der Hölle.«
Der böhmische Kanzler, der Oberstkämmerer und der Zeremonienmeister erkannten jetzt, daß der Kaiser den marokkanischen Gesandten für einen gewissen Heinrich Twaroch
hielt, der vor vielen Jahren als Futterkencht in den kaiserlichen Stallungen beschäftigt gewesen war, und sie waren sich
einig darüber, daß man der Audienz so rasch, als es ginge, ein
Ende bereiten müsse. Denn der Irrtum, dem der Kaiser allem
Anschein nach verfallen war, wirkte um so peinlicher, als
dieser Heinrich Twaroch nicht nur von sehr geringer Herkunft gewesen war, — er war auch des Diebstahls überwiesen
und gefänglich eingezogen worden, denn er hatte dem Kaiser, der ein großer Liebhaber von alten Münzen und Medaillen war und eine schöne Collection von ihnen zusammengebracht hatte, drei römische Goldmünzen und eine silberne
Medaille aus der Tasche gezogen. Und dafür wäre er gehängt
worden, wenn es ihm nicht gelungen wäre, das Fenstergitter
zu durchfeilen und so in letzter Stunde aus dem Gefängnis zu
entkommen. Daß er dem Galgen entwischt war, hatte man
dem Kaiser, der über den an ihm begangenen Diebstahl sehr
aufgebracht gewesen war, verschwiegen.
Aber bevor der böhmische Kanzler und die beiden anderen großen Herren noch etwas tun konnten, um den befürchteten Eclat zu verhindern, hatte sich der Kaiser von seinem Thronsessel erhoben und war auf den Gesandten zugetreten.
»Höre, Heinrich!« sagte er mit einer Stimme, in der Kummer, unterdrückte Furcht und verhaltenes Grauen klang. »Ich weiß, aus welchem Reich du kommst und was du von mir zu hören begehrst.«
Der böhmische Kanzler, der Oberstkämmerer und der Zeremonienmeister atmeten erleichtert auf, und alle die anderen vom Hof, die anwesend waren, machten erstaunte Gesichter und steckten die Köpfe zusammen. Denn der Kaiser hatte den marokkanischen Gesandten in böhmischer Sprache angeredet.
»Ich will dir auch meine Antwort nicht versagen«, fuhr der Kaiser mit erhobener Stimme fort. »Geh zurück zu dem, der dich gesendet hat, und sag ihm, daß ich mich nicht eines Fingers breit von dem Herrn Jesus, der uns erlöst hat, hinwegbegeben werde. Und dieses ist mein Vorhaben und dabei will ich verharren, sollt' auch mein Kaisertum und alle meine Macht darüber zugrunde gehen.« Er hielt erschöpft inne, seine Hände zitterten, Schweißtropfen waren auf seine Stirne getreten. Der Gesandte stand leicht nach vorn geneigt, regungslos, die Arme über der Brust gekreuzt.
»Du hast mir«, sprach der Kaiser mit gedämpfter Stimme weiter, als wäre das, was er noch zu sagen hatte, nur für diesen einen, der vor ihm stand, bestimmt, »dereinst, als ich in den Stall kam, um mir die flandrischen Hengste zu besehen, als Dieb, der du warst, aus meiner Tasche drei von meinen goldenen Heidenköpfchen entwendet, hast sie verkauft und den Erlös vertrunken, dafür hast du elend dahinfahren müssen, hast es gebüßt. Ich hab' dir's vergeben und will Gott bitten, daß er dir gnädig sei. Und jetzt gib Frieden, Heinrich! Gib Frieden, geh hinweg von hier, geh an den Ort, den Gott dir zubereitet hat!«
Der Kaiser trat zwei Schritte zurück, blieb stehen, sah
den Gesandten oder Boten des Teufels nochmals an und
schlug wie zu einem Abschied mit zwei Fingern seiner
Hand das Zeichen des Kreuzes. Dann wandte er sich und
ging zur Tür hinaus. Der Zeremonienmeister, der wie in
einer Erstarrung dagestanden war, schien zu erwachen
und stieß seinen Stab dreimal zu Boden. Die Trommeln
wirbelten, die Türe schloß sich, die Audienz war beendet
und Herr Zdenko von Lobkowitz, der Kanzler von Böhmen, sandte ein Dankgebet zum Himmel, daß die Sache so
glimpflich abgelaufen war.
Am Abend dieses Tages, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, verließ der Gesandte durch ein Hinterpförtchen das Haus »Zum Resedenstock«. Er war wie ein böhmischer Handwerksmann, wenn er am Abend ins Wirtshaus geht, gekleidet, trug einen Rock aus dickem Tuch, grauwollene Strümpfe, derbe Schuhe und einen breiten Filzhut.
Er ging durch die untere und obere Neustadt zu den Weinbergen, die außerhalb des Stadtgebietes lagen, und weiter auf der Landstraße und dann auf einem Feldweg den Bottic-Bach entlang, bis er zu den Flachsfeldern und den Obstgärten gelangte, die das Dörfchen Nusle umgaben.
Hier stand ein Häuschen inmitten eines Gartens, in dem Kohlrüben, Zwiebeln und Runkelrüben gezogen wurden. Auf der Umrandung eines Ziehbrunnens schlief eine Katze. Es roch nach Kuhmist und nach feuchter Erde.
In dieses Häuschen trat der Gestandte des Kaisers von Marokko ein.
Der Gärtner, ein kahlköpfiger alter Mann, saß neben dem Herd und blickte auf die Milchsuppe, die über dem Herdfeuer brodelte. Er stand nicht auf. Er fuhr sich mit der Hand über das stoppelige Kinn und nickte dem Besucher zu.
»Da bist du wieder«, sagte er. »Du kommst immer wie der Nicodemus in der Nacht.«
»Ich war heut in der Burg«, berichtete der Besucher und sah sich nach einem Stuhl um.
»Das war recht unvorsichtig von dir«, meinte der Gärtner. »Es hätte schlimm für dich ausgehen können.«
»Wer dient, der muß solche und auch noch gefährlichere Dinge wagen, wenn sein Herr es befiehlt«, erklärte der Besucher.
»Nun, du bist heil zurückgekommen«, sagte der alte Mann. »Du hast immer Glück gehabt. Wenn man dich in den Fluß wirft, kommst du mit einem Fisch im Maul zurück.«
Er stellte die Milchsuppe auf den Tisch und holte einen halben Brotlaib aus dem Kasten. Sie begannen zu essen.
»Nur daß du drüben in Afrika ein gar so großer Herr geworden bist, das sollst du mir nicht aufbinden. Daß dein Mohrenkaiser kommt, um dich um Rat zu fragen«, sagte der alte Mann und schob eine Brotschnitte, die er in die Milchsuppe getaucht hatte, in seinen Mund.
»Es ist so«, erwiderte der Gesandte. »Ich steh' meinem Gebieter so nahe wie Petrus dem Herrn.«
»Und daß dich in Vendig der Herzog, der dort regiert, elf Tage lang auf seine Kosten bewirten ließ, das mach mir auch nicht weis.«
»Es ist aber die Wahrheit«, beteuerte der Besucher. »Nur, was ich dort den Trompetern und Trommelschlägern, den Türhütern, den Lakaien, den Läufern und den Ruderknechten spendieren mußte, davon könnt' einer hier in Prag ein halbes Jahr lang leben.«
»Und deine hundert Sklaven und Diener und deine ich weiß nicht wieviel Frauen, — die soll ich dir glauben?« fuhr der alte Mann streitsüchtig fort. »Freilich, — etliche Frauen hab' ich auch gehabt, ich hatte aber nur Verdruß mit ihnen, denn hier in der Bottic-Gegend taugen die Weiber alle nichts. Wenn ich mir wieder eine nehme, dann will ich mir sie von weiterher holen, aus fremden Gegenden, aus Michle oder aus Jessenitz. Aber daß du den wahren Glauben verlassen hast und ein Türke geworden bist, das war nicht recht von dir und gefällt mir gar nicht. Mit der ewigen Seligkeit ist es für dich Essig.«
»Bei wem die Wahrheit ist, ob bei euren Pfaffen oder bei den unsrigen, das mag Gott erkennen«, erwiderte der Besucher.
»Du bist mir ein verstockter Bursche geworden«, sagte der alte Mann verdrießlich.
Eine Weile aßen sie schweigend. Dann fragte der Gärtner:
»Wen hast du oben in der Burg getroffen?«
»Den Zdenko Lobkowitz«, gab der Besucher zur Antwort. »Er ist recht alt geworden.«
»Das kommt von der Lebensweise«, erklärte ihm der Gärtner. »Er sollt's machen wie ich, tagsüber Kohlrüben, Rettiche und Botkohl, morgens und abends eine Milchsuppe und eine Schnitte Kornbrot dazu, — das erhält jung. Hast du auch Seine Majestät, den Kaiser, gesehen?«
»Seine Majestät, der Kaiser, hat mich empfangen«, berichtete der Besucher.
Der alte Mann warf einen Blick auf die Stubentüre, ob sie geschlossen sei.
»Er soll aber schon recht schwach im Kopfe sein, sagen die Leute«, bemerkte er sodann.
»Der? Schwach im Kopf?« rief der Besucher. »Von all denen, die um ihn sind, ist er der klügste. Nicht einen Augenblick lang hat er sich beirren lassen von meinem seidenen Staatsgewand, von meinem Turban und den Saffianschuhen, von meinem Bart und von dem Smaragd an meiner Hand. Der nicht.«
Der alte Mann hörte zu essen auf und blickte seinen Besucher fragend an.
»Ja, Vater, er hat mich erkannt. Nach soviel Jahren hat er mich erkannt«, sagte der Heinrich Twaroch halb stolz, halb traurig.
Der entwendete Taler
Der junge Sohn Kaiser Maximilians II., der spätere Kaiser Rudolf II., der eben aus Spanien, wo er am Hofe König Philipps seine Erziehung erhalten hatte, zurückgekehrt war, ritt einstmals, ohne jedes Gefolge und auch von keinem seiner Diener begleitet, von Prag nach seinem Schlößchen Benatek, um dort etliche Tage zu verbringen. Nun geschah es aber, daß er bei einbrechender Dunkelheit vom Weg abkam und immer tiefer in einen dichten Wald geriet, der kein Ende nehmen wollte, und wie er nun mit seinem Reitpferd nicht mehr weiterkonnte und sich damit abzufinden begann, die Nacht unter den Tannenbäumen auf dem feuchten Moos zu verbringen, da sah er in einiger Entfernung den Schein eines Feuers. Er meinte, daß sich dort vielleicht Holzfäller oder Kohlenbrenner ihre Abendmahlzeit bereiteten, und die würden ihm, dachte er, den Weg nach Benatek weisen können. Er band daher sein Pferd an einen Baumstamm und ging auf die Feuerstelle zu.
Er gelangte zu einer Lichtung, da standen ihm plötzlich zwei Männer gegenüber, beide von riesenhaftem Wuchs und brandrotem Haar, mit gewaltigen Stangen in den Händen, und was er für ein Holz- oder Kohlenfeuer gehalten hatte, das waren drei leuchtende Haufen, der eine von gemünztem Gold, von Silbertalern der zweite und von kupfernen Dickpfennigen der dritte, und es waren der Gold-, der Silber- und der Kupfermünzen so viele, daß man drei Kornsäcke mit ihnen hätte füllen können.
Der junge Erzherzog dachte nun nicht anders, als daß er da auf zwei Räuber gestoßen sei, die ihren Schatz im dichten Holz verbergen wollten. Doch er fürchtete sie nicht, denn er sah, daß sie keine anderen Waffen zur Hand hatten als ihre Stangen, die er leicht mit seinem Degen unterlaufen konnte. Und so fragte er sie im gelassenen Ton, ob sie ihm den Weg nach Schloß Benatek weisen könnten.
Der eine von den beiden deutete mit seiner Stange schweigend in östliche Richtung. Der junge Erzherzog aber begann jetzt Gefallen an diesem Abenteuer zu finden, er ging nicht, er fragte die beiden Männer, wer sie den seien.
»Die unter mir stehen, nennen mich den Großen und Mächtigen«, gab der, der ihm den Weg gewiesen hatte, zur Antwort. »Und mein Geselle heißt der Furchtbare und Starke.«
An diesen Worten, aber mehr noch am Klang der Stimme erkannte der Sohn des Kaisers, daß diese beiden nicht der Erde angehörten. Sie waren Nachtgespenster oder Dämonen. Er hatte in jenen Tagen noch die Kühnheit und Unbekümmertheit der Jugend, aber dennoch befiel ihn Angst, er wäre jetzt gerne weit we g gewesen, doch er wollte um alles in der Welt die beiden nicht merken lassen, wie es um ihn stand. Und so tat er, als hielte er sie noch immer für Menschen von Fleisch und Blut und fragte, woher das viele Geld käme.
»Du wirst es«, sagte der eine, der schon vordem gesprochen hatte, »dereinst erfahren, wenn du es noch nicht weißt, du Erstgeborener und Erbe der drei Kronen, daß das Gold dem Feuer entspringt, das Silber der Luft, das Kupfer dem Wasser.«
»Und wem gehört es? Für wen hütet ihr es?« fragte der Sohn des Kaisers weiter, und er bemühte sich, seiner Stimme einen festen Klang zu geben.
»Das alles«, lautete die Antwort, »ist für einen aus dem verfolgten Stamm bestimmt, für den Mordechäus Meisl, deinen künftigen Karnmerknecht.«
Und der andere, der bis nun geschwiegen hatte, wiederholte mit einer Stimme, die noch furchtbarer klang als die des ersten:
»Für den Mordechäus Meisl, deinen Kammerknecht.« Des Kaisers Kammerknechte, — so wurden in jenen Tagen die Prager Juden genannt. Und in dem jungen Erzherzog überwog für einen Augenblick der Verdruß die Angst. Er verzog den Mund.
»Soll denn alles einem Juden gehören?« rief er. »Das gilt nicht. Ich will auch meinen Teil.«
Und um sich selbst seinen Mut zu beweisen, nahm er von dem silbernen Haufen, der ihm zunächst lag, einen Taler, der trug auf der einen Seite das Bildnis seines Vaters und auf der anderen das Landeswappen, den böhmischen Löwen.
Der Schweigsame von den beiden Dämonen, der »Furchtbare und Starke«, hob drohend seine Stange, doch der andere fiel ihm in den Arm.
»Du Zornmütiger, was tust du?« rief er ihm zu. »Du weißt, es steht geschrieben: Der Zornmütige ist dem Götzendiener gleich.«
Dann wandte er sich an den Sohn des Kaisers.
»Behalte den Taler, behalte ihn nur!« sagte er. »Du wirst nicht Glück , noch Frieden haben, bis er nicht in den Händen dessen ist, für den er bestimmt ist.«
Im nächsten Augenblick war alles verschwunden: die Männer, die Lichtung, die drei leuchtenden Haufen, und der Sohn des Kaisers stand allein im dunkeln Tannenwald.
Jetzt gab er sich keine Mühe mehr, seine Angst zu unterdrücken. Er lief und stolperte über Steine und Baumwurzeln, ein Ast riß ihm den Hut vom Kopf, sein Mantel blieb im Buschwerk hängen. Als er sein Pferd gefunden hatte, wurde er ruhiger. Er führte es in die Richtung, die ihm gewiesen worden war, und eine kurze Weile später kam er auf den Weg, der nach Benatek führte.
Aber erst, als er wieder zu Pferd saß und dahinritt, merkte er, daß er den entwendeten Taler noch immer in der Hand hielt.
Am nächsten Tag erhielt der junge Erzherzog die Nachrieht, daß sein geliebtester Herr Vater, der Kaiser, in der Prager Burg an einem Fieber erkrankt sei. Er machte sich sogleich auf den Weg zurück nach Prag, da stürzte sein Pferd und zerschlug sich ein Bein. Er setzte seine Reise in einem Bauernfuhrwerk fort, da brach dem Wagen die Achse. Und als er nach mancherlei anderen Zufällen und Behinderungen endlich in die Prager Burg kam, da empfing ihn sein Herr Vater seines verspäteten Eintreffens wegen mit harten und zornigen Worten, drehte sich zur Wand und wollt' auf keine Entschuldigung hören.
Aber das war nicht alles. Während seiner Abwesenheit war in einem von den Zimmern, die er in der Prager Burg bewohnte, ein Brand entstanden, der hatte ihm seinen schönsten flandrischen Teppich, ein Geschenk des spanischen Königs, verdorben. Auch war sein Lieblingshund, ein kleines spanisches Windspiel, »Graumännlein« genannt, aus der Burg entlaufen und trotz allem Suchen nicht wiedergefunden worden.
Der junge Erzherzog wußte wohl, woher all dies Mißgeschick über ihn kam. Er durfte den entwendeten Teder nicht länger behalten, er mußte ihn in die Hände des Mannes gelangen lassen, für den er bestimmt war.
Einer von den beiden Leibärzten des Kaisers war ein getaufter Jude, der aus Candia in Griechenland auf die Prager Burg berufen worden war. Der kannte alle Judengemeinden in der Levante, in Italien und Deutschland, stand auch trotz der an ihm vollzogenen Taufe mit den Prager Juden in Relation. Den fragte der junge Erzherzog nach dem Mordechäus Meisl.
Der Arzt strich sich den Bart und dachte lange nach. Dann fragte er, wo dieser Jude lebe und von welchem Handel oder Gewerbe er sich nähre.
»Ich mein', er ist ein großer Zauberer und Alchimist, hat in der unsichtbaren Welt auch große Gewalt, lebt hier im Land«, sagte der Sohn des Kaisers.
Der Arzt schüttelte den Kopf. Er kannte keinen Mordechäus Meisl, hatte diesen Namen auch nie gehört.
Nun entsandte der junge Erzherzog zwei seiner Diener ins Judenquartier, die sollten nach dem Mordechäus Meisl Umfrage halten. Sie kamen zurück, hatten nichts erfahren. Einer von ihnen hatte ein Übriges getan und war bei des Kaisers Fiskalen und Pfennigschreibern gewesen, die alle Steuern und Abgaben der Prager Juden in ihren Büchern vermerkten. Aber auch die wußten nichts von einem Mordechäus Meisl.
Da nun der Sohn des Kaisers den Mordechäus Meisl nicht aufzufinden vermochte, entschloß er sich, ein Spiel mit der Vorsehung zu wagen und die Macht der Bestimmung auf eine Probe zu stellen.
Durch ein fast immer verschlossenes Pförtchen, zu dem er sich den Schlüssel verschafft hatte, verließ er eines Abends ungesehen die Burg und ging den Hradschin hinunter und auf die steinerne Brücke, dort stand er eine Weile und blickte den Fluß hinab, und dann beugte er sich über die Brüstung und ließ den Taler aus seiner Hand gleiten.
Er meinte, der werde nun für immer in den Wellen verschwinden, aber just in diesem Augenblick kam unter dem Brückenbogen ein kleines Fischerboot hervor, und der Mann, der darin saß, ließ das Ruder fahren, griff sich an den Kopf und begann wild zu fluchen, denn er glaubte, irgendwer habe mit einem Stein nach ihm geworfen. Dann fiel sein Blick auf den Taler, der im Lichtkegel der Bootslaterne zu seinen Füßen lag.
»Das hat die göttliche Providenz getan«, flüstere der Sohn des Kaisers und legte die Hand an sein Herz, das heftig pochte. Er wußte, daß der Taler nun seinen Weg angetreten hatte, und vielleicht mußte er durch vieler Menschen Hände gehen, ehe er an sein Ziel gelangte. Und er mußte ihm auf diesem Wege folgen, denn sonst fand er seine Ruhe nicht wieder, und den Mann im Boot durfte er nicht aus den Augen verlieren.
Der Mann im Boot hatte inzwischen den Taler aufgehoben. Er besah ihn umständlich, dann machte er ein paar Ruderschläge, besah ihn von neuem, warf ihn zu Roden, um am Klang seine Echtheit zu prüfen, hob ihn wieder auf und ließ ihn, nachdem er sich nach allen Seiten umgeblickt hatte, in der Tasche seines Mantels verschwinden.
Der junge Erzherzog ging nun eilig die Brücke hinab und über den Kreuzherrnplatz und dann am Moldauufer weiter, und gleich hinter der Mühle fand er seinen Mann. Der hatte das Boot an einen Pflock gekettet und unter der Ruderbank einen Eimer mit Fischen hervorgeholt, und mit dem Eimer in der einen und der Bootslaterne in der anderen Hand ging er langsam die Bethlehemgasse hinauf. Vor einem kleinen Hause, dessen Seitenfront an einen Garten stieß, blieb er stehen, stellte die Laterne auf die Erde und wollte eben den Klopfer an der Haustür in Bewegung setzen, als aus dem Schatten der Gartenmauer ein Mann hervortrat und ihn am Arm faßte.
»Was trägtst du da? Fische?« fragte er kurz und in einer herrischen Manier, und dann sagte er wie einer, der gewohnt ist, daß man seine Wünsche für Befehle nimmt:
»Ich brauche deinen Mantel, deinen Hut und diesen Eimer da mit den Fischen.«
»Geh der Herr zum Teufel und mich lasse er in Frieden!« brummte der Fischer ganz verdutzt und machte seinen Arm los.
Statt aber zum Teufel zu gehen, griff der Herr in die Tasche, holte etliches Geld hervor und drückte es dem Fischer in die Hand. Der besah sich beim Schein der Laterne, was er da bekommen hatte. Dann sagte er mit einem vergnügten Lachen:
»Euer Gnaden, noch einen Dukaten und ich will Euer Gnaden auch meinen Rock, mein Hemd und meine Hosen geben, wenn es Euer Gnaden Spaß macht, und nach Hause gehen, so wie mich Gott erschaffen hat.«
Er übergab dem Fremden seinen Mantel, der schlecht und abgenützt war und dazu noch erbärmlich nach Fischen roch, seinen Hut, der nur noch aus einer breiten Krempe bestand, und den Eimer mit den Fischen. Dann nahm er seine Laterne, wünschte dem Herrn Gesundheit nebst allem Wohlergehen und verschwand hinter der nächsten Ecke. In seiner Freude über das empfangene Geld hatte er nicht an den Taler gedacht, der in der Tasche seines Mantels verblieben war.
Der Fremde hing sich den Mantel um, zog das, was von dem Hut vorhanden war, tief in seine Stirne, griff nach dem Eimer und klopfte an die Tür. Der Dienstmagd, die ihm öffnete, sagte er, er brächte die bestellten Fische.
Sie ließ ihn eintreten, und er ging mit ihr die Treppe hinauf, und oben stand eine recht hübsche junge Frau, die hielt sich ein Tüchlein vor die Nase, als sie den vermeintlichen Fischer kommen sah. Der bog die Hutkrempe ein wenig nach oben und blinzelte der Dame zu, und sie erkannte ihren Liebhaber, der sich auf diese Art Eintritt in ihr Haus verschafft hatte, ohne daß das Gesinde etwas merkte.
Die junge Frau schickte die Magd sogleich mit den Fischen in die Küche, und wie sie nun miteinander allein waren, flüsterte er ihr zu, er habe seit Tagen an nichts anderes gedacht, als wie er zu ihr gelangen könne, aber, verdammt der Fischhändler, sein Mantel rieche so übel, daß es nicht zu ertragen sei, — und sie drückte und preßte seine Hand und zog ihn mit sich in die Schlafkammer, und sie verbrachten die Nacht miteinander.
Der junge Erzherzog hatte mit angesehen, wie der Mantel und mit ihm der Taler in andere Hände übergingen, er hatte dann den Mantel im Haus verschwinden sehen, und nun wartete er darauf, daß er wieder zum Vorschein käme. Er ging auf und nieder, auf und nieder, er wurde müde, und die Stunden schlichen so langsam dahin.
Gegen Morgen, als es zu dämmern begann, sah er den neuen Besitzer des Mantels, der sich mit den Beinen voran aus einem Fenster schwang, dann mit beiden Händen den dicken Ast eines Birnbaums ergriff und von Ast zu Ast sich schwingend sich hinabließ, bis er zuletzt wie eine reife Birne auf den Rasen fiel. Für einen Augenblick zeigte sich eine junge Frau im Nachtgewand am Fenster und warf dem Besitzer des Mantels eine Kußhand und den Mantel nach. Die Kußhand erreichte ihr Ziel. Der Mantel verfing sich in den Zweigen des Birnbaums. Der Besitzer des Mantels richtete sich auf, erklomm mit ziemlicher Anstrengung die Gartenmauer und sprang nach einigem Zögern und Uberlegen hinab. Unten angelangt rieb er sich sein Knie und tastete nach seinen Knöcheln, und dann machte er sich, einen Fuß leicht nachziehend, rasch davon. Der Mantel blieb im Geäst des Birnbaums hängen, roch übel und bauschte sich im Wind.
Der junge Erzherzog zweifelte nicht daran, daß der Mantel bald wieder einen neuen Herrn finden werde, und wirklich, nicht lange hernach kam ein mit Weinfässern schwer beladener Wagen daher gefahren. Als der Fuhrmann den Mantel im Geäste des Birnbaums hängen sah, fuhr er ganz dicht an die Gartenmauer heran, hielt an und holte ihn mit seinem Peitschenstiel herunter. Dann warf er ihn hinter sich auf die Weinfässer und fuhr weiter, und der Sohn des Kaisers folgte dem Wagen nach.
Er hatte nicht gar lang zu gehen. Vor einer Herberge auf dem Kleinen Ringplatz blieb der Wagen stehen, die Weinfässer wurden mit viel Lärmen abgeladen, die Pferde in den Stall geführt, der Wagen kam in den Schuppen. Der Fuhrmann nahm den Mantel und ging hinüber ins Judenquartier, und in der Breiten Gasse, die aber auch nur ein enges, wenngleich sehr belebtes Gäßlein war, trat er in den Laden eines Altkleiderhändlers.
Der Juden fremdartige Gesichter und absonderliche Gebärden, ihr geschäftiges Treiben, und daß er da, von der Menge hin und her gestoßen, vor einem Trödelladen stand, das alles erschien dem Sohn des Kaisers wie ein wirrer Traum. Oben auf der Burg hatte man sein Verschwinden sicherlich schon entdeckt, und nun war alles in Bewegung, um ihn aufzufinden, aber hier im Judenquartier suchte ihn keiner. Er verfluchte die Stunde, in der er, nur von seinem Vorwitz beraten, den Taler an sich genommen hatte. Er war übernächtig, müde, hungrig, — es war ihm elend zumut'. Aber er durfte nicht fort, er mußte bleiben und sehen, wohin der Taler lief.
In einer wandernden Garküche, deren es viele in den Judengassen gab, kaufte er sich ein gesottenes Ei, einen Apfel und ein Stücklein Brot. In der lärmenden Gasse wollte er nicht länger stehen und warten, und so trat er in den Trödelladen ein.
Der Altkleiderhändler, der den Mantel in der Hand hielt, indes der Fuhrmann auf ihn einsprach, warf einen Blick auf den Neueingetretenen, und mit diesem einen Blick hatte er den Wert seines Hutes, seiner Halskrause, seiner Kleider und ihres Aufputzes und seiner Schuhe abgeschätzt und zugleich festgestellt, daß dieser Besucher seines Ladens nicht um zu kaufen oder zu verkaufen gekommen war, sondern aus einem anderen, noch nicht ersichtlichen Grund. Und er fragte ihn, womit er ihm zu Diensten sein könnte.
Der junge Erzherzog erbat sich die Gunst, hier im Laden ein wenig zu rasten und sein Frühstück verzehren zu dürfen. Er sei, sagte er, die ganze Nacht auf den Beinen gewesen und habe noch einen weiten Weg vor sich. Dann ließ er sich, nachdem er ein Paar Schuhe und einen Gürtel beiseite geschoben hatte, auf eine Bank, die an der Wand stand, nieder und zog das Ei und das Brot hervor. Der Altkleiderhändler wandte sich wieder dem Mantel und dem Fuhrmann zu.
»Was soll ich mit ihm?« fragte er, und dabei drehte und wendete er den Mantel hin und her und deutete mit dem Finger auf die Flicken und Löcher. »Ich hab' den Laden voll von solcher Ware, die nicht abzusetzen ist.«
»Aber zwölf Pfennige ist er dennoch wert«, meinte der Fuhrmann. »Einen Mantel braucht jeder, und wenn das Geld zu einem neuen nicht reicht, so kauft er einen alten.«
»Aber nicht solch einen«, wendete der Altkleiderhändler ein. »Solch einen kauft keiner, heute, wo auch die Schreiner und die Bürstenbinder gefütterte Mäntel mit geschlitzten Armein tragen wie die Edelleute.«
»Zwölf Pfennige ist er dennoch wert«, redete ihm der Fuhrmann zu. »Mögen ihn auch die Bürstenbinder und die Edelleute nicht kaufen, so kauft ihn doch der geringe Mann.«
Der Altkleiderhändler begann mit kummervoller Miene von neuem den Mantel hin und her zu wenden.
»Er taugt nicht zu Kidusch und nicht zu Hawdolo«, erklärt er, und damit wollte er in der Juden Redeweise sagen, daß der Mantel zu gar nichts nütze sei. »Er ist wert ein ausgeblasenes Ei. Er ist eines Fischers Mantel, und der Fischgeruch ist nicht aus ihm herauszubringen.«
»Er mag eines Fischers Mantel sein«, gab der Fuhrmann zu, »ist aber dennoch« — er überlegte ein wenig — »zehn Pfennige wert.«
»Acht Pfennige, Euer Gestrengen!« sagte jetzt der Trödler und zählte ihm das Geld auf den Tisch. »Acht Pfennige, ich verliere bei dem Handel. Aber weil Ihr es seid und weil es das erste Geschäft ist, das ich heute mache, und damit Ihr ein andermal wiederkommt.«
Der Fuhrmann strich nach einigem Murren und Zögern die acht Pfennige ein und stampfte zur Tür hinaus.
Der junge Erzherzog, der auf der Bank saß und das Brot und das Ei verzehrte, war sehr zufrieden, daß der Handel so ausgegangen war, denn er hatte befürchtet, der Fuhrmann werde das Geld zurückweisen und mit dem Mantel davongehen, und dann wäre es aus mit seiner Rast gewesen, und er hätte, so müde er auch war, dem Taler in des Mantels Tasche noch weiter folgen müssen.
Der Händler warf den Mantel zu einem Haufen alter Kleider, der in einem Winkel lag. Der j unge Erzherzog holte ein Messerchen aus der Tasche hervor und begann seinen Apfel zu schälen. Und während er damit beschäftigt war, kam ein Mann, allem Anschein nach ein Schreiber, in den Laden und begehrte einen schwarzen Tuchrock mit Messingknöpfen und gepufften Ärmeln zu kaufen. Der Trödler holte etliche solche Röcke von den Schrägen und pries sie dem Schreiber an, doch dem war keiner recht, der eine war zu lang, der andere zu eng, bei diesem war das Tuch zu grob, bei jenem der Preis zu hoch, und nach vielem Hin- und Herreden und nachdem der Trödler in seinem Eifer so weit gegangen war, zu beschwören, der Herr Oberstburggraf selbst trüge, wenn er in die Altstadt käme, keinen Rock von auch nur halb so feinem Tuch, verließ der Schreiber den Laden, ohne daß sie handelseins geworden wären.
»Ihr treibt da, scheint es, ein recht mißliches Gewerbe«, bemerkte der junge Erzherzog und biß in seinen Apfel.
»Ein mißliches Gewerbe. Das ist das rechte Wort«, stimmte ihm der Altkleiderhändler bei. »Und voll Sorgen und Plage. Auf zwölf, die feilschen, kommt einer, der kauft. Viel Schaden tun uns auch die Händler, die ohne Schrägen an den Markttagen vom Arm weg die Ware verkaufen, die verderben die Preise. Auch sind wir wider die Billigkeit mit Steuern beschwert, und darüber ließe sich soviel sagen wie über den Auszug aus Ägypten. Das Schlimmste aber ist, daß man uns nicht vergönnt, unser Gewerbe in der Christenstadt zu treiben.«
Oho! Läuft's da hinaus? dachte der künftige Kaiser bei sich. Bleib du nur in deiner Judenstadt, sonst gäbe es Unruhe und Beschwernis, statt Ordnung und gutem Frieden. Und laut sagte er, um den Altkleiderhändler zu beschwichtigen, ein Sprüchlein her, das er des öfteren von einem seiner Diener oben auf der Burg gehört hatte:
»In der Welt ist viel Pein,
ein jeder findet die sein'.
Du mußt dich getrösten zu jeder Frist, daß du gesund und bei Kräften bist.«
»Gesund bin ich, — gelobt sei der Name«, sagte der Altkleiderhändler. »Zum Kranksein gehört Zeit, und die habe ich nicht. Aber das weiß ich, daß dieses Gewerbe mir zur Buße meiner Sünden auferlegt ist.«
»Nein, nicht zur Buße Eurer Sünden, sondern weil Ihr, wie ich Ursach' hab' zu glauben, vom Stamme Rüben seid«, klärte ihn der junge Erzherzog auf. »Denn die vom Stamme Rüben haben, so hat man mich in Spanien gelehrt, um den Rock und den Mantel unseres Heilands gewürfelt. Und darum ist ihren Nachfahren auferlegt, daß sie zeitlebens mit alten Kleidern Handelschaft treiben müssen und nichts anderes damit gewinnen können als Sorge und wiederum Sorge und Mühe und Plag.«
»Davon steht nichts in den Büchern, die unsere Weisen geschrieben und uns hinterlassen haben«, wendete kopfschüttelnd der Altkleiderhändler ein. »Auch bin ich nicht vom Stamme Rüben. Ich bin aus dem Priestergeschlecht, vom Stamme Lewi.«
Aber auch über den Stamm Lewi wußte der junge Erzherzog Bescheid.
»Die vom Stamme Lewi, die haben auch ihren Teil«, berichtete er. »Einer von ihnen hat unseren Herrn Jesus mit Essig und Galle getränkt, und darum haben die aus diesem Geschlecht allezeit Durst und mögen doch nichts Rechtes trinken.«
»Ist das so?« fragte ein wenig spöttisch der Altkleiderhändler. »Ich nämlich trinke, wenn ich Durst habe, recht gerne einen halben Schoppen Wein.«
Der junge Erzherzog ließ sich durch diesen Einwand nicht beirren.
»Dann seid Ihr erlöst«, bedeutete er dem Trödler, »und der Fluch ist von Euch genommen.«
Und um ihm zu zeigen, daß er auch sonst über die Juden und ihre Historie wohl unterrichtet sei, wechselte er den Gegenstand seiner Erörterungen.
»Ihr Juden«, sagte er, »rühmt und gloriert euch, ihr hättet einen weisen Mann gehabt, den König Salomo. Der hat sich aber mit siebzig Ehefrauen und dazu noch mit dreihundert Metzen behängt, war so weise nicht.«
»Er wußte, wieviel Süßes und wieviel Bitteres unter einem Weiberrock verborgen ist«, entgegnete ihm der Altkleiderhändler. »Aber das eine mögt Ihr wissen: Nehmt alle Könige unserer Tage, ja den Römischen Kaiser selbst, so sind sie nur ein Fünklein von König Salomons Majestät.«
Der junge Erzherzog nahm diese Belehrung recht unwillig auf. Sein geliebtester Herr Vater stand für ihn weit über dem König Salomo.
»Ihr sprecht mit wenig Devotion von seiner Majestät, dem Römischen Kaiser«, hielt er dem Juden vor.
»Ich bin sein getreuer Kammerknecht«, sagte der Händler. »Bin auch mit Darreichung meiner Steuern und Abgaben jederzeit richtig befunden worden. Der Herr erhöhe seine Macht! Möge das Schwert der Feinde niemals in seine Länder dringen!«
Die Türe war sachte aufgetan worden, und eine sonderbare kleine Gestalt trat in den Laden, ein Knabe, der in viel zu großen Schuhen ging, und der Rock, den er trug, war an allen Ecken und Enden geflickt und sein Mützlein war so oft gewaschen worden, daß es seine Farbe verloren hatte. In den Händen hielt er einen Sack aus grobem Leinen, der nur zu einem kleinen Teil gefüllt war.
»Da bin ich«, sagte er und legte zwei Kupfermünzen auf den Ladentisch. »Gepriesen sei der Name, ich habe mich auch heute mit Bezahlung einfinden können.«
»Gesegnet sei dein Kommen!« grüßte ihn der Altkleiderhändler und strich die Kupfermünzen ein, und der Knabe ging in den Winkel und machte sich dort mit dem Haufen alter Kleider zu schaffen.
»Er zahlt mir«, erklärte der Altkleiderhändler dem jungen Erzherzog, der ihn fragend angeblickt hatte, »zwei Dickpfennige, wenn er sie hat, aber nicht alle Tage hat er sie. Und dafür gehört ihm alles, was er in den Taschen der Kleider findet, die ich an diesem oder an dem vorangegangenen Tag gekauft habe. Was er findet? Immer die gleichen Dinge. Ein Stück Brot oder Fladen, Nüsse, einen Apfel oder eine Kohlrübe, ein Stück Bindfaden, einen Knopf, einen Nagel, ein leeres Fläschchen, — das alles kommt in seinen Sack. Bisweilen findet er nichts, denn es gibt auch Leute, die die Taschen ausleeren, bevor sie den Rock zum Händler tragen. Manchmal wieder findet er Schätze: ein Stück Band, einen Handschuh, ein Knäuel Wolle und, wenn es hoch hergeht, einen Zinnlöffel oder gar ein Tüchlein. Und damit, Herr, Ihr werdet es nicht glauben, ernährt er seine Mutter und zwei jüngere Geschwister. Geld? Nein, Geld hat er noch nie gefunden. Das lassen die Leut', die ihre Kleider verkaufen, nicht in den Taschen.«
»Herr der Welt! Erheb mich nicht und wirf mich nicht hinab!« kam plötzlich die Stimme des Knaben aus der Staubwolke, die über dem Kleiderhaufen lag.
»Was gibt es? Was hast du gefunden?« fragte der Altkleiderhändler.
»Gepriesen sei der heutige Tag!« sagte der Knabe und kam mit dem Taler in der Hand aus dem Winkel hervor.
»Einen Taler!« rief der Altkleiderhändler, und der Atem stockte ihm beinahe.
»Einen Taler, wahrhaftig, ja«, hauchte der Knabe und er wurde vor Erregung, vor Angst und Freude, blaß und rot und wiederum blaß. In seinen Augen lag eine Frage.
»Was siehst du mich an? Er gehört dir«, sagte der Altkleiderhändler. »Der Narr, der ihn in seinem Rock gelassen hat, der kommt nicht, der weiß nichts mehr von ihm, der meint, er habe ihn längst vertrunken. Sei ohne Sorge, ich kenne meine Leut'.«
Der Knabe machte einen Luftsprung, daß er beinahe aus seinen Schuhen fuhr, und begann im Laden umherzutanzen.
»He, du! Was wirst du mit dem Geld beginnen?« fragte der junge Erzherzog, der in Sorge war, daß er dem Taler noch weiter folgen müßt'. »Wirst du dir neue Schuhe kaufen? Eine neue Mütze? Einen Rock?«
Der Knabe blieb stehen und sah ihn an.
»Nein, Herr«, gab er zur Antwort. »Mein Vater - sein Andenken sei gesegnet — hat mich gelehrt: Aus einem Schuh kann man nicht zwei machen, und eine Mütze bleibt immer nur eine Mütze. Aber aus einem Taler können leicht ihrer zwei werden.«
Und er griff nach seinem Leinensack und war im nächsten Augeblick zur Tür hinaus.
»Wie heißt du? Wohin läufst du?« rief ihm der Sohn des Kaisers nach, aber der Knabe hörte ihn nicht mehr.
»Er heißt Mordechai Meisl, und wohin er läuft, das weiß ich nicht«, sagte der Altkleiderhändler. »Er hat es immer eilig. Vielleicht will er noch heute, noch in dieser Stunde aus dem einen Taler ihrer zwei machen.«
Nachts unter der steinernen Brücke
Wenn der Abendwind über den Wellen des Flusses dahinglitt, schmiegte sich die Blüte des Rosmarins enger an die rote Rose, und der träumende Kaiser fühlte an seinen Lippen den Kuß der Traumgeliebten.
»Du bist spät gekommen«, flüsterte sie. »Ich lag und wartete. So lange hast du mich warten lassen.«
»Ich war immer da«, gab er zur Antwort. »Ich lag und blickte durch das Fenster in die Nacht hinaus, ich sah die Wolken ziehen und hörte das Rauschen der Baumkronen. Müde war ich von der Last und dem Lärm des Tages, ich meinte, die Augen müßten mir zufallen, so müde war ich. Dann endlich kamst du.«
»Kam ich? Und bin ich bei dir?« fragte sie. »Aber wie kam ich zu dir? Ich kenn' den Weg nicht, bin ihn nie gegangen. Wer hat mich zu dir gebracht? Wer bringt mich Nacht für Nacht zu dir?«
»Du bist bei mir und ich halte dich in meinen Armen, mehr weiß ich nicht«, sagte der Kaiser.
»So ging ich wohl«, flüsterte sie, »durch die Gassen, meiner selbst nicht bewußt, stieg die Treppen hinauf, und die Leute, denen ich begegnete, sahen mich verwundert an, aber keiner trat mir in den Weg, keiner hielt mich an. Das Tor sprang auf, Türen öffneten sich, und nun bin ich bei dir. Es ist nicht recht, ich sollt's nicht tun. Hörst du den Fluß rauschen?«
»Ja, ich höre ihn. Des Nachts, wenn du bei mir bist, rauscht er stärker als sonst, es ist, als wollt' er uns in Schlaf singen. Als du ihn zum erstenmal rauschen hörtest, da weintest du vor Angst. Du weintest und riefst: >Was ist mit mir geschehen? Wo bin ich?<«
»Ich hatte Angst. Ich erkannte dich und könnt' es nicht begreifen, daß ich bei dir war«, sagte sie. »Als ich dich zum erstenmal sah, da rittest du auf einem milchweißen Zelter, und hinter dir ritt ein Zu g von Geharnischten, da war ein Blitzen und Schimmern, die Hufe dröhnten und die Trompeten jauchzten, und ich lief nach Hause und rief: >Ich hab' des Kaisers Herrlichkeit gesehen<, — und ich glaubte, das Herz müßt' mir stille stehen.«
»Als ich dich sah zum erstenmal«, sprach der Kaiser, »da standest du an eines Hauses Wand geschmiegt, die Schultern ein wenig in die Höh' gezogen, als wolltest du fliehen oder dich verbergen, scheu und ängstlich wie ein Vögelchen, so standest du, und die braunen Locken fielen dir in die Stirne. Ich sah dich an und wußte, daß ich dich nicht würde vergessen können, daß ich an dich würd' denken müssen Tag und Nacht. Doch je näher ich dir kam, desto ferner erschienst du mir, von Augenblick zu Augenblick rücktest du weiter von mir fort, so unerreichbar wurdest du mir, als wärest du für alle Zeiten für mich verloren. Und als du dann kamst und bei mir warst und ich dich hielt, da war es wie ein Wunder oder wie ein Traum. Mein Herz war voll Glückseligkeit, und du weintest.«
»Ich weinte und ich möcht' auch heute weinen. Wo sind wir und was ist mit uns geschehen?«
»Wie du duftest!« sagte der Kaiser. »Wie eine zarte, kleine Blume, deren Namen ich nicht kenne, so duftest du.«
»Und du«, flüsterte sie, »wenn ich mit dir bin, dann ist es mir, als ginge ich durch einen Rosengarten.«
Sie schwiegen beide. Rauschend zogen die Wellen des Flusses vorbei. Ein Windhauch kam, und Rosmarin und Rose fanden sich in einem Kuß.
»Du weinst«, sagte die rote Rose. »Deine Augen sind naß und an deinen Wangen hängen Tränen wie Tautropfen.«
»Ich weine«, sprach der Rosmarin, »weil ich zu dir gehen muß und will's doch nicht. Ich weine, weil ich muß fort von dir und möcht' doch bleiben.«
»Du sollst nicht fort. Du bist mein, und ich halte dich. Ich habe Gott in hundert Nächten um dich gebeten. Gott hat dich mir geschenkt, nun bist du mein.«
»Ja, ich bin dein. Aber nicht Gott hat mich dir geschenkt, nicht seine Hand war es, die mich zu dir geführt hat. Gott zürnt mir, und ich habe Furcht vor seinem Zorn.«
»Er zürnt dir nicht«, sagte der Kaiser. »Wie könnt' er dir zürnen! Er sieht dich an und lächelt und verzeiht.«
»Nein«, flüsterte sie. »Er lächelt nicht. Ich habe mich vergangen gegen sein Gebot. Er ist kein Gott, der lächelt und verzeiht. Aber mag geschehen, was will, mag er mich verwerfen und verstoßen, — ich bin bei dir, und ich kann von dir nicht lassen.«
Und Rosmarin und Rose schmiegten sich, in Furcht und Seligkeit erschauernd, aneinander.
»Wie war dein Tag?« fragte der Rosmarin.
»Mein Tag«, sagte die Rose, »war eines armen Mannes Tag mit Sorge, Müh und Plage. Große Herren und kleine Herren, Schurken, Schwätzer, Schelme und Lügenkredenzer, große Narren und kümmerliche Narren, — sie waren alle da, das war mein Tag. Sie kamen und bliesen mir Worte ins Ohr, böse, törichte oder leere und nichtige Worte, sie begehrten das und jenes und fielen mir beschwerlich. Aber wen n ich die Augen schloß, sah ich dich. Das war mein Tag, und wie war der deine?«
»Stimmen und Schatten rings um mich, das ist mein Tag. Ich geh' durch ihn wie durch einen Nebel, ich find' mich nicht zurecht, er ist nicht wirklich, er ist Trug. Phantome rufen mich an, ich höre mich sprechen und weiß nicht, was ich sag'. Dann vergeht der Tag, wie ein Spuk zerstiebt, wie Rauch verweht, und ich bin bei dir. Du allein bist Wirklichkeit.«
»In den dunkeln Stunden des Tages, wenn die Wirrnis der Zeit wie an Alb auf mir lastet«, sprach der Kaiser, »und rings um mich treibt die Welt ihr Wesen mit Untreue, Arglist, Lüge und Verrat, — dann fliehen meine Gedanken zu dir, du bist mein Trost. Bei dir ist Klarheit, mir ist's, wenn ich bei dir bin, als verstünde ich den Weltenlauf, als könnt' ich die Falschheit und die Lüge durchschauen und der Untreue ins Herz hinein sehen. Manchmal rufe ich dich, find' mich allein nicht mehr zurecht, ich rufe laut nach dir und dennoch so, daß keiner mich hört, - aber du kommst nicht. Warum kommst du nicht? Was hält dich, wenn ich dich rufe? Was bindet dich?«
Es kam keine Antwort.
»Wo bist du? Hörst du mich? Ich sehe dich nicht, bist du noch da? Eben hielt ich dich noch, spürte deinen Herzschlag und deinen Atem, — wo bist du?«
»Hier bin ich, ich bin bei dir«, erklang ihre Stimme. »Einen Augenblick lang schien es mir, als wäre ich weit fort. Als läge ich daheim in der Stube, das Mondlicht fiel auf mein Kissen, ein Vogel flatterte durchs Zimmer und wieder hinaus, und dawar die Katze, die kam aus dem Garten und sprang aufs Fensterbrett und irgend etwas klirrte, und ich lag und horchte und dann hörte ich dich rufen >Wo bist du?< und war bei dir, und das alles, die Stube, das Mondlicht, die Katze und der erschrockene Vogel, — das hab' ich wohl geträumt.«
»Du hast eines Kindes Träume«, sagte der Kaiser. »Als ich ein Knabe war, da träumte ich auch von Feld und Wald, von Jagd, von Hunden, Vögeln und allerlei Getier, und wenn ich erwachte, war ich voll Morgenlust und Fröhlichkeit. Dann, später, kamen die schweren Träume, die Träume, die mich ängstigten, und oft wünschte ich des Nachts, es wäre schon Morgen. Und doch ist die Nacht schöner als der Tag. Das Lärmen der Menschen ist verstummt, ein Glockenton, das Wehen des Winds, das Rauschen der Räume und des Flusses, der Flügelschlag eines Vogels, — das sind die Stimmen der Welt, die noch zu hören sind, und über uns sind die ewigen Sterne, die gehen nach des Schöpfers Willen ihren Gang. Ich denke oft darüber nach, daß Gott die Menschen schuf, wie er die Gestirne geschaffen hat, und oben ist Ordnung und Gehorsam ewiglich, hier unten aber ist Unruhe, Streit und Wirrnis. — Wo bist du? Warum schweigst du? Woran denkst du?«
»Ich denke daran und kann es nicht verstehen, wie ich dereinst leben und glücklich sein konnte ohne dich. Ich denke daran, daß die Sterne ihren Gang gehen und sollten doch stille stehen, die Zeit sollt' stille stehen, wenn ich bei dir bin.«
»Sie steht nicht still und just, wenn einer glücklich ist, läuft sie wie ein gehetztes Tier, und Stunde um Stunde stürzt hinab ins Grenzenlose. Komm und küsse mich! Wo bist du?«
»An deinen Lippen bin ich, an deinem Herzen bin ich, ich bin bei dir.«
Trunken von Traum und Glück löste sich die Blüte des Rosmarins von der roten Rose.
»Ich muß fort«, flüsterte sie. »Leb wohl, ich kann nicht bleiben, ich muß fort.«
»Wohin? Wohin? Bleibe doch! Warum kannst du nicht bleiben?«
»Ich weiß es nicht. Laß mich, halt mich nicht, ich kann nicht bleiben, ich muß fort.«
»Bleib doch! Wo bist du? Ich seh' dich nicht. Wo bist du? Eben hielt ich dich noch, wo bist du? — Wo ist sie hin?«
»Wo ist sie hin?« rief der Kaiser und hob den Kopf und blickte um sich.
Der Leibkammerdiener Philipp Lang stand in der Schlafkammer.
»Ich hab' Eure Majestät stöhnen und rufen gehört, da trat ich ein«, meldete er. »Euer Majestät haben sicherlich einen schweren Traum gehabt, haben darum gestöhnt und gerufen, wäre vielleicht gut gewesen, Eure Majestät zu wecken, daß sich nicht hochdero male di testa wiederum einstellt. Draußen stehen etliche Leut', bitten um Gehör. Befehlen Euer Majestät das Frühstück?«
»Wo ist sie hin?« flüsterte der Kaiser.
In ihrem Haus auf dem Dreibrunnenplatz erwachte die schöne Esther, die Frau des Mordechai Meisl. Das Licht der Morgensonne fiel in ihr Gesicht und gab ihrem Haar einen rötlichen Schimmer. Die Katze strich lautlos in der Stube umher und erwartete ihr Schüsselchen mit Milch. Ein Blumentöpfchen, das auf dem Fensterbrett gestanden war, lag zerbrochen auf dem Fußboden. In der Kammer nebenan ging der Mordechai Meisl auf und nieder und verrichtete singend sein Morgengebet.
Sie richtete sich auf und strich sich die braunen Locken aus der Stirne.
»Geträumt!« flüsterte sie. »Und immer, Nacht für Nacht, der gleiche Traum! Ein schöner Traum, aber, gelobt sei der Schöpfer, doch nur ein Traum.«
Der Stern des Wallenstein
»... gar zart war ihm sein böhmisch Hirn, konnte nicht hören der Gläser Klirren. Hahn, Hund und Katz er arrestiert an allen Orten, wo er kampiert.
Hat große Kriegsmacht zusammengebracht, dem Kaiser gewonnen manche Schlacht, tat auch viel Geld und Gut verschenken, und oftmals Leut unschuldig henken.
Nun muß er gehen des Todes Straßen,
Hund bellen und Hahn krähen lassen.« Aus einem Epitaph des Wallenstein
Johannes Kepler, der große Mathematiker und Astronom, dessen Geist die sichtbare Welt umspannte, lebte um das Jahr 1606 unter den allerdiirftigsten und armseligsten Umständenin einem verfallenen Hause der Prager Altstadt, von dessen Fenstern sich ihm kein anderer Ausblick bot als der auf die Werkstätte eines Huf- und Nagelschmieds, auf eine Wirtsstube, in der betrunkene Soldaten lärmten, und auf einen Bretterzaun mit einem Tümpel dahinter, in dem die Frösche sangen. Man hatte ihm, als er nach Tycho de Brahes Tod das Amt eines kaiserlichen Hofastronomen übernahm, große Versprechungen gemacht und ihm fünfzehnhundert Gulden als jährliches Relutum ausgesetzt, aber die Versprechungen vergaß man und das Geld blieb man ihm schuldig, wie es eben am Prager Hof der Brauch war, und wenn er etliche Gulden als Abschlagsumme erhalten wollte, so mußte er tagelang in der böhmischen Hofkammer stehen und supplicieren, und oftmals wußte er nicht, womit er am nächsten Tag seine kranke Frau, seine drei Kinder und sich selbst ernähren sollte. Auch waren die Zeiten teuer, und mit dem Herbst war, wie es Kepler in seinem Kalender für das Jahr 1606 vorausgesagt hatte, eine frühe und strenge Kälte ins Land gekommen.
So war denn Kepler an einem trüben und regnerischen Novembertag wiederum oben auf dem Hradschin im Hirschgraben gewesen und hatte sich dort bei einem der kaiserlichen Wildhüter sein Deputat an Brennholz abgeholt, — das war eine Arbeit, die er selbst verrichten mußte, denn er konnte sich keinen Knecht oder Bedienten halten. Seine Last war nicht schwer gewesen, das Brennholz reichte gerade aus, den Suppentopf auf dem Küchenherd zum Sieden zu bringen und die Kammer, in der seine kranke Frau lag, ein wenig zu erwärmen. Und nun saß er, in seinen vom Begen noch feuchten Mantel gehüllt, in der ungeheizten großen Stube und ließ geduldig die Vorwürfe des kaiserlichen Geheimsekretärs Hanniwald über sich ergehen, der ihm vorhielt, daß die astronomischen Tabellen, denen er nach Wunsch und Willen seiner Majestät den Hauptteil seiner Zeit zu widmen hatte, noch immer nicht fertiggestellt seien.
»Ihr wißt ja«, sagte Kepler, als der Hanniwald seinen Sermon beendet hatte, »wie dunkel, wie verworren und wie überaus hart die Zeiten sind, und mir will's nun einmal auch nicht Butter in den Brei regnen. Ich wollt', ich müßt' die Sache nicht erwähnen, doch ich hoffe entschuldigt zu sein, wenn ich sage, daß ich bei den Kammerbefehlen Seiner Majestät samt den Meinen hätte verhungern müssen, denn ich kann mich nicht wie das Chamäleon vom Wind nähren. So war ich, um die Ehre Seiner Majestät zu schonen, genötigt, statt der Tabellen, mit deren Herstellung mich die Gnade Seiner Majestät betraut hat, Prognostika anzufertigen und nichtswertige Kalender, die mir keinen Ruhm bringen werden. Aber damit habe ich mich und die Meinen ernährt, und es ist dies doch um ein weniges besser, als wenn ich Seiner Majestät alle Tage mit Bitten, mit Klagen und mit Protesten beschwerlich gefallen wäre.«
»Damit hätter Ihr nichts erreicht, wäret auch nur einmal und nicht wieder vor Seiner Majestät Augen gekommen«, meinte der Hanniwald, der dem Johannes Kepler als einem Anhänger der protestantischen Lehre nicht gar gut gesinnt war.
»Mußt' also um so eher darauf bedacht sein«, fuhr Kepler, ohne Verdruß zu zeigen und ohne jede Bitterkeit in seiner Stimme, fort, »mir und den Meinen die geringe Zehrung, deren wir bedürfen, zu beschaffen. Es war nicht leicht, und, um Euch alles zu sagen, — just heute ist solch ein Tag, an dem ich mit meinem Vermögen nicht zweier Groschen mächtig bin. Ich klage es Gott, ich baue und vertraue auf ihn, der alles ändern kann. Aber, in summa: Es ist ein elendes Leben.«
Er schwieg erschöpft, führte ein Tüchlein an seinen Mund und hustete.
»Seine Majestät«, erklärte, ohne auf Keplers Klagen einzugehen, der Hanniwald, »ist auch erzürnt, weil Ihr seine Befehle, was den Streit zwischen Seiner Heiligkeit, dem Papst, und der Republik Venedig anlangt, so gänzlich mißachtet habt.«
»Seine Majestät«, erwiderte Kepler, und noch immer machte ihm der Husten zu schaffen, »hat vor kurzem seinen Kammerdiener, den Philipp Lang, zu mir geschickt, der redete des langen und breiten, ich sollt' ein astrologisches Gutachten über den künftigen Verlauf und den zu erwartenden Ausgang dieses Streites anfertigen. Ich hab' dem Philipp Lang mit schuldigem Respekt gesagt, ich könnt's nicht tun. Denn ein Sternkundiger, der sich vermißt, nicht nur die Bewegungen der Gestirne und ihre künftige Konfiguration, sondern auch das künftige Geschick der Menschen und der Staaten, das Gott allein vorausschaut, zu verkünden, — der sich dessen vermißt, ist ein gemeiner Lügenschmied und nichts anderes.«
»Ich habe also zu verstehen«, stellte der Hanniwald fest, »daß Ihr die Astrologie, welche doch eine von alters her auf uns gekommene und tausendfach erprobte, auch von vielen Fürsten und großen Herrn zu ihrem zeitlichen Vorteil, wie auch zu ihrem ewigen Heil oftmals angewandte Disciplin und Wissenschaft ist, — daß Ihr die Astrologie also zur Gänze verwerft.«
»Nicht zur Gänze! Nein, nicht zur Gänze verwerfe ich sie«, widersprach ihm Johannes Kepler. »Die Einteilung des Himmels in zwölf Häuser, die Herrschaft der Trigone und was es dergleichen mehr gibt an bloßen Einbildungen und Erfindungen kleiner Geister, — das alles verwerfe ich. Aber die Harmonie des Himmels, die lasse ich gelten.«
»Und die Konfiguration der Gestirne? Wie haltet Ihr es damit?« forschte der Hanniwald weiter.
»Auch die lasse ich, wenngleich mit mancherlei Beschränkungen, als einen Faktor von einiger Bedeutung gelten«, erklärte Kepler. »Denn je nachdem die Strahlen der Gestirne bei der Geburt konfiguriert sind, fließt dem Neugeborenen das Leben in dieser oder jener Form zu. Ist die Konfiguration harmonisch, so entsteht eine schöne Form des Gemütes.«
»Die Astrologie, wie Ihr sie darstellt«, bemerkte nachdenklich der Hanniwald, »erscheint mir, wenn ich Euch recht verstanden habe, als eine in ihren Grundlagen sehr veränderte, wenn nicht gar völlig neue Disciplin. Habt Ihr versucht, Eure Hypothesen mit den Lehren der Kirche in Übereinstimmung zu bringen?«
»Verhüte Gott, daß ich das jemals tue!« sagte Johannes Kepler. »An den Streitigkeiten der Theologen will ich nicht teilhaben. Was ich sage, schreibe und tue, das sage, schreibe und tue ich als ein der Mathematik Beflissener. Die Sache der Kirche aber lasse ich ungestört.«
Der Geheimsekretär des Kaisers schüttelte den Kopf.
»Eure Antwort betrübt mich, Domine Kepler, und mißfällt mir sehr«, erklärte er. »Ihr führt demütige Worte im Mund und dennoch klingt das, was Ihr sagt, hochfahrend und wenig christlich. Ja, mir will's scheinen, als wäre Eure Antwort bocksfüßig und gehörnt. Aber es ist nicht meine Sache, sie nach dieser Richtung hin zu prüfen. Mein allergnädigster Herr hat mich zu Euch gesandt, weil Ihr ihm mehrfach Anlaß gegeben habt, über Euch erzürnt zu sein. Ich habe gehört, was Ihr zu Eurer Entschuldigung vorzubringen hattet, nur das und weiter nichts. Wenn ich Seiner Majestät Bericht erstatte, werd' ich nicht vergessen, die mißlichen Umstände zu erwähnen, über die Ihr Klage führt. Und somit, Domine Kepler...«
Er hatte sich erhoben und seinen Hut ein wenig zurückgestoßen, — damit hatte er dem Kepler die Ehre erwiesen, die ihm gebührte. Und nun wollte er in steifer Haltung und mit einem Ausdruck der Unnahbarkeit in seinem Gesicht zur Türe hinaus wie einer, dem man eine Beleidigung zugefügt hat. Aber Johannes Kepler hielt ihn zurück.
»Ich bin«, sprach er zu ihm, »nach fünf Jahren noch immer ein Fremder in dieser Stadt, habe mit der Noblesse des Landes nur wenig Umgang, kenn' auch sonst nicht viel Leut' von Importanz. Ist Euch, Herr Secretarius, ein junger Edelmann und Offizier bekannt mit Namen... «
Er warf einen Blick auf ein beschriebenes Zettelchen, das mit einem Stein beschwert auf seinem Arbeitstisch lag.
»Mit Namen Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein«, sagte er sodann. »Ist Euch der bekannt?«
»Die Waldsteins«, begann der Hanniwald seine Erklärung, und je länger er sprach, desto mehr geriet er in Eifer, an die »bocksfüßige und gehörnte« Antwort Keplers dachte er nicht mehr, »die Waldsteins sind ein altes böhmisches Geschlecht, leiten sich von zwei Brüdern, Havel und Zavic, her, die im zwölften Saeculo lebten, nennen sich auch Valstein, Wallenstein oder Wartenberg. Ich kenne ihrer drei: den auf Krinic, Heinrich, der ist ein Utraquist. Den auf Slowic im Rakonitzer Kreis, Ernst Johann, der hat von Geburt her nur einen Arm. Und den Ernst Jakob auf Zlotic im Königgrätzer Kreis, den Beichshofrat, sie nennen ihn den Türken, weil er in seiner Jugend Gefangener des Deys in Algier war, — mußte dort Leinwand weben. Dann kannte ich noch einen, den Wilhelm, der saß auf dem Gute Hermanic auch im Königgrätzer Kreis, war mit einer Smirzikka verehelicht, sind beide verstorben. Aber einen Albrecht Wenzel und wie sagtet Ihr? Eusebius? Nein, den kenne ich nicht.«
Der Gedanke, daß es einen Herrn von altem böhmischen Adel gab, über den er nicht Bescheid wußte, ließ ihm keine Ruhe. Er setzte sich, stützte seinen Kopf mit der Hand und dachte nach.
»Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein«, wiederholte er sodann. »Jetzt fällt's mir ein. Ich muß den Namen schon einmal gehört, — nein, nicht gehört, sondern auf einem Aktenstück gelesen haben, und das kann nicht gar lang her sein. Vielleicht, daß er ein Bittgesuch an seine Majestät gerichtet hat, und es ist durch meine Hände gegangen. Offizier? Sagtet Ihr nicht, er sei ein Offizier? Hat er sich nicht kürzlich um ein Kommando bei den in Ungarn stehenden Truppen beworben? Oder um Wartegeld, solang man seiner Dienste nicht bedarf? Oder um sonst ein Recompens für im Kriege bewiesene gute Haltung und Conduite? Mir ist, als hätte ich etwas dergleichen gelesen. Ist sein Gesuch gebührend befürwortet gewesen, hat er sich einen Empfehlungsbrief vom Onkel Reichshofrat oder von sonst wem verschafft? Denn wenn nicht, dann schreibt der Philipp Lang >soll warten!< auf das Bittgesuch und legt's beiseite.«
»Von all dem weiß ich nichts«, erklärte Kepler. »Dieser junge Edelmann hat mir durch einen Boten ein Brieflein geschickt, in dem er mich bat, ad noticiam zu nehmen, daß sein Wunsch und seine Absicht sei, mir am heutigen Tag >In Sachen des Himmels« seine Aufwartung zu machen.«
»In Sachen des Himmels?« verwunderte sich der Hanniwald. »So gehört er also dem geistlichen Stande an?«
»Nein«, sagte Kepler. »In Sachen des Himmels, — das will heißen, daß ich den Stand der Planeten zur Zeit seiner Geburt erforschen und ihm sodann ein Prognostikon schreiben soll. Er steht, so mein' ich, vor wichtigen Entscheidungen, vielleicht vor einer Wende seines Lebens, und begehrt meinen Rat.«
»Wer aber sich vermißt, das künftige Geschick der Menschen, das Gott allein vorausschaut, zu verkünden, der ist ein gemeiner Lügenschmied und nichts anderes. — Ist es nicht so, Domine Kepler?« spottete der Hanniwald.
»So ist es. Ja, so ist es«, bestätigte Johannes Kepler, und er war in einen Gedanken so verstrickt und versponnen, daß er den Spott nicht merkte. »Denn wer die Dinge bloß und allein aus dem Himmel vorhersagt, der geht auf keinem rechten Grund, und wo es ihm gerät, hat er's dem Glück zu danken. Mir aber gilt, mehr als jegliches Gestirn, des Menschen Natur und Neigung, sein Gemüt und seiner Seele Vernunft. Dies alles aber...«
Er nahm den Brief des Herrn von Waldstein vom Tisch und betrachtete ihn schweigend eine Weile hindurch.
»Dies alles spiegelt sich in seiner Schrift«, sagte er sodann.
»Hör' ich recht?« rief der Hanniwald. »Ihr wollt eines Menschen Natur, seine Neigungen und sein Gemüt aus eben dieses Menschen Schrift erkennen? Domine Kepler ...«
»All dies und noch viel mehr«, unterbrach ihn Kepler. »Wenn ich eines Menschen Schrift eine Zeit hindurch recht aufmerksam betrachte, so gewinnt sie Leben und spricht zu mir, sie enthüllt mir seine geheimsten Gedanken und seine verborgenen Pläne. Ich kenne diesen Menschen sodann von Grund aus und so gut, als hätt' ich in jahrelangem Umgang einen Scheffel Salz mit ihm gegessen.«
Seine letzten Worte gingen im schallenden Gelächter des Hanniwald verloren.
»Das hab' ich nicht gewußt«, rief der Geheimsekretär des Kaisers, »bei meiner Seele, das hab' ich nicht gewußt, daß man sich solch ein Zettelchen nur unter die Nase halten muß, und schon beginnt es, confessiones zu machen. Bei meiner Seele, wenn ich nicht wüßte, daß Ihr ein Träumer und arger Phantast seid, Domine Kepler, so müßt' ich mich wahrhaftig davor hüten, daß Euch jemals etwas, das ich geschrieben habe, in die Hände kommt. Aber sagt mir doch, - was hat Euch die Schrift dieses Herrn von Waldstein über ihn verraten?«
»Große Dinge, Herr Secretarius, große Dinge!« sagte Johannes Kepler. »Viel Böses, vieles, was mich erschreckt hat, aber, in summa, große Dinge. Er ist gar unruhig, dieser Herr von Waldstein, nach Neuerungen begierig, trachtet nach seltsamen Mitteln, um seine Pläne zu fördern, ist argwöhnisch, zu Zeiten melancholisch, verachtet menschliche Gebote, wird dessenthalben auch oftmals mit seiner Obrigkeit in Konflikte kommen, bis er gelernt hat, zu dissimulieren und seine wahre Meinung zu verbergen. Ist ohne Erbarmen und brüderliche Lieb', — und dennoch: Seine ungewöhnliche Natur, die ihn heut nach Macht und Dignitäten trachten heißt, wird dereinst, wenn sie zur Reife und vollen Entfaltung gelangt, zu hohen und erhabenen Taten fähig sein.«
»Der Tausend! Man wird von diesem Herrn von Waldstein also wohl noch hören«, meinte der Hanniwald. »Bis jetzt hat er freilich nicht viel Redens von sich gemacht. Und das alles habt Ihr aus diesem Zettelchen erraten. Nun, Domine Kepler, ich bin keiner von denen, die gelernt haben, zu dissimulieren und ihre wahre Meinung zu verbergen, und darum sag' ich es Euch frei heraus, daß ich das alles für Spielereien eines gelehrten Kopfes nehme. Euer Diener, Domine Kepler, Euer gehorsamer Diener!«
Johannes Kepler begleitete den Geheimsekretär des Kaisers die Treppe hinunter und schloß die Haustür auf. Es hatte zu schneien begonnen. Es war der erste Schnee, der in diesem Herbst gefallen war.
Als Kepler wiederum in seiner Stube war, dachte er nicht mehr an den Hanniwald und an das Gespräch, das er mit ihm geführt hatte. Er sah eine Schneeflocke, die an dem Ärmel seines Mantels hängengeblieben war, und betrachtete sie durch ein Brennglas. Dann griff er zur Feder und schrieb mit dem Lächeln eines, der seine Meinung wiederum bestätigt gefunden hat, auf ein Blatt Papier die Worte:
»De nive sexangula. - Von dem sonderlichen, vielgestaltigen, aber immer sechswinkeligen Wesen der Schneesternlein.«
Wahrhaftig, ein unruhiger Kopf, oder irgend etwas verdrießt ihn und macht ihn ungeduldig, sagte Johannes Kepler zu sich selbst, als er sah, daß der junge Offizier, der »in Sachen des Himmels« zu ihm gekommen war, nicht eine halbe Minute lang stillsitzen wollt', sondern erst hin- und herrückte, dann aber aufsprang und in der Stube auf und nieder ging.
»Ihr seid also«, wandte er sich jetzt wiederum an seinen Besucher, »am heutigen Tag dreiundzwanzig Jahre, zwei Monate und sechs Tage alt.«
»Ja«, sagte der junge Edelmann, und er ging vom Fenster zum Ofen und streckte die Hände aus, um sie zu erwärmen, und dann erst merkte er oder er merkte es auch nicht, daß kein Feuer im Ofen war, »ja, Herr, und wenn Ihr damit sagen wollt, daß andere in diesem Alter schon denkwürdige Taten vollbracht und ihren Namen in das Ehrenbuch der Geschichte eingetragen haben — wenn Ihr das meint, so habt Ihr völlig recht. Ich kann auf nichts anderes verweisen, als daß ich in Padua und in Bologna die Kriegswissenschaft studiert, und daß ich mich hernach unter dem General Basta hab' gegen die Türken brauchen lassen. Hab' einen Bassa oder Beg in seinem Quartier ausgehoben, aber dies ist auch alles, dessen ich mich rühmen kann. Nach der Affaire von Gran hab' ich den Dienst quittiert und bin sodann Es ist nicht zu ertragen!« unterbrach er sich und preßte die Hand an seine Schläfe, als verspüre er dort einen jähen und grausamen Schmerz.
»Ist Euch nicht wohl, Herr?« fragte Kepler.
»Es ist nicht zu ertragen, das Lärmen unten auf der Gasse«, erklärte der junge Edelmann mit einer Stimme, die jetzt nicht mehr klagend, sondern eher zornig klang. »Laßt Euch, Herr, meine Kühnheit nicht mißfallen, aber ich
kann es nicht verstehen, daß Ihr es bei solchem Lärm zuwege bringt, in Euern Büchern zu lesen und Eure Gedanken zu sammeln und zu ordnen.«
»Das Lärmen? Ich mein', es ist recht still jetzt unten in der Gasse«, sagte Kepler. »Der Nagelschmied hat Feierabend gemacht und die Soldaten in der Schenke, die beginnen erst spät am Abend mit ihrem Singen, Fluchen, Poltern und Streiten.«
»Ich red' auch nicht von den Soldaten, deren Lärmen bin ich gewohnt«, bedeutete ihm der junge Edelmann. »Von dem gottlosen Geschrei der Frösche red' ich, es müssen ihrer unten mehr als hundert beisammen sein, — hört der Herr es nicht?«
»Ich höre es und höre es nicht«, erwiderte Kepler. »Von den Fällen des Nils wird erzählt, daß ihr Brausen und Toben die umwohnenden Menschen taub gemacht hat. Ich mein' aber, die Sache ist anders: Sie sind des Lärms gewohnt, achten seiner nicht. Und so acht' ich des Geschrei's der Frösche nicht, will's auch nicht gottlos nennen, denn wie alle Kreatur erheben auch sie ihre Stimme zu Gottes Ruhm.«
»Wenn ich der Herrgott war', wüßt' ich mir einen besseren Ruhm, würde mich nicht von den Fröschen molestieren lassen«, sagte der junge Edelmann verdrossen. »Kann den Lärm nun einmal nicht ertragen, mag keines Tieres Stimme hören, sei es Hund, Katze, Esel oder Geiß, es macht mir Pein. — Nun aber zum Zweck!« fuhr er in verändertem Ton fort. »Hora ruit, es läuft die Stunde, ich will dem Herrn seine Zeit nicht nehmen.«
»So soll ich Euch die Nativität stellen?« fragte Johannes
Kepler.
»Nein, für diesmal nicht, ich bin dem Herrn sehr obli
giert, aber nicht der Nativität halber bin ich gekommen«,
erklärte der junge Edelmann. »Ich hab' an den Herrn nur
eine einzige kurze Frage zu richten: Hat morgen in der
Nacht der feuertobende Mars die Herrschaft im Bereich
des Wagens?«
»Ist es weiter nichts? Dann kann ich Euch sogleich mit
Antwort dienen«, meinte Kepler. »Nein, nicht der Mars,
sondern die Venus steht oder herrscht morgen in der Nacht
im Bereich des Wagens. Der Mars aber, den Ihr den Feuertobenden nennt, ist auf dem Weg in den Bereich des Skorpions.«
»Ist es möglich?« rief auf das äußerste betroffen der junge Edelmann. »Die Venus? Nicht der Mars? Die Venus? Es
kann nicht sein. Der Herr muß sich irren.«
»Nein, ich irre mich nicht«, versicherte ihm Kepler. »Die
Venus, nicht der Mars. Ihr könnt' dessen gewiß sein.« Eine Weile stand der junge Edelmann schweigend, in
Gedanken versunken. Dann begann er, mehr zu sich selbst
als zu Johannes Kepler, wiederum zu sprechen.
»So ist die Sache verspielt, ehe sie noch begonnen hat«,
sagte, er. »Und dennoch«, fuhr er nach kurzer Überlegung fort, »muß sie unternommen werden. Errare humanuni,
und dann, es hängt zviel an ihrem Gelingen.«
Wiederum schwieg er. Er sah den Kepler an, als habe er
noch eine Frage auf den Lippen. Doch er sprach sie nicht
aus. Er zuckte die Achseln, und eine Bewegung seiner
Hand schien sagen zu wollen, er müsse nun allein mit seiner Sache fertig werden. Er wandte sich zum Gehen. Unten im Torweg erwies er dem Kepler mit Hutschwenken und Sichverneigen seine Reverenz.
»Ich bin dem Herrn für seine Güte sehr verbunden, sehr
bald, am übernächsten Tag, denk' ich, wird der Herr von
mir hören. Wenn der Herr recht behält und die Sache miß
lingt, — nun gut, so hab' ich noch den Ring, den ich aus dem
Türkenkrieg als rare Beute davongebracht hab'. Will sehen, was ich auf ihn zuwege bring'. Bis dahin bin ich des
Herrn treugehorsamer Diener.«
Er schwenkte nochmals seinen Hut, und dann ging er
die steile Gasse hinauf und an dem Bretterzaun vorbei,
hinter dem die Frösche, als täten sie es ihm zu Trotz, ihre
Stimme noch lauter als zuvor erhoben.
In einem Haus in der Jakobsgasse, nicht weit vom Altstädter Ring, lebte um diese Zeit ein alter Mann mit Namen Barvitius, der war einstmals ein großer Herr im Königreich und zuletzt sogar Geheimer Rat gewesen, war aber aus dem Dienst entlassen worden, weil er bei des Kaisers Kammerdiener, dem Philipp Lang, in Ungnade gefallen war. Auch hatte er sein Geld und Gut teils am Spieltisch gelassen, teils in mißglückten Handelsgesellschaften verspekuliert, und so hätte er, wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, seine alten Tage in Armut und Dürftigkeit verbringen müssen. Und doch lebte er so, wie er immer zu leben gewohnt gewesen war. Er lud Gäste zu sich, hielt sich Dienerschaft, auch Pferde und Wagen, - obwohl er es meist vorzog, um seiner Gesundheit willen, wie er sagte, zu Fuß zu gehen, - war in vielen adeligen Häusern am Spieltisch anzutreffen, hielt auf gute Küche und exquisite Weine, — kurzum, er versagte sich nichts.
Es ging eben bei ihm nicht mit rechten Dingen zu. Wer ihn an Sonn- und Feiertagen, auf seinen Krückstock gestützt, in die Heiligen-Geist- oder in die Teinkirche zur Predigt gehen sah, der wäre nicht auf den Gedanken gekommen, daß dieser respektabel, ja ehrwürdig aussehende alte Mann das Haupt einer Diebsbande war.
Die meisten von denen, die der Barvitius um sich geschart hatte und zum Diebsgeschäftverwendete, waren von Grund aus verderbte und verlotterte Burschen von dunkler Herkunft, Kerle, die für einen halben Gulden Gott und seine Heiligen verkauft hätten, — das wahre Galgenfutter. Es gab aber auch Söhne ehrbarer Bürger in der Bande, die auf Ab wege geraten waren, weil sie ehrliche Arbeit scheuten wie der Teufel den Weihkessel, hingegen zu jedem liederlichen Streich, der ihnen Geld einbrachte, und wenn es nicht anders ging, auch zu einem Messerstich bereit waren. Unter ihnen war einer, der Georg Leitnizer, Sohn eines Goldwirkers vom Kleinen Bing und gewesener Student, der seiner leidlich guten Manieren und seines beweglichen Verstandes wegen das besondere Vertrauen des Barvitius genoß. Diesen Georg Leitnizer ließ der Barvitius fast alle Tage zu sich kommen, während ihn die anderen nur bei seltenen Gelegenheiten und auch dann nur des Nachts, bei Kerzenlicht, und wenn er sich das Gesicht vermummt oder sonstwie unkenntlich gemacht hatte, zu sehen bekamen.
Alle aber waren sie dem Barvitius in blindem Gehorsam ergeben. Sie wußten, daß sie ohne ihn nichts vermochten. Er spähte die Gelegenheiten aus. Er entwarf unter Bedachtnahme auf alle Umstände, die etwa eintreten konnten, die Pläne. Und er traf seine Vorbereitungen mit solcher Umsicht, daß ihm nur selten ein Anschlag mißglückte. An einem Tag im November, es war noch früh am Morgen, kam der Leitnizer wieder zum Barvitius. Er traf ihn daheim an, wie er mit sich selbst Karten spielte, bald auf diese, bald auf jene Karte einen Gulden oder zwei setzte und unbändig fluchte, wenn er verlor. Das gefiel dem Leitnizer nicht. Denn der Barvitius vertrieb sich meist dann auf solche Art die Zeit, wenn er in übler Laune war, wenn er bei einer Sache, die er betrieb, auf unvorhergesehene und schwer zu überwindende Schwierigkeiten gestoßen war und bisweilen auch wenn ihn die Gicht plagte, denn die machte ihm viel zu schaffen.
Die Art, wie der Barvitius ihn empfing, deutete auf die allerübelste Laune hin.
»Bist du wieder da?« schnaubte er ihn an. »Hab' ich dich kommen heißen? Kannst du mich nicht einen Tag lang in Frieden lassen?«
»Es regnet. Ich hab' mir kalte Füße geholt«, sagte der Leitnizer. Er setzte sich an den Kamin, zog die Schuhe aus, streckte die Beine von sich und tat so, als wäre er nur gekommen, um sich an des Barvitius' Feuer die Füße zu wärmen.
Der Barvitius fuhr fort zu spielen, zu fluchen, die Gulden von einer Karte auf die andere zu schieben, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, die Karten durcheinander zu werfen und sie wieder aufzulegen, — den Leitnizer beachtete er nicht. Dann, nach einer Viertelstunde etwa, schob er die Karten beiseite, strich das Geld, das gewonnene wie das verlorene, ein und nannte sich einen Stümper, der am Kartentisch immer, wie er es auch anfinge, den anderen einen Narren abgeben müsse. Dann wandte er sich mit einem Ausdruck im Gesicht, als wäre er überrascht, aber nicht unzufrieden, ihn hier zusehen, dem Leitnizer zu.
»Es ist gut, daß du da bist, Georg, ich hab' mit dir zu reden«, sagte er, und der Leitnizer stand auf, schlüpfte in seine Schuhe und trat an den Tisch. »Ich will es dir nicht länger verhehlen, Georg, du sollst es wissen: Die Dinge laufen nicht gut.«
»Das ist wahr«, bestätigte der Leitnizer, und dabei blickte er auf seine Schuhe, ob sie schon trocken seien. »Wir haben in den letzten Wochen, wie man so sagt, mehr Licht verbrannt als Geld verdient.«
»Es ist nicht das«, bedeutete ihm der Barvitius. »Wenn es nur das wäre! Hör zu, Georg, aber sag es den anderen nicht, behalt es bei dir. Einer von meinen guten Freunden dort oben«, er wies mit dem Daumen über seine rechte Schulter, und der Leitnizer verstand, daß mit dem »dort oben« die Prager Burg gemeint war, »einer von denen, die es redlich mit mir meinen, hat mich vor kurzem, bevor wir uns an den Spieltisch setzten, beiseite gezogen, hat vom Philipp Lang zu sprechen begonnen und hin und her geredet, wie gefährlich es sei, den Lang zum Feind zu haben, und daß er seine Hände in allen Sachen hätte, und daß der Stadthauptmann just eben jetzt so überaus geschäftig sei, — und dann, als wir am Spieltisch saßen, hat er davon geredet, wie sehr zu empfehlen und der Gesundheit förderlich das Reisen sei.«
»Das war vielleicht nur so dahergelallt«, meinte der Leitnizer.
»Eine Warnung war es, versteh's nur recht, Georg, — der Philipp Lang hat immer schon ein Aug' auf mich gehabt«, erklärte ihm der Barvitius. »Ein Rat war es von einem, der es redlich mit mir meint. Und seitdem hab' ich keine Ruhe mehr, es ist mir immer, als spüre man mir nach, ich gehe auf der Gasse und höre Schritte hinter mir, und wenn ich mich umseh', ist keiner da.«
»Nun also«, sagte der Leitnizer. »Da habt Ihr es. Es ist keiner da.«
»Und heut im Traum«, fuhr der Barvitius fort, »da hab' ich dich gesehen, der Henker hat dich die eine Gasse hinauf und die andere hinuntergepeitscht. Du hattest die Hände auf den Rücken gebunden, Georg.«
Der Leitnizer wurde plötzlich recht lebhaft.
»Man müßt' darüber in den Traumbüchern nachlesen«, rief er. »War's eine lange Peitsche? Ich mein', — hat sie rechtschaffen geknallt? Eine Peitsche nämlich, die knallt, — das hat was zu bedeuten. Ich glaub', es will einem Geld ins Haus kommen. Man müßte darüber...«