Jessica stand ein wenig unter Druck. Sie war besorgt und unruhig und furchtbar nervös. Sie hatte die Sammlung katalogisiert, das British Museum als Ausstellungsort gewonnen, die Restaurierung des Hauptausstellungsstücks organisiert, beim Hängen der Sammlung assistiert und die Gästeliste für die Grandiose Vernissage zusammengestellt.
Daß sie keinen Freund hatte, war ganz in Ordnung, sagte sie ihren Freundinnen immer. Selbst wenn sie einen hätte, würde sie ja doch keine Zeit für ihn haben. Trotzdem, eigentlich wäre es doch ganz schön, dachte sie, wenn sie mal einen Moment Zeit hatte: jemand, mit dem man am Wochenende in Galerien gehen konnte. Jemand, mit dem man …
Nein. Von diesem Winkel ihres Verstands hielt sie sich fern. Diese Gedankenfetzen konnte sie ebensowenig auf den Punkt bringen, wie sie ihren Finger auf eine Quecksilberperle legen konnte, und sie konzentrierte sich wieder auf die Ausstellung.
Selbst jetzt noch, in letzter Minute, gab es so viele Dinge, die schiefgehen konnten. So manches Pferd ist noch an der letzten Hürde gestürzt. So mancher allzu optimistische General mußte schon mit ansehen, wie sich ein sicher geglaubter Sieg in der letzten Minute einer Schlacht in eine Niederlage verwandelte.
Jessica wollte nur sichergehen, daß es keine Pannen gab.
Sie trug ein grünes Seidenkleid – eine schulterfreie Generalin, die ihre Truppen aufmarschieren ließ und unerschütterlich so tat, als hätte Mr. Stockton nicht bereits vor einer halben Stunde eintreffen müssen.
Ihre Truppen bestanden aus einem Oberkellner, einem Dutzend Kellner und Kellnerinnen, drei Frauen vom Catering-Service, einem Streichquartett und ihrem Assistenten, einem jungen Mann namens Clarence. Jessica war überzeugt, daß Clarence den Job nur bekommen hatte, weil er a) offen schwul und b) ebenso offen schwarz war; und daher war es für sie ein stetes Ärgernis, daß er bei weitem der effizienteste, kompetenteste und beste Assistent war, den sie bis jetzt gehabt hatte.
Sie inspizierte den Getränketisch. »Wir haben doch genug Champagner? Ja?«
Der Oberkellner deutete auf eine Kiste Champagner unter dem Tisch.
»Und Selter?«
Noch ein Nicken. Noch eine Kiste.
Jessica schürzte die Lippen. »Und wie ist es mit stillem Mineralwasser? Sprudel ist nicht jedermanns Sache, müssen Sie wissen.«
Sie hatten jede Menge stilles Mineralwasser. Gut.
Das Streichquartett spielte sich warm. Es war nicht laut genug, um den Lärm, der von draußen aus dem Korridor kam, zu übertönen. Es war der Lärm einer kleinen, aber gutbetuchten Menschenmenge: Das Raunen von Damen in Nerzmänteln und Männern, die, gäbe es die RAUCHEN VERBOTEN-Schilder an den Wänden nicht – und auch nicht den Rat ihres Arztes –, Zigarren rauchen würden; das Raunen von Journalisten und Berühmtheiten, die schon die Canapés, Vol-au-vents, Knabbereien und den kostenlosen Champagner riechen konnten.
Clarence sprach in sein Handy, ein schlankes, ausklappbares Stück Technik, neben dem die Raumschiff-Enterprise -Funkgeräte klotzig und altmodisch gewirkt hätten. Er schaltete es ab, schob die Antenne hinein und steckte es in die Armani-Tasche seines Armani-Anzugs, ohne daß dieser auch nur das kleinste Fältchen warf. Er lächelte aufmunternd. »Jessica, Mr. Stocktons Fahrer hat aus dem Wagen angerufen. Sie kommen ein paar Minuten später. Kein Grund zur Sorge.«
»Kein Grund zur Sorge«, echote Jessica. Das konnte ja nicht gutgehen. Die ganze Sache würde ein Desaster werden. Ihr Desaster. Sie nahm ein Glas Champagner vom Tisch, leerte es und reichte das leere Glas dem Weinkellner.
Clarence legte den Kopf zur Seite und lauschte dem vibrierenden Raunen auf dem Korridor vor der Tür. Er schaute auf seine Armbanduhr und sah dann Jessica fragend an, wie ein Captain, der von seinem General wissen will: Auf ins Tal des Todes, Chef?
»Mister Stockton ist unterwegs, Clarence«, sagte sie ruhig. »Er hat um eine Einzelführung vor Beginn der Veranstaltung gebeten.«
»Soll ich hinausgehen und nachsehen, wie die Stimmung ist?«
»Nein«, sagte Jessica entschieden. Dann, ebenso entschieden: »Ja.«
Nachdem das Thema Essen und Trinken erledigt war, wandte sich Jessica dem Streichquartett zu und fragte die Mitglieder zum dritten Mal an diesem Abend, was genau sie spielen wollten.
Clarence öffnete die Doppeltüren. Es war schlimmer, als er gedacht hatte: Bestimmt über hundert Leute standen im Korridor. Und das waren nicht einfach bloß Leute. Es waren LEUTE. Ein paar davon waren sogar Persönlichkeiten.
»Verzeihen Sie«, sagte der Vorsitzende der Kulturbehörde. »Auf der Einladung stand Punkt acht Uhr. Jetzt ist es bereits zwanzig nach acht.«
»Es dauert nur noch ein paar Minuten«, versicherte Clarence liebenswürdig. »Sicherheitsvorkehrungen.«
Eine Frau mit Hut stürzte auf ihn zu. »Junger Mann«, verkündete sie im Kommandoton, mit markerschütternder, entschieden parlamentarisch klingender Stimme. »Wissen Sie, wer ich bin?«
»Eigentlich nicht, nein«, log Clarence, der ganz genau wußte, wer all die Anwesenden waren. »Warten Sie einen Moment. Ich schau’ mal nach, ob jemand anders Sie kennt.«
Er schloß die Tür hinter sich.
»Jessica? Die fangen gleich an zu randalieren.«
»Übertreiben Sie nicht, Clarence.«
Sie fegte durch den Raum wie ein Wirbelwind aus grüner Seide, stellte ihr Service-Personal mit den Schnittchen- und Getränketabletts in strategisch günstigen Ekken des Saals auf; kontrollierte das Lautsprechersystem, das Rednerpult, den Vorhang und das Zugseil. »Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir«, sagte Clarence, und er schlug eine imaginäre Zeitung auf. »Marketingmieze bei Sturm aufs kalte Büffet von verkalkten Geldsäcken zerquetscht. «
Jemand begann, an die Tür zu klopfen. Der Lärm im Korridor schwoll langsam an. Jemand sagte sehr laut: »Verzeihung. Ähm. Verzeihung.« Jemand anders trompetete, es sei eine Schande, ganz einfach eine Schande, anders könne man das nicht mehr nennen.
»Befehl von oben«, sagte Clarence plötzlich. »Ich lasse sie rein.«
Jessica schrie: »Nein! Wenn Sie – «
Doch es war zu spät. Schon standen die Türen offen, und die Horde bahnte sich den Weg in den Saal. Jessicas entsetzter Gesichtsausdruck wurde zu einem hocherfreuten gemorpht. Sie schimmerte zur Tür. »Frau Baronin«, sagte sie glücklich lächelnd. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh wir sind, daß sie heute abend zu unserer kleinen Ausstellung kommen konnten. Mister Stocktons Eintreffen hat sich leider etwas verzögert, aber er wird jeden Moment hier sein. Darf ich Ihnen ein paar Canapés anbieten …«
Über die nerzbehangene Schulter der Frau Baronin hinweg zwinkerte Clarence ihr vergnügt zu. Jessica durchforstete ihr Hirn nach allen schlimmen Wörtern, die sie kannte. Sobald die Frau Baronin auf die Vol-au-vents zusteuerte, ging Jessica zu Clarence hinüber und warf ihm, im Flüsterton und immer noch lächelnd, einige davon an den Kopf.
Richard erstarrte. Ein Wärter kam direkt auf sie zu. Seine Taschenlampe blitzte hin und her. Richard sah sich nach einem Versteck um.
Zu spät. Eine Wärterin näherte sich ihnen mit schaukelnder Taschenlampe, vorbei an den riesigen Statuen toter griechischer Götter.
»Alles in Ordnung?« rief der Wärter.
Die Frau ging zu ihm hinüber. Sie blieb direkt neben Richard und Door stehen.
»Glaub’ schon«, sagte sie. »Ich mußte schon ein paar Schnapsnasen im Smoking davon abhalten, ihre Initialen in den Stein von Rosette zu ritzen. Sowas hasse ich.«
Der Wärter leuchtete Richard mit seiner Lampe direkt in die Augen, dann ließ er den Strahl von ihm abgleiten und über die Schatten hüpfen. »Ich sag’s ja«, sagte er mit der genüßlichen Befriedigung eines jeden wahren Propheten, »das ist die Wiederkehr der Maske des Roten Todes. Eine dekadente Elite feiert Partys, während die Zivilisation vor ihrer Nase untergeht.« Er bohrte sich in der Nase und wischte den Popel an der Ledersohle seines auf Hochglanz polierten schwarzen Stiefels ab.
Die Frau seufzte. »Danke, Gerald. Nun denn, weiter geht’s.« Gemeinsam gingen die beiden aus dem Saal. »Letztes Mal haben wir hinterher festgestellt, daß jemand in einen Sarkophag gekotzt hatte«, sagte der Wärter, und dann schloß die Tür sich hinter ihnen.
»Wenn man zum Unter-London gehört«, sagte Door beiläufig zu Richard, während sie Seite an Seite in den nächsten Saal gingen, »bemerken sie einen normalerweise überhaupt nicht, außer man spricht sie direkt an. Und selbst dann vergessen sie einen ziemlich schnell wieder.«
»Aber ich hab’ dich doch gesehen«, sagte Richard. Das machte ihm schon seit geraumer Zeit zu schaffen.
»Ich weiß«, sagte Door. »Ist das nicht merkwürdig?«
»Alles ist merkwürdig«, sagte Richard voller Inbrunst. Die Streichermusik wurde lauter.
»Zum Angelus geht’s hier lang«, verkündete Door und deutete in die Richtung, aus der die Musik kam.
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es eben«, sagte sie mit außerordentlicher Bestimmtheit. »Komm.« Sie traten aus der Dunkelheit in einen beleuchteten Korridor.
Ein riesiges Schild hing von der Decke. Darauf stand:
ENGEL ÜBER ENGLAND
EINE AUSSTELLUNG DES BRITISH MUSEUM
Gesponsort von Stocktons PLC
Sie überquerten den Korridor und gingen durch eine offene Tür in einen großen Raum, in dem eine Party im Gange war.
Ein Streichquartett musizierte, und Kellner versorgten einen Raum voller gutgekleideter Herrschaften mit Essen und Trinken. In einer Ecke des Raums befand sich neben einem langen Vorhang eine kleine Bühne mit einem Rednerpult darauf.
Der Raum war voller Engel.
Da waren Statuen von Engeln auf winzigen Sockeln. Da waren Gemälde von Engeln an den Wänden. Da waren Engelsfresken. Da waren große Engel und kleine Engel, steife Engel und liebenswerte Engel, Engel mit Flügeln und Heiligenscheinen und Engel ohne alles, kriegerische Engel und friedfertige Engel. Da waren moderne Engel und klassische Engel. Hunderte und Aberhunderte von Engeln in jeder Form und Größe. Westliche Engel, nahöstliche Engel, östliche Engel. Michelangelo-Engel. Joel-Peter-Witkin-Engel, Picasso-Engel, Warhol-Engel. Mr. Stocktons Engel-Kollektion war ›so bunt zusammengewürfelt, daß es schon beinahe trashig ist, in ihrem Eklektizismus jedoch zweifelsohne beeindruckend‹ (Time Out).
»Würdest du mich«, fragte Richard, »unausstehlich finden, wenn ich dir sagte, daß es ungefähr ebenso kompliziert ist, hier drinnen etwas mit einem Engel drauf zu finden, wie, oh mein Gott, da ist Jessica.«
Richard spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Bis jetzt hatte er geglaubt, das sei nur eine Redewendung. Daß es so etwas wirklich gab, hätte er nicht gedacht.
»Kanntest du sie?« fragte Door.
Richard nickte. »Sie war meine. Also. Wir wollten heiraten. Wir waren ein paar Jahre lang zusammen. Sie war bei mir, als ich dich fand. Sie war die auf dem. Sie hat diese Nachricht hinterlassen. Auf dem Anrufbeantworter.«
Jessica plauderte mit Andrew Lloyd Webber, Janet Street-Porter und einem bebrillten Herrn, der, da war sie so gut wie sicher, einer der Saatchis sein mußte. Alle paar Minuten sah sie auf die Uhr und blickte zur Tür.
»Die?« fragte Door, als es ihr wieder einfiel. Dann fügte sie hinzu, offenbar der Ansicht, sie müßte über jemanden, den Richard sehr gemocht hatte, etwas Nettes sagen: »Also, sie ist sehr …«, und sie hielt inne und überlegte, »...sauber.«
Richard starrte quer durch den Raum. »Wird sie … wird es sie ängstigen, daß wir hier sind?«
»Das bezweifle ich«, sagte Door. »Offen gesagt, wenn du nicht irgend etwas Dummes tust – sie zum Beispiel ansprichst – , wird sie dich wahrscheinlich gar nicht bemerken. « Und dann sagte sie, sehr viel euphorischer: »Essen!«
Sie stürzte sich auf die Canapés, ein kleines, rotznasiges, koboldhaariges Mädchen in einer großen braunen Lederjacke, das ewig nichts Vernünftiges mehr gegessen hatte. Sie begann sofort, sich enorme Essensmengen in den Mund zu stopfen, zu kauen und hinunterzuschlucken, während sie gleichzeitig die gehaltvolleren Schnittchen in Papierservietten wickelte und in ihre Taschen steckte.
Dann, einen mit Hühnerbeinen, Melonenscheiben, Pilz-Vol-au-vents, Kaviarpastetchen und kleinen Wildbretwürstchen beladenen Pappteller in der Hand, schritt sie langsam die Wände ab und schaute sich jedes Engelskunstwerk aufmerksam an. Richard trottete mit einem Brie-und-Fenchel-Sandwich und einem Glas frischgepreßtem Orangensaft hinter ihr her.
Jessica war zutiefst verwirrt. Sie hatte Richard bemerkt, und da sie ihn gesehen hatte, hatte sie auch Door bemerkt. Irgend etwas an den beiden kam ihr bekannt vor: Es war, als kitzele sie etwas im Hinterkopf, das sie beim besten Willen nicht einzuordnen vermochte, was ausgesprochen irritierend war.
Sie mußte an etwas denken, das ihre Mutter ihr einmal erzählt hatte: Diese hatte einmal eine Frau getroffen, die sie schon ihr ganzes Leben lang kannte – sie war mit ihr zur Schule gegangen, mit ihr im Gemeinderat gewesen, hatte mit ihr zusammen die Tombola beim Dorffest geleitet – , und bei einer Party hatte Jessicas Mutter plötzlich festgestellt, daß sie den Namen dieser Frau gar nicht kannte, obgleich sie wußte, daß sie mit einem Mann aus dem Verlagswesen namens Eric verheiratet war und einen Golden Retriever namens Major hatte.
Darüber hatte sich Jessicas Mutter ziemlich geärgert.
Es trieb Jessica zur Verzweiflung.
»Wer sind diese Leute?« fragte sie Clarence.
»Die? Also, er ist der neue Chefredakteur der Vogue, und sie ist die Kunstkorrespondentin der New York Times. Die dazwischen ist, glaube ich, Emma Freud …«
»Nein, nicht die«, sagte Jessica. »Die. Da.«
Clarence sah auf die Stelle, auf die sie zeigte. Hm? Ach. Die. Er begriff nicht, wieso er sie nicht schon früher gesehen hatte. Das Alter, dachte er. Er wurde demnächst dreiundzwanzig. »Journalisten?« sagte er nicht sonderlich überzeugt. »Möchtegern-Trendnasen. Grunge-Chic? Du liebe Güte! Ich weiß, daß ich The Face eingeladen habe …«
»Den kenn’ ich«, sagte Jessica entnervt. Dann rief Mr. Stocktons Chauffeur von Holborn aus an, um zu sagen, daß er fast am British Museum sei, und Richard entglitt ihr, wie flüssiges Quecksilber einem durch die Finger tropft.
»Was gefunden?« fragte Richard.
Door schüttelte den Kopf und schluckte einen Mundvoll hastig gekautes Hühnerbein hinunter. »Das ist, als wollte man am Trafalgar Square eine ganz bestimmte Taube finden«, sagte sie. »Der Angelus ist so einzigartig, daß man ihn spüren kann. Auf dem Blatt stand, wenn ich davorstünde, würde ich ihn erkennen.«
Sie schlenderte davon, vorbei an einem Industrieboß, dem Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Opposition und dem Bestbezahlten Callgirl des englischen Südens.
Richard wandte sich ab und stand plötzlich Auge in Auge mit Jessica. Sie trug ihr Haar hochgesteckt, und die kastanienroten Korkenzieherlocken bildeten den perfekten Rahmen für ihr Gesicht. Sie war sehr schön. Sie lächelte ihn an. Das Lächeln war schuld.
»Hallo, Jessica«, sagte er. »Wie geht’s dir?«
»Hallo. Sie werden es nicht glauben«, sagte sie, »aber mein Assistent hat versäumt zu notieren, von welcher Zeitung Sie sind, Mister äh.«
»Zeitung?« fragte Richard.
»Habe ich Zeitung gesagt?« entgegnete Jessica mit einem klingelnden, liebenswerten und selbstironischen Lachen. »Magazin … Fernsehsender. Sie sind doch aus der Medienbranche?«
»Du siehst sehr gut aus, Jessica«, erklärte Richard.
»Sie sind im Vorteil – ich weiß leider Ihren Namen nicht«, sagte sie schalkhaft.
»Du bist Jessica Bartram. Du bist Marketing-Chefin bei Stocktons. Du bist sechsundzwanzig. Dein Geburtstag ist der dreiundzwanzigste April, und in Augenblicken höchster Leidenschaft neigst du dazu, ›I’m a Believer‹ von den Monkees zu summen …«
Jetzt lächelte Jessica nicht mehr.
»Soll das ein Witz sein?« fragte sie kalt.
»Ach ja, und wir waren die letzten achtzehn Monate verlobt«, sagte Richard.
Jessica lächelte nervös. Vielleicht war es wirklich ein Witz: einer jener Witze, die offenbar jeder verstand, nur sie nicht. »Ich denke doch, ich würde es wissen, wenn ich achtzehn Monate lang mit jemandem verlobt gewesen wäre, Mister ähm«, sagte Jessica.
»Mayhew«, sagte Richard zuvorkommend. »Richard Mayhew. Du hast mit mir Schluß gemacht, und jetzt gibt es mich nicht mehr.«
Jessica winkte ostentativ niemand Speziellem ganz am anderen Ende des Raumes zu. »Komme schon!« rief sie verzweifelt, und sie begann zurückzuweichen.
»I’m a believer«, sang Richard vergnügt, »I couldn’t leave her if I tried …«
Jessica schnappte sich ein Glas Champagner von einem Tablett, das gerade vorbeigetragen wurde, und leerte es in einem Zug. Am anderen Ende des Raumes bemerkte sie Mr. Stocktons Chauffeur, und wo Mr. Stocktons Chauffeur war …
Sie steuerte auf die Türen zu.
»Und, wer war’s denn nun?« fragte Clarence, als er sich an ihre Seite schob.
»Wer?«
»Der große Geheimnisvolle.«
»Weiß ich nicht«, gab sie zu. Dann sagte sie: »Hör mal, vielleicht solltest du den Sicherheitsdienst rufen.«
»Mach ich. Warum?«
»Hol … hol mir einfach den Sicherheitsdienst«, und dann betrat Mr. Arnold Stockton den Saal, und alles andere verschwand aus ihrem Kopf.
Nicht nur sein Bauch war dick, sondern auch seine Brieftasche: ein Mann wie eine Karikatur von Hogarth, von enormem Körperumfang, mit einem vielfachen Doppelkinn und einem vorstehenden Bauch. Er war über sechzig; sein Haar war grau und silbern, und er trug es hinten zu lang, weil es die Menschen ein wenig aus der Fassung brachte, daß sein Haar zu lang war; und Mr. Stockton gefiel es, wenn seinetwegen Menschen aus der Fassung gerieten.
Verglichen mit Arnold Stockton war Rupert Murdoch ein zwielichtiger kleiner Hosenscheißer und der verstorbene Robert Maxwell ein gestrandeter Wal. Arnold Stockton war ein Pitbull, und als solcher wurde er von Karikaturisten oft gezeichnet.
Stocktons gehörte von allem ein bißchen: Satelliten, Zeitungen, Plattenfirmen, Freizeitparks, Bücher, Magazine, Comics, Fernsehsender, Filmgesellschaften.
»Ich werde jetzt meine Rede halten«, sagte Mr. Stockton als Begrüßung zu Jessica. »Dann hau ich wieder ab. Ich komm’ ein andermal wieder, wenn hier nicht all diese ausgestopften Hemden rumstehen.«
»Gut«, sagte Jessica. »Ja. Die Rede jetzt. Natürlich.«
Und sie geleitete ihn zu der kleinen Bühne und hinauf zum Rednerpult. Sie klickte mit dem Fingernagel an ein Glas, um die Leute zum Schweigen zu bringen. Niemand hörte sie, deshalb sagte sie: »Entschuldigen Sie« in das Mikrofon. Diesmal wurden die Gespräche leiser. »Meine Damen und Herren. Verehrte Gäste. Ich möchte Sie alle im British Museum willkommen heißen«, sagte sie, »und zu der von Stocktons gesponserten Ausstellung ›Engel über England‹ begrüßen. Hier ist der Mann, dem wir all das hier zu verdanken haben, unser Hauptgeschäftsführer und Vorstandsvorsitzender: Mister Arnold Stockton.«
Die Gäste applaudierten, schließlich wußten sie genau, wer die Engelsammlung zusammengetragen und immerhin auch ihren Champagner bezahlt hatte.
Mr. Stockton räusperte sich. »Gut«, sagte er. »Ich mache es kurz. Als ich ein kleiner Junge war, bin ich immer samstags ins British Museum gegangen, weil es dann nichts kostete und wir nicht viel Geld hatten. Und dann bin ich die große Treppe zum Museum hinauf und hintenrum in diesen Raum gegangen, um diesen Engel anzuschauen. Es kam mir vor, als wüßte er, was ich dachte.«
(Clarence kam wieder herein, ein paar Wärter neben sich. Er zeigte auf Richard, der aufgehört hatte, Mr. Stocktons Rede zu lauschen. Door schaute sich immer noch die Ausstellungsstücke an. »Nein, der«, sagte Clarence wieder und wieder mit gedämpfter Stimme zu den Wärtern. »Nein, schauen Sie, genau da. Ja? Der. «)
»Wie auch immer. Wie alles, um das sich keiner kümmert«, fuhr Mr. Stockton fort, »verfiel er immer mehr, wurde ein Opfer des Zahns unserer Zeit. Vergammelte. Verfaulte. Tja, es hat ein Scheißgeld gekostet«, er machte eine rhetorische Pause – wenn er, Arnold Stockton, es als Scheißgeld betrachtete, dann war es natürlich auch ein Scheißgeld –, »und ein Dutzend Handwerker haben eine Menge Zeit damit verbracht, ihn zu restaurieren und wieder herzurichten. Nach dieser Ausstellung reist er nach Amerika und dann um die ganze Welt, und vielleicht kann er noch irgendein anderes armes Schwein dazu anregen, sein eigenes Medienimperium auf die Beine zu stellen.«
Er schaute sich um. Wandte sich zu Jessica, murmelte: »Was soll ich jetzt machen?«
Sie deutete auf das Zugseil neben dem Vorhang.
Mr. Stockton zog daran. Der Vorhang blähte und öffnete sich, und dahinter kam eine alte Tür zum Vorschein.
(»Nein. Der«, sagte Clarence. »Du meine Güte! Sind Sie blind?«)
Sie sah aus, als sei sie einmal die Tür zu einer Kathedrale gewesen. Sie war so groß wie zwei Männer und breit genug, um ein Pony durchzulassen. In das Holz der Tür geschnitzt, rot und weiß angemalt und mit Blattgold vergoldet, war ein ganz außergewöhnlicher Engel. Er starrte mit leeren mittelalterlichen Augen in die Welt hinaus.
Die Gäste schnappten beeindruckt nach Luft. Dann applaudierten sie.
»Der Angelus!« Door zupfte Richard am Ärmel. »Das ist er! Richard, komm!«
Sie lief zur Bühne.
»Entschuldigen Sie, mein Herr«, sagte ein Wärter zu Richard. »Dürften wir einmal Ihre Einladung sehen?« sagte ein weiterer, wobei er Richard fest, aber diskret am Arm nahm. »Und können Sie sich irgendwie ausweisen?«
»Nein«, sagte Richard.
Door war auf der Bühne. Richard versuchte, sich loszureißen und ihr zu folgen, in der Hoffnung, die Wärter würden ihn vergessen. Aber nein.
Jetzt, da sie auf ihn aufmerksam geworden waren, würden sie ihn wie jeden anderen schäbig gekleideten, ungewaschenen, etwas unrasierten Eindringling behandeln. Der Wärter, der Richard am Arm festhielt, verstärkte seinen Griff und murmelte: »So nicht.«
Door hielt auf der Bühne inne und überlegte, wie sie die Wärter dazu bringen könnte, Richard loszulassen. Dann tat sie das einzige, was ihr einfiel. Sie ging hinüber zum Mikrofon, stellte sich auf die Zehenspitzen, und sie schrie, so laut sie nur konnte, hinein.
Sie hatte eine bemerkenswerte Art zu schreien: Auch unverstärkt drang so ein Schrei einem schon in den Kopf wie eine neue Bohrmaschine mit einem Knochensägeaufsatz. Und verstärkt …
Eine Kellnerin ließ ein Tablett voller Getränke fallen. Köpfe drehten sich. Hände hielten Ohren zu. Jedes Gespräch verstummte. Die Menschen starrten entgeistert und entsetzt auf die Bühne.
Und Richard nahm die Beine in die Hand. »Entschuldigung«, sagte er zu dem verdutzten Wärter, als er sich losriß und flüchtete. »Falsches London.«
Er erreichte die Bühne, ergriff Doors ausgestreckte linke Hand. Ihre rechte Hand berührte den Angelus, die riesige Kathedralentür. Berührte sie und öffnete sie.
Diesmal ließ niemand ein Getränk fallen. Sie erstarrten, die Augen weit aufgerissen, völlig überwältigt – und vorübergehend geblendet. Der Angelus hatte sich geöffnet, und von der anderen Seite der Tür flutete strahlendes Licht in den Saal. Da bedeckten die Menschen zögernd die Augen, öffneten sie wieder und gafften einfach nur. Es war, als hätte man in dem Raum ein Feuerwerk angezündet. Kein Feuerwerk für Innenräume, diese seltsamen Kriechdinger, die zischen und stinken; auch keins, wie man es im eigenen Garten abbrennt; sondern ein professionelles Feuerwerk, das so weit nach oben schießt, daß es eine potentielle Gefahr für den Flugverkehr darstellt: ein Feuerwerk, wie es einen Tag in Disneyland beschließt oder der Feuerwehr bei Pink-Floyd-Konzerten Kopfzerbrechen macht. Es war ein Augenblick reiner Magie.
Das Publikum glotzte, verzaubert und verblüfft. Es war nur noch das leise, japsende Beinahe-Stöhnen des Staunens zu hören, das Menschen entfährt, wenn sie sich ein Feuerwerk ansehen: das Geräusch der Ehrfurcht.
Dann gingen ein schmuddeliger junger Mann und ein rotznasiges Mädchen in einer riesigen Lederjacke in die Lightshow hinein und verschwanden. Die Tür schloß sich hinter ihnen. Die Lightshow war vorüber.
Und alles war wieder normal. Die Gäste und Wärter und Kellner blinzelten, schüttelten den Kopf, und da sie es mit etwas zu tun gehabt hatten, das ganz und gar außerhalb ihres Erfahrungshorizonts lag, kamen sie irgendwie wortlos überein, daß es einfach nicht geschehen war.
Mr. Stockton ging ab und nickte dabei einigen Bekannten schroff zu.
Jessica ging zu Clarence hinüber. »Was«, fragte sie leise, »tun diese Wärter hier?«
Die besagten Wärter standen zwischen den Gästen und schauten sich um, als wüßten sie selbst nicht genau, was sie dort taten.
Clarence begann zu erklären, was die Wärter dort taten, und dann stellte er fest, daß er nicht die leiseste Ahnung hatte.
»Ich kümmere mich darum«, sagte er rasch.
Jessica nickte. Sie ließ den Blick über ihre Party schweifen und lächelte wohlwollend. Es lief alles ziemlich gut.
Richard und Door gingen ins Licht hinein. Und dann war es plötzlich dunkel und kühl, und Richard blinzelte, denn er war fast blind durch das Bild, das das Licht in seine Netzhaut gebrannt hatte: ein geisterhaftes Orange-Grün, das langsam verblich, während seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, die sie umgab.
Sie befanden sich in einer riesigen, in einen Felsen gehauenen Halle. Eisenpfeiler, schwarz und rostbestäubt, stützten das Dach und ragten, vielleicht kilometerweit, ins entfernte Dunkel. Von irgendwoher hörte er das sanfte Plätschern von Wasser: ein Springbrunnen vielleicht, oder eine Quelle. Door hielt immer noch fest seine Hand.
In der Ferne flackerte eine kleine Flamme auf. Und noch eine. Und noch eine. Es war eine Unmenge von Kerzen, stellte Richard fest. Und durch die Kerzen hindurch kam eine große Gestalt in einem einfachen schlichten weißen Gewand auf sie zu.
Die Gestalt bewegte sich scheinbar langsam, doch sie mußte sehr schnell gegangen sein, denn schon nach wenigen Sekunden stand sie neben ihnen. Sie hatte goldenes Haar und ein blasses Gesicht. Sie war nicht viel größer als Richard, doch er fühlte sich neben ihr wie ein kleines Kind. Es war kein Mann. Es war keine Frau. Es war sehr schön.
Seine Stimme war leise. Es sagte: »Lady Door, ja?«
Door sagte: »Ja.«
Ein sanftes Lächeln. Fast ergeben neigte es den Kopf vor ihr. »Es ist mir eine Ehre, dich und deinen Begleiter endlich kennenzulernen. Ich bin der Engel Islington.«
Seine Augen waren klar und groß. Sein Gewand war nicht weiß, wie Richard anfangs geglaubt hatte: Es sah aus, als sei es aus Licht gewoben.
Richard glaubte nicht an Engel. Er hatte noch nie an Engel geglaubt. Er wollte verdammt sein, wenn er jetzt damit anfing. Aber es ist viel einfacher, an etwas nicht zu glauben, wenn es einem nicht direkt in die Augen schaut und einen beim Namen nennt.
»Richard Mayhew«, sagte er. »Auch du bist hier in meinen Hallen willkommen.«
Er wandte sich ab. »Bitte«, sagte er. »Folgt mir.«
Richard und Door folgten dem Engel. Hinter ihnen verloschen die Kerzen von selbst.
Der Marquis de Carabas schritt durch das leere Krankenhaus, Glasscherben und alte Spritzen unter seinen schwarzen Motorradstiefeln zermalmend.
Er trat durch eine Doppeltür, die zu einem schwarzen Treppenhaus führte. Er stieg die Treppe hinab.
Er ging durch die Tunnel unter dem Gebäude und bemühte sich, nicht in die schimmelnden Müllhaufen zu treten. Er ging durch die Duschen und die Toiletten, eine alte Eisentreppe hinunter, durch eine matschige Stelle; und dann zog er eine halbverrottete Holztür auf und ging hinein.
Er schaute sich um und inspizierte angewidert das halb aufgegessene Kätzchen und den Haufen Rasierklingen.
Dann fegte er den Schutt von einem Stuhl, machte es sich in dem klammen Keller so richtig bequem und schloß die Augen.
Bald darauf wurde die Kellertür geöffnet, und Leute kamen herein.
Der Marquis de Carabas öffnete die Augen und gähnte. Dann schenkte er Mr. Croup und Mr. Vandemar ein breites Lächeln.
»Hallo Jungs«, sagte de Carabas. »Ich fand, es sei höchste Zeit, daß ich mal runterkomme und persönlich mit euch spreche.«