Sie verließen das Schiff und gingen ans Ufer, wo sie ein paar Stufen hinabstiegen, durch eine lange Unterführung liefen und wieder nach oben gingen.
Lamia marschierte zielstrebig voran. Sie führte sie in eine kleine, kopfsteingepflasterte Gasse. Gaslampen brannten und flackerten an den Wänden.
»Die dritte Tür«, sagte sie.
Sie blieben vor der Tür stehen. Eine Messingplatte war darauf angebracht, auf der stand:
KÖNIGLICHE GESELLSCHAFT
ZUR VERMEIDUNG VON GRAUSAMKEIT GEGENÜBER HÄUSERN.
Und darunter in kleineren Lettern:
Down Street. Bitte klopfen.
»Man gelangt durch das Haus zur Straße?« fragte Richard.
»Nein«, antwortete Lamia. »Die Straße ist im Haus.«
Richard klopfte an die Tür. Nichts geschah. Sie warteten, und sie zitterten. Er klopfte noch einmal. Schließlich klingelte er. Die Tür wurde von einem verschlafen aussehenden Lakaien mit einer gepuderten Perücke und einer scharlachroten Livree geöffnet. Er schaute die bunte Schar auf seiner Türschwelle mit einem Gesichtsausdruck an, der besagte, daß sich dafür das Aufstehen nicht gelohnt hatte.
»Ja?« sagte der Lakai. Richard hatte sogar die Worte ›Fahr zur Hölle‹ schon in einem wärmeren und freundlicheren Tonfall gehört.
»Down Street«, sagte Lamia gebieterisch.
»Hier entlang«, seufzte der Lakai. »Bitte Füße abtreten. «
Sie gingen durch eine eindrucksvolle Eingangshalle. Dann warteten sie, bis der Lakai alle Kerzen eines Kandelabers entzündet hatte, wie man ihn eigentlich nur auf den Titelseiten von Taschenbüchern antrifft, wo er üblicherweise von einer jungen Dame im langen Nachthemd umklammert wird, die aus einem Herrenhaus flüchtet, in dem immer nur ein Licht brennt, und zwar im Dachfenster.
Dann stiegen sie eine eindrucksvolle, mit einem dicken Teppich ausgelegte Treppe hinab. Sie stiegen eine weniger eindrucksvolle, mit einem weniger dicken Teppich ausgelegte Treppe hinab.
Sie stiegen eine völlig unbeeindruckende, mit verschlissenem Sackleinen ausgelegte Treppe hinab.
Sie stiegen eine schmutzigbraune Holztreppe ohne jeden Teppich hinab.
Am Fuße dieser Treppe befand sich ein antiker Lastenaufzug mit einem Schild daran. Auf dem Schild stand:
AUSSER BETRIEB.
Der Lakai ignorierte das Schild und zog die äußere Drahttür mit einem metallischen Rumpeln auf. Lamia dankte ihm höflich und betrat den Aufzug. Die anderen folgten.
Der Lakai wandte ihnen den Rücken zu. Richard sah durch den Maschendraht zu, wie er, den Kandelaber in den Händen, wieder die Holztreppe hinaufging.
An der Wand des Aufzugs befand sich eine kurze Reihe von Knöpfen. Lamia drückte den untersten. Mit einem Knall schloß sich die metallene Gittertür automatisch. Ein Motor sprang an, und der Aufzug begann sich langsam und quietschend abwärtszubewegen.
Die vier standen dicht beieinander. Richard stellte fest, daß er jede der Frauen, die sich mit ihm im Aufzug befand, riechen konnte. Door roch vor allem nach Curry; Hunter roch, nicht unangenehm, nach Schweiß, auf eine Weise, die ihn an Raubkatzen in Zookäfigen erinnerte; während Lamia berauschend nach Geißblatt und Maiglöckchen und Moschus duftete.
Der Aufzug sank immer weiter abwärts. Richard merkte, daß er schwitzte, einen klammen, kalten Schweiß, und seine Fingernägel tief in die Handflächen grub. So beiläufig er eben konnte, sagte er: »Dies wäre wohl ein sehr schlechter Zeitpunkt, um festzustellen, daß man unter Platzangst leidet, was?«
»Ja«, sagte Door.
»Dann tu ich’s auch nicht«, sagte Richard. Und sie fuhren abwärts.
Es ruckte und klackte und ratschte, und der Aufzug hielt an. Hunter zog die Tür auf, zögerte einen Moment und trat dann auf einen schmalen Sims hinaus.
Richard schaute aus der offenen Aufzugtür. Sie hingen in der Luft, auf dem höchsten Punkt von etwas, das Richard an ein Bild des Turms von Babel erinnerte, das er mal gesehen hatte, oder vielmehr daran, wie der Turm von Babel aussehen würde, wenn sein Inneres nach außen gekehrt wäre. Es war ein gigantischer und reichverzierter, in den Felsen gehauener spiralförmiger Weg, der um einen Schacht herumlief. Und am oberen Ende des Schachts, ein paar tausend Meter über dem festem Boden, hing der Aufzug. Er schwankte ein wenig.
Richard holte tief Luft und trat auf den hölzernen Sims. Dann schaute er, obwohl er wußte, daß das keine gute Idee war, hinab. Zwischen ihm und dem Felsboden, Tausende von Metern weiter unten, war nichts als ein Holzbrett.
Eine lange Planke führte von dem Sims, auf dem sie standen, zum oberen Ende der drei Meter entfernten Felsstraße.
»Und ich schätze«, sagte er, erheblich weniger unbekümmert, als er vorgehabt hatte, »dies ist auch kein guter Zeitpunkt, um darauf hinzuweisen, daß ich schreckliche Höhenangst habe.«
»Es ist ungefährlich«, sagte Lamia. »Oder zumindest war es das das letzte Mal, als ich hier war. Schauen Sie.«
Sie ging über das Brett, ein Rascheln schwarzen Samtes. Sie hätte ein Dutzend Bücher auf ihrem Kopf balancieren können, ohne eins davon fallenzulassen. Als sie den Steinweg erreicht hatte, blieb sie stehen, drehte sich um und lächelte ihnen ermutigend zu.
Hunter folgte ihr hinüber, wandte sich dann um und wartete neben ihr am Rand.
»Siehst du?« sagte Door. Sie streckte die Hand aus und drückte Richards Arm. »Alles in Ordnung.«
Richard nickte und schluckte. In Ordnung.
Door ging hinüber. Es schien ihr keinen Spaß zu machen, aber sie ging trotzdem.
Die drei Frauen warteten auf Richard, der einfach dastand. Er stellte fest, daß er sich offenbar nicht anschickte, die Holzplanke zu überqueren, trotz der ›Gehen!‹-Kommandos, die er an seine Beine sandte.
Hoch über ihnen wurde ein Knopf gedrückt.
Richard hörte das Klonk und das entfernte Knirschen eines alten Elektromotors. Die Tür des Aufzugs knallte zu, so daß Richard nun ohne einen Halt auf einer schmalen hölzernen Plattform stand, die nicht breiter war als die Planke selbst.
»Richard!« schrie Door. »Beweg dich!«
Der Aufzug begann nach oben zu entschwinden. Richard trat von der wackligen Plattform auf das Holzbrett, dann spürte er, wie seine Beine unter ihm nachgaben, und schon klammerte er sich mit allen vieren an die Planke und fürchtete um sein liebes Leben.
In seinem Verstand funktionierte noch ein winziger, rationaler Teil, der über den Aufzug nachgrübelte: Wer hatte ihn wieder hochgeholt, und warum? Der Rest seines Hirns war jedoch damit beschäftigt, all seinen Gliedmaßen zu befehlen, die Planke fest zu umklammern, und so laut zu schreien, wie es seiner geistigen Stimme möglich war: »Ich will nicht sterben!« Richard schloß die Augen, so fest er konnte, denn er war sicher, wenn er sie öffnete und die Felswand unter sich sah, würde er die Planke einfach loslassen und fallen und fallen und –
»Ich habe keine Angst vorm Fallen«, sagte er sich. »Wovor ich Angst habe, ist der Teil, an dem man aufhört zu fallen und anfängt, tot zu sein.« Aber er wußte, daß er sich etwas vormachte. Es war das Fallen, wovor er sich fürchtete – hilflos rudernd durch die Luft zu segeln, zu wissen, daß es nichts gab, was er tun konnte, daß kein Wunder ihn retten würde …
Langsam wurde ihm bewußt, daß jemand mit ihm redete.
»Klettere einfach die Planke entlang, Richard«, sagte jemand.
»Ich … kann nicht«, flüsterte er.
»Du hast Schlimmeres durchgemacht, um an den Schlüssel zu kommen, Richard«, sagte jemand. Es war Door.
»Ich habe wirklich Höhenangst«, sagte er trotzig, das Gesicht gegen das Holzbrett gepreßt. Dann: »Ich will nach Hause.«
Er spürte, wie sich das Holz der Planke an sein Gesicht drückte.
Und dann begann die Planke zu wackeln.
Hunters Stimme sagte: »Ich weiß nicht, welche Last das Brett tragen kann. Sie beide stellen sich zum Ausgleich hier hin.«
Die Planke vibrierte, während sich jemand in Richtung auf ihn zu darauf entlangbewegte. Er umklammerte sie mit geschlossenen Augen. Dann sagte Hunter leise und zuversichtlich in sein Ohr: »Richard?«
»Mm.«
»Schieben Sie sich einfach vorwärts, Richard. Stück für Stück. Kommen Sie …« Ihre Karamelfinger streichelten seine Hand, die sich um die Planke krampfte. »Kommen Sie.« Er holte tief Luft, und schob sich ein kleines Stück vorwärts. Und erstarrte wieder.
»Das machen Sie gut«, sagte Hunter. »Sehr gut. Weiter. «
Und Zentimeter für Zentimeter ließ sich Richard von ihr überreden, die Planke entlangzukriechen, und dann, an deren Ende, schob sie ihm einfach die Hände unter die Arme, hob ihn hoch und stellte ihn auf festen Boden.
»Danke«, sagte er. Ihm fiel nichts anderes ein, was dem, was sie gerade für ihn getan hatte, angemessen gewesen wäre. Er sagte es noch einmal. »Danke.« Und dann sagte er zu allen: »Es tut mir leid.«
Door schaute zu ihm auf. »Schon gut«, sagte sie. »Du bist jetzt in Sicherheit.«
Richard sah die spiralförmige Straße unter der Welt an, die sich tiefer und tiefer wand; und er sah Hunter und Door und Lamia an; und er lachte, bis ihm die Tränen kamen.
»Was«, fragte Door schließlich, »ist denn so lustig?«
»›In Sicherheit!‹« sagte er.
Door starrte ihn an, und dann lächelte auch sie.
»Und wo gehen wir jetzt hin?« fragte Richard.
»Hinunter«, sagte Lamia.
Sie begannen, die Down Street hinabzugehen. Hunter marschierte voran, mit Door an ihrer Seite. Richard ging neben Lamia her, atmete ihren Duft nach Maiglöckchen und Geißblatt ein und genoß ihre Gesellschaft.
»Ich bin wirklich froh, daß Sie mit uns gekommen sind«, erklärte er. »Als Fremdenführerin. Ich hoffe, daß Ihnen das kein Unglück bringt oder so.«
Sie fixierte ihn mit ihren fingerhutfarbenen Augen. »Warum sollte es mir Unglück bringen?«
»Wissen Sie, wer die Rattensprecher sind?«
»Natürlich.«
»Es gab ein Rattensprechermädchen namens Anaesthesia. Sie. Nun ja, wir haben uns ein bißchen angefreundet, und sie sollte mich zum Markt führen. Und dann ist sie mir abhanden gekommen. Auf der Night’s Bridge. Ich frage mich immer noch, was ihr zugestoßen sein mag.«
Sie lächelte ihn mitfühlend an. »Mein Volk kennt Geschichten darüber. Ein paar davon sind vielleicht sogar wahr.«
»Sie müssen mir davon erzählen«, sagte er. Es war kalt. Sein Atem dampfte in der kühlen Luft.
»Eines Tages«, sagte sie. Ihr Atem dampfte nicht. »Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie mich mitnehmen.«
Door und Hunter bogen vor ihnen um die Kurve und waren nicht mehr zu sehen.
»Wissen Sie«, sagte Richard, »die anderen sind schon ein bißchen weit voraus. Wir sollten uns lieber beeilen.«
»Laß sie gehen«, sagte sie sanft. »Wir werden sie schon wieder einholen.«
Es war, dachte Richard, auf merkwürdige Art und Weise so, als sei er ein Teenager und ginge mit einem Mädchen ins Kino. Oder vielmehr wie der Heimweg danach: Stehenbleiben an Bushaltestellen oder neben Mauern, um einen Kuß zu erhaschen, ein hastiges Betasten von Haut und ein Verknäueln von Zungen, und dann schnell weiter, um die Kumpel und ihre Freundinnen einzuholen …
Lamia fuhr mit einem kalten Finger über seine Wange.
»Du bist so warm«, sagte sie bewundernd. »Es muß wunderbar sein, soviel Wärme zu haben.«
Richard versuchte, ein bescheidenes Gesicht zu machen. »Darüber denke ich eigentlich nicht besonders viel nach«, gab er zu.
Ganz weit oben hörte er das metallische Knallen der Aufzugtür.
Lamia schaute flehend und freundlich zu ihm auf. »Würdest du mir etwas von deiner Hitze abgeben, Richard?« fragte sie. »Mir ist so kalt.«
Richard fragte sich, ob er sie küssen sollte. »Was? Ich …«
Sie sah enttäuscht aus. »Gefalle ich dir nicht?« fragte sie. Er hoffte inständig, daß er ihre Gefühle nicht irgendwie verletzt hatte.
»Natürlich gefällst du mir«, hörte er seine Stimme sagen. »Du bist sehr nett.«
»Und du brauchst doch all deine Hitze gar nicht, oder?« Das klang logisch.
»Ich schätze, nein …«
»Und du hast gesagt, du würdest mich dafür bezahlen, daß ich euch führe. Und das möchte ich als Lohn. Wärme. Kann ich welche haben?«
Alles, was sie wollte. Alles. Das Geißblatt und die Maiglöckchen umschlossen ihn, und seine Augen sahen nichts als ihre bleiche Haut und ihre dunklen, blumigen Pflaumenlippen und ihr pechschwarzes Haar. Er nickte.
Irgendwo in seinem Innern schrie etwas, doch was immer das war, es konnte warten.
Sie streckte ihre Hände nach seinem Gesicht aus und zog es sanft zu sich herab. Dann küßte sie ihn, lange und schwerblütig. Im ersten Moment war die Kälte ihrer Lippen und ihrer Zunge ein Schock für ihn, und dann entspannte er sich. Nach einer Weile zog sie sich zurück.
Er spürte das Eis auf seinen Lippen. Er strauchelte rückwärts gegen die Wand. Er versuchte zu blinzeln, aber seine Augen fühlten sich an, als seien sie offen festgefroren.
Sie sah zu ihm auf und lächelte voll Wonne. Ihre Haut war rosig, und ihre Lippen waren scharlachrot. Ihr Atem dampfte in der kalten Luft. Sie leckte sich die roten Lippen mit einer warmen rosa Zunge. Seine Welt verfinsterte sich langsam. Er glaubte, einen dunklen Umriß am Rande seines Blickfeldes auszumachen.
»Mehr«, sagte sie. Und sie streckte die Arme nach ihm aus.
Er sah zu, wie die Velvet Richard zum ersten Kuß an sich zog, sah zu, wie Rauhreif und Frost sich auf seiner Haut ausbreiteten. Er sah zu, wie sie sich glücklich zurücklehnte. Und dann trat er hinter sie, und als sie sich zu Richard neigte, um das, was sie begonnen hatte, zu beenden, streckte er die Hand aus, packte sie fest am Hals und hob sie hoch.
»Gib es zurück«, krächzte er ihr ins Ohr. »Gib ihm sein Leben zurück.« Die Velvet reagierte wie ein Kätzchen, das man in eine Badewanne geworfen hat: Sie wand sich und fauchte und spuckte und kratzte, aber vergebens. Die Hand um ihre Kehle war wie ein Schraubstock.
»Sie können mich nicht dazu zwingen«, sagte sie in einem entschieden unmusikalischen Tonfall.
Er verstärkte den Druck. »Gib ihm sein Leben zurück«, erklärte er heiser, »oder ich breche dir das Genick.«
Sie zuckte zusammen. Er schob sie auf Richard zu.
Sie nahm Richards Hand und atmete ihm in Nase und Mund. Dampf drang aus ihrem Mund und tröpfelte in den seinen. Das Eis auf seiner Haut begann zu tauen, der Rauhreif auf seinem Haar zu verschwinden.
Er drückte noch einmal ihren Hals. »Alles, Lamia.«
Da fauchte sie äußerst widerwillig und öffnete noch einmal den Mund. Ein letztes Dampfwölkchen schwebte von ihrem Mund in den seinen, und dann war es fort.
Richard blinzelte.
»Was hast du mit mir angestellt?« fragte Richard.
»Sie war dabei, Ihr Leben zu trinken«, sagte der Marquis de Carabas in einem heiseren Flüstern. »Sich Ihre Wärme zu nehmen. Sie in so ein kaltes Etwas zu verwandeln, wie sie selbst eins ist …«
Lamia verzog das Gesicht wie ein kleines Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hat. Ihre violetten Augen blitzten. »Ich brauche es nötiger als er!« jammerte sie.
»Ich hab’ gedacht, du magst mich«, wandte Richard dümmlich ein.
Der Marquis hob Lamia mit einer Hand hoch und hielt ihr Gesicht dicht vor das seine. »Wenn du ihm noch einmal zu nahe kommst, du oder irgendein anderes der Velvet-Kinder, besuche ich tagsüber, wenn ihr schlaft, eure Höhle und brenne sie nieder. Verstanden?«
Sie nickte.
Er ließ sie los, und sie fiel zu Boden. Dann rappelte sie sich zu voller Größe auf, was nicht besonders groß war, warf den Kopf zurück und spuckte dem Marquis mit Wucht ins Gesicht.
Lamia raffte das Vorderteil ihres schwarzen Samtkleides, lief die Schräge hinauf und war verschwunden.
Eiskalter schwarzer Speichel rann dem Marquis die Wange hinab. Er wischte ihn weg.
»Sie hätte mich umgebracht«, sagte Richard.
»Nicht sofort«, erwiderte der Marquis. »Aber nachdem sie Ihr ganzes Leben vertilgt gehabt hätte, wären Sie gestorben.«
Richard starrte den Marquis an. Er sah mitgenommen aus. Sein Mantel war weg: Statt dessen war eine alte Decke um seine Schultern gewickelt, wie ein Poncho, und darunter hatte er sich irgend etwas – Richard konnte nicht erkennen was – umgeschnallt. Er war barfuß. Aus irgendeinem Grund, den Richard als bizarren Modetick interpretierte, hatte er seine Kehle von oben bis unten mit einem ausgeblichenen Lappen umwickelt.
»Wir haben Sie gesucht«, sagte Richard.
»Und jetzt haben Sie mich gefunden«, krächzte der Marquis trocken.
»Wir hatten Sie auf dem Markt erwartet.«
»Ja. Nun. Einige Leute hielten mich für tot. Ich war gezwungen, unterzutauchen.«
»Wieso … wieso hielten einige Leute Sie für tot?«
Der Marquis sah Richard an, mit Augen, die zu viel gesehen hatten und zu weit gegangen waren. »Weil sie mich getötet haben«, sagte er. »Kommen Sie, die anderen können nicht allzu weit sein.«
Richard blickte zur anderen Seite des Schachts hinüber. Dort sah er Door und Hunter, eine Ebene weiter unten. Sie schauten sich um – nach ihm, nahm er an. Er rief, brüllte und winkte, doch es schallte nicht weit genug.
Der Marquis legte eine Hand auf Richards Arm. »Sehen Sie mal«, sagte er. Er deutete auf die Ebene unter Door und Hunter. Etwas bewegte sich dort. Richard kniff die Augen zusammen: Er konnte im Schatten zwei Gestalten erkennen. »Croup und Vandemar«, sagte der Marquis. »Es ist eine Falle.«
»Was sollen wir tun?«
»Laufen Sie!« sagte der Marquis. »Warnen Sie sie. Ich kann nicht laufen … Los, verdammt noch mal!«
Und Richard lief. Er lief, so schnell er konnte, so sehr er konnte, die geneigte Steinstraße unter der Welt entlang. Er verspürte einen plötzlichen bohrenden Schmerz in der Brust: Seitenstiche. Und er zwang sich weiter, und er lief immer noch.
Er bog um eine Ecke, und er sah sie.
»Hunter! Door!« keuchte er atemlos. »Halt! Vorsicht!«
Door drehte sich um.
Mr. Croup und Mr. Vandemar traten hinter einem Pfeiler hervor. Mr. Vandemar riß Door die Hände auf den Rücken und fesselte sie mit einem Nylonstreifen.
Mr. Croup hatte etwas Langes und Dünnes in einer braunen Stoffhülle in der Hand. In solchen Hüllen hatte Richards Vater immer seine Angeln transportiert.
Hunter stand mit offenem Mund da.
»Hunter! Schnell!«
Sie schoß herum und trat zu, mit einer weichen, fast tänzerischen Bewegung.
Ihr Fuß traf Richard direkt in den Magen. Er fiel zu Boden, nach Luft ringend und verletzt.
»Hunter?« keuchte er.
»Ich fürchte, ja«, sagte Hunter.
Mr. Croup und Mr. Vandemar beachteten Richard und Hunter gar nicht. Mr. Vandemar schnürte Doors Arme zusammen, während Mr. Croup dastand und zusah.
»Betrachten Sie uns nicht als Mörder, Miss«, warf Mr. Croup im Plauderton hin. »Betrachten Sie uns als einen Escort Service.«
»Bloß ohne Busen«, sagte Mr. Vandemar.
Mr. Croup drehte sich zu Mr. Vandemar um. »Escort im Sinne von Begleitung, Mister Vandemar. Damit unsere feine Lady sicher dort ankommt, wo sie hinwill. Ich wollte Sie weder auf eine Stufe mit einer Schönen der Nacht noch mit einer gemeinen Straßendirne stellen.«
Mr. Vandemar war hartnäckig. »Sie haben gesagt, wir seien ein Escort Service«, murmelte er. »Ich weiß, was das ist.«
»Tun Sie so, als hätte ich nichts gesagt, Mister Vandemar. Ich habe mich versprochen. Von jetzt an sind wir Gesellschafter. Beschützer. Begleiter.«
Mr. Vandemar kratzte sich mit einem Rabenschädelring die Nase. »Na gut«, sagte er.
Mr. Croup wandte sich wieder zu Door um und lächelte, wobei er viele Zähne zeigte. »Da sehen Sie’s, Lady Door. Wir werden aufpassen, daß Sie Ihr Ziel sicher erreichen.«
Door beachtete ihn nicht. »Hunter«, rief sie. »Was geht hier vor?«
Mr. Croup strahlte stolz. »Bevor Hunter eingewilligt hat, für Sie zu arbeiten, hat sie eingewilligt, für unseren Auftraggeber zu arbeiten. Indem sie sich um Sie kümmert.«
»Wir haben’s Ihnen ja gesagt«, frohlockte Mr. Vandemar. »Wir haben Ihnen gesagt, daß einer von Ihnen ein Verräter ist.« Er warf den Kopf in den Nacken und heulte wie ein Wolf.
»Ich dachte, Sie meinten den Marquis«, sagte Door.
Mr. Croup kratzte sich theatralisch am Kopf. »Apropos: Ich möchte wissen, wo der Marquis ist. Wir haben ihn so lange nicht gesehen, daß die Erinnerung an ihn bereits geradezu verblichen ist, nicht wahr, Mister Vandemar? «
»Allerdings, Mister Croup. So verblichen wie er selbst.«
»Dann werden wir ihn von jetzt an den verblichenen Marquis de Carabas nennen müssen. Ich fürchte, er ist ein ganz klein wenig – «
»Mausetot«, beendete Mr. Vandemar den Satz.
Richard, der sich japsend auf dem Boden gewunden hatte, schaffte es, seine Lungen mit genug Luft zu füllen, um zu keuchen: »Sie gemeine Verräterin!«
Hunter warf einen Blick auf den Boden. »Nichts für ungut«, murmelte sie.
»Der Schlüssel, den Sie von den Black Friars erhalten haben«, sagte Mr. Croup zu Door. »Wer hat den?«
»Ich«, japste Richard. »Sie können mich durchsuchen, wenn Sie wollen.« Er fischte in seinen Taschen herum – wobei er etwas Hartes und Ungewohntes in seiner Gesäßtasche bemerkte, doch er hatte nicht die Zeit, das jetzt näher zu untersuchen – und zog den Haustürschlüssel zu seiner alten Wohnung hervor. Er rappelte sich auf und stolperte hinüber zu Mr. Croup und Mr. Vandemar. »Hier.«
Mr. Croup streckte die Hand aus und nahm ihm den Messingschlüssel ab. »Potzblitz«, sagte er, ohne überhaupt richtig hinzusehen. »Fast wäre ich diesem äußerst raffinierten Trick aufgesessen, Mister Vandemar.« Er gab den Schlüssel Mr. Vandemar, der ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hochhielt und dann zerknüllte wie Alufolie. »Pech gehabt, Mister Croup«, sagte er.
»Tun Sie ihm weh, Mister Vandemar«, sagte Mr. Croup.
»Mit Vergnügen, Mister Croup«, sagte Mr. Vandemar, und er trat Richard gegen die Kniescheibe. Richard fiel zu Boden und umklammerte sein Knie, das höllisch weh tat.
Wie aus weiter Ferne hörte er Mr. Vandemars Stimme. Er schien ihm einen Vortrag zu halten. »Die Leute glauben immer, je stärker man zutritt, desto mehr tut es weh«, sagte Mr. Vandemars Stimme. »Aber nicht, wie stark man zutritt, ist wichtig, sondern, wo man hintritt. Also, dies ist wirklich ein sehr sanfter Tritt – «
– etwas donnerte in Richards linke Schulter. Sein linker Arm wurde taub, und eine Blüte des Schmerzes öffnete sich in seiner Schulter. Es fühlte sich an, als stünde sein ganzer Arm in Flammen und würde gleichzeitig vereist, als ob ihm jemand ein Elektroschockgerät tief ins Fleisch gestoßen und den Strom so weit aufgedreht hätte, wie es ging. Er wimmerte. vor sich hin. Und Mr. Vandemar sagte derweil:
»… aber er tut genauso weh wie dieser – der doch viel härter ist – «
Der Stiefel schoß wie eine Kanonenkugel in Richards Flanke. Er hörte sich schreien und schluchzen, und er wünschte, er hätte eine Idee, wie er damit aufhören konnte.
»Ich habe den Schlüssel«, hörte er Door sagen.
»Wenn Sie ein Schweizer Armeemesser hätten«, sagte Mr. Vandemar zuvorkommend zu Richard, »könnte ich Ihnen zeigen, was Sie mit all den Teilen daran anfangen können. Sogar mit dem Flaschenöffner und dem Ding, mit dem man Steinchen aus Pferdehufen entfernt.«
»Lassen Sie ihn in Ruhe, Mister Vandemar. Für Schweizer Armeemesser bleibt immer noch genug Zeit. Hat sie den Talisman?«
Mr. Croup durchsuchte Doors Taschen und nahm die geschnitzte Obsidianfigur heraus: das winzige Ungeheuer.
Hunters Stimme klang tief und voll. »Was ist mit mir? Wo bleibt mein Lohn?«
Mr. Croup schniefte. Er warf ihr die Angelhülle zu. Sie fing sie mit einer Hand auf.
»Waidmannsheil«, sagte Mr. Croup. Dann drehten er und Mr. Vandemar sich um und gingen, Door in der Mitte zwischen sich, die Spirale der Down Street hinab.
Hunter kniete sich auf den Boden und begann, die Riemen an der Hülle zu lösen. Ihre Augen waren groß und glänzend. Richard lag am Boden und sah ihr zu.
»Was ist das?« fragte er. »Dreißig Silberlinge?«
Sie zog es langsam aus der Stoffhülle, und ihre Finger liebkosten es, streichelten es. Liebten es.
»Ein Speer«, antwortete sie.
Er bestand aus einem bronzefarbenen Metall; die Klinge war lang und gebogen wie ein Kris, scharf auf der einen Seite, gezackt auf der anderen; in die Seite des Hefts, das grün vor Grünspan und mit fremdartigen Zeichnungen und seltsamen Schnörkeln verziert war, waren Gesichter eingraviert. Er war von der Spitze der Klinge bis zum Ende des Hefts etwa eineinhalb Meter lang. Hunter berührte ihn beinahe ehrfürchtig, als sei er das Schönste, was sie je gesehen hatte.
»Sie haben Door für einen Speer ans Messer geliefert«, sagte Richard.
Sie sagte nichts. Sie leckte mit ihrer rosa Zunge ihren Finger an und fuhr dann sanft damit an der Klinge entlang, um die Schneide zu prüfen; und sie war zufrieden mit dem, was sie fühlte.
»Werden Sie mich töten?« fragte er.
Da wandte sie den Kopf und sah ihn an. Sie wirkte lebendiger, als er sie je gesehen hatte; schöner und gefährlicher. »Was sollte mich daran reizen, Sie zu jagen, Richard Mayhew? Auf mich wartet eine größere Beute.«
»Das ist der Speer, mit dem Sie das Große Ungeheuer von London jagen wollen, nicht wahr?«
Sie sah den Speer auf eine Weise an, wie keine Frau Richard je angesehen hatte. »Es heißt, er sei unschlagbar.«
»Aber Door hat Ihnen vertraut. Ich habe Ihnen vertraut.«
»Genug.«
Langsam begann der Schmerz nachzulassen, zu einem dumpfen Nachhall in seiner Schulter und seiner Hüfte und seinem Knie abzuflauen. »Für wen arbeiten Sie? Wo bringen sie sie hin? Wer steckt hinter dem Ganzen?«
»Sagen Sie es ihm, Hunter«, krächzte der Marquis de Carabas.
Er hatte eine Armbrust auf Hunter gerichtet. Seine nackten Füße standen fest auf der Erde, sein Gesichtsausdruck war unerbittlich.
»Ich hab’ mich schon gefragt, ob Sie wirklich so tot sind, wie Croup und Vandemar es dargestellt haben«, sagte Hunter. »Ich hatte Sie eigentlich als jemanden eingeschätzt, der schwer zu töten ist.«
Ironisch neigte er den Kopf. »Ich Sie auch, verehrte Lady. Aber ein Armbrustgeschoß in der Kehle und ein mehrere tausend Meter tiefer Sturz könnten mich Lügen strafen, nicht wahr? Legen Sie den Speer hin und treten Sie zurück.« Sanft, liebevoll legte sie den Speer auf den Boden. Dann richtete sie sich auf und trat zurück.
»Sie können es ihm ebensogut sagen, Hunter«, forderte sie der Marquis auf. »Ich weiß es bereits. Ich habe es auf die harte Tour herausgefunden. Sagen Sie ihm, wer hinter all dem steckt.«
»Islington«, sagte sie.
Richard schüttelte den Kopf, als wolle er eine Fliege verscheuchen. »Das kann nicht sein«, sagte er. »Ich habe doch Islington selbst kennengelernt. Er ist ein Engel.« Und dann fragte er beinahe verzweifelt: »Warum?«
Der Marquis hatte Hunter nicht aus den Augen gelassen, und auch die Armbrustspitze war weiterhin unbeweglich auf sie gerichtet. »Ich wünschte, ich wüßte es. Aber Islington befindet sich am Fuße der Down Street, und am Fuße dieser Schweinerei. Und zwischen uns und Islington befinden sich das Labyrinth und das Ungeheuer. Richard, nehmen Sie den Speer. Hunter, Sie gehen vor mir her, bitte.«
Richard hob den Speer auf, und dann zog er sich schwerfällig daran hoch, bis er stand. »Sie wollen, daß sie mit uns kommt?« fragte er verblüfft.
»Hätten Sie sie lieber hinter uns?« entgegnete der Marquis trocken.
Richard schüttelte den Kopf.
Und sie gingen hinab.