»Trinkt Ihr Wein?« fragte er.
Richard nickte.
»Ich hab’ schon mal einen Schluck Wein getrunken«, sagte Door. »Mein Vater. Er. Hat uns. Beim Essen. Davon probieren lassen.«
Der Engel Islington hob die Flasche hoch. Sie sah aus wie eine Art Karaffe. Richard fragte sich, ob die Flasche aus Glas war; sie brach und reflektierte das Kerzenlicht so seltsam. Vielleicht war sie aus irgendeinem Kristall oder einem riesigen Diamanten. Es sah sogar so aus, als glühte der Wein darin, als wäre er aus Licht. Der Engel nahm den Deckel von dem Kristall und goß die Flüssigkeit ein paar Zentimeter hoch in ein Weinglas. Es war ein Weißwein, aber einer, wie Richard noch keinen gesehen hatte. Er strahlte wie Sonnenlicht auf der Oberfläche eines Schwimmbeckens.
Door und Richard saßen an einem altersgeschwärzten Holztisch, auf riesigen Holzstühlen, und schwiegen.
»Diese Flasche Wein«, sagte Islington, »ist die letzte ihrer Art. Einer deiner Vorfahren hat mir zwölf Flaschen davon geschenkt.«
Er reichte Door das Glas und begann, noch etwas von dem glühenden Wein aus der Karaffe in ein weiteres Glas zu gießen, ehrfürchtig, beinahe liebevoll, wie ein Priester, der einen Ritus ausführt.
»Es war ein Willkommensgeschenk. Das ist, ach, dreißig-, vierzigtausend Jahre her. Ziemlich lange her jedenfalls. «
Er reichte Richard das Weinglas.
»Eigentlich sollte ich so etwas Kostbares lieber nicht verschwenden, sondern wie einen Schatz hüten«, sagte er. »Aber ich empfange so selten Gäste. Und der Weg hierher ist schwer.«
»Der Angelus …« murmelte Door.
»Ihr seid mit Hilfe des Angelus hergekommen, ja. Doch diesen Weg kann jeder nur einmal gehen.« Der Engel hob sein Glas in die Höhe und schaute ins Licht. »Trinkt vorsichtig«, riet er ihnen. »Er ist äußerst stark.« Er setzte sich zwischen Richard und Door an den Tisch. »Mir will immer scheinen«, sagte er träumerisch, »als schmeckte man das Sonnenlicht vergangener Tage, wenn man ihn trinkt.« Er hielt sein Glas hoch. »Ein Toast: auf den Glanz früherer Zeiten.«
»Auf den Glanz früherer Zeiten«, sprachen Richard und Door nach. Und dann probierten sie den Wein; ganz behutsam nippten sie daran.
»Er ist unglaublich«, sagte Door.
»Ja, wirklich«, sagte Richard. »Ich dachte, alte Weine werden an der Luft zu Essig.«
Der Engel schüttelte den Kopf. »Dieser nicht. Das ist alles eine Frage der Traubensorte und des Ortes, an dem sie gewachsen ist. Diese Traubensorte wurde leider vernichtet, als der Weinberg ein Opfer der Wellen wurde.«
»Das ist Magie«, sagte Door, an dem flüssigen Licht nippend. »So einen Geschmack habe ich noch nie erlebt.«
»Und du wirst ihn auch nie wieder erleben«, sagte Islington. »Es gibt keinen Wein aus Atlantis mehr.«
Richard öffnete den Mund, um seinem Gastgeber zu sagen, daß es nie ein Atlantis gegeben habe, doch dann fiel ihm ein, daß es auch keine Engel gab und daß daher das meiste von dem, was er in den letzten Tagen erlebt hatte, gar nicht möglich war, daher schloß er den Mund wieder und nahm noch einen Schluck Wein.
Er machte ihn glücklich. Er ließ ihn an einen Himmel denken, der größer und blauer war, als er je einen gesehen hatte, eine goldene Sonne, die am Himmel hing; alles war einfacher, alles war jünger als die Welt, die er kannte.
Zu ihrer Linken befand sich ein Wasserfall; klares Wasser lief den Felsen hinab und sammelte sich in dem Felsbecken. Zu ihrer Rechten war eine Tür, zwischen zwei Eisenpfeiler eingefügt: Die Tür bestand aus poliertem Feuerstein, der in ein Metall von beinahe schwarzer Farbe eingelassen war.
»Sie behaupten tatsächlich, ein Engel zu sein?« fragte Richard. »Ich meine, Sie haben wirklich schon einmal Gott gesehen und so weiter?«
Islington lächelte nachsichtig. »Ich behaupte gar nichts, Richard«, sagte er. »Aber ich bin ein Engel.«
»Sie erweisen uns eine große Ehre«, sagte Door.
»Nein. Ihr habt mir eine Ehre erwiesen, indem ihr hierher gekommen seid. Dein Vater war ein guter Mann, Door, und er war mein Freund. Sein Tod hat mich sehr traurig gemacht.«
»Er hat gesagt … in seinem Tagebuch … hat er gesagt, ich solle zu Ihnen gehen. Er hat gesagt, ich könne Ihnen trauen.«
»Dann will ich hoffen, daß ich dieses Vertrauens würdig bin.« Der Engel nippte an seinem Wein. »Unter-London ist die zweite Stadt, die mir je etwas bedeutet hat. Die erste ist in den Wellen versunken, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich weiß, was Schmerz und was Trauer ist. Du hast mein ganzes Mitgefühl. Was möchtest du wissen? «
Door zögerte. »Meine Familie … sie wurde von Mister Croup und Mister Vandemar umgebracht. Aber – wer hat den Befehl dazu gegeben? Ich will … ich will wissen, warum.«
Der Engel nickte. »Viele Geheimnisse finden ihren Weg zu mir herab«, sagte er. Dann wandte er sich Richard zu. »Und du? Was willst du, Richard Mayhew?«
Richard zuckte mit den Schultern. »Ich will mein Leben wiederhaben. Und meine Wohnung. Und meinen Job.«
»Das läßt sich machen«, sagte der Engel.
»Ja. Gut«, sagte Richard mit ausdrucksloser Stimme.
»Zweifelst du an mir, Richard Mayhew?« fragte der Engel Islington. Richard sah ihm in die Augen. Er blickte in Augen, die so alt waren wie das Universum: Augen, die gesehen hatten, wie Sternenstaub zu Galaxien gerann.
Er schüttelte den Kopf.
Islington lächelte ihn freundlich an. »Es wird nicht leicht sein, und euch und euren Begleitern stehen noch bestimmte Prüfungen bevor. Doch es gibt einen Weg. Einen Schlüssel zu euren Problemen.« Er erhob sich, ging zu einem kleinen Felsregal hinüber und nahm eine kleine Statue in die Hand, eine von mehreren auf dem Regal. Es war eine schwarze Statuette, die eine Art Tier darstellte, aus vulkanischem Glas. Der Engel reichte sie Door.
»Dies wird euch sicher durch den letzten Teil eurer Reise zurück zu mir bringen«, sagte er. »Der Rest liegt bei euch.«
»Was sollen wir tun?« fragte Richard.
»Die Black Friars, die Schwarzen Mönche, sind die Wächter eines Schlüssels«, sagte er. »Bringt ihn mir.«
»Und damit können Sie herausfinden, wer meine Familie getötet hat?« fragte Door.
»Ich hoffe es«, sagte der Engel.
Richard leerte sein Weinglas. Er spürte, wie der Wein ihn wärmte, als er durch ihn hindurchfloß. Er hatte das seltsame Gefühl, wenn er auf seine Finger schaute, würde er den Wein durch sie hindurch glühen sehen. Als wäre er aus Licht …
»Viel Glück«, flüsterte der Engel Islington.
Ein Rauschen war zu hören, wie ein Wind, der über einen untergegangenen Wald streift, oder das Schlagen mächtiger Flügel.
Richard und Door saßen in einem Raum des British Museum auf dem Boden und starrten zu der bemalten Schnitzerei eines Engels auf einer Kathedralentür empor.
Der Raum war dunkel und leer.
Die Party war seit geraumer Zeit vorbei. Draußen wurde der Himmel langsam hell.
Richard stand auf, beugte sich dann hinab und half Door auf. »Black Friars?« fragte er.
Door nickte.
»Personen oder Ort?« fragte er.
»Personen.«
Richard ging zum Angelus hinüber. Er fuhr mit dem Finger über dessen gemaltes Gewand. »Glaubst du, daß er das wirklich kann? Mir mein Leben zurückgeben?«
»So etwas hab’ ich noch nie gehört. Aber ich glaube nicht, daß er uns anlügen würde. Er ist ein Engel.«
Door öffnete die Faust und blickte auf die Statue des Ungeheuers.
»Mein Vater hatte auch so eine«, sagte sie.
Sie steckte sie tief in eine der Taschen ihrer braunen Lederjacke.
»Also«, sagte Richard. »Wir kriegen den Schlüssel bestimmt nicht, indem wir hier herumtrödeln, oder?«
Sie gingen durch die leeren Korridore.
»Was weißt du eigentlich über diesen Schlüssel?« fragte Richard.
»Nichts«, erwiderte Door. Sie hatten den Haupteingang des Museums erreicht. »Ich hab’ schon mal von den Black Friars gehört, aber ich hatte noch nie wirklich etwas mit ihnen zu tun.«
Sie berührte eine Glastür, und diese ging auf.
»Mönche …«, sagte Richard nachdenklich. »Ich wette, wenn wir denen sagen, daß der Schlüssel für einen Engel ist, einen richtigen Engel, dann geben sie uns den heiligen Schlüssel und den magischen Dosenöffner und den fantastischen pfeifenden Korkenzieher noch als Überraschungsbonus dazu.« Er begann zu lachen.
»Du bist ja ziemlich guter Stimmung«, sagte Door.
Er nickte begeistert. »Ich kann wieder nach Haus. Alles wird wieder normal. Wieder langweilig. Wieder wunderbar. «
Richard sah die Steinstufen an, die zum British Museum hinaufführten, und fand, sie seien dazu geschaffen, von Fred Astaire und Ginger Rogers hinabgetanzt zu werden. Und da er sah, daß von beiden keiner in der Nähe war, begann er selbst die Stufen hinabzutanzen, wobei er sich einbildete, daß er es durchaus mit Fred Astaire aufnehmen konnte, und irgend etwas zwischen »Puttin’ on the Ritz« und »Wombling White Tie and Tails« summte.
Door stand oben an der Treppe und starrte ihn entsetzt an. Dann begann sie haltlos zu kichern.
Er schaute zu ihr hoch und lüpfte seinen imaginären weißen Seidenzylinder.
»Schwachkopf«, sagte Door und lächelte ihn an.
Als Antwort ergriff Richard ihre Hand und fuhr fort, die Stufen auf und ab zu tanzen. Door zögerte einen Moment, dann begann auch sie zu tanzen. Sie tanzte viel besser als Richard.
Am Fuß der Treppe fielen sie einander atemlos und erschöpft und kichernd in die Arme.
Um Richard drehte sich alles.
»Laß uns gehen und unsere Leibwächterin suchen«, sagte Door.
Und sie gingen zusammen die Straße hinunter und strauchelten dann und wann.
»Was«, fragte Mr. Croup, »wollen Sie?«
»Was«, fragte der Marquis de Carabas, »will jeder?«
»Tote Sachen«, antwortete Mr. Vandemar. »Zusätzliche Zähne.«
»Ich dachte, vielleicht könnten wir einen Handel abschließen«, sagte der Marquis.
Mr. Croup begann zu lachen. Es klang, als würde man eine Schiefertafel über eine Wand voll abgeschnittener Fingernägelspitzen ziehen. »Ach, Messire Marquis. Ich glaube, ich kann guten Gewissens – und ohne daß mir irgendwelche der hier anwesenden Parteien widersprechen würden – behaupten, daß Sie jeglicher Vernunft, die Ihnen einst zugebilligt wurde, verlustig gegangen sind. Wenn Sie diese vulgäre Ausdrucksweise gestatten: Sie haben sie nicht mehr alle.«
»Ein Wort«, sagte Mr. Vandemar, der jetzt hinter dem Stuhl des Marquis stand, »und er ist im Nu um einen Kopf kürzer.«
Der Marquis hauchte kräftig auf seine Fingernägel und polierte sie an seinem Mantelrevers. »Ich war schon immer der Ansicht«, bekannte er, »daß Gewalt das einzige Mittel der Dilettanten ist, und daß leere Drohungen der letzte Strohhalm der ewigen Stümper sind.«
Mr. Croup funkelte ihn wütend an. »Was tun Sie hier?« zischte er.
Der Marquis de Carabas reckte und streckte sich wie eine große Katze: ein Luchs vielleicht, oder ein riesiger schwarzer Panther. Am Ende der Bewegung stand er, die Hände tief in den Taschen.
»Mir ist zu Ohren gekommen, Mister Croup«, warf er beiläufig hin, »daß Sie Figurinen aus der T’ang-Dynastie sammeln.«
»Woher wissen Sie das?«
»So etwas erzählt man mir eben. Ich bin ein zugänglicher Mensch.« Das Lächeln des Marquis war rein, ungetrübt, treuherzig: das Lächeln eines Mannes, der einem einen Gebrauchtwagen verkaufen will.
»Selbst wenn ich das täte …«, begann Mr. Croup.
»Wenn Sie das täten«, sagte der Marquis de Carabas, »würden Sie sich vielleicht hierfür interessieren.«
Er nahm eine Hand aus der Tasche und hielt Mr. Croup etwas vor die Nase.
Bis vor wenigen Stunden hatte es in einer Vitrine in den Katakomben einer der führenden Handelsbanken Londons gestanden. Es hieß ›Der Geist des Herbstes (Grabfigur)‹. Es war etwa zwanzig Zentimeter hoch: eine glasierte Keramikfigur. Sie war geformt und bemalt und gebrannt worden, als in Europa noch das finsterste Mittelalter geherrscht hatte.
Mr. Croup zischte unwillkürlich und streckte die Hand danach aus. Der Marquis zog sie schnell weg und drückte sie an seine Brust.
»Warum sollte uns etwas davon abhalten, sie uns einfach zu nehmen? Und Ihre Überreste über die gesamte Unterseite zu verstreuen?« fragte Mr. Croup. »Wir haben noch nie einen Marquis zerstückelt.«
»Doch«, sagte Mr. Vandemar. »In York. Im vierzehnten Jahrhundert. Im Regen.«
»Das war kein Marquis«, sagte Mr. Croup. »Das war der Earl of Exeter.«
»Und Marquis von Westmoreland.« Mr. Vandemar blickte ziemlich selbstzufrieden drein.
Mr. Croup schniefte. »Warum sollen wir Sie nicht einfach in ebenso viele Stücke zerhacken wie den Marquis von Westmoreland?« fragte er.
De Carabas nahm die andere Hand aus der Tasche. Sie hielt einen kleinen Hammer. Er warf den Hammer in die Luft, wie ein Barmann in einem Film über die Zubereitung von Cocktails, und als er ihn mit dem Griff voran wieder auffing, schwebte der Hammer über der Porzellanfigur. »Oh, bitte«, sagte er. »Keine dummen Drohungen mehr. Ich glaube, ich würde mich besser fühlen, wenn Sie beide dort drüben stehen würden.«
Mr. Vandemar warf Mr. Croup einen Blick zu, und dieser nickte fast unmerklich. Die Luft erzitterte, und Mr. Vandemar stand neben Mr. Croup.
Mr. Croup lächelte wie ein Totenschädel. »Es ist tatsächlich richtig, daß ich bereits das eine oder andere Stück aus der T’ang-Dynastie erworben habe. Ist das da zu verkaufen?«
»Wir hier auf der Unterseite geben nichts aufs Kaufen und Verkaufen, Mister Croup. Tauschhandel. Baratt. Darum geht es uns. Aber ja, dieses reizende kleine Exemplar ist tatsächlich noch zu haben.«
»Nennen Sie Ihren Preis«, sagte Mr. Croup.
Dem Marquis entfuhr ein Seufzer der Erleichterung. »Erstens: Drei Antworten auf drei Fragen«, sagte er.
Croup nickte. »Beiderseits. Auch wir bekommen drei Antworten.«
»Na gut«, sagte der Marquis. »Zweitens versprechen Sie, mich ungehindert ziehen zu lassen und mir mindestens eine Stunde Vorsprung zu geben.«
Croup nickte heftig. »Einverstanden. Stellen Sie Ihre erste Frage.« Seine Augen fixierten die Statue.
»Erste Frage. Für wen arbeiten Sie?«
»Oh, das ist leicht«, sagte Mr. Croup. »Darauf gibt es eine einfache Antwort. Wir arbeiten für unseren Arbeitgeber, der lieber ungenannt bleiben möchte.«
»Hmpf. Warum haben Sie Doors Familie umgebracht?«
»Befehl von unserem Arbeitgeber«, sagte Mr. Croup, dessen Lächeln von Minute zu Minute füchsischer wurde.
»Warum haben Sie Door nicht getötet, als Sie die Gelegenheit dazu hatten?«
Bevor Mr. Croup antworten konnte, sagte Mr. Vandemar: »Muß am Leben bleiben. Sie ist die einzige, die die Tür öffnen kann.«
Mr. Croup funkelte seinen Kompagnon wütend an.
»Das reicht«, sagte er. »Warum erzählen Sie ihm nicht gleich alles?«
»Ich wollte auch mal«, murrte Mr. Vandemar.
»Gut«, sagte Mr. Croup. »Jetzt haben Sie Ihre drei Antworten, wozu auch immer das gut sein mag. Meine erste Frage: Warum beschützen Sie sie?«
»Ihr Vater hat mir das Leben gerettet«, antwortete der Marquis. »Ich habe ihm diese Schuld nie vergolten. Mir ist es lieber, wenn Leute bei mir Schulden haben.«
»Ich habe eine Frage«, sagte Mr. Vandemar.
»Genau wie ich, Mr. Vandemar. Der Oberweltler, Richard Mayhew. Warum ist er bei ihr? Warum läßt sie das zu?«
»Aus Sentimentalität«, erwiderte der Marquis de Carabas.
»Jetzt bin ich dran«, sagte Mr. Vandemar. »An welche Zahl denke ich gerade?«
»Wie bitte?«
»An welche Zahl denke ich gerade?« wiederholte Mr. Vandemar. »Irgendwas zwischen eins und ganz viel«, fügte er zuvorkommend hinzu.
»Sieben«, sagte der Marquis.
Mr. Vandemar nickte beeindruckt.
Mr. Croup begann: »Wo ist – «, doch der Marquis schüttelte den Kopf. »Mh-mh«, sagte er. »Jetzt werden wir unverschämt.«
Einen Moment lang herrschte absolute Stille in dem klammen Keller. Dann tropfte Wasser, und Maden raschelten, und der Marquis sagte: »Nicht vergessen: eine Stunde Vorsprung.«
»Gewiß«, sagte Mr. Croup.
Der Marquis de Carabas warf Mr. Croup die Figurine zu, die dieser gierig auffing, wie ein Drogensüchtiger, der eine Plastiktüte voll weißen Pulvers von zweifelhafter Legalität erwischt.
Und dann verließ der Marquis den Keller, ohne sich noch einmal umzusehen.
Mr. Croup drehte und wendete die Figurine, um sie gründlich zu untersuchen, wie ein Priester der Kirche der Fliegenden Antiquitätenhändler aus einem Dickens-Buch. Seine Zunge schoß von Zeit zu Zeit hervor, wie die einer Schlange. »Oh, sehr schön«, flüsterte er. »In der Tat: T’ang-Dynastie. Zwölfhundert Jahre alt, die feinsten Keramikfiguren, die je auf dieser Erde gefertigt wurden. Diese ist eine Arbeit von Kai Lung, dem Besten der Besten: so etwas gibt es kein zweites Mal. Man beachte nur die Farbe der Glasur; den Sinn für Proportionen; das Leben …« Jetzt lächelte er wie ein Baby; das unschuldige Lächeln war in der düsteren Landschaft seines Gesichts äußerst fehl am Platze. »Sie bringt ein wenig Magie und Schönheit in die Welt.«
Und dann grinste er, zu breit, neigte das Gesicht zu der Figurine hinab und zermalmte ihren Kopf zwischen den Zähnen, kaute und mampfte wild und schluckte in großen Brocken herunter. Seine Zähne zerbröselten das Porzellan zu einem feinen Pulver, das den unteren Teil seines Gesichts bestäubte.
Dieser Akt der Zerstörung verschaffte ihm eine ekstatische Befriedigung, er schwelgte darin mit dem merkwürdigen Wahnsinn eines Fuchses, der im Hühnerstall in einen Blutrausch gerät.
Und dann, als nur noch Staub übrig war, drehte er sich zu Mr. Vandemar um. Er wirkte seltsam melancholisch, fast matt. »Wieviel Zeit wollten wir ihm geben?«
»Eine Stunde.«
»Mmm. Und wieviel Zeit ist jetzt vergangen?«
»Sechs Minuten.«
Mr. Croup senkte den Kopf. Er fuhr sich mit dem Finger über das Kinn und leckte den pulverisierten Ton von der Fingerspitze.
»Folgen Sie ihm, Mister Vandemar«, sagte Mr. Croup. »Ich brauche noch ein wenig Zeit, um dieses Erlebnis bis zur Neige auszukosten.«
Hunter hörte sie die Stufen herunterkommen. Sie stand mit verschränkten Armen im Schatten, in der gleichen Haltung, in der sie sie verlassen hatten.
Richard summte laut vor sich hin.
Door kicherte unbeherrscht. Dann hörte sie auf und sagte Richard, er solle still sein. Dann fing sie wieder an zu kichern. Sie gingen an Hunter vorbei, ohne sie zu bemerken.
Hunter trat aus dem Schatten und sagte: »Sie waren acht Stunden lang fort.« Das war eine reine Feststellung, weder vorwurfsvoll noch neugierig gemeint.
Door blinzelte in ihre Richtung. »Es kam mir gar nicht so lange vor.«
Hunter sagte nichts.
Richard grinste sie glasig an. »Wollen Sie nicht wissen, was passiert ist? Also, Mister Croup und Mister Vandemar haben uns aufgelauert. Leider hatten wir keinen Leibwächter dabei. Dafür habe ich mich ihrer angenommen.«
Hunter zog eine perfekte Augenbraue hoch. »Ich wußte gar nicht, daß Sie so schlagkräftig sind«, sagte sie kühl.
Door kicherte. »Er macht nur Spaß. In Wirklichkeit – haben sie uns umgebracht.«
»Als Expertin in der Stillegung von Körperfunktionen«, erwiderte Hunter, »muß ich Ihnen widersprechen. Keiner von Ihnen beiden ist tot. Ich tippe eher darauf, daß Sie alle beide sehr betrunken sind.«
Door steckte ihrer Leibwächterin die Zunge heraus. »Unsinn. Hab’ kaum was angerührt. So ’n bißchen nur.«
Sie hielt zwei Finger hoch, um zu zeigen, wie wenig ›so ’n bißchen‹ war.
»Wir waren bloß auf ’ner Party«, sagte Richard, »und haben Jessica gesehen und einen echten Engel, und dann haben wir ’n klitzekleines Schlückchen getrunken und sind gleich wieder hergekommen.«
»Bloß ein kleines Glas«, fuhr Door beharrlich fort. »’n gaaanz alten Wein. Bloß ’n winnnzigkleines Gläschen. Ganz winzig. Fast gar nicht da.«
Sie bekam einen Schluckauf. Dann kicherte sie wieder. Ein Hicksen unterbrach sie, und sie setzte sich abrupt auf den Bahnsteig.
»Ich glaube fast, wir haben einen Schwips«, sagte Door nüchtern.
Dann schloß sie die Augen, sank zur Seite und begann feierlich zu schnarchen.
Der Marquis de Carabas rannte die unterirdischen Wege entlang, als seien ihm alle Höllenhunde auf den Fersen. Er watete fünfzehn graue Zentimeter tief durch den Tyburn River, den Henkersfluß, der in der Finsternis unter der Park Lane durch ein Backsteinsiel zum Buckingham Palace geleitet wurde. Der Marquis rannte seit siebzehn Minuten.
Zehn Meter unter Marble Arch hielt er inne. Das Siel teilte sich.
Der Marquis de Carabas lief die linke Abzweigung hinunter. Einige Minuten später marschierte Mr. Vandemar das Siel entlang. Und als er die Kreuzung erreichte, hielt auch er einen Moment inne und sog witternd die Luft ein. Und dann ging auch er die linke Abzweigung hinunter.
Hunter ließ Richard Mayhews besinnungslosen Leib mit einem Grunzen auf einen Strohhaufen fallen. Er rollte ins Stroh, sagte etwas, das sich anhörte wie »Frossel bwlibbig pschuller blp«, und schlief wieder ein.
Door legte sie etwas sanfter neben ihm ins Stroh. Dann ließ sie sich neben Door nieder, in den dunklen Ställen unter der Erde, immer noch Wache haltend.
Der Marquis de Carabas war erschöpft. Er lehnte an der Tunnelmauer und schaute die Stufen an, die vor ihm nach oben führten. Dann sah er auf die goldene Taschenuhr. Fünfunddreißig Minuten waren vergangen, seit er aus dem Krankenhauskeller geflüchtet war.
»Schon eine Stunde rum?« fragte Mr. Vandemar.
Er saß auf den Stufen vor dem Marquis und säuberte sich mit einem Messer die Nägel.
»Noch lange nicht«, japste der Marquis.
»Kam mir aber wie ’ne Stunde vor«, sagte Mr. Vandemar.
Die Welt erschauerte, und Mr. Croup stand hinter dem Marquis de Carabas. Er hatte immer noch Pulver am Kinn.
De Carabas starrte Croup an. Er drehte sich um, um Mr. Vandemar anzusehen. Und dann begann er auf einmal zu lachen.
Mr. Croup lächelte. »Sie finden uns komisch, Messire Marquis, nicht wahr? Eine Quelle der Heiterkeit. Das stimmt doch, oder? Wir mit unseren schönen Anzügen und unserer prolixen Lokution – «
Mr. Vandemar murmelte: »Was für’n Lokus?«
» – und unseren dummen kleinen Eigenheiten. Und vielleicht sind wir sogar amüsant.« Mr. Croup hob einen Finger und drohte de Carabas damit. »Aber kommen Sie nur nicht auf die Idee«, fuhr er fort, »daß etwas, nur weil es amüsant ist, Messire Marquis, nicht auch gefährlich sein kann.«
Und Mr. Vandemar warf sein Messer nach dem Marquis, schwungvoll und präzise. Es traf ihn mit dem Heft voran an der Schläfe. Seine Augen rollten nach oben, und seine Knie gaben nach.
»Lokution«, sagte Mr. Croup. »Prolixe Lokution bedeutet geschraubte Ausdrucksweise. Weitschweifigkeit. Geschwafel. «
Mr. Vandemar hob den Marquis de Carabas am Hosenbund hoch und zerrte ihn die Treppe hinauf, und der Kopf des Marquis rumpelte dabei die Stufen hoch.
Mr. Vandemar nickte. »Ich hatte mich schon gewundert«, sagte er.
Er wußte, daß es auf sie wartete. In jedem Tunnel, an jeder Ecke, an jeder Abzweigung spürte er es deutlicher. Er wußte, daß es da war. Das Gefühl, daß gleich etwas Entsetzliches geschehen würde, verstärkte sich mit jedem Schritt.
Er hätte eigentlich erleichtert sein müssen, als er um die letzte Ecke bog und es dastehen sah, eingerahmt vom Tunnel, auf ihn wartend. Doch er hatte nur furchtbare Angst.
In seinem Traum war es so groß wie die ganze Welt. Es gab nur noch das Ungeheuer mit seinen dampfenden Flanken. Zerbrochene Rundhölzer und Teile alter Waffen ragten stachelig aus seinem Fell. An seinen Hörnern und Stoßzähnen klebte getrocknetes Blut. Es war widerwärtig und riesengroß und böse.
Und dann griff es an.
Er hob die Hand (doch es war nicht seine Hand), und er warf den Speer nach der Kreatur.
Er sah seine Augen, rot und boshaft und hämisch, als sie auf ihn zuschwebten, alles im Bruchteil einer Sekunde, der zu einer winzigen Ewigkeit wurde. Und dann war es über ihm …
Das Wasser war kalt, und es traf Richard ins Gesicht wie eine Ohrfeige. Er riß die Augen auf und schnappte nach Luft.
Hunter sah auf ihn herunter. Sie hatte einen großen Holzeimer in der Hand. Er war leer.
Er hob eine Hand. Seine Haare waren klatschnaß. Er wischte sich das Wasser aus den Augen und schauderte.
»Das hätten Sie nicht tun müssen«, sagte Richard. Er hatte einen Geschmack im Mund, als ob irgendwelche Kleintiere diesen als Toilette benutzt hatten, bevor sie zu etwas undefinierbar Grünem zerflossen waren. Er versuchte aufzustehen und setzte sich dann sofort wieder hin. »Uuh«, erklärte er.
»Wie geht es Ihrem Kopf?« fragte Hunter geschäftsmäßig.
»Dem ging’s schon mal besser«, sagte Richard.
Hunter nahm einen weiteren Holzeimer, diesmal mit Wasser gefüllt, und schleppte ihn über den Stallboden. »Ich weiß nicht, was Sie getrunken haben«, sagte sie. »Aber es muß stark gewesen sein.«
Hunter tauchte ihre Hand in den Eimer und benetzte Doors Gesicht mit Wasser. Doors Augenlider zuckten.
»Kein Wunder, daß Atlantis untergegangen ist«, murmelte Richard. »Wenn die sich morgens alle so gefühlt haben, war es wahrscheinlich eine Erlösung. Wo sind wir?«
Hunter spritzte Door noch eine Handvoll Wasser ins Gesicht. »In den Stallungen einer Freundin«, sagte sie.
Richard schaute sich um. Hier sah es wirklich ein wenig wie in einem Stall aus. Er fragte sich, ob er für Pferde gedacht war – was für Pferde mochten unter der Erde leben? An der Wand war eine Zeichnung: der Buchstabe S (oder war es eine Schlange? Richard konnte es nicht erkennen), umringt von sieben Sternen.
Door streckte zögernd die Hand aus und berührte prüfend ihren Kopf, als wüßte sie nicht genau, was sie da finden würde. »Uuh«, sagte sie beinahe flüsternd. »Temple und Arch. Bin ich tot?«
»Nein«, sagte Hunter.
»Schade.«
Hunter half ihr auf. »Na ja«, sagte Door verschlafen, »immerhin hatte er uns vor dem Wein gewarnt.«
Und dann wachte sie endgültig auf, sehr heftig, sehr schnell. Sie packte Richards Schulter, zeigte auf die Zeichnung an der Wand, das schlangengleiche S mit den Sternen darum herum. Sie japste und erinnerte an eine Maus, die gerade gemerkt hat, daß sie in einem Katzenzwinger aufgewacht ist.
»Serpentine!« sagte sie zu Richard, zu Hunter. »Das ist Serpentines Wappen. Richard, steh auf! Wir müssen weglaufen – bevor sie herausfindet, daß wir hier sind …«
»Glaubst du wirklich«, fragte eine trockene Stimme vom Eingang her, »daß du Serpentines Haus betreten kannst, ohne daß Serpentine etwas davon weiß, mein Kind?«
Door preßte sich gegen das Holz der Stallwand. Sie zitterte. Richard wurde trotz des Hämmerns in seinem Kopf klar, daß er Door noch nie in Angst gesehen hatte.
Serpentine stand in der Tür. Sie trug eine weiße Ledercorsage, hohe weiße Lederstiefel und die Überreste von etwas, das aussah, als sei es vor langer Zeit einmal ein weißes Hochzeitskleid aus Seide und Spitze gewesen, das jetzt zerlumpt und schmutzfleckig und zerrissen war. Sie überragte sie alle: Ihr ergrauender Haarschopf streifte den Türrahmen. Ihre Augen waren scharf, und ihr Mund war ein grausamer Strich in einem herrischen Gesicht.
Sie schaute Door an, als gebührte es ihr, daß man eine Todesangst vor ihr hatte; als wäre sie an Furcht nicht nur gewöhnt, sondern erwartete sie, mochte sie sogar.
»Beruhigen Sie sich«, sagte Hunter.
»Aber das ist Serpentine«, wimmerte Door. »Von den Seven Sisters.«
Serpentine neigte höflich den Kopf. Dann gab sie den Eingang frei. Hinter ihr stand eine dünne Frau mit einem strengen Gesicht und langem dunklen Haar, in einem schwarzen Kleid, das ihre Taille wespengleich einzwängte. Die Frau sagte nichts.
Serpentine ging zu Hunter hinüber.
»Hunter hat vor langer Zeit für mich gearbeitet«, sagte Serpentine. Sie streckte einen weißen Finger aus und streichelte sanft Hunters braune Wange, eine besitzergreifende und liebevolle Geste. Und dann: »Du hast dich besser gehalten als ich, Hunter.«
Hunter sah zu Boden.
»Ihre Freunde sind meine Freunde, mein Kind«, sagte Serpentine. »Du bist Door?«
»Ja«, sagte Door mit trockenem Mund.
Serpentine wandte sich Richard zu. »Was bist du?« fragte sie ungerührt.
»Richard«, sagte Richard.
»Ich bin Serpentine«, erklärte sie würdevoll.
»Ist mir nicht entgangen«, sagte Richard.
»Auf euch alle wartet etwas zu essen«, sagte Serpentine, »falls ihr Lust auf ein Frühstück habt.«
»Oh Gott, nein«, stöhnte Richard höflich.
Door sagte nichts. Sie stand immer noch mit dem Rükken zur Wand und zitterte leise, wie ein Blatt im Sommerwind. »Was gibt es zu essen?« fragte Hunter.
Serpentine sah die Frau mit der Wespentaille im Eingang an. »Nun?« fragte sie.
Die Frau lächelte das eisigste Lächeln, das Richard je auf einem menschlichen Gesicht gesehen hatte. Dann sagte sie: »Spiegeleier hartgekochte Eier Soleier Wildbretcurry Perlzwiebeln eingelegte Heringe Räucherheringe Salzheringe Pilzragout Salzschinken Kohlrouladen Hammelfleisch Kalbsfußsülze – «
Richard öffnete den Mund, um sie anzuflehen, aufzuhören, aber es war zu spät. Er mußte sich plötzlich ganz fürchterlich übergeben.
Er wollte, daß ihn jemand in den Arm nahm, ihm sagte, daß alles wieder gut würde, daß er sich bald besser fühlen würde; wollte, daß ihm jemand ein Aspirin und ein Glas Wasser gab und ihn wieder ins Bett brachte. Aber niemand tat es; und sein Bett war ein ganzes Leben weit weg. Er wusch sich mit Wasser aus dem Eimer das Erbrochene aus dem Gesicht und von den Händen. Dann spülte er sich den Mund aus. Und dann folgte er den vier Frauen leicht schwankend zum Frühstück.
»Kann ich mal die Kalbsfußsülze haben«, sagte Hunter mit vollem Mund.
Serpentines Eßzimmer befand sich auf dem kleinsten U-Bahnsteig, den Richard je gesehen hatte. Er war etwa dreieinhalb Meter lang, und den größten Teil davon nahm ein Eßtisch ein. Er war mit einer weißen Damasttischdecke und einem offiziösen Silberservice gedeckt. Darauf türmten sich übelriechende Lebensmittel. Die eingelegten Wachteleier, dachte Richard, stanken am schlimmsten.
Seine Haut war kalt und feucht, und seine Augen fühlten sich so an, als seien sie falsch herum eingesetzt worden, wobei sein gesamter Schädel offenbar gegen einen anderen ausgetauscht worden war, der zwei oder drei Nummern zu klein war.
Eine U-Bahn fuhr keine zwei Meter von ihnen entfernt vorbei; der Fahrtwind zerrte an ihrem Tisch. Der Lärm drang durch Richards Kopf wie ein heißes Messer durch Hirn. Er stöhnte auf.
»Dein Held verträgt nichts, wie ich sehe«, stellte Serpentine sachlich fest.
»Er ist nicht mein Held«, sagte Door.
»Ich fürchte doch. Mit der Zeit erkennt man solche Typen. Vielleicht verraten es ihre Augen.« Sie wandte sich zu der Frau in Schwarz um, die eine Art Majordomus zu sein schien. »Eine kleine Stärkung für den Herrn.«
Die Frau lächelte dünn und glitt davon.
Door stocherte in einem Pilzgericht. »Wir sind für all dies sehr dankbar, Lady Serpentine«, sagte sie.
Serpentine schniefte. »Einfach Serpentine, mein Kind. Ich habe keine Zeit für dumme Formalitäten. Nun. Du bist also Porticos älteste Tochter.«
»Ja.«
Serpentine tauchte den Finger in die salzige Soße, die etwas enthielt, das aussah wie kleine Aale. Sie leckte den Finger ab und nickte anerkennend. »Ich hatte nicht viel übrig für deinen Vater. Immer dieses Gefasel von der Vereinigung der Unterseite. So ein Unsinn. Dieser Dummkopf. Der hat doch das Schicksal herausgefordert. Das letzte Mal, als ich deinen Vater gesehen habe, habe ich ihm gesagt, wenn er jemals wieder hier auftaucht, werde ich ihn in eine Blindschleiche verwandeln.« Sie wandte sich Door zu. »Wie geht es deinem Vater übrigens?«
»Er ist tot«, sagte Door.
Serpentine sah sehr zufrieden aus. »Siehst du?« sagte sie. »Genau das hab’ ich gemeint.«
Door sagte nichts.
Serpentine pflückte sich etwas aus den Haaren. Sie untersuchte es eingehend, zerquetschte es dann zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ es auf den Bahnsteig fallen. Dann wandte sie sich Hunter zu, die einen kleinen Berg eingelegter Heringe vertilgte. »Du bist also auf der Jagd nach dem Ungeheuer?« fragte sie.
Hunter nickte mit vollem Mund.
»Dann brauchst du natürlich den Speer«, sagte Serpentine. Die Frau mit der Wespentaille stand jetzt neben Richard, ein schmales Tablett in der Hand. Auf dem Tablett stand ein kleines Glas mit einer schreiend smaragdfarbenen Flüssigkeit. Richard starrte es an und warf dann Door einen Blick zu.
»Was geben Sie ihm?« fragte Door.
»Nichts, was ihm schaden würde«, sagte Serpentine mit einem frostigen Lächeln. »Ihr seid meine Gäste.«
Richard stürzte die grüne Flüssigkeit herunter, die nach Thymian und Pfefferminz und Wintermorgen schmeckte.
Er spürte sie hinunterrinnen und versuchte sich dagegen zu wappnen, daß sie ihm wieder hochkam. Doch dann holte er tief Luft und merkte ein wenig überrascht, daß sein Kopf nicht mehr wehtat.
Und daß er einen Bärenhunger hatte.
Old Bailey gehörte nun wirklich nicht zu den Menschen, die in die Welt gesetzt wurden, damit sie Witze erzählten. Trotz dieses Handicaps ließ er es sich nicht nehmen, ständig welche zu erzählen. Die Witze, die zu erzählen er sich nicht nehmen ließ, waren meistens überlange unverständliche Geschichten, die in einem traurigen Wortspiel endeten, das Old Bailey allerdings nur allzuoft vergessen hatte, bis es endlich so weit war.
Old Baileys Publikum beim Witzeerzählen bestand nur aus ein paar eingesperrten Vögeln, die – besonders die Krähen – seine Witze als tiefsinnige philosophische Gleichnisse betrachteten, die ihnen bedeutsame und scharfsinnige Einblicke in das verschafften, was es bedeutete, ein Mensch zu sein, und die ihn daher von Zeit zu Zeit um eine seiner Geschichten baten.
»Na gut, na gut, na gut«, sagte Old Bailey. »Sagt Bescheid, wenn ihr den schon kennt. Ein Mann kommt in eine Bar. Nein, das war kein Mann. Das ist der Witz daran. ’Tschuldigung. Das war ein Pferd. Ein Pferd … nein … eine Krawatte. Drei Krawatten. Genau. Drei Krawatten kommen in eine Bar.«
Eine riesige alte Krähe krächzte eine Frage.
Old Bailey rieb sich das Kinn und zuckte dann mit den Schultern. »Sie tun’s eben. Das ist ein Witz. In dem Witz können sie laufen. Sie bestellt einen Drink für sich und je einen für ihre beiden Freunde. Und der Barmann sagt, wir bedienen hier keine Krawatten. Zu einer der Krawatten. Also. Die geht wieder zu ihren Freunden und sagt, die bedienen hier keine Krawatten. Das ist ein Witz, also geht die mittlere auch hin, sie sind zu dritt, versteht ihr, und die dritte, die bindet sich ganz neu und zieht ein Ende von sich ganz raus. Und sie bestellt einen Drink.«
Die Krähe krächzte wieder altklug.
»Drei Drinks. Stimmt. Und der Barmann sagt, hör mal, bist du nicht eine von diesen Krawatten? Und sie sagt, die Krawatte, sie brummelt: Nein, ich bin ein Knoten in Not. Knoten, in (K)Not sein, ohne K – verstanden? Wortspiel. Sehr, sehr lustig.«
Die Stare machten höfliche Geräusche. Die Krähen nickten und legten den Kopf zur Seite. Dann krächzte die älteste Krähe etwas.
»Noch einen? Also wißt ihr, ich bin doch keine Witzmaschine. Laßt mich mal überlegen …«
Ein Geräusch drang aus dem Zelt. Ein tiefes, pulsierendes Geräusch, wie das Schlagen eines fernen Herzens. Old Bailey eilte hinein. Das Geräusch kam aus einer alten Holztruhe, in der Old Bailey die Sachen aufbewahrte, die ihm kostbar waren. Er öffnete die Truhe.
Das pochende Geräusch wurde sehr viel lauter.
Das kleine Silberkästchen lag zuoberst auf Old Baileys Schatz. Er streckte seine schwielige Hand aus und nahm es heraus. Ein rotes Licht pulsierte und glimmte rhythmisch darin, wie ein Herzschlag, und schien durch die silberne Filigranarbeit und durch die Ritzen und Halterungen.
»Er ist in Schwierigkeiten«, sagte Old Bailey.
Die älteste Krähe krächzte eine Frage.
»Der Marquis«, sagte Old Bailey. »Er ist in großen Schwierigkeiten.«
Richard hatte seinen zweiten Teller gerade halb aufgegessen, als Serpentine ihren Stuhl vom Tisch wegschob.
»Ich glaube, es reicht jetzt mit der Gastfreundschaft«, sagte sie. »Mein Kind, junger Mann, guten Tag. Hunter …« Sie hielt inne. Dann fuhr sie Hunter mit einem klauenähnlichen Finger die Kinnlade entlang. »Hunter, du bist hier immer willkommen.«
Sie nickte ihnen gebieterisch zu, stand auf und ging davon, gefolgt von dem Butler mit der Wespentaille.
»Wir sollten jetzt gehen«, sagte Hunter. Sie erhob sich vom Tisch, und Door und Richard folgten ihr, letzterer allerdings eher widerstrebend.
Sie gingen einen Korridor entlang, der so schmal war, daß nur einer zur Zeit hindurchpaßte. Sie stiegen ein paar Steinstufen empor. Sie überquerten in der Finsternis eine eiserne Brücke, während unter ihnen U-Bahnen hallten. Dann betraten sie etwas, das offenbar ein endloses Netz unterirdischer Katakomben war, die nach Feuchtigkeit und Fäulnis rochen, nach Ziegeln und Steinen und Zeit.
»Das war also Ihre alte Chefin, hm? Die machte doch einen ganz netten Eindruck«, sagte Richard zu Hunter.
Hunter sagte nichts.
Door, die etwas wortkarg gewesen war, sagte: »Wenn auf der Unterseite die Kinder unartig sind, sagt man zu ihnen: ›Wenn du nicht brav bist, kommt Serpentine dich holen.‹«
»Oh«, sagte Richard. »Und Sie haben für sie gearbeitet, Hunter?«
»Ich habe für alle Seven Sisters gearbeitet.«
»Ich dachte, die hätten seit, ach, mindestens dreißig Jahren nicht mehr miteinander gesprochen«, sagte Door.
»Gut möglich. Aber damals sprachen sie noch miteinander. «
»Wie alt sind Sie denn?« fragte Door. Richard war froh, daß sie gefragt hatte; er hätte sich das nie getraut.
»So alt wie meine Zunge«, sagte Hunter, »und ein bißchen älter als meine Zähne.«
»Wie auch immer«, sagte Richard, und es hörte sich an, als hätte er seinen Kater überwunden und wüßte genau, daß irgendwo über ihnen jemand einen schönen Tag genoß. »Das war in Ordnung. Leckeres Essen. Und keiner hat versucht, uns umzubringen.«
»Ich bin sicher, das wird sich im Laufe des Tages noch ändern«, sagte Hunter völlig zutreffend. »In welcher Richtung geht es zu den Black Friars, Mylady?«
Door hielt inne und konzentrierte sich.
»Wir gehen am Fluß entlang«, sagte sie. »Dort drüben.«
»Kommt er schon wieder zu sich?« fragte Mr. Croup.
Mr. Vandemar piekte einen langen Finger in den leblosen Körper des Marquis. Dessen Atem ging flach. »Noch nicht, Mister Croup. Ich glaube, ich habe ihn kaputtgemacht. «
»Sie müssen vorsichtiger mit Ihren Spielzeugen umgehen, Mister Vandemar«, sagte Mr. Croup.