Kapitel Neunzehn

Einen Augenblick lang hatte er keine Ahnung, wer er war. Es war ein ungeheuer befreiendes Gefühl, als könnte er alles sein, was er wollte: jeder – als könnte er jede Identität ausprobieren. Er konnte ein Mann sein oder eine Frau, eine Ratte oder ein Vogel, ein Ungeheuer oder ein Gott.

Und dann machte jemand ein raschelndes Geräusch, und er wachte vollends auf. Er war Richard Mayhew, wer auch immer das war, was auch immer das bedeutete.

Er war Richard Mayhew, und er wußte nicht, wo er war. Steifes Leinen preßte sich an sein Gesicht. Alles tat ihm weh; einiges – der kleine Finger seiner linken Hand zum Beispiel – mehr als anderes.

Jemand war bei ihm. Er hörte jemanden atmen.

Er hob den Kopf und entdeckte dabei noch mehr Stellen, die schmerzten. Ein paar davon schmerzten sehr schlimm.

Ganz weit weg – viele, viele Räume entfernt – sangen Menschen. Das Lied war so fern und so leise, daß er wußte, er würde es verlieren, wenn er die Augen öffnete: ein tiefer, melodiöser Chorgesang …

Er schlug die Augen auf. Der Raum war klein und schwach beleuchtet. Er lag in einem niedrigen Bett, und das Rascheln, das er gehört hatte, wurde von einer Gestalt in einer schwarzen Mönchskutte verursacht, die Richard den Rücken zuwandte. Die schwarze Gestalt entstaubte das Zimmer mit einem unpassend grellbunten Staubwedel.

»Wo bin ich?« fragte Richard.

Die schwarze Gestalt drehte sich um. Ein sehr nervöses, schmales, dunkles Gesicht kam zu Vorschein. »Möchten Sie Wasser?« fragte der Mann, als sei ihm gesagt worden: Wenn der Patient aufwacht, muß er gefragt werden, ob er Wasser möchte, und als habe er das in den letzten zwanzig Minuten immer wieder vor sich hergesagt, um es nicht zu vergessen.

»Ich … «, und Richard stellte fest, daß er ganz furchtbaren Durst hatte. Er setzte sich im Bett auf. »Ja, gern. Vielen Dank.«

Der Mönch goß etwas Wasser aus einem Metallkrug in einen zerbeulten Metallbecher und reichte ihn Richard. Richard unterdrückte den Impuls, das Wasser hinunterzustürzen, und trank es langsam in kleinen Schlucken. Es war kristallkalt und rein.

Richard sah nach unten. Seine Sachen waren weg. Man hatte ihn in ein langes Gewand gesteckt, eine Art Black-Friars-Kutte, aber grau. Sein gebrochener Finger war geschient und sauber verbunden.

Er hob einen Finger zu seinem Ohr; darauf klebte ein Pflaster, und unter dem Pflaster fühlte es sich an, als sei die Wunde genäht worden.

»Sie sind einer von den Black Friars«, sagte Richard.

»Ja, Sir.«

»Wie bin ich hergekommen? Wo sind meine Freunde? «

Der Mönch deutete wortlos und nervös zum Korridor.

Richard stieg aus dem Bett. Er schaute unter sein graues Gewand: Er war nackt. Sein Rumpf und seine Beine waren von diversen dunkelblauroten Flecken bedeckt, die offenbar alle mit einer Art Salbe eingerieben worden waren: Sie roch nach Hustensaft und gebuttertem Toast. Sein Knie war bandagiert. Er fragte sich, wo seine Sachen waren. Neben dem Bett standen Sandalen, und er zog sie an. Dann ging er hinaus auf den Korridor.

Dort kam der Abt auf ihn zu, die Augen perlweiß in der Dunkelheit unter seiner Kapuze. Er hielt sich am Arm von Bruder Fuliginous fest.

»Du bist also wach, Richard Mayhew«, sagte der Abt. »Wie fühlst du dich?«

Richard zog ein Gesicht. »Meine Hand …«

»Wir haben deinen Finger gerichtet. Er war gebrochen. Wir haben deine Prellungen und Wunden versorgt. Und du brauchtest Ruhe, die haben wir dir gegeben.«

»Wo ist Door? Und der Marquis? Wie sind wir denn hergekommen?«

»Ich ließ euch herbringen«, sagte der Abt. Die beiden Mönche begannen, den Korridor hinunterzugehen, und Richard ging mit ihnen.

»Hunter«, sagte Richard. »Haben Sie ihre Leiche hergebracht?«

Der Abt schüttelte den Kopf. »Es war keine Leiche da. Nur das Ungeheuer.«

»Ah, ähm. Meine Sachen …«

Sie kamen zur Tür einer Zelle, ganz ähnlich der, in der Richard aufgewacht war. Door saß auf der Bettkante und las in einer Ausgabe von Mansfield Park, von deren Existenz, dachte Richard, die Mönche mit Sicherheit bisher nichts gewußt hatten. Auch sie trug eine graue Mönchskutte. Sie war ihr viel zu groß, so daß es fast komisch wirkte. Sie sah auf, als sie eintraten. »Hallo«, sagte sie. »Du hast ja ewig geschlafen. Wie fühlst du dich?«

»Gut, glaube ich. Wie geht es dir?«

Sie lächelte. Es war kein besonders überzeugendes Lächeln. »Ein bißchen schwach auf den Beinen«, sagte sie.

Im Korridor schepperte etwas. Richard drehte sich um und sah, wie der Marquis de Carabas in einem klapprigen alten Rollstuhl auf sie zugerollt wurde. Der Rollstuhl wurde von einem großen Black Friar geschoben. Richard fragte sich, wie der Marquis es schaffte, selbst noch die Tatsache, daß er in einem Rollstuhl geschoben wurde, wie etwas Romantisches und Verwegenes aussehen zu lassen.

Der Marquis ehrte sie mit einem riesigen Lächeln.

»’N Abend allerseits«, sagte er.

»Gut«, sagte der Abt. »Ihr seid alle da. Wir müssen uns unterhalten.«

Er führte sie zu einem großen Raum, der durch ein loderndes Holzfeuer erwärmt wurde. Sie stellten sich um einen Tisch herum. Der Abt bedeutete ihnen allen, sich zu setzen. Er tastete nach seinem Stuhl und ließ sich darauf nieder. Dann schickte er Bruder Fuliginous und Bruder Tenebrae (der den Rollstuhl des Marquis geschoben hatte) hinaus.

»So«, sagte der Abt. »Zur Sache. Wo ist Islington?«

Door zuckte mit den Schultern. »So weit weg, wie ich ihn schicken konnte. Einmal halb durch Zeit und Raum.«

»Verstehe«, sagte der Abt. Und dann sagte er: »Gut.«

»Warum haben Sie uns nicht vor ihm gewarnt?« fragte Richard.

»Das lag nicht in unserer Verantwortung.«

»Und«, sagte Richard. »Was geschieht jetzt?«

Der Abt sagte nichts.

»Inwiefern?« fragte Door.

»Nun ja, du wolltest deine Familie rächen. Das hast du getan. Und du hast alle, die etwas damit zu tun hatten, in irgendeine Ecke ganz weit weg im Nichts verfrachtet. Also, jetzt wird ja wohl niemand mehr versuchen, dich umzubringen, oder?«

»Im Moment nicht«, sagte Door ernst.

»Und Sie?« fragte Richard den Marquis. »Haben Sie erreicht, was Sie wollten?«

Der Marquis nickte. »Ich denke schon. Meine Schuld bei Lord Portico ist bezahlt, und Lady Door schuldet mir einen großen Gefallen.«

Richard blickte zu Door. Sie nickte.

»Und was ist mit mir?« fragte er.

»Na ja«, sagte Door. »Ohne dich hätten wir es nicht geschafft.«

»Das habe ich nicht gemeint. Wie komme ich jetzt wieder nach Hause?«

Der Marquis zog eine Augenbraue hoch. »Wofür halten Sie sie – den Zauberer von Oz? Wir können Sie nicht nach Hause schicken. Dies ist Ihr Zuhause.«

Door sagte: »Das hab’ ich dir doch schon zu erklären versucht, Richard.«

»Es muß doch eine Möglichkeit geben!« sagte Richard und schlug mit der linken Faust heftig auf den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Und dann sagte er: »Au«, denn es ist nicht besonders klug, mit der Hand auf einen Tisch zu schlagen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, wenn man einen gebrochenen Finger hat.

»Werden Sie erwachsen«, sagte der Marquis.

Richard rieb sich die Hand. Seine Kampfeslust war verpufft.

»Wo ist der Schlüssel?« fragte der Abt.

Richard neigte den Kopf. »Door«, sagte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab’ ihn nicht«, erklärte sie. »Ich habe ihn dir nach dem letzten Marktbesuch wieder in die Tasche gesteckt.«

Richard öffnete den Mund und schloß ihn dann wieder. Dann öffnete er ihn und sagte: »Du meinst, als ich Croup und Vandemar sagte, ich hätte ihn und sie könnten mich gern durchsuchen … da hatte ich ihn wirklich?«

Sie nickte. Ihm fiel der harte Gegenstand in seiner Gesäßtasche wieder ein, in der Down Street; ihm fiel ein, wie sie ihn umarmt hatte, als er auf dem Schiff mit dem Curry zurückgekommen war.

»Ach, du Scheiße«, sagte Richard.

Der Abt streckte die Hand aus. Seine faltigen braunen Finger nahmen eine kleine Glocke vom Tisch, und er läutete nach Bruder Fuliginous.

»Bring mir die Hose des Kriegers«, sagte er.

Fuliginous nickte und ging.

»Ich bin kein Krieger«, sagte Richard.

Der Abt lächelte sanft. »Du hast das Ungeheuer getötet. Du bist der Krieger.«

Richard verschränkte wütend die Arme. »Nach all dem kann ich zwar immer noch nicht wieder nach Hause, aber als Trostpreis bekomme ich eine Art archaischen unterirdischen Ehrentitel?«

Der Marquis schaute wenig mitfühlend drein. »Sie können nicht nach Ober-London zurückkehren. Ein paar Individuen gelingt es, eine Art Halbleben zu führen – Iliaster und Lear haben Sie ja kennengelernt. Aber auf mehr können Sie nicht hoffen.«

Door streckte die Hand aus und berührte Richard am Arm. »Es tut mir leid«, sagte sie ihm. »Denk doch daran, was du alles Gutes getan hast. Du hast uns den Schlüssel besorgt.«

»Tja«, fragte er, »und wozu? Du hast einfach einen neuen machen lassen – «

Bruder Fuliginous tauchte wieder auf, mit Richards Hose in der Hand; sie war voller Schlamm und getrocknetem Blut, und sie stank. Der Mönch reichte die Hose dem Abt, der anfing, ihre Taschen zu durchsuchen.

Door lächelte. »Ohne das Original hätte ich von Hammersmith keine Kopie machen lassen können.«

Der Abt räusperte sich. »Ihr seid alle sehr dumm«, erklärte er würdevoll, »und ihr habt einfach keine Ahnung.«

Er hielt den silbernen Schlüssel hoch. Er glitzerte im Licht des Feuers. »Richard hat die Bewährungsprobe bestanden. Er ist der Besitzer des Schlüssel, bis er ihn uns wieder anvertraut. Der Schlüssel hat Macht.«

»Es ist der Schlüssel zum Himmel … «, sagte Richard, der nicht wußte, worauf der Abt hinauswollte.

Die Stimme des alten Mannes war tief und melodiös. »Es ist der Schlüssel zu jeder Art von Realität. Wenn Richard nach Ober-London zurückkehren möchte, dann wird der Schlüssel ihn nach Ober-London bringen.«

»So einfach ist das?« fragte Richard.

Der alte Mann nickte unter dem Schatten seiner Kapuze mit seinem blinden Kopf.

»Wann können wir?« fragte Richard.

»Sobald du bereit bist«, sagte der Abt.



Die Mönche hatten seine Sachen gewaschen und geflickt und sie ihm zurückgegeben. Bruder Fuliginous führte ihn durch das Kloster und eine schwindelerregende Folge von Leitern und Treppen hinauf bis in den Glockenturm. In der Spitze des Glockenturms befand sich eine Bodenklappe, und durch die preßten sie sich hindurch und landeten in einem schmalen Tunnel, in dessen Wand auf einer Seite Metallstufen eingelassen waren. Sie kletterten die Wand hoch und kamen auf einem dunklen U-Bahnsteig wieder heraus.

NIGHTINGALE LANE stand auf den alten Schildern an der Wand. Bruder Fuliginous wünschte Richard alles Gute und wies ihn an, dort zu warten, bis er abgeholt würde. Richard saß zwanzig Minuten lang auf dem Bahnsteig und fragte sich, warum sich der Marquis nicht von ihm verabschiedet hatte.

Als er Door diese Frage gestellt hatte, hatte sie erklärt, sie wisse es nicht, aber vielleicht sei Abschiednehmen ebenso wie das Trösten von Menschen etwas, worin der Marquis nicht sehr gut sei.

Dann sagte sie ihm, sie habe etwas im Auge, und sie gab ihm einen Zettel mit Anweisungen und ging fort.

Etwas winkte aus der Finsternis. Etwas Weißes. Es war ein Taschentuch an einem Stock.

»Hallo?« rief Richard.

Old Bailey trat in Federn gehüllt und rundlich aus der Dunkelheit. Er wirkte unsicher und befangen. Er winkte mit Richards Taschentuch.

»Das ist meine kleine Flagge«, sagte er.

»Freut mich, daß Sie es so gut gebrauchen können.«

Old Bailey grinste beklommen. »Gut. Wollte nur sagen. Hab’ was für dich. Hier.«

Er steckte die Hand in eine Manteltasche und zog eine lange schwarze Feder mit einem blau-lila-grünen Schimmer hervor. Ein roter Faden war um das Kielende der Feder gewickelt.

»Ähm. Ja, danke«, sagte Richard, der nicht genau wußte, was er damit anfangen sollte.

»Das ist eine Feder«, erklärte Old Bailey. »Und zwar eine gute. Erinnerung. Souvenir. Andenken. Und sie ist umsonst. Ein Geschenk. Von mir an dich. Eine Art Dankeschön.«

»Ja. Also. Sehr freundlich.« Er steckte sie in die Tasche. Ein warmer Wind blies durch den Tunnel. Ein Zug näherte sich.

»Das ist dein Zug«, sagte Old Bailey. »Ich selber fahre nicht mit dem Zug. Ich bevorzuge Dächer.«

Er schüttelte Richard die Hand und ergriff die Flucht.

Der Zug fuhr ein. Alle Waggons waren dunkel, und keine Tür öffnete sich. Richard klopfte an die Tür vor seiner Nase, in der Hoffnung, daß es die richtige war.

Die Tür ging auf, und die verlassene Haltestelle wurde von einem warmen gelben Licht überflutet. Zwei ältere Herren mit langen Signalhörnern in der Hand stiegen aus. Richard erkannte sie: Dagvard und Halvard, vom Earl’s Court; konnte sich allerdings nicht mehr erinnern, wer wer war. Sie setzten die Hörner an die Lippen und bliesen falsch, aber ehrlich eine Fanfare.

Richard stieg in den Zug, und sie folgten ihm.

Der Earl saß am Ende des Waggons und tätschelte seinen Wolfshund. Der Hofnarr – Tooley, dachte Richard, das war sein Name – stand neben ihm. Abgesehen von ihnen und den zwei Rittern war der Waggon menschenleer.

»Wer ist da?« fragte der Earl.

»Er ist es, Sire«, sagte sein Narr. »Richard Mayhew. Der, der das Ungeheuer getötet hat.«

»Der Krieger?« Der Earl kratzte seinen rotgrauen Bart. »Bringt ihn her.«

Richard ging zu dem Sessel des Earl. Der Earl musterte ihn nachdenklich von Kopf bis Fuß, und nichts deutete darauf hin, daß er sich daran erinnerte, Richard schon einmal begegnet zu sein.

»Ich dachte, Ihr wärt größer«, sagte der Earl schließlich.

»Tut mir leid.«

»Nun denn, fangen wir an.« Er stand auf und wandte sich an den leeren Waggon. »Guten Abend. Wir sind hier, den jungen Maybury zu ehren. Wie sagt doch der Barde? « Und dann rezitierte er rhythmisch dröhnend: »Bäche des Blutes brechen hervor, flink fällt der Feind, rettender, ruhmvoller Recke, kühnster Knabe … Ein Knabe ist er allerdings eigentlich nicht, was, Tooley?«

»Nicht direkt, Euer Gnaden.«

Der Earl streckte die Hand aus. »Gebt mir Euer Schwert, mein Freund.«

Richard faßte sich an den Gürtel und zog das Messer heraus, das Hunter ihm geschenkt hatte. »Geht das auch?« fragte er.

»Ja-ja«, sagte der alte Mann und nahm es entgegen.

»Hinknien!« soufflierte Tooley und deutete auf den Boden des Zuges. Richard ließ sich auf ein Knie nieder.

Der Earl tippte ihm mit dem Messer sanft auf beide Schultern. »Steht auf«, brüllte er, »Sir Richard of Maybury. Mit diesem Messer verleihe ich Euch die Freiheit der Unterseite. Es sei Euch erlaubt, Euch ohne Hindernisse und Hürden frei zu bewegen … und so weiter und so fort … et cetera … blah blah blah.« Seine Stimme erstarb.

»Danke«, sagte Richard. »Eigentlich heiße ich Mayhew. «

Doch der Zug hielt.

»Hier müßt Ihr aussteigen«, sagte der Earl. Er gab Richard sein Messer zurück und klopfte ihm auf den Rücken.

Der Ort, an dem Richard ausstieg, war keine U-Bahn-Haltestelle. Er lag über der Erde. Ein wenig erinnerte er Richard an den Bahnhof St. Pancras – die Architektur hatte etwas ähnlich Überdimensionales und Pseudogotisches. Aber auch etwas Verkehrtes, das ihn irgendwie als Teil von Unter-London kennzeichnete.

Das Licht war von dem seltsamen Grau, das man kurz vor dem Morgengrauen und nach dem Sonnenuntergang sieht, wenn die Welt verwaschen ist und Farben und Entfernungen sich nicht mehr einschätzen lassen.

Ein Mann saß auf einer Bank und starrte ihn an, und Richard näherte sich ihm vorsichtig, denn in dem Grau konnte er nicht erkennen, wer es war. Richard hielt immer noch Hunters Messer – sein Messer – in der Hand, und um sich zu beruhigen, packte er das Heft jetzt noch fester.

Der Mann schaute hoch, als Richard näherkam, und sprang auf. Es war Lord Rattensprecher. »Nun-nun. Ja-ja«, sagte der Rattensprecher erregt. »Wollte nur sagen, das Mädchen Anaesthesia. Nichts für ungut. Die Ratten sind immer noch Ihre Freunde. Und die Rattensprecher. Kommen Sie nur zu uns. Wir tun für Sie, was wir können.«

»Danke«, sagte Richard. Lord Rattensprecher hantierte auf der Bank herum und präsentierte Richard eine schwarze Sporttasche mit Reißverschluß, die ihm überaus vertraut vorkam.

»Es ist alles da. Alles. Sehen Sie nach.«

Richard öffnete die Tasche. All seine Besitztümer waren darin, einschließlich seiner Brieftasche, die zuoberst auf einer sauber gefalteten Jeans lag. Er zog den Reißverschluß zu, warf sich die Tasche über die Schulter und ging fort, ohne sich noch einmal umzuschauen.

Er trat aus dem Bahnhof und stieg ein paar Stufen hinab.

Alles war still. Alles war leer. Totes Herbstlaub wehte über den Vorplatz, ein gelbes, ockerfarbenes und braunes Flirren. Er überquerte den Platz und ging ein paar Stufen in eine Unterführung hinunter. Etwas flatterte im Halbdunkel.

Richard drehte sich mißtrauisch um. Es war etwa ein Dutzend, in dem Gang hinter ihm, und sie glitten fast lautlos auf ihn zu, nur ein Rascheln dunklen Samtes und ein gelegentliches Glitzern von Silberschmuck verriet, daß sie da waren. Sie beobachteten ihn mit hungrigen Augen.

Da bekam er Angst. Sicher, er hatte das Messer. Aber er konnte damit ebensowenig kämpfen, wie er in der Lage war, über die Themse zu springen. Er hoffte, daß es ihnen wenigstens Angst einjagen würde.

Er roch Geißblatt und Maiglöckchen und Moschus.

Lamia schob sich in die erste Reihe der Velvets und trat vor. Richard hob das Messer. Die Kälte ihrer Umarmung fiel ihm wieder ein.

Sie lächelte ihn an und neigte anmutig den Kopf. Dann zwinkerte sie ihm zu, küßte ihre Fingerspitzen und blies den Kuß zu ihm hinüber.

Er schauderte.

Etwas flatterte in der Dunkelheit der Unterführung, und als er wieder hinschaute, waren da nur noch Schatten.



Durch die Unterführung, dann ein paar Stufen hoch, und er befand sich auf einem kleinen grasbewachsenen Hügel, kurz vor dem Morgengrauen. Das Licht war seltsam und unnatürlich, doch er konnte Einzelheiten der Landschaft um sich herum erkennen: Eichen, Eschen und Buchen. Ein breiter Fluß wand sich sanft durch die grüne Natur. Als er sich umschaute, stellte er fest, daß er sich auf einer Art Insel befand – zwei kleinere Flüsse, die in den größeren mündeten, schnitten ihn vom Festland ab.

Da wußte er, ohne zu wissen, woher, aber dennoch mit absoluter Gewißheit, daß er in London war – aber in London, wie es vielleicht vor dreitausend Jahren gewesen war, bevor der erste Grundstein für die erste menschliche Behausung gelegt wurde.

Er öffnete seine Tasche und legte das Messer hinein, neben seine Brieftasche. Dann zog er den Reißverschluß wieder zu. Der Himmel wurde langsam heller, aber es war ein seltsames Licht. Es war irgendwie jünger als das Sonnenlicht, das er kannte. Eine orangerote Sonne ging im Osten auf: wo einmal die Docklands sein würden, und weiter draußen, in Richtung Greenwich und Kent und zum Meer hin.

»Hallo«, sagte Door. Er hatte sie nicht kommen sehen. Sie trug andere Sachen unter ihrer abgeschabten braunen Lederjacke: immer noch mehrere Schichten übereinander, zerrissen und geflickt, aber aus Taft und Spitze und Seide und Brokat.

»Hallo«, sagte Richard.

Sie stellte sich neben ihn und umschlang mit ihren kleinen Fingern seine rechte Hand, die Hand, die die Sporttasche hielt.

»Wo sind wir?« fragte er.

»Auf der gräßlichen und furchterregenden Insel Westminster«, erklärte sie. Es klang, als sei das ein Zitat, aber er glaubte nicht, daß er es schon einmal gehört hatte.

Sie begannen über das lange Gras zu gehen, das naß war vom schmelzenden Reif. Ihre Fußabdrücke hinterließen eine dunkelgrüne Spur, die verriet, wo sie gewesen waren.

»Hör mal«, sagte Door. »Jetzt, wo der Engel fort ist, muß in Unter-London eine Menge neu geregelt werden. Vor dieser Aufgabe stehe ich nun ganz allein. Mein Vater wollte Unter-London vereinen … ich schätze, ich sollte versuchen, das, was er begonnen hat, zu Ende zu führen.«

Sie gingen gen Norden, fort von der Themse. Weiße Möwen kreisten über ihnen am Himmel und schrien.

»Und du hast ja gehört, wie Islington gesagt hat, er habe für alle Fälle meine Schwester am Leben gelassen. Vielleicht bin ich nicht die einzige von uns, die noch lebt. Und du hast mir das Leben gerettet.« Sie hielt inne, und dann sprudelte es aus ihr heraus: »Du warst mir ein wirklich guter Freund, Richard. Und irgendwie habe ich dich ganz gern in meiner Nähe. Bitte, geh nicht.«

Er langte mit seiner verletzten linken Hand hinüber und tätschelte verlegen die ihre.

»Na ja«, sagte er, »ich hab’ dich auch irgendwie ganz gern in meiner Nähe. Aber ich gehöre nicht in diese Welt. In meinem London … also, das Gefährlichste, was einem da passieren kann, ist, daß man auf ein Taxi trifft, das es etwas eilig hat. Ich mag dich auch. Ich mag dich furchtbar gern. Aber ich will nach Hause.«

Sie blickte mit ihren seltsam gefärbten Augen zu ihm empor. »Dann werden wir uns nie wiedersehen«, sagte sie.

»Das werden wir wohl nicht.«

»Danke für alles, was du getan hast«, sagte sie. Dann schlang sie die Arme um ihn, und sie drückte ihn so fest, daß die Prellungen an seinen Rippen schmerzten, und er erwiderte ihre Umarmung ebenso fest und achtete nicht auf den Schmerz.

»Also«, sagte er schließlich. »Es war sehr nett, dich kennengelernt zu haben.«

Sie blinzelte heftig. Er fragte sich, ob sie ihm wieder sagen würde, sie hätte etwas im Auge. Statt dessen fragte sie: »Bist du bereit?«

Er nickte.

»Hast du den Schlüssel?«

Er setzte seine Tasche ab und wühlte mit seiner gesunden Hand in seiner Gesäßtasche. Er nahm den Schlüssel und gab ihn ihr. Sie hielt ihn vor sich, als steckte sie ihn in eine imaginäre Tür.

»Gut«, sagte sie. »Geh einfach los. Schau dich nicht um.«

Er begann, einen kleinen Hügel hinabzugehen. Eine Möwe sauste vorbei.

Am Fuß des Hügels schaute er sich um. Sie stand oben auf dem Hügel, eine Silhouette vor der aufgehenden Sonne. Ihre Wangen glitzerten.

Das orange Sonnenlicht blitzte auf dem Schlüssel.

Door drehte ihn um, mit einer einzigen, entschiedenen Bewegung.



Die Welt wurde dunkel, und ein leises Dröhnen füllte Richards Kopf, wie das zornige Grollen von tausend wütenden Ungeheuern.


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