Thomas Lehr
September. Fata Morgana

Für Dorle

und für Fadhil,

von denen ich nicht genug lernen kann.

Die Geschichte ist der Irrgarten der Gewalt.

Johann Wolfgang Goethe

I. Das Schiff, September 2001

An dieser Welt bleib ich doch immer kleben,

An ihr erlahmt mein noch so hohes Streben,

Kein Wissen, das mich über sie erhebt,

Und kein Verstand, um ohne sie zu leben.

(Omar I-Khajjam, Die Sinnsprüche Omars des Zeltmachers)

Und ich sage jedem Mann und jeder Frau:

Lass deine Seele kühl und gefasst vor einer Million Universen stehen.

Und ich sage allen Menschen: Seid nicht neugierig auf Gott,

Denn ich, der neugierig auf alles ist, bin nicht neugierig auf Gott.

(Walt Whitman, Grasblätter)

Muna

Unsere Geschichte

hängt in der Luft in der Nacht

Schwester denn du beendest sie nicht ihr seidener Faden hält unser Leben unsichtbar im Dunkel wer ihn zerschneidet

braucht es nicht gewusst zu haben

immer schon wunderte es mich weshalb es den König nicht störte dass Dinarasad jede Nacht unter seinem Bett lag und ich fragte mich auch um was für ein Bett es sich handelte damit sie darunter liegen konnte ich denke es mir oben wie einen kleinen Palast aus Seidenkissen Flamingofedern schwellendem Purpur Rosenblättern und Zungen und darunter den Staub die Knochen die Spinnweben ich habe keine Ahnung wie sie die Schlafstätten der Könige bauten

im Inselreich von Indien und China

im Fernen Osten in dem es noch exotischere Märchen geben soll als hier in Bagdad nirgendwo fantasiert man besser als unter dem mächtigen Bett meines Großvaters (ich kannte ihn nicht er starb ein Jahr vor meiner Geburt und war eine Art Radio- und Fernsehkönig) in seinem Haus in Wasiriya in dem ich mit Sami Verstecken spielte um auch ihn so oft unter jenem Bett zu finden in dem meine Großmutter alleine schlief schon seit mehr als tausend Nächten

an jenem Tag vor drei Wochen an dem ich

siebzehnjährig

nur aus Spaß noch einmal das Versteckspiel wiederholte (allein) dieses Sich-Begraben am helllichten Tag Skorpion im Wüstensand während draußen im Innenhof seit Stunden die Hochzeitsgesellschaft tafelt trinkt tanzt liege ich noch einmal unter dem nach Rosenwasser Lavendelsträußchen Moder und getrockneten Orangenschalen riechenden Bett der Spaß den ich mir machte war aber nur die Flucht

vor der Flucht es war doch so dass ich den kalt triefenden Blick (Spucke auf Eiswürfeln) des Majors nicht mehr ertrug dieses angeblichen Freundes des zu allem lächelnden Bräutigams meiner Schwester

still lag ich unter dem Lattenrost im Grab der verwitweten Frauen ich wünschte mir Sami an meine Seite noch einmal als Zehn- oder Zwölfjährigen vergnügt ohne Angst zu allem bereit dann hätten wir dem Major heimlich Salz in den Arrak geschüttet oder gar hineingespuckt in den Nebel den er trinkt das Glas strahlte im Innenhof für eine Sekunde so leuchtend weiß auf wie das perlenbesetzte Kleid meiner Schwester Täubchen sagte er zu mir wie zu einem Kind und streifte scheinbar versehentlich mit dem Ellbogen meine Brust Täubchen und ich sah den kurdischen Jungen am Rand des Saadun-Parks vor mir der die Federn aus einer von einem Auto angefahrenen Taube riss aus mir als liefe das Blut

aus meinen Brustwarzen

die ich jetzt mit flachen Händen schütze während der Rost unter der großen Matratze sich biegt Schwester fast stößt er mir ins Gesicht auch dich nennt er Täubchen Jasmin diese Stimme gerade als ich unter dem Bett wieder hervorkriechen wollte ich muss dich jetzt haben heute hier als Braut es ist vielleicht das letzte Mal glaub mir ach was Kasim wird nichts merken ich werde mit ihm saufen bis er seinen Hosenschlitz nicht mehr aufkriegt leg dich doch mein Täubchen

und wie du muss ich die Beine öffnen die Knie nach außen drehen den Kopf abwenden als wollten mich die schwingenden Latten (grau staubig hart) küssen mir Nase und Zähne brechen

ihr

das Ungeheuer

gegürtet mit federnden Spanten

der König Tod in dir sein Pfahl ich sah ihn nur als Stein Onyx eines Gottes in einer Vitrine und als schlackerndes Anhängsel meines Bruders bevor er zur Schule ging wiegt er dich (von innen) was weiß er schon von deinen Schätzen Schwester was für ein stöhnendes Kamel ihr geworden seid in einer Wüstennacht Kamel mit zwei gegenüberliegenden Buckeln

Tauben

in der Nacht weiß schwarz schwarz weiß

Nacht vernagelt mit ächzendem Holz brecht nicht die Knochen meines Gesichts meine Rippen unter fröstelnder Haut unter dem Ansturm des Rosts des Saurierbrustkastens in dem ihr wütet Rippe an Rippe ich spüre euer Herz das Herz eines roten Ifrit es könnte ein Schiffskiel sein der über mich hinwegfährt der ganze Rumpf eines Schiffs der Lattenrost zurechtgebogen neu verfugt vergrößert hoch in der Luft Schwester

euer Bett ist

das Segelschiff deiner verräterischen Liebe

in einem rauschenden Himmel hinter meinen geschlossenen Lidern sehe ich unendlich weit als wäre eure Dau von einem Hafen inmitten der Wüste direkt in den Himmel ausgelaufen Sand trockene Körner rieseln auf meine Wangen welche Figuren nur bewegen sich in den geblähten Segeln unter den steilen Rahen machtvoll bläst uns der Wind hinauf oder zieht euch die Gier des Königs der in grünem Öl badet empor was träume ich es ist

nichts es ist

nur der Major der in meiner Schwester

brennt

wie hält sie es aus (entweder den Falschen zu heiraten oder sich benutzen zu lassen oder zwischen zwei Lügen zu leben) spritze daneben sagt sie plötzlich so kühl als stünde sie in ihrem Labor neben einem Laboranten mit einer Destillierflasche in der Hand während der

Taubenschlächter

den siebten Himmel durchpflügt

unter mir

die ich unter eurem Kiel treibe wie der helle Schatten eures Ankers

sind sechs Himmel und sieben Erden auf dem Rücken des Stiers der die Hufe auf den Fisch gestellt hat im letzten Wasser des schwarzen Meeres das auf der Dunkelheit ruht vergiss

alles vergiss alles

ich

müsste jetzt meine Stimme erheben und sagen: Erzähl mir eine Geschichte Schwester

aber du

bist in einem anderen Land

Sabrina

An einem leuchtenden Morgen beim Frühstück im Haus auf Long Island

mit Blick auf einen Streifen Sand einen Streifen Meer eine schmale Himmelslinie die Flagge Sommer im weißen Lackrahmen eines Küchenfensters es ist ein schön hinausgedehnter Sommer ein Immer-noch-Sommer fast wolkenlos mit dem Versprechen auf erträgliche Hitze an diesem Tag die Haut die Knochen noch durchglüht von Erinnerung der Duft von Sonnenmilch und Gras Sandkörnchen im Ohr unter den Fingernägeln zwischen den Zehen

aber warten wir nicht mit der ersten Geschichte des ersten Tages während du unter uns dahinfliegst mit dem Rücken zur Erde unter dem Kiel des Himmelsschiffs

meine Mutter Amanda

(zwei Wochen ist es her) sie war rasch aus ihrem Sportwagen gestiegen und hatte die Handbremse nicht oder nicht genügend angezogen so dass er leer und lautlos wie ein Spielzeugauto rückwärts die Auffahrt hinabrollte zwischen einem radelnden Jungen und einem gelben Lieferwagen hindurch über die vollkommen ruhige Straße genau zwischen die Pfosten der Einfahrt des gegenüberliegenden Hauses und dort auch in die Garage hinein wie perfekt einparkend jedoch viel zu schnell auf die Werkbank voller Flaschen Lackdosen Kanister mit Säuren und Lösungsmitteln zu und die Erinnerung an jenen Tag verwandelt sich mit einem ohrenbetäubenden Knall (die Rückwand der Garage vielleicht auch die seitliche Fensterreihe die Wellenfläche des Dachs wie ein berstender Teich) zu einer glühenden geballten Faust

ich besuche dich durch

einen Turm aus Feuer Schwester

so leicht wie nur ein

Gedanke

so wie ein helles weißes Licht die Laser-

Fee aus gleichmäßig tanzenden Atomen mitten

durch eine Explosion durch eine Feuersbrunst durch einen kochenden Planeten eilen kann

unser fliegendes Schiff verwandelt sich

zu weißer Asche hoch in der Luft leise segelnd vorsichtiger als alles andere auf der Welt es zerfällt so rasch wie eine Idee eine Geschichte ein

Leben

Schwester vieles stellen wir uns falsch vor nur weil wir zu wenig Geschichten hörten unter dem Bett durch die Matratze siehst du vielleicht nur dich selbst auf der anderen Seite in

meiner weißen Haut

als deinen eigenen Traum vom tödlichen König wir müssen alle Geschichten kennen den großen Reigen auf der Erde dann siehst du auch den dunkelblonden Jungen der aus dem Haus läuft dessen Garage in Flammen aufging wie durch den Schleier

eines Traums er ist zu Tode

erschrocken er glaubt vielleicht ein Krieg habe begonnen

brennendes Öl ein Feuerengel der mit einer weiteren Explosion die Glasfront des Wintergartens sprengt ein Bote der immer das Ziel findet aber noch einmal vertrieben werden kann denn alle helfen mit sämtliche Nachbarn der herbeigeeilte Liebhaber meiner Mutter die Eltern des Jungen die Feuerwehr endlich die hier noch einmal eine leichte Übung hat

niemand ist

zu Schaden gekommen man sitzt beieinander neben den gelb gestreiften Rittern des F.D.N.Y. Erics Mutter neben meiner Mutter zwei vollkommen verschiedene Frauen mit der nahezu gleichen Frisur (sie gehen beide zum besten Damenfriseur der nächsten größeren Stadt und werfen sich in all der Aufregung doch immer wieder einen peinlichen Spiegelblick zu) die gepflegte mollige Hausfrau aus der Vorabendserie erschrocken und rosarot um Fassung ringend dagegen Amanda aus dem Abendprogramm des Fernsehers Leben wo man kalte schöne Managerinnen zeigt aber sie ist doch ein wenig aufgelöst für ihre Verhältnisse und seltsam heiter

Heiterkeit ist der Bote des Schmerzes

sagt Emily

in meinem Kopf in meiner Brust

so leicht und einfach und sie dreht sich gelassen um und verschwindet in ihrem Zimmer ohne die Tür ganz zu schließen

(spucke Blut du bist verletzt!)

regelrecht ausgelassen erscheint mir Amanda vielleicht weil ihr endlich einmal etwas schiefgegangen ist und wenn es nur für mich wäre denn ich denke plötzlich dass ich das von ihr lernen möchte so elegant so menschlich einfach ein Versagen einzugestehen in der weißen Sommerhose und dem malvenfarbenen T-Shirt in dem offenkundig wird dass ihre von Sommersprossen und Leberflecken gepunkteten Oberarme nicht mehr die Spannung von früher haben so entspannt entwaffnend so als könnte sie im nächsten Moment auch den freundlichen untersetzten Mann mit dem gelichteten Haar und der betont sportlich-lässigen Kleidung diesen wie von sich selbst erfundenen typischen Long-Island-Drehbuchautor vorstellen als

gestatten mein Liebhaber Lesley

entwaffnend entschuldigend weil er ihrem zweiten Ehemann ähnelt aber eigentlich weniger gut aussieht als dieser

aber ihre Verhältnisse und Manöver stören mich heute nicht so sehr der Brand- und Aschegeruch des Unfalls lässt alles zugleich falsch und richtig erscheinen man weiß einfach nicht mehr was stimmt und lehnt sich müde und doch seltsam erregt in die blaue rauchige Luft so dass man sich leicht an einer fremden Schulter wiederfinden könnte

stell dir vor

wird Eric in einigen noch ganz unvorstellbaren Tagen zu mir sagen dass sie einfach nur einen Freund braucht jemanden mit dem sie reden kann wenn dein Stiefvater nicht da ist vielleicht ist das alles nur eine

Projektion

und er wird grinsend einen Zeigefinger heben also befreie dich lieber selbst und komm mit nach L.A.

schließe die Tür von außen statt sie halb geöffnet zu lassen als Abstoßung als Anziehung als Zumutung für deine irritierte Umwelt aber jetzt

reden wir zum ersten Mal miteinander nachdem wir uns zuvor nur verstohlen beobachtet und verlegen gegrüßt haben

die Nachtigall

fliegt zur Rose Schwester

er hat so freundlich unordentlich geschnittenes Haar seine Ohren stehen zu weit ab so dass er nicht zu hübsch wirkt nicht zu glatt er hat ungleich lange Fingernägel (rechts länger der Mann spielt Gitarre Watson) keine Haare im Brustausschnitt seines hellblauen kurzärmligen Hemdes

der Feuerwehrzug steht ruhig vor unserem Haus die Versicherungsgesellschaft werde alles regeln er könne sich schon einmal ein neues kaufen sagt meine Mutter und Erics linke Schulter berührt mich tatsächlich als wir am Ende noch einmal das unsinnig verbogene unter dem Ruß glänzende Skelett seines Rads betrachten du könntest dir vorstellen

ein Wesen aus Asche und verkohlten Resten zu sein ein fast nicht zusammenhängender Körper der in dem Augenblick stirbt in dem ein Lebewesen auf ihn tritt der drei Sekunden existiert oder auch dreitausend Jahre

wie heißt du eigentlich

fragt Eric sanft

Begrüßung

Mein Schleier, Liebster, ist mein Haar.

Lüfte ihn und sieh.

Meine Lippen flüstern dich.

Berühre sie und flieh!

Martin

Die Glücklichen sollten klug sein und fünfmal am Tag (wie ein guter Moslem betet) spüren dass ihr Leben gelingt wie

ein Kinderspiel

so hätten sie noch immer einige gute Stunden

vor der Vertreibung ich atme ruhig ich gehe in die Küche und koche Kaffee mit einer deutschen Maschine die ich noch vor Kurzem so reflexhaft in der Ipswich-Mall als wahrscheinlich gute Qualität kaufte wie es die meisten Amerikaner auch getan hätten ich gestehe mir ein (entgegen dem Widerwillen einer unvorstellbar nahen Zukunft) dass ich froh bin das Haus wieder für mich zu haben denn obwohl ich noch zu wenig über Mohammed und Marianne weiß habe ich

Suleika

schon längst gefunden und bin ihr erlegen und staune und bin dankbar für den Sturm den sie (auch nach drei Jahren noch ganz leicht) in mir entfacht für die plötzlichen Anfälle von ruhiger gelassen einige Bücher oder einen Stuhl beiseite schiebender eine Schürze den Rock ein sonnengebräuntes weiches Bein hebender Gastlichkeit in der Küche oder auf der schmalen Treppe (dort verunglückend und wie halb noch gefesselte Flüchtlinge aus der Gefangenschaft unserer College-Professoren-Seriosität in die verblüffte junggesellige Arroganz meines Leseschlafzimmers stolpernd)

jetzt bin ich noch

und schon

ganz allein ich ärgere mich (zum schrecklichen letzten Mal) über Sabrina über ein abhanden gekommenes Buch ich stehe (schon versöhnt) in ihrem Zimmer ihrem einstigen Mädchenzimmer seit sie in Cambridge studiert ist sie nur selten hier gewesen alles scheint unverändert wie konserviert in dem eigenartigen Übergangszustand zwischen chaotisch-märchenhafter Mädchenwelt (frühe Poesiealben und alte Disney-Comics treue Plüschtiere das Poster eines weiblichen Rockstars) und der erst auf den zweiten Blick eingängigen gewissermaßen heimlichen Ordnung einer jungen Frau (chronologisch eingestellte National-Geographic-Magazine Lehrbücher Songbooks Romane Lyrikanthologien PC-Manuale CD-Stapel) es gibt aber noch den jetzt fast freien Platz im Bücherregal unter den sie auf meinen ironischen Vorschlag vor einigen Jahren hin ein handbeschriebenes Etikett klebte

Geklaut von Papa

hier finde ich auch meine Hafis-Ausgabe die einzige die halbwegs erfolgreich versucht die arabischen Metren ins Deutsche zu übertragen und dann werde ich

sanft

wie von einer Mädchenhand (es ist die einer jungen Erwachsenen) zurückgedrängt aus dem schon versiegelten schon unberührbaren Bereich und wende mich vergnügt ab eine Tochter die dir Bücher stibitzt ist eine Gestalt aus einem Märchen das du dir früher nicht einmal erträumen konntest ich werde das Frühstück verschieben es ist der fast wolkenlose Morgen

des letzten Tags

es ist acht Uhr ich schnüre meine Laufschuhe ich nestle an den Bügeln meiner Sportbrille zwischen Ohrmuscheln und kurz geschorenem Schläfenhaar (silbrig gestreift wie ein Dachspapafell sagte sie) und trete auf die Holzveranda hinaus mit Blick über eine große Rasenfläche auf die North Pleasant Street der Vorgeschmack von Herbst liegt schon auf den Lippen ich denke mit Vorfreude und einer gewissen andächtigen Hilflosigkeit oder Ehrfurcht an die fünfte Jahreszeit die die Hügel rings um die Stadt mit feurigen Laubdecken überziehen wird (das Blut des Großen Bären wie es in den Indianerlegenden heißt) mit Wirbeln aus honigfarbenen grell orangenen fleischroten violetten hellbraunen kastanienbraunen umbrafarbenen

Blättern

die auf den blauen Spiegelbahnen der Straßen treiben die als raschelndes Flammenmeer die weißen Holzhäuser einschließen ihnen einen fast erhabenen Glanz verleihen als wären ihre lackierten Bretter Marmor als hielten die rosafarbenen Steine und der Zuckerbäckergips an den städtischen Gebäuden jahrtausendelang oft setze ich mich dann ins Auto und fahre aus der Stadt zum Metacomet Trail oder auch bis zum Holyoke Park ich laufe viel und meine längsten und einsamsten Strecken in dieser traumlos schönen Jahreszeit die ein Glück durchsetzt mit unfassbarer leiser Verzweiflung für mich darstellt schon immer vielleicht notwendigerweise einfach nur so etwas wie ein Geburtsfehler des nein eigentlich jeden Idylls

wie die feinen Bruchlinien die Haarrisse die sich nun im tiefen Muranoglas des Himmels abzeichnen nicht wegzuwischen nicht zu beseitigen außer durch

Vergessen oder es sind

Risse im Glaskörper meines Auges Risse aus der Zukunft weil du nicht erträgst wie bruchlos die Vergangenheit dir einmal erscheinen konnte als ich die Hafis-Ausgabe in Sabrinas Zimmer suchte fiel mein Blick zum ersten Mal auf einen Schuhkarton auf dessen Deckel sie zwei Postkarten befestigt hatte eine zeigte in Schwarzweiß eine ägyptische Sängerin mit einer Art Fez auf dem Kopf wohl eine Aufnahme aus den fünfziger Jahren während die andere farbig und aktuell war ein Werbegag eines kalifornischen Winzers unter der Aufschrift Really Dry Red Wines sah man eine Wüstenlandschaft und im Vordergrund an einem steinernen Tisch einen Orientalen im Burnus mit kurz geschorenem weißen Haar und schwarzem Schnurrbart der auf ein leuchtend rotes Glas Wein blickt ein ausdrucksvoller ernster Mann in meinem Alter etwa und es schien mir nicht zufällig denn vor Monaten hatte ich Sabrina erzählt dass ich jemanden bräuchte um Zutritt zum Orient zu finden und dabei an einen Kollegen vom Middle Eastern Studies Department gedacht den ich endlich ansprechen müsste einer kulturellen Hilfestellung wegen ich glaubte ich bräuchte nur einen Blick (nicht den Inhalt der Schachtel) einen Ratschlag eine Bücherliste aber jetzt benötige ich viel mehr als einen Kollegen nämlich

Hafis

(einen Bruder)

auf einem Holzstuhl vor dem steinernen Tisch das Glas gefüllt mit dem flüssigen Rubin Herzblut des Engels der uns einmal die Augen öffnen wird am Ende des Schlafes Leben ich brauche jemanden der mir das alles zu verstehen hilft eine

Spiegelung (1)

In meinem Glas das Spiegelbild,

das nicht erklärt, wie es entstand.

Ein Ornament aus Zeit, aus Licht,

der vage Puls in meiner Hand.

In meinem Haus ein Skorpion,

der sich den weißen Stachel JETZT

tief in den eignen Nacken stieß,

bis ihn im Schlaf das Flugzeug fand.

Auf einem Himmelsblatt aus Wein

schwebt still von Ost nach West der Traum.

Der Flug, der Stahl, das Öl, der Tod.

Ein Finger schreibt es an die Wand:

Aus Blut wird Glas, aus Glas wird Sand.

Tarik

Schnippe an das Glas es genügt um

auf die andere Seite zu kommen die feine Spiegelfläche löst sich auf und findet

umgekehrt

wieder zusammen wie aus tanzenden Scherben im Inneren des

Gegenblicks der langsam zu sich kommt eben in jenem weißhaarigen schwarzschnurrbärtigen Typ (really dry) dessen Lider sich mühsam heben der auf die friedliche gelöste von rosenholzschwarzen Wellen umflossene Landschaft blickt in der er immer zuhause sein wird ganz gleich wo er sich befindet

Faridas Gesicht

verschwindet noch einmal hinter einem (verdammt subjektiven) Schleier

ich falle zurück um fünf Uhr morgens noch einmal in trüberes stilleres verstecktes Leben sieh auf die Spiegelfläche wie auf Wasser wie auf verschleierte kühl fiebernde Luft in der die Gesichter zu Flundern werden zu anderen Plattfischen

Hafis

glaubte er wäre ein Vogel

aus dem Paradies und sein Körper sei Staub der ihm die Sicht auf jenen Garten Ridhwan nehme auf den goldenen Baum den Juwelenzweig auf dem er sitze

dann ist der Körper meines Körpers ein Fisch im Untergrund der Untergründe dem Wasser nämlich das alles bestimmt vor zehntausend Jahren schon und noch immer lass mich los mein Freund und ich klatsche zappelnd in eine der beiden großen Arterien dieses Landes dessen Grenzen die Engländer erfunden haben (der Großvater meiner Frau lebte in Basra und man fragte ihn wie die Eroberung durch die Engländer gewesen sei aber er hatte keine Engländer gesehen nur englische Flaggen und Schiffe und Uniformen derer sich die Inder bemächtigt hatten) bei denen es immer regnet und deren Land überall von Meer umspült wird weshalb sie nicht so recht begreifen wie angenehm es ist wenn die lächelnden Nachbarn im Norden an der Kehle des Wassers mit den Messern spielen und im Süden das Euter zum Golf zwischen Persien und Kuwait gequetscht wird sie dachten einfach zu viel an Öl und schenkten uns bald Mossul mitsamt seinen wütenden Kurden und 1001 höhere Beamte aus England und schließlich einen neuen König aus dem Hedschas den wir einsichtigst wählten nachdem 10 001 Aufständische das Leben gelassen hatten das Paradies ist so nah bei uns wie im Märchen und wie der Gedanke dass man mit Gewalt jedes Problem in kürzester Zeit lösen kann oder wenigstens

hinüberschaffen

im Paradies jedenfalls fließen die Bäche und wenn wir uns dort treffen wollen dann nimm den anderen Fluss mein Bruder als Fisch als Kampfschwimmer als mit High-Tech vollgestopfter Spürkarpfen der seine Teleskopaugen ausfährt und die zarten elektronischen Fühler durch den Schlamm zieht auf der Suche nach Sprengköpfen und Dosen mit chemischen Waffe nimm den Euphrat durch die Kalkstein- und Marmorschluchten im Norden (aufschäumend eiskalt kochend zwischen Felswänden mit den eingemeißelten Figuren der alten hethitischen Krieger und Könige und den protzigen Reliefschriften immer nur zeitweiliger Eroberungen beides übersät mit historischen Schussnarben die vom Kunstsinn und der Wut der Bergvölker zeugen)

der Euphrat ist der große wilde Mutterfluss aber er wird mir zu fromm in der Mitte wenn er an den auferstehungssüchtigen Leichenfeldern von Kerbela und Nadschaf vorbeiströmt wohingegen ich im träge sich windenden Tigris außerordentlich männliche Phänomene beobachten kann wie das Aufblitzen der Jagdbombergeschütze am 36. Breitengrad entlang der Flugverbotszone (glucksende Vibration des Wassers bei der Zerstörung ufernaher Raketenstellungen) wie den U-Boot-ähnlichen Schemen eines Walfischs der Sorte welche Jonas nach Ninive transportierte (noch findet man dort den Originalschwanz oder — zahn des Tieres) wahrscheinlich war es nur ein Riesenkarpfen wie ich einer bin aufgebläht zu biblisch-koranischen Dimensionen in welchen schon lange der

GROSSE SOHN

und Killer von Tikrit über uns schwebt

über uns auf dem Wasser trudeln jetzt die unförmigen massiven Kalaks aus luftgefüllten Ziegenhäuten wie eine Silhouette SEINER zeitlebens schlecht gelaunten militanten Mutter (sie schrie sie werde den Teufel gebären als ER aus ihr herauswollte) ein falsches Wort über sie und

du badest in Säure

mit unseren Fischlippen sollten wir ihr blankes Mausoleum putzen

das lausige Nest aus Lehmziegelbauten aus dem fast die ganze Bande gekrochen ist die uns regiert Saladin wurde hier geboren und ein historisches Augenblinzeln später ER unter dem Vorbild seines Nazi-begeisterten Onkels immer endet es in Strömen von Blut gib einem wahnsinnigen geprügelten Kind eine Pistole vergiss dass es schlau und skrupellos ist verschmähe es aus der souveränen Perspektive viel klügerer und gebildeterer Parteigenossen bis es dir den Lauf zwischen die Zähne stößt sieh den naiven blauen Himmel durch das Loch in deiner hinteren Schädelwand

sinke in den Schlamm

gleite stumm über die zerbrochenen Skelette durch die Schlingpflanzen die an deinen alten eisernen Schuppen zerreißen in den verzweifelten Windungen des Flusses bis

Licht

in dein trübes Auge strömt und du hinabstürzt durch eines der geöffneten Fluttore bei Samarra (einmal war das Land klug genug einen fünfzig Meter hohen Turm zu bauen um den fünf Mal eine spiralige Rampe läuft einmal war es klug genug mit Öl Wasser zu kaufen zu stauen umzuleiten in riesige Becken zur Versorgung der Denkverbotszone)

ich könnte die zappelnden Beine des Jungen sehen der ich gewesen bin schwämmen wir in den fünfziger Jahren durch den fast noch sauberen zinnfarbenen Strom durch die geschichtstrunken sich windenden Mäander des Wassers bei

Bagdad

als Jungfisch sähe ich den grün bewachsenen Brückenpfeiler der über der Wasseroberfläche in die Sommerhitze taucht wie kleine Frösche klammern wir uns an Steinvorsprüngen fest einer will höher hinauf als der andere unsere trockene warme Jungenhaut reibt sich aneinander mit dem Vergnügen dass der andere lebt Kraft hat wie du und klettert ich sehe meine beiden Propheten an den Stein geklammert den dünnen Ali mit seinem vornehmen ägyptischen Gesicht dagegen Husseins breites gutmütiges Lachen als trüge er schon den künstlerischen Bart seiner Erwachsenenjahre wir sind zwölf Jahre alt die englische Zeit endet gerade denn die Leute sind hier nach vierzig Jahren Ausbeutung und Bevormundung doch etwas wütend geworden sie erschossen den König und seine Familie sie schleppten den toten Regenten durch die Straßen und erkannten den ewigen Ministerpräsidenten den größten Freund der Engländer als er in Frauenkleidern zu fliehen versuchte lynchten ihn begruben ihn exhumierten ihn und rissen die Leiche in Stücke dies war nicht die feine englische Art mein Freund sondern die irre die sie hier sehr unenglisch gefördert haben aber wir sind das schon gewohnt denn

wir sind alte Karpfen geworden

verschrammt mürrisch zäh schlau feig unter Umständen auch schon tot

und ich fächle dahin als 1,80 Meter langer Schabbut und zögen sie mich jetzt heraus bestünde ich auf der ehrwürdig perversen Zubereitungsart bei der man mich mit Zitronenblättern Granatapfelkernen Petersilie und Kreuzkümmel füllt um mich (den Kopf in einem wassergefüllten Gefäß den Bauch mit ölgetränktem Leinen umwickelt den Schwanz in Baumwolle gesteckt) in einem Stück zugleich zu kochen zu braten und zu backen

so fintenreich

erledigt man uns hier

schwimme im Euphrat weiter nach Süden wetteifernder Bruder meine kundige Tochter Muna sollte dir etwas über Babylon und Uruk und Ur erzählen die alte Trauer die toten Libellen des Gilgamesch treiben dir auf dem Fluss entgegen aber

das Paradies liegt nun zwischen uns

das Schwemmland in dem ich dir etwas über Hafis berichten würde auch wenn er kein Iraker war

klingelte nicht mein Wecker in zwei Minuten und stellte ich ihn nicht ab bevor er Farida aus dem Schlaf reißt erwache und erhebe dich Tarik und

wandle in die Küche im Pyjama denn das hier ist

Pyjamaland

am Morgen (schieße fröhlich mit der Schrotflinte in die

Decke) nimm deinen Arztkoffer von der Truhe aber

leise

Sabrina

Mit geblähten Segeln

aus dem Himmel fallen

noch einmal war ich am Meer und dachte an ein mögliches Gedicht Montag am Strand (Montagmorgen am Strand? Montag am Meer?)

dein Schiff

Schwester könnte vom Himmel herabsegeln und

leise

auf dem fast glatten noch graublauen Schild des Atlantik vor Anker gehen ich würde hier am Strand auf dich warten zusehen wie du auf einem kleinen Boot herangerudert wirst von

Mamelucken?

ägyptischen oder nubischen Dienern schwarzen Männern jedenfalls mit gewaltigen schwarzen Armen Seidenjäckchen Ohrringen und Turbanen glänzend geschminkten Gesichtern in jeder Pore

Hollywood

wie ich es von Kindesbeinen an vor dem Fernseher einatmete den unermüdlich flackernden Dunst der tausendfachen falschen Dschinns die nie aus ihrem Glas entweichen

(erstickten sie doch am beißenden Sauerstoff

der Wirklichkeit)

du musstest fliehen Schwester du brauchtest

Asyl

aus nie ganz ersichtlichen geheimnisvollen todernsten Gründen und auf ähnlich unterirdische Weise warst du mit mir verwandt eben eine Schwester (im gleichen Alter ein Zwilling aus einem anderen Körper) die an meiner Seite lebte mit mir zur Schule ging jede Mahlzeit mit mir teilte und in meinem Bett schlief der ich wie einem eigenwilligen stolzen mit Goldkettchen Münzschnüren (völlig lautlosen) Glöckchen silbernen Schleiern verhängten Schatten alles was ich tat vormachen und erklären musste in einem unauflöslichen Geflecht aus Lust und Leid (eine auf mich angewiesene Zeugin für alles und jedes zu haben

das immergleiche stumme aber vollkommen deutliche ablehnende Urteil lastete auf mir denn nichts war dir gut genug und nichts konnte dich beeindrucken)

ein ganzes Jahr lang träumte ich von dir

der arabischen Prinzessin

trug dich mit mir herum wir lebten noch alle (Martin Amanda und ich) zusammen in Amherst ich war elf Jahre alt die Paris-Reise lag noch in der Zukunft ich las zu viel und war zu viel allein ich stieß meine besten Freundinnen vor den Kopf mit

deinem Stolz

oder dem Phantom des Stolzes das ich mir von dir lieh für die ich keinen Namen finden

wollte

an deren stummer störrischer schöner Fremdheit ich litt um sie in mich aufzunehmen um etwas Ähnliches in mir wachsen zu lassen vielleicht hattest du fliehen müssen weil du die Nächste warst mit der ein König Schahriyar ihre letzte Nacht verbringen wollte und ich behütete dich ich schützte dein Leben und las und las um in dem Augenblick in dem er uns finden würde vor ihn hinzutreten und ihn aufzufordern die Nacht mit mir zu verbringen und ihn einzuspinnen in das wunderbare

Garn meiner Erzählungen

aber die Ohnmacht der Stolz die arabische Prinzessin

war ich als

die Angst vor der Trennung von Martin und Amanda der Versuch ihnen zu zeigen dass sie mich verletzen würden

mit neunzehn begreifst du das allmählich es ist von heute aus betrachtet fast leicht

dem Meer den Rücken zu kehren (ein besserer Titel für das Gedicht?)

auf das weiße Gebäude zuzugehen das Sommerhaus das dreimal so groß ist wie unser altes Familienhaus in Amherst und cottage heißen muss da hier noch ganz andere Paläste zu Hütten werden eine flache grasbewachsene Düne steigt (wie der fahle Rücken eines mageren afrikanischen Büffels) gegen eine höhere an auf der Hagebuttenhecken mit grellrot leuchtenden Früchten den Weg zu Schlangenlinien zwingen

von dort oben

sehe ich doch noch einmal zurück Richtung Strand in die vergangenen Tage Silber fliegende Gischt hochschäumende Wellen es war heiß und oft stürmisch ein sprühender energischer Noch-einmal-Sommer in der blendend verschleierten Gegenlichtluft bewegten sich die Schemen der Badenden wie in einer fröhlichen Hypnose (sie hören sich nicht sie scheinen keine Absichten mehr zu haben) ich selbst bin im Vordergrund als könnte ich noch weiter im Vordergrund sein und mich beobachten in den schattenhaften wie betäubten Farben ein schlankes (erwachsenes) Mädchen mit rotem (fast grau erscheinenden) Badeanzug mit nassen Haaren erstarrt in einer schwungvollen Geste die langen Arme halb vom Körper gestreckt und mit gedrehter Hüfte als hätte ich gerade einen Frisbee geworfen hin zu

Eric

der mir in den flachen Wellen entgegenkommt lächelnd mit hängenden Armen und ich erschrecke für eine Sekunde als hätte ich wirklich etwas geworfen das ihn verletzen könnte ihn ins Gesicht treffen oder am Hals den ich küsste wir

versteckten uns manchmal

liegend

hinter unseren Badematten vor den herangepeitschten Sandkörnern vor den Blicken lagen wie in einem Strohkorb den ein riesiger Vogel übers Meer trug schließ nur einmal die Augen Eric

während die eilends herbeigerufenen Bauarbeiter (in East Hampton ist eine schwarz verkohlte Garagenruine recht unpassend) den Schutt beseitigten und leise und diskret in der vornehmen letzten Dorfstraße vorm Strand eine neue schmucke Autohütte (Garagenpalast) errichteten

in diesen zwei Wochen in denen nicht mehr nicht weniger geschah als

der sanfte kaum spürbare

Austausch

des Planeten unter unserem Strandstreifen es

fühlt sich so befreiend und beängstigend an es ist aber doch (zunächst) nicht mehr als eine Absicht ein kleiner Ausbruch ich schwänze nur die erste Woche des neuen Semesters

die Erde wird sich nicht verschieben

sagt Eric

du kennst sie doch

verdammt denke ich es hätte geholfen es wäre besser gewesen wenn wir …

aber du schläfst nicht (und ihr wirklich nie? Schwester?) das erste Mal mit einem Freund wenn du gerade

blutest

es hätte nichts geändert gib es zu es wäre nur etwas weniger verrückt etwas weniger romantisch wie dieses wie todsichere Versprechen auf uns selbst auf eine Intensität und gemeinsame Lust die noch nie da war Schwester es ist wenn du aus deinem Schmerz deinem Stolz

herausgehst

aus dem Winkel

in dem du dich verkrochen hast es ist so absurd so schwer zu sehen wenn dieser Winkel doch ein großes helles Zimmer im ersten Stock ist in dem du zwei Jahre lang wie in einem erträumten oft auch traumartigen Exil lebtest mit Blick zum Meer wie ich es mir als Kind oft gewünscht hatte in unseren Ferien in Rockport

immer weiter am Meer

leben zu dürfen

die arabische Prinzessin

kehrte zurück

in mich in dieser Zeit als ich meiner Mutter Amanda folgte mit dreizehn in Seymours Sommerhaus einzog auf Long Island in dem ich alles wunderbar finden sollte das ist Mrs Donally willst du ein Pferd sie kocht wunderbar sie sorgt für dich und dein Pferd wenn wir beide in New York City sind nein rief ich denn ich will ein Kamel so sieht Mrs Donally nämlich aus ich bekomme ein Kamel das ein Pferd kocht

schon einmal aber fand ich die Kraft von hier wegzugehen als ich nämlich wieder zu Martin nach Amherst zog und wieder ruhig wurde und normal nur

ernster

und deshalb kann ich jetzt leichteren Herzens eine Zeitlang hier wohnen in den Ferien oder am Wochenende und ich kann lange Zeit wieder von hier verschwinden also weshalb

macht es mich so nervös ich

gehe nur für zwei Wochen nach Kalifornien ich muss zur Vernunft kommen ich muss etwas finden das mich wieder auf die Erde bringt (nach diesem Urlaub wenigstens) die ich doch

studiere

Muna

Etwa von unserem lautlosen

Luftschiff aus

Schwester getrieben von

Fantasie und davon brauchst du eine Menge wenn du eine Schwester verloren hast über dir in einem Bett mit gespreizten Beinen kalt das fiebrige weiße Blut der Armee empfangend meine klare geordnete überlegene große Schwester Jasmin die mir so viele Briefe schrieb die in meinem Alter schon nach Paris ging um acht Jahre später als diplomierte Chemikerin zurückzukehren als Verlobte eines älteren Mannes der bereits verheiratet war ich wollte einmal

einen Piloten heiraten den ich in Paris sah nicht in der Luft oder am Flughafen sondern auf einem der Märkte auf denen man Arabisch hört fast wie daheim er beachtete mich natürlich nicht ein orientalisches Kind von elf Jahren er streifte mich nicht einmal

mit seiner blauen Uniform

er ist Franzose Schwester Engländer oder Deutscher Franzose es sind ja immer nur Figuren aus Feuer aus Wasser aus Rauch

im Feuer

unserer Geschichte der Pilot sieht hinab auf das ockerfarbene Häusermeer von Bagdad gespalten vom Tigris wie von einer grauen stählernen Schlange die Kuppeln der Moscheen sitzen wie türkisfarbene Muscheln im Staub unaufhaltsam zieht die Maschine in ihre Wahnsinnshöhe hinauf rüttelt wie ein Bus auf einer unsichtbaren holprigen steilen Piste in lichtblauer Wüste

der Pilot dreht den Kopf mit der funkelnden Sonnenbrille er wirft einen Blick durch das Seitenfenster er sieht

(als einen gefährlichen Traum!)

unser Schiff

in der Luft

nur wir beide stünden an der Reling denn der König wäre ausgegangen um junge Männer (von jungen Männern) zerquetschen zu lassen (das Übliche) er sähe uns im Sommerhimmel flirren das silberne Segel die schmalen silbernen Bänder in unseren weißen leichten Kleidern er spürte die Nachgiebigkeit

der Liebe

denn das hätte einmal sein können (oder auch nicht) ich wäre eine Tänzerin

gewesen

im Innenhof einer alten Karawanserei zum Beispiel die man in ein Restaurant verwandelt hätte tanzte ich bis eine Flut von Geldscheinen über meinen kurzen Schleier meine Schultern meine halb entblößten Brüste meinen schwingenden nackten Bauch segelten (die ägyptischen Filme der sechziger Jahre in Videokassetten versiegelt wie in schmalen Särgen im Kleiderschrank von Farida) der Pilot sieht mich jetzt im Himmel fliegen wie am Vortag im Rauch der Wasserpfeifen im Schweiß

meiner Raserei

ich muss doch auch wie meine Schwester sein ich muss doch auch

mich

lösen können ich verschwimme in der Luft (ebenso das Schiff unsere Dau die fiebrige irrlichternde Kontur meiner Schwester) und der Pilot kann jetzt wieder klar sehen die Instrumente (Ladedruckmesser Höhenmesser Fahrtmesser sanft schwappende Blau-Braun-Drehscheibe der künstliche Horizont sagt Sami hatten wir je einen anderen Schwester kreiselnde blinkende flackernde Elektronik Wasser Treibstoff zitternde weiße Zeiger auf schwarzem Grund)

die Libelle sagt Sami dieses weiße Dings das wie eine Banane aussieht

Turn Coordinator

dreh dich zurück Schwester nimm den Piloten aus der Luft die toten Libellen aus dem Fluss lösche das Flugzeug aus dem Himmel

seit zehn Jahren kann es gar nicht sein dass eine Verkehrsmaschine von Bagdad nach Paris fliegt es gibt Bagdad nicht einmal im Flight Simulator morgens um sieben schaukelt Sami mit schläfrigem Blick über einer Landschaft in Italien vor Rom wie er glaubt über sanften Hügeln ohne Häuser ohne Menschen und Bäume als wäre dort alles wie von einer Wut gelöscht oder mit lehmgelber Farbe überpinselt wie die Straßen von Bagdad in jenem

Sturm

der letzte Woche Sandkörner in jede Ritze unseres Hauses trieb als hätte er einfach durch das Glas der Fenster wehen können gestern putzte ich mit Farida die Küche das Bad und jedes Zimmer aber heute Morgen streicht nur noch ein leichter Wind um das Haus das in einem ruhigen safrangelben Licht liegt das alte schiefe plump vergrößerte Haus meines Urgroßvaters in Betawiyn in das wir vor vier Jahren zogen nachdem Tarik für immer mehr Arbeit immer weniger Geld erhielt und auch wenn Jasmin nicht mehr zu uns zurückkehrte nachdem sie aus Paris kam (mit Kasim der drei Jahre für die Scheidung von seiner ersten Frau brauchte obwohl sie schon längst beschlossene Sache und mit dem Kadi geregelt war) sitzen wir hier enger aufeinander als je zuvor

die helle Neubauwohnung hätten wir auch nicht halten können wenn Tarik wie so viele Ärzte Wissenschaftler Dichter Professoren seine Bücher und die unseres Urgroßvaters verkauft hätte

auf einer alten Decke auf der Erde wie ein fliegender Händler

fliege

weiter mein wirrer kluger kleiner Bruder Sami auf dem gebrauchten Computer den Jasmin beisteuern durfte (sonst nichts außer Bücher und Videokassetten für mich) er klappert auf der Tastatur pfeift er träumt vom Studium in Amerika und den Girls dort er fiele tot auf den Rücken sähe er ein Mädchen wie dich Schwester woanders als auf einem Bildschirm

im Bad

wasche ich mir das Gesicht streiche mit nassen Händen über mein Haar wasche die Arme bis zu den Ellbogen die Füße bis zu den Knöcheln ich spreche die Fatiha ich kehre in mein Zimmer zurück sinke zu Boden auf meinen schmalen hellblauen Teppich atme den Wachsgeruch der Dielen ein es hilft manchmal noch manchmal gelingt es mir noch ohne jeden Zwischengedanken zu beten und ich spreche den Thronvers weil ich etwas Großartiges und Beruhigendes möchte etwas das alles auch die Wunde meiner Schwester

(in ihrem Kopf das was sie verändert hat)

verschließt und den Himmel über Bagdad wieder öffnet während wir nur weiter leben und träumen und schlafen

Gott schläft niemals

Schwester für dich ist es noch die Nacht des ersten Tages die Schattenlinie wandert langsam über das zarte Blau und Weiß der Erdkugel es gibt Paris es gibt New York es gibt Bombay und Peking mein Vater Tarik brachte Sami eine CD von einem dankbaren Patienten auf der man sich Städte in Postkartenmotiven ansehen kann vom Boden aus als wäre man dort auf den Straßen ich betrachte das viel lieber als den Flight Simulator über die Schulter meines Bruders der sonst eigentlich geweckt werden muss

von Tarik der morgens zumeist als Erster in der Küche sitzt Tee trinkt und liest oder gar Gedichte schreibt bevor er zur Arbeit geht als könnte er mit Versen heilen

dein Gesicht sagte er einmal zu mir

macht mich gesund

wir frühstücken Farida besteht darauf dass Sami etwas isst wir gehen zu dritt aus dem Haus die Männer unserer Familie mit keinem rede ich über Jasmin aus Furcht sie fänden nichts dabei oder glaubten umgekehrt den (einflussreichen und gefährlichen) Major angreifen zu müssen was für ein Unsinn was denke ich noch ist die Luft halbwegs angenehm in drei Stunden wird es über 40 Grad heiß sein eine verstaubte Palme raschelt im Wind neben einem Telefonmast von dem zerrissene Kabel hängen der Getränkeverkäufer (SevenUp Mirinda Orangen- und Granatapfelsaft) verscheucht einen zerlumpten Jungen von seiner Auslage ich ziehe mein Kopftuch zurecht hebe die Füße über die inmitten der Gasse laufende Abwasserrinne ich brauche nur zehn Minuten nach Norden zu gehen um zur Schule zu kommen an der Nidhal-Straße trenne ich mich von Tarik und Sami seit wir in Betawiyn leben mit seinen verschachtelten alten lehm- und ockerfarbenen Häusern mit den zu Sitzbänken hochgezogenen Türschwellen den engen Gassen dem ineinander verkeilten Leben sind wir tiefer und vollständiger wie neu

eingeboren

in Bagdad

damals aber waren wir modern und hatten ein hohes Einkommen wir gingen in einen Club ich trug einen kurzen weißen Rock brauste auf meinem roten Fahrrad durchs Viertel ich sollte Tennis lernen und wir fuhren mit dem Taxi auf einer glatten endlos langen Piste durch die Wüste zum Flughafen nach Amman und so

kam ich nach Paris mit elf ins Ausland ein

einziges Mal

Martin

Die University Lodge eine Art Garagenmotel auf einem Grashügel Triangle Street die orangefarbene abwehrende Hand der Fußgängerampel ist hier ernst zu nehmen falls es dir dein Leben noch ist aber hier fehlt nur der Überblick über drei seltsam zusammenlaufende Straßen danach geht alles

glatt und gefahrlos zwischen flachen weißen und backsteinroten Shops Cafés Restaurants die Blue Sky Gallery The Toy Box ein Buchladen ein Plattenladen St. Brigid’s Catholic Church mit dem frei stehenden Glockenturm gegenüber dem Unitarian Meetinghouse

morgens um acht

ist es noch still die Busse die schnaubend und unermüdlich die fünf Colleges und die Schlafstätten der Studenten miteinander verbinden sind noch fast leer

man grüßt mich vor der Feuerwehrstation

noch

bin ich nur der nicht mehr unfröhlich geschiedene UMass-Professor Anfang fünfzig und einigermaßen gut erhalten (wiederhergestellt) und wieder

ahnungslos

auf dem letzten Lauf für mehr als ein Jahr

es ist das Alleinsein mit meinen Gedanken meinem Atem dem rhythmisch pulsierenden Kaleidoskop meines Lebens in der Erinnerung das mir das Laufen so wertvoll macht die letzten unbeschwerten unverblümten Gedanken an die glatten Brustwarzen wie große kastanienfarbene Spielzeughütchen an die Kollegin vom Hampshire College (das rauchblaue Haus in der Spring Street) an der üblicherweise belebten aber ebenfalls noch schlafenden wichtigsten Kreuzung des Orts sehe ich stets (mechanisch eigentlich) nach links in die Main Street hinein zu dem Ensemble aus backsteinroter City Hall und granitgrauer Episkopalischer Kirche das mich mit seinen Steinbögen und Burgzinnen an die Modelleisenbahnlandschaften meiner Kindheit erinnert wohingegen die

Jones Library

mit ihrem wundervoll altmodischen Hitchcock-Film-tauglichen Interieur zu so vielen Erlebnissen in Sabrinas frühem Schulalter zurückführt und ich jedes Mal wenn ich das dahinter liegende kleine historische Museum sehe das ich nie betrat (aufwändig gearbeitete Quilts vermutlich und mit Schnitzereien versehene Walfischzähne alte Wetterfahnen in Indianer- und Adlergestalt Heckbretter Spinnräder Flinten Bärenfallen und sorgsam bemalte Gallionsfiguren die unentwegt in die blassen Meere des Vergessens hinter den staubigen Museumsfenstern tauchen in denen wir achtlos vorbeischwimmen) eine einzige Szene vor mir habe gestochen scharf in

glücklicher Panik

als Amanda elf Tage über dem errechneten Termin

eben hier

wankte und zu Boden ging sich auf den Rasenstreifen setzte bis ein freundlicher dicker junger Bankangestellter von gegenüber um die Ecke lief und mit einem Rettungswagen zurückkehrte

vor neunzehn Jahren

kam hier (nur einen Hügel weiter die Klinik hinter den noch sommergrünen Ahornbäumen und Kastanien) Sabrina zur Welt auf Amandas Bauch ihrer

Mayflower

zitternd hob sie das feuchte Köpfchen und suchte unseren Blick mit einem schwarzen magischen unbedingten Ans-Land-Gehen-Wollen und in diesen Minuten vollkommener

Dreieinigkeit

bin ich ebenfalls von Bord gegangen und angekommen zwischen den Green Mountains und den White Mountains den Kühen von Vermont und den Buckelwalen von Nantucket südlich von HISTORIC Deerfield und malerischem Springfield im eifrig Studenten hätschelnden und quälenden Südende von Pioneer Valley hier in dieser Universitätsstadt in deren Zentrum es ab vier Uhr nachmittags so aussieht als würde man sämtlichen Bewohnern das wirksamste Elixier ewiger Jugend über die Trinkwasserversorgung einflößen abgesehen nur von einigen Alibi-Erwachsenen im besseren Alter und seltsam gefälscht wirkenden Kleinkindern hier kam ich an

wenigstens mit allem was ich liebte und meinem besseren erwachsenen Leben zurechnen konnte meiner Vernunft und der Faszination daran dass ich mit Sabrina nun

endgültig

zur Hälfte in Amerika beheimatet war

zu zwei Dritteln vielmehr denn Amanda war damals noch lebendiges Zuhause ihr sehniger Hals der Schweiß zwischen ihren Schlüsselbeinansätzen ihr selbst nach vierstündigen Wehen noch glattes kühl wirkendes silberblondes Haar das frische helle Meer in ihren Augen eine morgendliche See schon immer hatte sie diese maritime Ausstrahlung für mich du denkst unwillkürlich an einen klaren Tag an trockene Salzkristalle frischen Bootslack gewachste Seile poliertes Teakholz gescheuertes Messing weiße Segeltuchschuhe an die Klarheit und Energie einer Küstenregion wie an den Stränden von Cape Cod oder

auf jenem scheußlichen Long Island eben

wir hätten vielleicht am Meer wohnen sollen nicht nur einige Sommerferien im Haus eines Kollegen in Rockport verbringen aber das ist nur ein besserwisserischer Gedanke aus einer schlechteren Zukunft die wie ein zerfledderter Rabe hinabsieht auf Amanda in Jeans und T-Shirt die Fensterrahmen lackierend die Blumentöpfe auf die Porch schleppend Sabrinas Fahrrad über den Rasen schiebend unter ein Sonnensegel zwischen Garage und südlicher Hauswand das sie selbst zugeschnitten und gespannt hat mit Gartenschere und Strohhut zwischen phosphorgelb glühenden Hecken mit einer grünen BBQ-Schürze und Grillzange zwischen meinen Lehrerkollegen perfekt

falsch

in jedem Bild als hätte sie eine penible Künstlerin (Sabrina als Zehnjährige) aus einem der nie publizierten großen Fotokataloge des Lebens geschnitten als fehlte sie plötzlich auf einer Yacht vor Rhode Island in einem Restaurant auf der Upper West Side bei einem Geschäftsessen in der heimatlichen Kulisse von Palo Alto (die schrecklich genauen Schattenrisse ihrer Abwesenheit) als wäre sie aus dem ihr bestimmten Rahmen herausgetrennt und willkürlich oder gar mit einem gewissen Sadismus unter die Laubkronen auf die Holzveranden vor die Sportanlagen und in die Bibliotheken und Unterrichtsräume der überall auf diese Hügel und grünen Täler verstreuten kleinen Highschools montiert um sie

zu prüfen vielleicht

einer jahrelangen selbstquälerischen Prozedur zu unterwerfen an deren Ende sie immerhin herausbekam wofür sie gemacht war (Küste Stadt Gesellschaft Geschäft) sie die mir zugeredet hatte New York City zu verlassen mit unserem noch ungeborenen Kind aus der Überzeugung heraus dass Neuengland das Richtige wäre dass eine Kalifornierin und ein Norddeutscher sich am besten in jenem weißen und grünen roten und goldenen Ur-Amerika der WASPs niederlassen würden in dem die Puritaner landeten die Winchester erfunden Cambridge und Berlin wiedererbaut der Kabeljau und die höheren Rekruten gefangen die besten Denker und Preiselbeeren gezüchtet die Präsidenten und die Ökofreaks gezogen die Hexen verbrannt die ersten großen Romane und schönsten Gedichte des Landes geschrieben worden waren erinnerst du dich an Woodstock

für mich

für Sabrina (vielleicht)

hatte Amanda recht

selbst hier noch im Wald zwischen 17 000 Einwohnern und 30 000 Studenten

BIS JETZT

in meiner Seifenblase noch intakter Gegenwart in der ich hinauslaufe

westwärts

zum Stadion und zu den Sportanlagen der University of Massachusetts um die ich meine zwei Runden drehe bevor ich wieder Frank Morgans Gartenzaun entlanglaufe die weißen hohen Latten in deren jetzt abwärts flackerndem Raster ich die Standbilder meines Lebens sehen könnte oder nur eine

weiße Wand

weiße Landkarte

Blutflecken auf dem weißen Land die vernichteten Indianerstämme die jahrzehntelang attackierten Siedlerdörfer (Sabrina mit acht oder neun Jahren im Heimatmuseum von Deerfield ungläubig vor der schweren Holztür des so genannten Indian House stehend in deren Mitte zahlreiche Axthiebe die unvergessene Narbe des Indianerangriffs von 1704 hinterlassen hatten ein faustgroßes Auge der Rückblick auf

unerbittliche Kämpfe

unerbittliche

Erinnerungen die Tür

in einer Vitrine

kann nicht mehr geöffnet werden) es gibt kein Weiß in der Geschichte es gibt immer nur ein Ausblenden oder Verengen Kaschieren des Blicks durchaus auch beim Tiefergehen Sich-Vertiefen in die relative Unschuld des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ich kam auf Goethe als ich Amanda verlor als sie nach New York City zurückging in das ich einmal aufgebrochen war um radikal im späten 20. Jahrhundert zu leben ein Großstadtleben zu führen aus dem sie mich gelockt hatte (Sabrinas wegen und in der Vorspiegelung einer Familienidylle die sie selbst energischer als jeder andere zu glauben versuchte) um mich dann (kurz nach unserer Rückkehr aus Paris nach jener unseligen unsinnigen Reise zu dritt) in den Hügeln von West-Massachusetts sitzen zu lassen zu versenken wie in der Schlammzeit der

mud season

in der eine mit Ästen und Wurzeln gespickte graue Pampe die Wälder füllt als gäre etwas darin (der schmutzige Gedankenbrei einer künftigen Katastrophe)

nach dem eisigen Frühling in Paris sank ich ins 18. Jahrhundert zurück es war Zufall nicht Amandas nicht meine Absicht ich folgte dem Sarg meines vierundsechzig Jahre zuvor in Wien geborenen Kollegen Sigi Ramsauer eines famosen Klopstock-Goethe-Schiller-Herder-Hegel-Hölderlin-Mannes der nun sanglos dahinging in einem gemeinen beerdigungsüblichen Nieselregen der gegen meine honigfarben getönte Glasglocke (die Erweiterung meiner Sonnenbrille um meinen gesamten Körper herum den Skaphander aus Restalkohol und Guten-Morgen-Drink) tröpfelte ohne mich weiter zu stören ohne mich wirklich erreichen zu können hinter meiner Schutzhülle die aber dann doch

durchbrochen wurde so unmittelbar als hätte sie nie existiert und als würde ich nur dämlich angetrunken hinter einer Sonnenbrille meine geschwollenen Tränensäcke verstecken in schnöder Trauer-Camouflage

die feiste kräftige Hand des Dekans der UMass ging einfach hindurch (ich sah plötzlich die feinen Regentröpfchen auf meinem eigenen Anzug wie die Haut einer schwarzen Kobra) das rosige Gesicht glänzte vor mir auf er verstand sofort alles was willst du ihm schon vormachen seine Urahnen kauften tonnenweise Melasse auf den Westindischen Inseln brannten Rum daraus den sie nach Afrika gegen Sklaven verkauften die sie wiederum gegen Melasse tauschten der

Dekan lächelte im Regen (im Auftrag des Toten wie ich später erfuhr)

er sprach von den Fußstapfen die sich mit gelbem Wasser füllten während der Schlamm unter unseren Absätzen schmatzte wie in den Straßen des 18. Jahrhunderts in das ich mit seinem Händedruck versank als wäre unterhalb des Schlamms aus Whiskey und Selbstmitleid eine Schicht oder Sphäre einer blässeren ruhigeren sanften in gedämpften Farbtönen gehaltenen mit schwächeren Stimmen flüsternden Welt geisterhaft leichter Bewegungen die

Vergangenheit

die mir bislang regungslos und unzugänglich erschienen war jenes noch friedliche schwache noch träumende noch nachdenkliche Deutschland der Klein- und Kleinststaaten leidlich gequetscht zwischen dem zynischen schwulen preußischen Stiefel und den herzlichhochkatholischen Eisentitten der habsburgerischen Mutter jenes pfeifenrauchende Besinnungsdeutschland das erst mit dem harten Fall und Schnitt der Guillotine erwachen musste wurde für mich zu einem überschaubaren Expeditionsraum ich fand mich indem ich immer mehr darin verlorenging und etwas von der knorrigen Ruhe des alten toten Sigi Ramsauer überkam mich bisweilen eine Art Frühverholzung aus der ich langsam wieder Blätter trieb

die Vergangenheit ist erstaunlich

gesund

sagte der Dekan und strahlte als hätte sich gleich auch das Deutschland Wilhelm des II. und gar noch Hitlers und Goebbels’ zurückverwandelt in seine freundliche verworrene genialische Pubertät

nach den Jahren am Amherst College half mir die alltägliche Gegenwart der UMass ganz in die Wirklichkeit zurück eine große fette gewöhnliche Straßenkatze die auf einem flachen Hügel liegt einige massive Bürotürme ein trauriger künstlicher See die alte Kapelle das betonklotzige Fine Arts Center und die frischen Durchblicke auf die Wälder der Umgebung ich las

über Hölderlin und Goethe reiste nach Frankfurt und Weimar publizierte wieder erhielt Einladungen zu Vorträgen schrieb nicht Goethes Lieben sondern Goethe lieben auf Luisas Vorschlag hin

denk nicht über die Frauen hinweg sondern aus ihnen heraus gib ihnen deine Stimme einmal wolltest du doch Schriftsteller werden wirf die Fußnoten in den Papierkorb und sprich mit mir wenn du glaubst du bräuchtest Auskünfte vom anderen Planeten auf deinem Kopfkissen und so begann alles neu das Spiel mit

den Frauen dem Leben der Zeit

gegen die Scham oder Beschämung weibliche Stimmen anzunehmen gegen die mächtige Hypnose des 20. Jahrhunderts gegen die Furcht vor der freien ungeschützten narrativen (irgendwie femininen?) Sprache gegen den (männlichen?) Whiskey

schließlich hast du eine Tochter aufgezogen du weißt wie ein weiblicher Mensch groß wird (prinzipiell und in einem Beispiel wenigstens) und was eine Frau ist (die Professorin legt mir die warmen Fersen auf den Rücken)

Amerika kam zu sich

in den Zeiten von Goethes Lieben

stell dir Krawalle in Boston vor mit Friederike aus Straßburg (eine quicklebendige Pfarrerstochter schleppt ein Transparent in einer Wolke aus Tränengas Stop Bush’s War!) komm zur Tea-Party mit Lotte die das Brot schneidet im Kreise ihrer Geschwister (flieh bevor sie das Messer auf dich richtet) in einem Continental-Congress-Hotel in Philadelphia die Affäre mit Lili aus der Banker-Familie sie wendet sich dir offen und frei zu und bedroht dich mit einem ganzen Leben

also mach dich davon im Jahr der Unabhängigkeit nach Washington/Weimar zur blassen Frau von Stein der Hofdame die mit dreiunddreißig schon sieben Kinder geboren und fortgegeben hat und nun statt derer dich säugt mit ihrer blassen Milch ohne je von dir erfüllt zu werden umgeht sie dich dann höflich nach fünfzig Jahren Bekanntschaft mit ihrem Leichenzug einmal entliefst du ihr nach Italien um endlich (mit siebenunddreißig) die Jungmannschaft zu verlieren und auf den Geschmack der Jungen Schönen Derben Zupackenden zu kommen zehn Jahre nach der Unabhängigkeit wirklicher Krieg und wirklicher Frieden mit Christiane bis zum nächsten Krieg

es gibt eine Dorothy im Grass Root Kindergarten (University of Massachusetts Child Care) die dreimal pro Woche den Herrn Professor verschämt und zufrieden anlächelt als wäre die Arbeit an ihrer sommersprossigen Statue die Ursache seiner keuchenden Erhitzung im Spiel sein heißt immer auch die Fähigkeit zu anderen Spielen in sich zu spüren zwei Jahre lang (in den Schlammjahren aus denen mich der Dekan zog indem er mich im Campuspond der UMass versenkte) sah ich die Frauen gar nicht mehr an mit sechsundvierzig und siebenundvierzig hatte ich abgedankt bis ich mit einem Schlag nüchtern wurde und wieder so lebensfroh und gesellig dass Sabrina zu mir zog um doch in Amherst und nicht auf Long Island ihren Highschool-Abschluss zu machen

Suleika kommt Jussuph niemals näher wir sind

(glücklicherweise)

nicht Goethe und Marianne wir können so viel quälend Besonderes weniger und so viel glücklich Gewöhnliches mehr (Luisa groß und ruhig zwischen ihren hechelnden Studenten spanische Grammatik und lateinamerikanische Prosa erklärend Tapas und Fino auf der Porch sie drängelt mich mit den Knien hinaus als Sabrina mit David ankommt steuert meinen Ford vier Straßen weiter wir haben es eiliger als die Jungen wir sind denke ich viel stärker und deutlicher d a)

der Sultan wider Willen fürchtete die Frauen ebenso sehr wie er sie brauchte kam er deshalb auf den Orient (stickige Patriarchenluft in den Männercafés)

ich laufe im Tempo einer mäßig vorankommenden Pferdekutsche das Deutschland des Jahres 1815 wird erst in 130 Jahren und nur mit Hilfe der Vereinigten Staaten eine haltbare Demokratie entwickeln auf den Leichenfeldern zweier Kriege die vielleicht sogar für Napoleon Bonaparte unvorstellbar gewesen wären der nun gerade seine letzte Schlacht geschlagen hat mit dessen Ehrenlegionsorden sich der Alte schmückt wenn er am Nachmittag im Frack auftaucht um gesellschaftlich aufzutauen auf der Gerbermühle bei Oberrad am Main er ist gerade in den Orden der verrückten Hofräte aufgenommen worden ob orientalismum occidentalem er sieht von seinem Westfenster im Eckzimmer der alten Mühle über den Main nach Frankfurt hin keucht dann die Stiege herunter 66 Jahre alt zahnlos aber wieder schlanker nach vorn gebeugt die beinahe schwarzen Augen der in den Winkeln sinnlich geschwungene an der Oberlippe eingefallene Mund er bekommt einen Turban aus indischem Musselin zwei Körbe mit exotischen Früchten ein Feldblumenkränzchen mit Versen von Hafis und liest später am Abend aus dem eigenen Diwan lächelt und erschrickt über Mariannes Bajaderenlied (der Flammentod ich trage dich auf Armen aus Feuer in den Himmel die Stoffe die einen menschlichen Körper tausendmal schneller als Zunder in eine Flamme verwandeln

kommen erst noch)

beginnt nun bald den lyrischen Dialog mit dem Schauspielerinnenkind der kleinen drallen jetzt dreißigjährigen angeheirateten Ex-Adoptivtochter umsichtig bewirtet vom schöngeistig verworrenen Ex-Bankier und Ehemann

Suleika

Allgegenwärtige, gleich erkenn ich dich

überlebt

und wenn ich Allahs Namenhundert nenne

als Marianne

mit jedem klingt ein Name nach für dich

als fideles altes Frauchen immer noch (aber nie wieder auf Suleikas Höhe) dichtend auf der Gitarre klimpernd (die sie beherrschte nichts ist leicht sagt Sabrina) vor einem Jahr noch saß ich mit Sabrina und Luisa unter einer Kastanie vor der ahistorisch und schmucklos wiedererbauten Gerbermühle die Verhältnisse mit Frauen allein könnten doch das Leben nicht ausfüllen sagte der Alte auf der Kutschfahrt nach Heidelberg sie führten zu ausufernden Verwicklungen zu Qualen und Leiden oder zur vollkommenen Leere schließlich

all diese Pseudo-Nonnen mütterlich Frigiden bauernmagdhaft Derben oder pueril Künstlichen stets auf der Flucht vor der gleichwertigen Partnerin

aus Feigheit sagt Luisa aus Feigheit und Klugheit sage ich wie willst du Goethe werden wenn du bereits 1774 Lili Schönemann heiraten müsstest

im langsamen Pferdekutschentempo umrunde ich die Sportanlagen die noch völlig verwaist in der Morgenluft ruhen und im Sommer erst am Nachmittag zum Leben erwachen dann aber auf eine so geballte und energische Art mit Hunderten von Football und Baseball Spielenden eine Wiese nach der anderen (Männer- und Frauenmannschaften getrennt) füllend so dass man erschrecken könnte aber es ist doch so bei allen großen athletischen Stätten (die mich deshalb schon immer abgestoßen haben und zwar in jedem Land) und wir mobilisieren hier doch für Bildung und Erziehung we live in the heart of America’s education state we stand for freedom and enlightment, social justice and personal responsibility this is where liberal arts education started — and where it’s going this is

Massachusetts

im zügigeren Pferdekutschentempo werde ich überholt von einem Modellathleten mit Pferdeschwanz und nacktem Oberkörper ich höre die eisenbeschlagenen Räder auf dem hellen trockenen Asphalt Bagdad ist noch weit (die dunstige dröhnende sechsspurige Raschid-Straße verstopft mit Hunderten unwillig im Schritt fahrender rostiger verbeulter Autos in die Strommitte einscherenden roten Doppeldecker-Bussen kreuz und quer laufenden Fußgängern auf den Bürgersteigen türmen sich Teppichrollen Möbel Haushaltsgeräte Töpferwaren Kleiderkartons Wasser- und Eisverkäufer schreien und Frauen eilen vorbei mit weißen Kopftüchern und Baumwollkleidern oder in Jeans und Pullover oder verhüllt in schwarze Abayas) die Kutsche braucht kein Benzin im Jahre 1815 brennt die Öllampe noch mit dem Fett der Walfische die erst das Petroleum retten wird bei Kirkuk schlägt Feuer aus der Erde noch fast ungenutzt zwischen den grasenden Schafsherden öffnen sich die glühenden Feueröfen der Bibel in die Nebukadnezar Gefangene werfen ließ

die Schmetterlinge der toten Frauen umgeistern mich

die Flamme des Hafis lockt sie an

ich spüre nichts ich laufe ich bin inmitten meiner Zeit

wie

im Schlaf

Tarik

Über Hafis

kann ich einiges erzählen aber es wird mir gar nicht schön gelingen es ist

wie eine falsche oder gefälschte

Verschränkung von Zeit und Raum (wir sind jede Fälschung gewohnt wir lesen Orwell als Gebrauchsanweisung für den Fernsehapparat und als Wegweiser zum Kindergarten) die poetischen Höhenflüge und die besten Absichten landen und versinken in den Sümpfen des Marschlands in dem sich der Tigris in schweren Träumen verzettelt so gewunden und verworren wie du selbst im Schilf und Sumpfgras deiner Überlegungen begreifst dass du einmal deinen Staat dein ganzes Land erfassen und bewerten musst auch wenn du das nie wolltest in meinem

einzigen und wirklichen Leben

geriet ich tatsächlich einmal in die Sümpfe aber besser wir treffen uns im Vorgriff auf den Raum doch gleich weiter südlich im Paradies bei Al-Qurnah wo Euphrat und Tigris eins werden im Garten Eden als hätte der alte Fisch bei Bagdad den Köchen Grillmeistern Bäckern entrinnen können

durch einen 1000-Kilometer-Flug (genießen wir den Blick hinüber auf die grandiose Faltung des Zagros-Gebirges)

Fisch fliegt weit im Irak

wenn die Granaten einschlagen oder hundert Kilogramm fetter Gittan nebst Leibkoch sich die PRÄSIDENTENMASCHINE nimmt um nach Paris zu eilen wo man ihn flankiert von sonnenbebrillten Leibwächtern über dem offenen Feuer einer Nobelhotelküche nach original irakischer Art für den französischen PRÄSIDENTEN schmort in der Begeisterung darüber dass er unserem NOCHSTELLVERTRETER (Nebukadnezars Timurs Napoleons Hitlers und Stalins auf Erden) einen kleinen Atomreaktor zu unbedingt nur friedlichen Zwecken verkaufte

wie zwanzig Jahre zuvor an die israelischen Freunde die fünf Jahre nach dem Pariser Fischgrillfest den schönen neuen irakischen Reaktor in die Luft jagten aber

das ist lange her wiederum zwanzig Jahre die natürlich nichts bedeuten in der blutigen pulsierenden Lawine der Menschenzeit seit

Adam

in Al-Qurnah steht sein Baum hier kann man uns alte Fische zugleich aus dem Tigris und dem Euphrat ziehen aus der trägen Spiegelfläche des Zusammenflusses über die pechschwarze Kähne gleiten mit fünfzackigen Speeren Dynamitstangen oder Handgranaten fischt man hier da fliegen wir also im günstigen Falle am Stück zum Baum hinüber einem starr und schief stehenden blattlosen verdorrten Halbriesen eingeschnürt von Steinplatten vom Satan fälschlicherweise als endlose Herrschaft bringend gepriesen und doch die Erkenntnis verschaffend die Vertreibung bringend die Blendung am Jüngsten Tag droht seither allen die unsterbliche Herrschaft anstreben (Saddam mein Folter-Freund: das Gluteisen des Engels!)

der gestorbene Baum der Unsterblichkeit einmal war er grün er war schlangenlos im Koran und die Frau verführte nicht sondern aß einfach mit

ohne dass wir wissen ob sich die REDE hier wie ein Gentleman verhält oder Eva auch hier schon nichts zu sagen hatte

er war vielleicht grün in arabischer Doppeldeutigkeit Dreifachbödigkeit bei uns mein Bruder gibt es immer etwas zwischen Wahr und Falsch und das ist dann eine Geschichte

Kan ya ma kan … Es war und es war nicht …

eine Geschichte wie die unseres Lebens in dem die Unsterblichkeit erst unauffällig dann aber mit lautem Türknall verschwindet

der Baum war einmal grün und so kann Schahrasad die Geschichte vom jüngsten Kaufmannssohn und der belesenen Kindergärtnerin erzählen

Farida

hebt das Gesicht im heißen staubigen Frühling in Bagdad unverschleiert zwanzigjährig

die Braue sticht ins Herz

Jahre in der Morgenröte

heftige stille sich in den Unterarm beißende Paradiese die nach Moschus und Orangen duften wie soll ich es sagen mein Bruder ich zerschnitt meine erste Leiche im Anatomiesaal und wurde zur Hälfte religiös denn die Ehe sagt der Prophet ist die halbe Religion (er selbst war also mindestens sechsfach gläubig) ich geriet in jene bedingungslose Haft die meine einzige und größte Befreiung war

Bestimmung

Dein Schlaf ließ meinen Atem stocken,

Sacht umfasst ich deine Wangen,

Als die Schellen deiner Locken

Sich um meine Hände schlangen.

Lebenslang war ich gefangen,

Sterbenslang nur noch allein.

Denn in jedem Paradiese

Werden wir zusammensein.

natürlich ist das Kitsch aber ich war viele Monate einsam wie ein Hund in Baracken Kasernen Militärhospitälern doch im Nachhinein erscheint mir die erste Zeit in Paris am schlimmsten das Jahr ohne Farida als ich in einem winzigen Zimmer mit Hussein lebte und mit den Sprachen kämpfte das sternenweit überlegene Akademiegenäsel der Hörsäle mein verzweifelt und zerrauft mit Rotz in der Nase den schnellen blauen Leuten auf der Straße hinterherrennendes Petit-Larousse-Gestammel das winzige und doch imperiale Uhrwerk-Latein der Anatomieatlanten die ersten Fachartikel auf Englisch das mir nüchtern und beruhigend erschien wie eine mit Palmseife gewaschene Kinderfrau mein Arabisch verwehte tagsüber wie ein in den Sand gezeichnetes Ornament und kehrte doch machtvoll in meinen Träumen zurück zwischen Husseins Ölfarbengespenstern (brennende Dali’sche Kamele unter dem Eiffelturm Herrscherporträts mit madenzerfressenen Gesichtern)

wiederum im Frühling kam Farida nach Paris nachdem ich eine Wohnung im 20. Arrondissement gefunden hatte um dort der dünne Iraki zu werden der mit seiner hübschen dünnen Frau zwischen dünnen Wänden phlegmatischen Senegalesen erektionsgeplagten Marokkanern und algerischen Großfamilien mit Ohrstöpseln Physiologie paukte

die Welt stand Kopf

kaum waren wir wieder zusammen wir gerieten in eine von Wasserwerfern zersprühte Demonstration wir standen vor dem von Studenten verbarrikadierten Quartier Latin als um zwei Uhr morgens die Polizei angriff mit unserer arabischen Angst jetzt würde dort gleich scharf geschossen wir übertrieben vieles und nahmen anderes zu leicht unsere politischen Waagen hatten die Eichung verloren aus der Ferne erschien die Baath-Revolution fast wie ein Ereignis vor der Sorbonne oder in Berkeley oder Berlin dabei hätten wir doch besser wissen sollen dass bei uns daheim anders abgerechnet wurde

in unserem Blütenfrühling

im Rahmen unseres tiefer liegenden machtlosen innigeren Lebens sind wir auch früher schon

gewarnt und gezeichnet worden

als ich siebzehn war

so alt wie Muna jetzt unendlich weit entfernt käme es mir vor könnte ich heute meine ernst und komisch würdig sich aus der Kindheit schälende Jungengestalt dort sehen zwischen den alten Männern in ihren Dischdaschas vor einem Fernsehapparat in einem nachtblauen Café an der Raschid-Straße auf dem Monitor setzt man die Leiche des Präsidenten auf einen Stuhl jedes Einschussloch wird herangezoomt und gefeiert ein Soldat packt den Kopf an den Haaren und spuckt in das tote Gesicht das einmal auf rote und blaue Luftballons aufgemalt hoch vom Himmel herab zu uns Kindern gesegelt war das Gesicht des Der-Irak-zuerst-Mannes

Abd al-Karim Qasim

die alten Männer

verzogen keine Miene ich sah die regungslosen Falten der Stirn der Wangen des Halses meines Großvaters als hätte er sich in ein ausgestopftes Kamel verwandelt hochmütig und grausam infolge des jahrzehntelangen Studiums der Schriften in seinem Haus dachte ich aber er hatte sich nur schon seit langem geschützt mit einem ledernen Einband selbst das Gesicht war verschlossen wie mit einer Patte wie der Schnitt der alten Koranexemplare aus Afrika die er besaß es ging darum sich der Furcht zu entziehen nicht auf den Schrecken zu reagieren sich dem

Theater der Grausamkeit

nicht zu beugen sei es im Schwarzweiß der Elektronenröhren inszeniert sei es im Blutrotocker der unglaublichen Wirklichkeit

die Erhängten auf dem Tahrir-Platz

sahen wir Jahre später in einer Pariser Vorstellung in den gleichen verwackelten fehlfarbenen Handkamerabildern wie die Kriegsaufnahmen aus Kambodscha in einem Schaufenster bei der Gare de Lyon flankiert von Monitoren auf denen Asterix der Gallier kämpfte als befände sich unser Land auf einem lichtschwachen Witz-Planeten auf dem noch wirklich gestorben wurde weshalb man ihn nicht so deutlich zeigte etwa die comichaft unglaubwürdig in die Länge gezogenen Hälse der selbstredend zionistischen Verschwörer die Brücke tauchte auf über die wir ungezählte Male zum Platz der Befreiung gegangen waren angeblich sollten sich Zehntausende versammelt haben vom Radio aufgerufen mit Bussen herangekarrt um das Fest zu genießen

nur der Auftakt behauptete Ali nur einige spektakuläre Picknick-Morde fürs Volk was wir nicht sehen ist viel schlimmer Ali dessen vornehmer Pharaonenkopf auf dem hageren Torso eines Mittzwanzigjährigen in T-Shirt und Levis-Jeans irgendwie tröstlich wirkt als könnte man alle möglichen Zeiten miteinander versöhnen und anfassen wie einen Freund seit 1968 regierte die PARTEI und es gab

Bildschleier und

Wortschleier

Instrument der Sehnsucht Amt für Öffentlichkeitsarbeit Spezieller Dienst der Tod hatte einen Palast errichtet in unserem Land der für die Wollust die Protzigkeit den ornamentalen Luxus die Prasserei und Maßlosigkeit des Mordens stand

Schleier des Vergessens des Unglaubens der Sehnsucht der Hoffnung des blinden Muts

immer wieder muss ich mir erklären wie wir

nach sieben Jahren Paris (vier Jahre nach jenen Lynchmorden)

im Sommer 1974 an den Flughafen Orly fahren konnten um die Heimreise anzutreten

Farida im sechsten Monat mit einem abgewetzten Lederkoffer in der Hand in einem blauen Mantel eine weiße Spange im Haar 25 Jahre alt so seltsam

unangreifbar vollkommen ruhig

so zuversichtlich dass uns nie etwas geschehen würde (uns dreien) es war ja auch so ich kann es nicht begründen es war nur die blödsinnige noch unangetastete in unglaublichem Leichtsinn auf die eigenen Kräfte vertrauende Weltgewissheit von Ahnungslosen mit noch nicht einmal dreißig Lebensjahren das dürre Tarik-Ich frisch approbiert wie sein Kindheitsfreund Ali der als Kinderarzt arbeiten wollte und zwar gleichfalls in Bagdad es war (zwischen den lärmenden Kindern den noch pariserisch aufgemachten irakischen Frauen den Pyramiden von Koffern Paketen zusammengeschnürten und wie Folteropfer mit Plastikfolie und Klebebändern unkenntlich gemachten nein bloß aufprallgeschützten Bündeln mit kostbaren Fundstücken der Beutezüge in Supermärkten Elektrogeschäften Einrichtungshäusern) die Zeit des schwarz aus der Erde schießenden Geldes der heroisch verstaatlichten Ölindustrie dem großen Lotteriegewinn des OPEC-Boykotts der modernen Wohnblocks Autobahnen Schulen Kindergärten Krankenhäuser schönen Panzern aus der UdSSR überall im Irak man wollte

glauben

dass es ein wenig Lügezensurfoltermord gegeben hatte vorübergehend das Bild trübend die Aussicht verzerrend aber der Weg stimmte

vielleicht

in Richtung auf ein Land das die Kolonisation abgeschüttelt die Selbstlähmung überwunden eine Position zwischen Ost und West gefunden hatte sozialistisch-arabisch-kurdisch-sunnitisch-schiitisch alles ausgewogen zermahlen zur Puderung der

Parteigenossen

es würde sich rezivilisieren weil es die älteste der Zivilisationen schon in sich trug und das Rad und die Schrift erfunden hatte es würde ganz eigen und doch auch wie Frankreich sein und dieselbe Binnenzivilisiertheit (vergiss Algerien) vorweisen die wir hatten erleben dürfen das Kind in Munas Bauch würde einmal in Paris studieren (treffende irre Gewissheit) um Auslandserfahrung zu erwerben vielleicht nur für ein Jahr

wenn ich

Gründe Argumente Anhaltspunkte im Gewirr der Menge vor dem Check-in-Schalter finden muss über dem Bagdad steht in einer Alltäglichkeit die einmal so unvorstellbar sein wird wie der blöde Stolz der Ali und mich zu strahlenden heimkehrenden Jungärzten machte so waren es einfache starke Gründe ohne Fragen die uns zurückführten wo wir hergekommen waren mein Land meine Heimatstadt meine gebrechlichen Eltern Faridas Land Faridas Heimatstadt ihr verwitweter Vater die Gräber all ihrer Verwandten bei Nadschaf und Kerbela und die Zuversicht meiner eigenen Propheten die in billigen Wintermänteln vor mir standen

Ali der mit mir zusammen heimkehrte war der Einzige der sich wirklich für Politik interessierte sich nächtelang mit Nasseristen Kommunisten Baathisten gestritten hatte

Hussein der sich entschieden hatte bei seiner französischen Frau zu bleiben in der Stadt die für Maler alles (alle Oberflächen) bot war so einfach zu verstehen dass die Trennung ganz natürlich wirkte natürlicher jedenfalls als hätten wir alle drei die gleiche Maschine zurück genommen

wir schnallten uns an man stellte das Rauchen ein ich fragte mich noch ohne Nachdruck und wirkliche Sorge ob vielleicht eines der Bücher die ich zwischen meinen Kleidern deponiert hatte eine Gefahr darstellte (ich hatte die Antwort und habe sie noch heute: Ich wollte Arzt im Irak sein und nirgendwo sonst)

und sah schon als hätte der Flug kaum eine Stunde gedauert den von zahllosen Lichtbrillanten durchsetzten Rauchschleier der Dämmerung über Bagdad

Sabrina

Keine Wolke

beim Blick aus dem Fenster der Tag schwebt

zur See hin das Haus als

bewegte es sich mit mir als bräuchte ich nirgendwohin zu gehen um anzukommen Eric

denke ich

müsste nur hier bei mir wohnen und ich könnte auch in East Hampton bleiben Jahr für Jahr als was wäre mir egal so aber packe ich den blauen Rucksack den ich zusammen mit Martin in einem Outdoor-Laden bei Springfield gekauft habe bevor wir nach Europa flogen der Staub von Berlin Frankfurt München Florenz Rom haftet noch außen an seinen Kunststoffporen ich brauche nur Sommerbekleidung für zwei Wochen für

das Leben

in Kalifornien einen Pullover vielleicht den ich mir von Amanda leihen kann schon stehe ich vor ihrem großen Kleiderschrank mit den weißen Schiebetüren wie vor der Garderobe einer Schauspielerin und sehe meine Mutter in ihren rasch und wie übergangslos wechselnden Rollen

so nah plötzlich

dass es mir möglich erscheint selbst in ihre Haut zu schlüpfen und in ihrer härteren ernsteren funkelnden Welt zu bestehen es ist eine Illusion ich höre sofort ihre gesenkte nicht einmal unfreundliche eher schon gelangweilte Stimme (geh — halt dich gerade — steh nicht immer in der Ecke — entspann dich und mach den Mund auf) ich komme nie so weit in mir

nach vorne als

könnte man in sich wie in diesem Sommerhaus ganz nah an die Fensterfläche treten ins Licht

etwas

von der Energie die Amanda federleicht von einer Rolle in die andere bringt ist in mir ich werde es vielleicht doch noch lernen wach zu sein mitten am Tag (wie sie es immer von mir verlangt) ich könnte mir das Geld für die Reise aus dem geheimen Fach in der Küche nehmen und einen Zettel schreiben aber ich will sie direkt bitten ich will es durchstehen dass sie mir vorwirft die erste Uni-Woche zu verpassen bleibt es

wird sie mich fragen (blaues Kostüm gestärkte Bluse weiße Perlenkette perfekt frisiertes Haar)

bei zwei Wochen Los Angeles

denn das ist meine eigene Frage seit sie mit ihrem Sportwagen die Garage der Nachbarn von gegenüber gesprengt hat (ausgerechnet die eines höheren Polizeibeamten) ob die Sache nicht viel ernster werden könnte ich halte ein physikalisches Lehrbuch in den Händen vor dem geöffneten Rucksack ich muss mir ernste Gedanken machen es ist ja auch das was ich am MIT gesucht habe diese andere Entschlossenheit (keine Designerkostüme und Nadelstreifenanzüge aber auch keine energisch auf ihren schwarzen Drahteseln strampelnden Professoren in senffarbenen Cordjacketts mit Ledertaschen voller Bücher) die Erde verstehen als geophysikalisches System als Klimasystem als Planeten im Weltall

die grundlose Bläue über dem Strand

als Ort der Auseinandersetzung von Atmosphäre Festland und Ozean höre lies Geophysik Geochemie ich muss Differentialgleichungen II belegen und Nichtlineare Dynamik I: Chaos und mich anmelden für die Exkursion im Spätjahr

das Physikbuch sinkt wieder auf den Tisch und mit der Erleichterung kommen sofort die Skrupel auf ich muss

mich lösen das ist nur ein Urlaub und eine Liebe und eine

Frage

wie es begonnen hat mit National-Geographic-Magazinen mit zunehmend schwerleibigeren Büchern (Schnitte durch das Tortenprofil der Erdkruste Reliefdarstellungen des Meeresbodens von Isobaren marmorierte Luft) die lange auf einer einzigen mit Formeln und Diagrammen gespickten Seite liegen bleiben und mich

beruhigen

es ist mehr wie eine Meditation über einen kurzen Text es sind nicht diese Bücherstapel auf Bücherstapel wie in Martins Arbeitszimmer oder die Phalanx von schnell gezogenen benutzten wieder in Reih und Glied gestellten Aktenordnern Amandas es flößte ihnen Respekt ein wenn ich mit der Erde still an einem Tisch saß oder im Garten aber

nicht mehr mit

ihnen gemeinsam

in Amherst war es mein Vater allein der sich anerkennend wunderte wenn er von der Arbeit kam und mich nicht Musik hören oder Romane lesen oder in meinen Kladden Gedichte schreiben sah eben das was man von mir erwartete als Literaturprofessoren-Tochter aber

Schahrasads Vater

war der Wesir eine Art Politiker mithin eher jemand wie Seymour (der Berater) der sich nur freut wenn er mich mit der Geologie ertappt und wissenschaftliche Gespräche mit mir führen will so dass ich mich (ungewollt mittlerweile) in die arabische Prinzessin verwandle zu Boden blicke in mein Zimmer gehe den Fernseher anschalte und Gedichte herauskrame den Fernseher ausschalte das weiße Land Papier in das ich fliehe

(in dem ich

von oben her

erscheine

in seltsam gewundenen kurzen Tintenflüssen) öfter schreibe ich auch am PC die weiße Fläche der gestanzte Druck das Schnurren der Festplatte während ich Worte suche ein Schutzpolster mit dem du die Leere betrittst ich bin also

eine Dichterin am Meer (ach was: die störrische Prinzessin die Verse sucht)

oder die scheue Tochter

die durchaus einen keuchenden Jungen in ihrer Hand zucken lassen kann

von der Jones Library kommend in der ich so viele Kindernachmittage verbracht habe mit einem wissenschaftlichen Folianten als Brustwehr ging ich nach meiner Rückkehr zu Martin zwei Jahre lang so siegesgewiss durch Amherst als sei es schon eine Art

Paradies

der Ort eines ständigen verheißungsvollen Aufbruchs nämlich an dem man

immer bleiben könnte immer steckenbleiben immer mit einem Lehrbuch im Arm durch die Amity Street zur Ecke Main Street — North Pleasant Street schlendern möchte durch die vor den Copyshops Pizzerien Buchläden beisammenstehenden Jungs von der UMass vom Hampshire- oder Amherst-College hindurch sie zerteilen wie ein Seepferdchen eine nervöse Koralle (ich fasse dich nicht noch mal an Robert vergiss es)

ein Jahr mit festem Freund

das letzte (mein achtzehntes) ohne David war noch besser weil ich blieb um zu gehen und mich spannen konnte wie eine Feder

oder Nonne (Jeanne d’Arc) dreizehn Monate lange küsste ich niemanden

jedenfalls bin ich im Bewusstsein des baldigen Aufbruchs viel energischer und leichter geworden (wie Martin als er wieder zu joggen begann) heller im Inneren wenn es so etwas gibt aber man sieht doch die Ausstrahlung auch bei anderen ich war frei weil ich demnächst zum Studium nach Boston ziehen würde ich wollte keinen Freund mehr der hier irgendwo mit einem Zimmergenossen in einem Wohnheim hauste (und dann reuelos und zum Ohrfeigen kalt mit einem größeren Stipendium nach Texas in die Nähe seiner Eltern zog) ich wollte nicht mehr

die Professorentochter sein auf die man in den umliegenden Colleges schon wartete all die Lehrer die mich auf den Cocktailpartys auf den Schoß gezogen hatten und Deutsch sprechen ließen wie eine Puppe mit eingebautem Sprach-Wunderwerk

auch an Emily wollte ich nicht mehr denken ich war in meinem letzten Amherst-Jahr nicht mehr im Homestead- oder Evergreens-Haus und nur noch ein einziges Mal an ihrem Grab die Idee die ich früher liebte

im Verborgenen zu arbeiten

1700 nie veröffentlichte Gedichte als Brief an die Welt nach deinem Tod zu schreiben und in einem Haus in West-Massachusetts zu leben als stünde es auf einem grasgrünen kleinen Meteor im

Weltall

der Zeit man spürt

ich spüre

nicht genug wenn ich mich nicht bewege nicht reise nicht gegen die Dinge stoße und so gesehen war es einmal (wird es einmal) von Vorteil für mich (gewesen sein) dass sie mir die Wurzeln herausgerissen haben als wir von Paris zurückkehrten begann ich zu bluten auf Long Island in New York City in den

Gärten meiner Mutter

gibt es keine Erde für mich aber es (das Blut) war ja auch ein Zeichen für das Älter-Werden das Frau-Werden ich fand das

ruhelose Gedicht

des Hafis

schwarzes Wasser ewig ziehende Kamele schrillende Morgenglocken Pilger ohne Ziel

den ich eigentlich nur las um meinen Vater zu beeindrucken und weil mir die arabische Schrift der zweisprachigen Ausgabe so geheimnisvoll erschien es waren zu viel Weinkelche zu viele Schenken zu viele Räusche darin

der Rausch der Verzweiflung

ist womöglich eine große Musik aber nicht für Siebzehnjährige die begreifen

dass es ihnen nicht schlechtgeht ich wollte nicht mehr in Amherst bleiben und Emily Dickinson werden mir war klar dass ich die arabische Prinzessin verlassen musste

den Karton mit meinen Gedichten beklebte ich mit zwei Postkarten passend orientalisch (eine Sängerin und ein Wein trinkender älterer Mann im Burnus) und ließ ihn in Amherst zurück

in diesem Zimmer hier auf Long Island

dem Rausch-Ort meiner Verzweiflungen in meinem dreizehnten und vierzehnten Jahr

bin ich ohnehin nur noch zu Gast gewesen der Rucksack ist nur halb so schwer wie damals für die Europa-Reise im Wohnzimmer mit der großen Fensterfront zum Meer und den Dünen hin saß ich manchmal und hörte Musik und einmal schreckte ich auf und spürte ein schier blendendes Glück weil ich eine halbe Stunde neben meiner Mutter Amanda gesessen hatte wie aus Versehen vollkommen ruhig und frei

Eric wird ganz sicher

pünktlich sein

Hedschra

Verlass dein Haus, zerreiß dein Buch. Und geh!

Zerstöre, was dich kennt und liebt. Und geh!

Dein Herz ist ausgebrochen. Verbrenne es und geh!

Dein Gott verlor den Namen. So töte ihn und geh!

Muna

An der weiß gekalkten narbigen Wand des alten Kinos verblasst seit Jahren

der PRÄSIDENT

dicht neben unserer Schule ist sein Schnurrbart zerfasert und das linke Auge scheint allmählich von einer Krankheit aufgezehrt zu werden

aber wenn SEIN Name fällt (wie ein Schwert)

klatschen wir

wir singen es jeden Morgen aufgereiht in unseren blauen Kleidern und weißen Blusen er ist unser Vater der Schrecken den wir anbeten müssen dessen Name man nur singt nicht spricht nicht in den Mund nimmt wenn Nachbarn wenn Freunde wenn Jasmin und ihr Mann zu Besuch sind sagen wir nichts über den

PRÄSIDENTEN

ich verliere die Schwester die Sprache

fehlt mir ich würde mich wahnsinnig

schweigen hätte ich nicht Huda und Eren hinter den ockerfarbenen Mauern der Schule deren Eingang so nah an jenem Wandbild (eines von Millionen) liegt jeden Abend wünscht ER uns im Fernsehen

GUTE NACHT

als Drohung damit wir bloß nicht aufwachen in seinem Land sagt Tarik schau dir das Pferd an auf dem er sitzt sie haben es chloroformiert damit es ihn erträgt der PRÄSIDENT reitet winkend davon in die untergehende Sonne nach Westen also sagt Tarik denn heute Abend will er mit seiner Frau in London einkaufen gehen seit ich sechzehn bin redet er so mit mir und macht mir Angst damit und erfüllt mich mit Stolz zweimal im Jahr kommt Onkel Munir der die Elektrogeschäfte von Großvater weiterführt und befühlt jede Wand und jeden Schrank mit geheimnisvollen Geräten er sucht Ohren wir können das sagt Tarik eine Familie mit Spürsinn und so kann er weiter frei reden und mich stolz und traurig machen mich bestürzen und quälen mit seinen Witzen und seiner Verzweiflung bis Farida ihn beschimpft (wegen Sami sie spürt dass er mehr als ich die Stärke und die Gelassenheit seines Vaters braucht)

das verstaubte Mosaik im Innenhof der Schule zeigte die Themse und Big Ben

gegenüber hängt das glänzende doppelt so große Mosaik auf dem Saddam als Fedajin mit rot gemustertem Kopftuch und Prachtgewand Saladins Säbel schwingt gegen die angstverzerrten Gesichter von George Bush und Margaret Thatcher denn das hier ist das alte englische Mädchengymnasium auch wenn es in den vergangenen fünfzehn Jahren drei andere Namen erhielt und drei neue Direktoren und es nur noch zwei Stunden Englisch in der Woche gibt selbst für die oberen Klassen man soll das nur Nötigste

über den FEIND

verstehen

für das Mosaik zahlten die Eltern deren Kinder auf der Schule bleiben wollten freiwillig zwei Millionen Dinar

ich atme

leichter wenn ich Huda und Eren sehe die Bänke in unseren langsam dahinsiechenden Schulräumen sind so alt dass Huda den eingeritzten Namen ihrer Mutter finden konnte die Tafeln haben Sprünge seit vor zehn Jahren eine amerikanische Bombe neben dem Kino einschlug eine Bäckerei zerstörte acht Kunden tötete weil sie Brot gegen Amerika kauften

wenn Jasmin behauptet der Irak müsse sich wehren dann frage ich mich ob das heißt prahlerische Mosaike gegen Bomben an die Wand zu mörteln oder im Haus deiner Familie jederzeit von der Armee aufs Bett geworfen werden zu können ich werde mit Eren darüber sprechen als Einzigster nur sie kann schweigen wie ich ihr langer weißer Hals mit dem kleinen Muttermal am Schlüsselbeinansatz dreht sich im offenen Kragen ihrer Bluse verletzlich und frei Huda aber wird wohl sagen

wenn sie es wollte und wenn sie es will

und mich dabei mit ihren indischen Augen und millimeterweise immer weiter nach oben wandernden Brauen so lange anstarren bis mir die Röte ins Gesicht schießt und wir in Gelächter ausbrechen aber ich ertrüge es nicht in diesem Fall ertrage es nicht mehr weil ich den Major schon ertragen musste in meiner Rolle als

an den Boden genagelter Schatten

meiner Schwester

beruhige dich bei Herrn Barams Mathematiklektionen aus zwanzig Jahre alten fadenscheinigen Schulbüchern in der dritten Klasse kam er neu an die Schule und stellte sich mit einer lustigen Aufgabe vor: Wenn eine Hussein-Rakete ein voll besetztes Spionageflugzeug mit vier Doppelsitzen abschießt, wie viele Amerikaner kommen dann ums Leben?

stirb im Fach Nationale Bestimmung

an Langeweile alles das kennen wir viel besser aus dem Fernsehen das Tarik hasst und doch immer laufen lässt damit wir lernen durch die Bilder zu sehen durch den flimmernden Schneesturm der Halbwahrheiten und Lügen damit wir uns leise unterhalten können bei offenem Fenster schließlich bin ich ein Fernseh-Doktor sagt Tarik denn mit Radio- und später Fernsehgerät-Verkäufen bezahlte sein Vater sein Studium

wir sehen Bilder

ohne Scham ohne Hemmungen wie durch einen in der Vergangenheit wütenden und unermüdlich kreisenden Sturm in unsere Wohnzimmer geschleudert die blutbefleckten Leichen palästinensischer Familien die zerrissenen Helden der Golfkriege die Berge von Ermordeten in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila die Kinder unseres eigenen Landes verstümmelt missgestaltet mit riesigen Schädeln und zitternden Puppenarmen geschwollenen Bäuchen grotesk verdrehten Beinen offenen nicht heilen wollenden Wunden Kinder die das Uran in den Sprengköpfen der amerikanischen Raketen die neben ihren Häusern einschlugen als ihre Mütter sie noch im Leib trugen durchstrahlt und verkrüppelt hat der Hass der sie noch vor ihrer Geburt traf

Embargoland

geht die Luft aus das Leben weiterer Zehntausender Kinder erlosch und OIL FOR FOOD konnte sie nicht mehr lebendig machen und auch nicht der Hinweis darauf dass man sie nur halb getötet hat weil der gnadenlose Wahnsinn des PRÄSIDENTEN ihre andere Hälfte mordete

stimmt das denn alles nicht frage ich empört

wenn es kein Ringen um die Wahrheit gibt

gibt es keine Wahrheit sagt Tarik

ich wünsche mir ein Schiff

unser Schiff

Schwester wie die Arche Noah oder das große Segelschiff von Utnapischtim das der Sintflut entrann der Feuerwelle der Gewalt entrinnen mit allen verstümmelten unterernährten ausgemergelten todkranken Kindern die wir auf weißen sauberen kühlen Betten hinauffliegen in

das Land das es

noch nirgendwo gegeben hat oder etwa doch

es ist nicht so dass der Mann von der Baath-Partei der in der Aula der Schule hinter dem Fernsehapparat sitzt und versucht nicht müde zu werden während er in unsere Gesichter starrt durch unsere Schädel hindurchsehen kann wie mit

Uranaugen

meine Schwester Jasmin

versteht etwas vom radioaktiven Zerfall vom Zerfall überhaupt auf ein Segelschiff wäre mehr Verlass als auf die elektrischen Leitungen das plötzliche Erlöschen der Notbeleuchtung das Zusammenstürzen der Fernsehbilder die Kühlschränke stumm wie so oft

bei Stromausfall öffnen sich wieder die Vorhänge das Mittagslicht trifft das zerschabte Avocadogrün der Wände zwischen denen wir sitzen wie in einem Aquarium das keiner mehr reinigen will in unseren sauberen weißen Blusen und sorgsam ausgebesserten blauen Kleidern wir atmen auf denn vielleicht hätten wir noch einmal den sechsstündigen Spielfilm über SEINE Anfangsjahre sehen sollen Die langen Tage worin ER nicht mit der Wimper zuckt als man ihm ohne Betäubung die Kugel aus dem Bein entfernt die sich (laut Onkel Munir) nie darin befunden hat

kein Strom kein Wasser für lange Stunden oft in mehreren Stadtvierteln

die Englischstunde mit Frau Jadallah die seit zwei Jahren ein Kopftuch trägt und immer leiser spricht so als sei sie die ganze Zeit am Verschwinden ihr gesamtes Auftreten ist wie eine Entschuldigung für

sich

in der letzten Stunde versucht uns Onkel Machmud mit seiner eisern freundlichen Art seiner Aufmerksamkeit für jeden von uns seiner Beharrlichkeit und feinen Uhrmachergeduld die alten hocharabischen Gedichte so nah zu bringen als glitte ein unbezahlbar edler Seidenstoff durch unsere Hände oder als dürften wir in aller Öffentlichkeit wunderwirksame Drogen einnehmen in der Hitze unseres Klassenzimmers zerfließen die Gedanken die Konzentration Huda fächelt sich Luft mit einem Gedichtband zu heute Mittag kann ich mit ihr nachhause gehen und vielleicht auch ihre Mutter im Nationalmuseum besuchen schon

gehen wir Arm in Arm durch das Schultor am einäugigen PRÄSIDENTEN vorbei in den Nachmittagsbackofen der Stadt mit den gleichen weißen Spangen im Haar

in dem alten roten Doppeldeckerbus der vielleicht einmal durch London gefahren ist trägt mehr als die Hälfte der Frauen Abayas BMO — Black Moving Objects sagt Sami die großen internationalen Hotels (das Sheraton das Palestine Meridian) liegen rechts dann ruckeln die angrenzenden Luxusgeschäfte vorbei zerbeulte rot-weiße Taxis überholen einen nagelneuen aber wie für eine Filmkulisse irgendwie unglaubwürdig mit Staub überzogenen Mercedes wir schaukeln gegeneinander im Schweiß der Menge Hudas indische Augen verdrehen sich nach oben wenn uns die Blicke der Männer treffen oder sie absichtlich laut seufzen manchmal stößt sie vergnügt gegen mich um mich ihre runden Brüste und ihr Becken spüren zu lassen so wie sich die Jungen ihre Armmuskeln zeigen in unseren Trägerkleidern und durchgeschwitzten Blusen sind wir Laila und die Wölfe denke ich wer mit ihnen spielt braucht die eisernen Nerven die Intelligenz die Kühnheit die Arroganz

meiner Schwester

an der Ahrar-Brücke steigen wir aus rechts liegen die alten Moscheen und die assyrischen und chaldäischen Kirchen eingebettet in die großen Suks durch die wir manchmal bummeln heute Abend noch will Huda ein Armband für den Geburtstag ihrer Cousine kaufen aber wir gehen jetzt zur Karkh-Seite hinüber gönnen wir uns ein Scherbet sagt Huda was ich eigentlich nicht tun sollte hörte ich auf meinen Vater der mir jederzeit Vorträge über Milliarden und Abermilliarden von Mikroben in Wassereis hält aber ich habe schon viele Scherbets überlebt

der heiße Abgasatem der gegen unsere Körper bläst wird auf der Brücke beiseitegeschoben von einem frischen Wind über dem Tigris und mir wird plötzlich so leicht zumute als könnte ich fliegen wenn ich es nur wollte mein Flight Simulator ist mein Kopf wenn ich nur die Augen schließe für einige Sekunden das Brückengeländer an meiner Hüfte ist die Reling das Meer liegt unter mir ich denke dass mir das immer bleiben wird

die Träume die Bilder die Stille

geh schneller sie hupen doch schon wie verrückt die Böcke sagt Huda und wir beschleunigen unseren Schritt

Martin

Vor der Gerbermühle

im Sommer 2000

die bierfarbenen Tische und Holzbänke unter den alten Bäumen am Main es gibt die Absicht das nur klotzig und gesichtslos wiedererbaute Gebäude historisch genau oder genauer zu rekonstruieren (wird man das Mühlrad wieder anbringen Willemers Studienkabinett neu einrichten Mariannes Gitarre stimmen und mit rosa Bändern verziert an die Wand hängen) es gibt Äppelwoi paniertes Schnitzel Kartoffelsalat Rindsroulade mit Kohl es gibt einen

Grad von Realität gegen den der

Gedanke nichts hilft (den er aber auch nicht mehr zerstören kann) etwa die vollkommen geisterhafte Vorstellung dass wir nun im 3. Jahrtausend leben (der Okzident und die von seiner Zeitordnung bestimmte Welt) gegenüber der lachend und kopfschüttelnd die Speisekarte studierenden zweifachen Wirklichkeit von Sabrina und Luisa auf der Bank mir gegenüber unter einem blau-weißen Sonnenschirm das völlig Unvereinbare Unverwandte ihrer äußeren Gestalt so dass trotz des Altersunterschiedes der Vertrautheit ihrer Gesten und der Nähe ihrer Körper kaum jemand auf die Idee käme sie könnten Mutter und Tochter sein und wir drei eine Familie obwohl wir zumeist Englisch sprechen wenn nicht gerade Sabrina auf Deutsch einen ihr unbekannten Ausdruck (gri Soß) von der Karte abliest und mich dabei fragend ansieht

das Nicht-Zueinanderpassen freut mich es scheint mir die beste Chance für ein gutes gemeinsames Leben zu sein Luisa (das hochgesteckte blauschwarze Haar ihr großflächiges Gesicht die glühenden Goetheaugen (denke ich hier) der lange Hals über der schweren weißen Büste) könnte man für eine spanische Verwandte oder eine Lehrerin dieser jungen Amerikanerin halten die sich mit Hilfe einer sandfarbenen weiten Bluse einer hellbraunen Sommerhose dem immer wieder vor das Gesicht fallenden offenen Haar möglichst unauffällig zu machen versucht mit der Schamhaftigkeit oder natürlichen Abwehr junger Menschen die nicht ins Licht

Blitzlichtfeuer der Zerstörung jeder Individualität jedes menschlichen Überrests

gezerrt werden möchten

die schmale Nase die Form der Stirn ganz leicht erkennt uns jeder als Vater und Tochter

es wird nicht möglich sein

sie zu retten indem ich unsere Ähnlichkeit vergesse

Sabrina kann immer noch nicht glauben dass sie die Highschool wirklich hinter sich hat dass wir uns tatsächlich auf der versprochenen Europareise befinden dass sie als Nächstes nach Berlin fahren wird um dort ihre ältere Cousine zu treffen mit der sie weiter nach München Florenz und Rom reisen kann

sie macht sich zerbrechlicher als sie ist

dachte ich (in einem noch belanglosen noch völlig abstrakten Moment des Irrtums)

sie kramt in meinem Rucksack blättert in meinen Büchern Marianne interessiert sie als dichtende als seltsam verlorene und doch aufgefangene Frau (das der Mutter abgekaufte Schauspielerinnenkind) ich unterdrücke den Impuls ihr zu erzählen wie der (ächzend Billette dichtende den Salontänzern wie ein ordensbekränzter Truthahn voranstolzierende) 74-jährige Geheimrat dessen Scherenschnitt Marianne nachtrauert bis ans Ende ihres blutleeren wenn auch nicht unvergnügten Lebens sich acht Jahre nach der orientalischen Gerbermühlenzeit in Marienbad aufschwang zum einzigen Heiratsantrag seines Lebens adressiert an eine Liebe in gerade einmal Sabrinas Alter

Ulrike

verblasst und glüht weiter als

Elegie

als Luftgestalt eines Mädchens das sich in eine junge Frau verwandelt Sabrinas Hände mit den unlackierten Fingernägeln blättern in dem Gedichtband als Kind malte sie die Nägel rot und silbrig und blau an sie war verrückt nach Schminke und Glitzer in jedweder Form einmal malte sie sich selbst als Prinzessin mit drei auseinanderstehenden Goldzähnen im oberen Kiefer

sie hatte gerade einmal zwei kleine Zahnfüllungen sie trug nie eine Spange sie hat die Stelle gefunden sie liest leise und konzentriert so dass nur Luisa und ich es hören können (genau in der Mitte ihrer Daumennägel verläuft eine feine vertikale Linie eine Verfärbung die weder Amanda noch ich haben)

Zephyr, for thy humid wing,

Oh, how much I envy thee!

Thou to him canst tidings bring

How our parting saddens me!

und Deutsch sagt Luisa und Sabrina zitiert Mariannes Gedicht im Original den Blick zunächst auf die Buchseite gerichtet so als übersetze sie es gerade dann sieht sie wenigstens bis zur Tischplatte auf Bier- und Apfelweingläser der strohfarbene gekühlte Riesling in einem Glaskrug mit grünem Stiel dessen Wirkung in meiner Blutbahn schon dort und damals die Szene vor der Gerbermühle vom Ort und aus der Zeit zu lösen schien (sie hinüberrettete in die Bleikammern der Erinnerung) Sabrina spricht weiter mit halb gesenktem Kopf während Luisa mich ansieht vergnügt staunend großzügig oder vielleicht auch (ein wenig) verzeihend (ein wenig) überlegen es mag sein dass ich die Indizien einer Konkurrenz nicht wahrhaben will zwischen Tochter und Geliebter Sabrinas Deutsch ist fast ohne Akzent insbesondere wenn sie etwas rezitiert oder liest es ist

mein Deutsch eine ganz persönliche und doch zutiefst allgemeine Spiegelung in ihrem Gehirn die ersten fünf Jahre ihres Lebens sprach sie fast nur mit mir meine Muttersprache sie hat eine Vatersprache sie hat von mir fast jedes frühe Wort

Luftgebilde

Zeichen

das Herabfallen grüner Kastanienblätter

Wespen über einem vom Apfelsaft durchnässten Kassenzettel der sich vom Tisch löst und nun vorüberfliegt in Richtung Main ein sommerhimmelblauer Strom am anderen Ufer begrenzt von einer lang ausgezogenen Reihe hoher Pappeln hinter denen mächtige Speicherhallen emporwachsen deren betongraue Fassaden in der Helligkeit seltsam zurückhaltend wie schon halb aufgelöst wirken (als wären sie schon Erinnerung) an einer Wand erkenne ich plötzlich die zugleich enorm vergrößerte und wie eine Fotoprojektion bei Tageslicht verblasste Werbung für Aurora diese Sonne auf rotem Grund die ich als Kind auf den Mehltüten in der Küche meiner Mutter sah

Sabrina entdeckt als Erste die Ginkobäume auf der Wiese hinter der Mühle als wir am Ufer auf die Frankfurter City zuwandern und findet auch gleich darauf einen kleinen Sandsteinsockel ohne Denkmal auf dem in goldenen Buchstaben ICH steht sie

postiert sich lachend darauf

wir haben keine Kamera dabei und obwohl wir es erwogen mochte keiner das kurze Stück zurück zum Hotel laufen und so gehen wir weiter im Frühsommerlicht auf die Bögen der Deutschherrnbrücke zu große gewölbte Mädchenhaarspangen aneinandergelegt über den Main

dahinter die moderne Skyline die aus einem guten Dutzend wie rasch zusammengeschobener Hochhäuser besteht das höchste scheint einen Arm zu heben zum Hitlergruß sagt Luisa oder als wolle es die Flugzeuge aufhalten die sich in den blauen Himmel

brennen

Sabrina ging weit voraus sie war ja die Dritte so erwachsen nun dass sie sich auch an meiner Seite immer wieder als Störung eines Paares empfand und ich war über ihre Absonderung in diesem Moment ganz froh weil ich das Bedürfnis hatte Luisa vom Überdruss an meiner Arbeit zu erzählen der unter den Bäumen vor der Gerbermühle noch stärker geworden zu sein schien es war vielleicht nur jene Müdigkeit die schon immer ein gutes Stück vor dem Ende eines Projekts die Kräfte erlahmen lässt den Schwung nimmt den Zweifeln das Feld räumt oder ich hatte einfach keine Lust mehr

auf Marianne

und noch eine törichte zahnlose Liebe des Alten

schick ihm einen Pornofilm und ein flinkes auf siebzehn gestyltes zwanzigjähriges Kind aus Istanbul vom Frankfurter Hauptbahnhof zurück mit dem Sturm der Zeit der aus der Zukunft weht

es schien mir als wäre ich selbst von all diesen Frauen geschieden und sollte sie nun einzeln wiedersehen und ausführlich beschreiben (nach mehr als einem Jahrhundert)

Torschlusspanik sagte Luisa nachts

in einem der altfränkischen althessischen Doppelbetten des Hotels neben der Mühle in dem wir unter gewaltigen Kissen wie von weichen Himmelskörpern erschlagen seltsam distanziert nebeneinanderlagen (Sabrina in einem Einzelzimmer im unteren Stock)

dieses ganze sentimentalistisch verfälschte orientalische Zeug diese blöden Kostümierungen als Jussuph und Suleika diese falschen Turbane getürkten Prophetensprüche dahingemalten arabischen Sentenzen die handbestickten Sultanspantoffeln die immergrünen Kautschukzypressen die Chiffre-Bilder gelegt aus den Knochen des armen alten genialischen Hafis

entspann dich doch sagte Luisa unter ihrer massigen Wolke

in Granada wird dir alles leichter fallen und klar werden lass dich treiben

im Sturm

Ach, um deine feuchten Schwingen,

West, wie sehr ich dich beneide:

Denn du kannst ihm Kunde bringen,

Was ich in der Trennung leide.

Tarik

Der blöde alte Witz: Schalom Moschel

sagte mein Bruder Munir vergnügt aber sehr leise in mein Ohr als er mich 1974 am Flughafen umarmte und mich fröhlich in die Rippen stieß um dann eine ehrfürchtige Verbeugung vor Faridas Sechsmonatsbauch zu machen

der Kreis schließt sich (die Halsschelle die du noch nicht bemerkst) unsere Ankunft in Bagdad zu dritt meine einsame Abreise sieben Jahre zuvor alles verläuft anders als geplant und doch auch wieder nicht

1974 die Wiederankunft

der Aufbruch 1967 ich hatte den Wehrdienst hinter mich gebracht jene erschöpfenden Monate im Norden bei Hatra und dann die langweilige Zeit im Süden in müden alten Städten unter Dattelpalmen und sepiafarbenen Wandbildern der Helden der Revolution und Farbfotografien von Abd al-Salam Arif dem Flugkünstler der den ägyptischen Adler auf dem irakischen Staatswappen hatte landen lassen und mit dem Hubschrauber abstürzte kaum dass ich in eine Sanitätseinheit versetzt worden war (weil mir ein freundlicher Oberst geglaubt hatte dass ich tatsächlich Medizin studieren wollte) und so hatte ich Glück denn der schwache ältere Bruder und Nachfolger von Abd al-Salam zeigte sofort seine nicht vorhandene Stärke und ließ Bomben auf kurdische Dörfer im Norden werfen wovon er sich als Fußballzuschauer erholte vor Hotelfernsehern in Istanbul ich jedenfalls kam mit heiler Haut aus der Langeweile zurück ich studierte ein Semester in Bagdad

ich heiratete

die samtäugige willensstarke störrische kluge lesende Kindergärtnerin die ich fünf Monate lang einmal in der Woche vor den Buchauslagen in der von Papier und Binderleim Blattgold Tinte Dichterwahn Philosophenweisheit überspülten verwinkelten Gasse des Suk as-Saray sah und nicht anzustarren versuchte als sie Camus und Ibn Arabi kaufte bis sie mich fragte ob wir

nicht

in einem Buch verschwinden könnten dachte ich

aber sie fragte ob ich nicht auch fände

dass

unsere Mütter miteinander sprechen sollten

beinahe wäre ich auf den Rücken gefallen ich war einundzwanzig (sie neunzehn) aber das

Gespinst

der Liebe hielt mich aufrecht ohne viel Worte die Blicke brauchten keinen Dolmetscher ich hatte jahrelang Französisch gelernt weil es schon immer festgestanden hatte dass ich zu einem einflussreichen Geschäftsfreund meines Vaters nach Paris gehen würde der mir einen Studienplatz eine düstere Wohnung ein altes verbeultes Auto eine wundervolle junge Frau und vielleicht noch Kinder besorgen konnte (und dem ich dann doch einiges davon abnahm) alles das gefiel mir nun gar nicht mehr nach dem einzigen und entscheidenden Gespräch mit Farida auf dem Suk aber kurz darauf musste mir mein Vater eröffnen dass es mit seinen Finanzen nicht mehr zum Besten stand seit er sein letztes Geld aus dem Seidenhandel in eine für ihn völlig neue Branche investiert hatte erst in zwei drei Jahren also könnte ich wenn alles gut liefe doch noch nach Frankreich gehen

so hatte er kein Argument gegen die sofortige Heirat mit Farida aber er suchte auch keines sondern verstand meinen absoluten Ernst der sich nie geändert hat wenn du Glück hast dann geschieht es dir dass du vor einer Frau stehst und ohne ein Wort sogleich alles klar und beschlossen ist Medschnun und Laila und Chosrau und Schirin und Jussuph und Suleika regen sich in dir (und wollen dein Leben) ich aber bin für

Dschamil und Buthaina

die gemeinsam liebend alt wurden (für was hat man schließlich studiert möchte man in dieser Angelegenheit sagen)

Farida sechsundzwanzigjährig selbstbewusst fast angriffslustig schön und perfekt ruhig und stark trägt unter der Haut die Frucht unserer schon siebenjährigen Liebe verborgen Jasmin (die später behaupten wird sie habe sechs Jahre lang im Himmel gewartet bis wir uns entschlossen Frankreich zu verlassen und nachhause zu gehen) schwimmt kopfüber nach Bagdad 1974 am Flughafen bei unserer Rückkehr meine Schwägerin Amal hakt Farida unter mein Bruder geht mit mir Arm in Arm wie läuft das Geschäft frage ich Transistoren sagt Munir und auch immer mehr Fernsehapparate jedenfalls nicht mehr die alten Röhrendinger

nicht mehr Nasser sondern Sadat sagt Munir und auch hier ist vieles anders als damals

1967

Radios Stimmen

Ahmad Hassan al-Bakr Frank Sinatra Gamal Abden-Nasser Umm Kulthum

verwoben mit den Rufen der Muezzin

etwas würde passieren es würde Ereignisse von historischer Tragweite geben Offiziere waren nach Bagdad zurückgekehrt die vor Kurzem erst ihrer Putschabsichten wegen hatten fliehen müssen

wir klebten aufeinander die Universität war ein Bienenstock frisch verheiratet und hungrig nach Büchern und Gesprächen taumelte ich über den Campus ich wollte lernen und verstehen ich wollte durchaus den menschlichen Körper studieren (Faridas unglaublich sanfter weißer Planet jede Nacht) ich hatte jedoch aufgehört Französisch zu lernen und versuchte Butrus al-Bustani und Salama Musa zu lesen die Romane von Mahfus neben Sartre und Trotzki auch die marxistischen ägyptischen Schriftsteller der jüngeren Zeit aber ich war und bin politisch ziemlich ungeeignet sogar als Leser ich glaube nicht genügend an die Möglichkeit große Menschenmassen direkt ins Paradies auf Erden zu steuern und all diese Gedankenflüge über die Völker und ihre Bestimmung erschienen mir wie Räusche wie

Bluträusche

der Macht ich konnte eigentlich und kann bis heute nur ganz klar ganz im Detail (das Atom das Herz der Kreislauf die Freundschaft der Bau von Arztpraxen und Kliniken) oder ganz dichterisch (das Universum die Liebe) denken obwohl ich mich immer bemühe und lerne aber ist Medizin Wissenschaft oder Poesie fragte Hussein oder nicht doch eher die Politik des kranken Körpers er hatte wohl recht ich las dennoch lieber Gedichte von Mutanabbi (und von Nizar Kabani in gesteigerten Verliebtheitszuständen) oder die Stücke von Brecht die das Studententheater aufzuführen plante bevor wir ganz andere Stücke aufführten

und schließlich

der ANGRIFF

im Juni

und am zweiten Tag des Krieges stand

MACK THE KNIFE neben mir in der Mensa der medizinischen Fakultät ohne dass ich es begriff das heißt mehr als Abneigung und Befremdung verspürte während er sich nach vorn drängte und brüllte es dürfe nicht das geringste Zögern der Regierung geben der jüdische Aggressor wäre sofort und endgültig zu zerschlagen

Saddam

diese eine Mal war ich ihm so nah wie dem Tod in der Pathologie von dem ich auch immer glaubte ich hätte nie etwas ganz persönlich mit ihm zu schaffen er trug eine Pistole am Gürtel er war glatt rasiert ein langer athletischer Typ er hatte vier oder fünf Gewichtheberfiguren um sich herum und schrie unentwegt in seinem beduinischen Dialekt man sagte ihm nach er habe schon einige Gegner um die Ecke gebracht wir nickten und wandten uns anderen Rednern zu auch die meisten Baathisten hielten ihn für nichts als einen brutalen Schläger den man ausschalten musste (er fand bald ihre Schalter und er zögerte nicht) wir versuchten im Gespräch mit einigen Professoren und Assistenten noch eine Art Überblick zu erhalten aber es war sinnlos der Hexenkessel trieb uns hinaus in

die Endschlacht gegen den Zionismus

wir hatten Nasser

den allergrößten Gewichtheber den Garanten der arabischen Einheit den Führer der Dritten Welt die Leuchte der Araber die uns gelehrt hatte den Kopf zu heben denn

es gab keinen Zweifel am Sieg jeden Tag vernichteten wir den Feind vollkommen im letzten Gefecht vier Tage später stand ich in Uniform auf dem Bahngleis und Farida fiel beinahe in Ohnmacht vor Hitze Wut Trauer ich

bin freiwillig

unfreiwillig gefahren das heißt ich wollte mich wehren ich wollte mit irgendetwas Höherem und Wichtigerem verschmelzen und wenn es sein musste auch mit ihm untergehen obwohl oder weil ich glücklich war und obwohl sich etwas in mir sträubte und den Kopf schüttelte in meinem Kopf und wie gelähmt und hilflos an die Wände meines Körpers starrte der inmitten der anderen voranstürzte

wir hatten keine Einberufungsbescheide es ging alles so schnell wie die irakischen Einheiten in Jordanien überrollt worden waren viele meldeten sich bei der Kaserne bei der sie zuletzt stationiert gewesen waren jung

als Araber

zu sterben und meine Freunde nicht zu überleben schien mir folgerichtig wenn auch nicht unbedingt großartig es war mein einziger Krieg als normaler Soldat ich kam nicht einmal aus der Kaserne heraus als auch schon entgegen der Triumphmeldungen aus Kairo Amman Damaskus

nach sechs Tagen

AL-NAKSA

DIE NIEDERLAGE

feststand nach weiteren sechs Tagen wusste man dass kein großer Flächenbrand entstehen würde und ich sollte einfach nachhause gehen

wie betäubt

fand ich zum ersten Mal eine wütende junge Ehefrau vor (bitte stirb beim nächsten Mal weil ich es dir sage) und einen Zulassungsbescheid für das Studium in Paris das ich mir nicht leisten konnte und

noch hingen alle klebten an kauften und kauften

Radios

wütende zeternde jammernde Geräte sie brüllten noch im Juli in den Sandstürmen sie hatten immer noch gewonnen

aber es war anders gewesen (ein echt deutscher BLITZKRIEG der in Frankfurt lebende Vetter von Hussein schrieb dass man in Deutschland Mosche Dayan zum wiederauferstandenen Rommel erklärte)

nach Jahren

nach so vielen Gesprächen in Paris Amman Damaskus Beirut Bagdad denkst du klarer oder vielleicht nur weniger illusionär wenn etliche der Kostüme und Masken gefallen sind in denen man die Erfolgsstücke der Geschichte immer wieder aufzuführen versucht wobei wir nicht vergessen wollen dass im Grunde keine Alternative zur Inszenierung existiert und es keine letzte Maske abzunehmen und keinen Straßenanzug unter dem letzten Kostüm hervorzuzaubern gibt erst recht nicht die nackte Wahrheit

heute könnte man sagen

es gab einmal einen Traum vom befreiten sozialistischen und demokratischen unabhängigen und vereinten modernen selbstbewussten Arabien zwischen den Machtblöcken über die vom englischen und französischen Kolonialismus rücksichtslos gezogenen Grenzen hinweg es war ein moderner politischer von Europa inspirierter Traum eine Art vorgezogene sozialistische EU ohne den entsetzlichen Geburtsschmerz den Europa sich in jenen zwei Kriegen bereitet hatte deren ungeheure Leichenberge wir blutrünstige Araber nur fassungslos betrachten konnten und in denen wir nicht mehr waren als Spielball Nebenkriegsschauplatz Rohstofflieferant

jener Traum war

wahrscheinlich schon verspielt (wenn überhaupt je zu realisieren) bevor der Krieg gegen Israel begann und nun war es (vielleicht) einfach nur so

dass der ägyptische PRÄSIDENT (bis über die Ohren all seiner Untertanen verschuldet) dem amerikanischen PRÄSIDENTEN (schon bis über die Ohren im Vietnam-Schlamassel) gegrollt hatte weil er ihm keinen Weizen mehr für sein Brot schicken wollte da er dem ägyptischen PRÄSIDENTEN wegen seiner Neigung zum sowjetischen PRÄSIDENTEN böse gewesen war und nun die ägyptischen MASSEN hungerten und der PRÄSIDENT ihnen die Mäuler hatte stopfen wollen indem er ihnen zeigte dass er noch immer 1000 mal größer und arabischer war als der syrische PRÄSIDENT und der grimmige KÖNIG der Saudis (der demnächst mit seinem ÖL die Bühne überfluten würde) und also dem israelischen PREMIER den Golf von Aqaba und den schönen Erdölhafen daran weggesperrt hatte und so schlimm mit dem Säbel weiterrasselte dass dieser fürchten musste man greife sein Land an oder wenigstens allen im Westen klarmachen konnte dass er dies wirklich habe fürchten müssen während der ägyptische PRÄSIDENT wahrscheinlich gedacht hatte dass er selbst doch eher nicht angegriffen werden würde aber wenn dann vielleicht sogar gewinnen könnte wegen seiner aus der UdSSR stammenden Luftwaffe vor der sich der israelische PREMIER wohl wirklich fürchtete da sie womöglich gar seinen Atomreaktor zerschießen konnte so dass er also vorsorglich die gesamte ägyptische Luftwaffe zerschoss am frühen Morgen im Wüstensand

die NIEDERLAGE schmerzte

den großen symbolischen Organismus der Araber

indem sie zeigte dass es ihn in Wirklichkeit nicht gab wenigstens nicht als politisch einstimmige und militärischen Erfolg versprechende Größe ich studierte wieder Medizin ich hörte auf an solche Schmerzen zu glauben ich glaubte (einige Monate später als die Schleier gefallen waren) an den Tod von zehntausend ägyptischen Soldaten die zwischen den Schrotthaufen von sowjetischen Panzern und zerschossenen MiGs starben ich glaubte an das Elend weiterer Hunderttausender palästinensischer Flüchtlinge die sich über die Schlachtfelder nach Jordanien schleppten viele schon in ihrer Vertreibung nach der Vertreibung von der Katastrophe in die Niederlage ich glaubte an das Wirkliche an die Besetzung des Gazastreifens des Westjordanlandes des Sinai und dass dies schwärende Wunden sein würden

aber für wen und für wen von welcher Art

tatsächliche blutende Wunden nicht für alle Araber sondern für die Palästinenser und die arabischen Nachbarstaaten die es in der Folgezeit direkt betraf

symbolische Wunden

dagegen für uns die Wunde der Ohnmacht des Schuldgefühls und des immer wieder verletzten Stolzes die Wunde der Unfähigkeit den Palästinensern zu helfen (bis auf den heutigen Tag) wie damals in jenem mit Soldaten überfüllten Zug in dem ich versehentlich einem alten Mann auf die Hand trat der im Gedränge einen Herzanfall erlitten hatte und niederstürzte und den ich nicht retten konnte schon gar nicht mit meinem verworrenen Wunsch auf einer der Nachschublinien nach Syrien mein Leben zu lassen oder einfach irgendwohin geschleudert zu werden obgleich ich doch Farida liebte die wütend zuhause auf mich wartete

gelernt habe ich damals vor allem die Konjugation der Ohnmacht also zu unterscheiden zwischen der Ohnmacht zu vernichten der Ohnmacht zu rächen und schließlich der Ohnmacht zu helfen die auch für den Friedlichsten noch übrigbleibt

still (aber endgültig) schloss ich daraus

dass man die Mäuler der MASSEN mit Brot füttern muss statt ihre symbolischen Wunden mit Salz

fanatisch begann ich zu glauben

dass man die tatsächlichen Wunden verbinden solle statt sie mit dem Blut der Gegner trostlos und infektiös zu tränken

verständnisvoll hörte und höre ich den Jammer über Jerusalem und selbstverständlich müssen sich unsere Nachfahren dereinst frei am Tempel und an der Moschee dort treffen können (oder keine Mühe und kein Leid hätte sich gelohnt) Juden Christen Muslime aber ich sage euch

dass nichts stimmt wenn sich nicht auch agnostische alte Mediziner wie ich einfinden dürfen mit ihrer ganz privaten Nicht-Meinung ihrem profunden Unglauben und dem unbedingten Verlangen nach Kulturen und Zivilisationen die ihren Namen wirklich verdienen

wie betäubt also fuhr ich nachhause in jenem Zug voll deprimierter Rückkehrer nach Bagdad die nicht hatten kämpfen dürfen und die Niederlage zu ahnen begannen bin ich aber endgültig Arzt geworden und ich habe kein einzelnes Schlüsselerlebnis dafür sondern der ganze quälende Zusammenhang der Rückfahrt muss für eine Art von Erklärung herhalten die Depression und der zu Boden fallende und sterbende alte Mann die Blicke aus den staubigen Zugfenstern auf die sich weiter und weiter drehende Welt und dann schließlich ein seltsames irgendwie absolutes aber eigentlich sinnloses Bild und vielleicht war es das vielleicht geriet ich allein deshalb in den unheilbar abgeklärten Zustand in dem ich mich heute noch befinde ich sah

fünf weiße Störche über dem tintenblauen Euphrat

eine Minute lang

bewegungslos in der Luft

wie eine perfekte andere Welt wie etwas

das hier war und doch nie berührt werden würde etwas das auf eine gewisse Weise endgültig war ein Bild von

Freiheit oder Liebe (oder vollkommener Harmonie? wie auf einer japanischen Tuschezeichnung vielleicht)

auf das die Müdigkeit folgte die Niedergeschlagenheit und die Beschämung vor Farida

wie soll ich also die Geschichte überschreiben sagen wir Die Störche des Hippokrates?

die während des Sechstagekriegs verkauften

Radios

schickten mich jedenfalls nach Paris

denn mein Vater hatte ein Jahr zuvor mit seinem letzten Kapital fünf Elektrogeschäfte gekauft

eine Nacht lang setzte ich mich vor eine stumme Reihe dieser elektrischen Wundertiere und starrte auf ihre polierten Holzgehäuse die Schleierwand vor dem Harem ihrer Lautsprecher die geriffelten Drehknöpfe an den Außenseiten die glasverkleideten Sendersuchleisten die elfenbeinfarbenen Klaviaturen zur Frequenzwahl ich senkte den Kopf und äugte durch die poröse Rückwand eines Geräts und schaltete es an als könnte über der glühenden Röhrenstadt in seinem Inneren etwas anderes aufsteigen als der Hass auf die Israelis und die vermeintlichen jüdischen Spione in der irakischen Regierung nämlich eine Antwort auf die Frage

ob ich auch allein nach Frankreich gehen sollte

denn wir hatten kaum unsere Koffer gepackt um als glücklich davongekommenes junges Paar ins Ausland zu fahren als Faridas Mutter schwer erkrankte

Anfang August gingen wir ein letztes Mal am Tigris spazieren die Radios wüteten noch immer

2 Millionen Israelis hatten 80 Millionen Araber besiegt (schrieb man im Westen als hätten wir mit Feldsteinen gekämpft und als wäre jeder Mann und jede Frau und jedes Kind dabei gewesen)

es waren die französischen Jagdbomber die deutschen Panzer die amerikanischen Kanonen hörten wir bei uns und wir hörten Doris Day singen wie in jenem Hitchcockfilm den wir Jahre später zusammen in Paris sehen würden Que Sera von einem der Fischrestaurants her wir setzten uns ans Ufer wir waren nicht fähig klar zu denken oder zu fühlen Que Sera war kismet ein beinahe muslimisches Lied es brach ab kaum dass wir uns gesetzt hatten

es ist keine Frage sagte Farida ich komme nach sobald es meiner Mutter bessergeht

ich würde nach Paris gehen mit Hilfe der Radios

ich ging und weil ich (der Jüngste) der Einzige war der studieren konnte noch dazu in Frankreich kam unter meinen Geschwistern jener durchaus nicht nur gut gemeinte Witz auf von meinem Freund Moschel zu reden dem ich das Auslandsstudium verdankte

in Paris träumte ich

neben Hussein in unserer Bude immer wieder vom israelischen Verteidigungsminister der eines meiner Augen verlangte als Provision bis Hussein mich heilte indem er Dutzende von Karikaturen zeichnete auf denen man mich und Mosche Dayan sah die letzte und aufwändigste auf einem großen Blatt auf dem ich den Kopf mit darübergeschlagenen Armen auf meinen Schreibtisch gelegt hatte umwimmelt von Dayans in der Größe von Mäusen Katzen Hunden allesamt mit Augenklappe einige flogen wie Fledermäuse um meinen Kopf oder saßen in kleinen Mirage- oder Mystère-Jagdbombern (ich kann solche Wunderwerke nicht voneinander unterscheiden) von denen einer meinen Papierkorb in Brand schoss ein anderer meinen Anatomie-Atlas

es war noch sieben Jahre später kein guter Witz

als Farida und ich 1974 zurückkehrten

waren wir schon einen Krieg weiter wir feierten die Geburt unseres ersten Kindes an seinem siebten Lebenstag ich hielt Jasmin in den Armen und sie schien mir weniger zu wiegen als eine Taube ich flüsterte ihr dreimal ihren Namen ins Ohr (ich glaube an den Namen des Menschen) wie ihr Faridas fromme Tante kurz nach der Geburt die Fatiha ins Ohr geraunt hatte das geschlachtete Lamm wurde im Innenhof des großen Hauses in Wasiriya gebraten das mein Vater nach dem Radio-Coup noch hatte erweitern können so dass zwei meiner Brüder mit ihren Familien darin Platz fanden uns dreien wäre das Haus meines Großvaters in Betawiyn geblieben aber ich hatte schon eine moderne Wohnung gemietet mein Vater war siebzig damals und noch ganz der große Scheich seiner Geschwister meiner Geschwister meiner Cousins die in seinen Elektroläden arbeiteten ich musste dagegen ankämpfen mich für Jasmins Geschlecht entschuldigen zu wollen aber er sagte doch kein Wort darüber dass die kleine Schiitin Farida ihm eine Enkeltochter serviert hatte nein vielleicht freute er sich sogar vor allem aber freute er sich dass ich tatsächlich zurückgekehrt war

als Arzt in den Irak

(das Land der unendlichen ärztlichen Arbeit)

die Wärme ist da sie umgibt mich meine Geschwister haben nicht geglaubt dass ich wiederkomme und jetzt ist ihre Freude ehrlich ich mag denken fürchten hoffen was ich will ich bin

zunächst einmal

zuhause ich spüre wieder die Hitze die vertrauten Stoffe rieche die Gewürze gehe unter den Dattelpalmen am Tigris streife die Lehmziegelmauern die Teppiche die Tücher wandere über die Brücken bummle mit Farida die Abu-Nuwas entlang und über die Suks ertaste die rissige jahrhundertealte Haut der Stadt als berührte ich einen mächtigen Elefanten mit der Ausdünstung von Kebab Kardamom Kohlenmonoxid Karbid sehe wie sich die modernen Wohnblocks die internationalen Geschäfte die neuen Hotels eingenistet haben und die Heimstatt der Weisheit die Wohnstätte der Vernunft die Mutter der Welt BAGDAD mit einem betonharten glasharten Versprechen auf ungeahnte Zukunft armiert während schon die Volkswagen Opel Renaults sogar Straßenkreuzer aus den USA durch ihre großen Arterien fahren

es ist die Idee dass vielleicht noch in einem einzelnen Land funktioniert was für alle arabischen Länder gemeinsam nicht herstellbar war eine Idee für die wir die Augen zukneifen und die untrüglichen Anzeichen ihrer baldigen gnadenlosen Pervertierung energisch

verkennen

ich spüre will unbedingt spüren

dass meine große oder beste Zeit beginnt mit Jasmins wundervoll bemühtem Hineinstarren in das über dem Innenhof schwebende blaue Quadrat der Zukunft

es war mir

sieben Jahre später

als richtete sie den gleichen Blick auf mich als sie von dem Fußball aufschaute den sie als schnellstes der Mädchen vor sich hergekickt hatte und mich am Zaun ihrer Schule stehen sah

wieder

in Uniform

Kompass

Mein Land liegt zwischen den Mühlsteinen Ost und West.

Sie drehen sich mit der Macht der großen Katastrophen

in entgegengesetzte Richtung.

Unaufhaltsam nähern sie sich einander.

Gehst Du nach Norden, verschwindet Dein Gesicht.

Gehst Du nach Süden, wartet in Basra der Tod.

Bleibe bei mir.

Sieh auf die Steine.

Wünsche Dir nichts.

Martin

Wir waren spät abends in Granada angekommen die Taxifahrt durch die engen Sträßchen und Gassen kam mir wie ein hastiger Tauchgang durch eine von orangegelben Scheinwerfern ausgestrahlte Unterwasserstadt vor der Zeitraffer mit dem alles gefilmt wurde erklärte das Wunder der immer gerade noch rechtzeitig zurückweichenden Menschenmenge dann die hohen alten Mauern und die Märchennachtblicke über die Stadt

das Morgenlicht des ersten Erwachens in dem Luisa über mich gleitet ihre Brüste mit der Fruchtschwere und Taubenwärme des Paradieses mit noch verschlafen seufzendem Behagen seid eine Kleidung füreinander (heißt es) Schleier Seidenmantel Pelzhandschuh schwarzer Nerz der über meinen Bauch gleitet sich über seinem Fund wölbt feuchter elastischer Ring erstaunlich kühl zunächst dann aber seine Glut verströmend das Feuer in unseren Körpern flammt auf

in

einander

gekleidet im hellen Licht der Fenster deren schwere große Läden Luisa geöffnet hat noch bevor sie selbst

erschien

vor den Gärten der Alhambra

die wir noch nicht gesehen haben die draußen in der noch frischen Morgenluft auf uns wartet noch heftig atmend liegen wir beieinander ein winziger silberner Vogel schießt vorbei auf der Suche nach seinem goldenen Baum der kräftige Körper neben mir Luisa buche sechs Monate im Voraus ein Zimmer im zweiten Stock sagt sie eine Hand auf meinen Nabel gelegt (als wäre ich — wie alle Paradiesbewohner — niemals geboren) und du bekommst noch vor dem Frühstück eine waschechte Andalusierin

das Netz weiß schimmernder feiner Linien auf einem gebräunten runden Oberschenkel

wie Lichtspiegelungen in einem Bassin

das Wunder noch immer und noch einmal neu lieben zu können

unser Hotel war Teil des Palastes und einer Moschee und wurde dann zum Kloster San Francisco umgebaut Luisa hat den Hotelprospekt vom Nachttisch geangelt sie ist sehr zufrieden mit der verspäteten Häresie unserer Liebe in einem ehemaligen Kloster zwischen verschnörkelten spanischen Holzmöbeln auf einem ausladenden massiven Bett in dem gewiss schon ein Ferdinand und eine Isabella ihrer katholischen Zeugungspflicht genügten

erst Frühstück dann der Orient das funktioniert hier viel besser als in Frankfurt und erst recht die Fantasie schließ die Augen sie dreht ihren Kopf zu mir so dass wir Stirn an Stirn liegen eine noch glückliche Vergangenheitskopie von mir und diesem großen starken spanischen Mädchen dessen Eltern vor Francos Armee von Sevilla nach Barcelona dann nach Paris und vor der deutschen Wehrmacht von Paris nach Marseille und Lissabon flohen und über London nach New York wir sind uns

wie neu begegnet

in der Neuen Welt und kehren jetzt auf dem Glacis unseres Alters zurück um noch einmal jung zu werden in Europa im morgendlichen Garten und Palast des ehemals maurisch besetzten Teils vielmehr also sag schon wie er aussieht der Orient mit dem du dich eigentlich gar nicht beschäftigen wolltest hätte der alte Goethe dich nicht mit seiner vorletzten Liebe dazu gezwungen

(an Luisas Stirn:) du meinst das Positive die naive Fantasie die Gazelle im Morgenwind die Dschinns die einen Berg überragen eine ganze Stadt schultern um sie woanders aufzustellen und ohnmächtig werden in einer kleinen verstöpselten Flasche wie die Vergangenheit die Kindheit in der wir von ihnen lasen

die absolute Tyrannei sagt Luisa die Macht und ihre Feier in der verschwenderischen Pracht der Paläste immer Sklaven Diener Eunuchen

der Harem (sage ich)

immer verborgene Gemächer Winkel Verstecke Paravents Höhlen Truhen und Strohkörbe Tontöpfe in denen sich Menschen verbergen fliegende Teppiche farbiger Rauch schreckliche Verstümmelungen

riesige Vögel kommen Luisa in den Sinn

die Metamorphose die stets vorhandene Möglichkeit dazu in jedem Augenblick kann jede Figur ein neues Schicksal erhalten (Kaufmannssöhne zu Bettlern Jungfrauen zu Dämoninnen Könige zu Adlern Eseln Hunden) so dass das menschliche Dasein in einem einzigen undurchschaubaren flimmernden Ornament verschmilzt im Mauerwerk

der Zeit

so las ich die Geschichte der Schahrasad

als Kind in Bremen

der nervtötende Friseur sagt Luisa

der einen anderen mit seinem aufdringlichen Geschwätz ruiniert ist so

lebensecht

wie meine Sorge meine erwachte Sorge an die ich mich genauso gut erinnere diese im Grunde noch vollkommen glückliche Bekümmerung die mich beim Frühstück im Patio des Hotels (leis plätschernder Springbrunnen maurischer Säulengang im Licht überwirklich (holografisch) schimmernde Orangenbäume) überfiel sofort entdeckt und enttarnt von Luisa die zwei Söhne aus zwei geschiedenen Ehen hat (Charles der in Boston studiert und mich kritisch taxiert und Francis der vielleicht einmal ein guter Maler wird wenn er es schafft der New Yorker Party-Szene zu entkommen)

sie ist neunzehn mein Lieber sie nimmt die Pille sie hat mehr Verstand als meine beiden Jungs zusammen je haben werden

ich kann ich muss mich auf Sabrina verlassen ich brauche nicht die Augen zu schließen um sie in München Florenz Rom vor mir zu sehen an der Seite ihrer vier Jahre älteren Cousine sie hat eine gewichtlose fast ephemere Art die durch die weiten langärmeligen Hemden die sie oft trägt noch betont wird mit fünfzehn und sechzehn trug sie knappe Röcke oder Shorts und schmückte sich mit Perlenkettchen Ringen Armreifen Flitter wie um sich von ihrer eigenen Jugend zu überzeugen jetzt aber

versteckt sie sich

die Garantie ist die Stärke die du ihr mitgegeben hast

der Rest

sagt Luisa

ist Glück und damals in Granada tröstete ich mich gut damit ich dachte daran wie schön Luisa mit achtzehn und neunzehn gewesen sein musste und dass sie es überlebt hatte und nun gelassen und strahlend als lebenskluge Fünfzigjährige vor mir saß draußen in den Gärten zwischen den Mauern Ruinen in den Palästen der Alhambra überkam mich ungeachtet der zahllosen Touristen der in die Innenhöfe um die Bassins zwischen die Säulen geschütteten Busladungen der Sklaven ihrer Kameralinsen die aus allen Schriften Bilder machten

die Ruhe das Schweigen das

Licht

in der Myriadengestalt der filigranen Explosion eines zentralen Himmelspunktes an der Decke der Sala de los Abencerrajes göttlicher Spinnweb Bienenwabe der Engel wäre das Universum solcherart überdacht

der Palast

bringt dich aus der Welt

das verschlungene Ornament

löst deine Seele

der genau bemessene Wasserlauf im Garten

gibt dich frei

das hat er gesucht sagt Luisa eben die exotische Ruhe die entrückte Pracht das (vermeintlich) Unabänderliche im alten Orient während in Europa die Freiheit und ihr Dämon die Throne bersten und die Reiche zittern ließen seit zwanzig Jahren Krieg Hoffnung Niederlage Erschütterung der Riesenstiefel des Kaisers zertritt die betulichen morschen Fürstenhäuser bricht Preußen das Genick die Grande Armée saugt Zehntausende junger Männer auf und zerstört sie in Russland

Schlacht bei Leipzig und Schlacht bei Waterloo

die Geschichte spielt jahrzehntelang ihr blutiges Roulette

wer eben noch des Kaisers Stiefel wienerte soll morgen schon die Hymne auf die Freiheit dichten im Auftrag der wiedererstarkten siechen alten Könige

glaube an die Unabänderlichkeit von Herrschaft ein gut haltbarer rechthaberischer Glaube der immer wieder seine Triumphe feiert

der Palast

erhält sich

zumindest in diesem Fall ich vermisste Sabrina nicht wirklich dort auf dieser so unzerstörbar scheinenden Insel der Vergangenheit war ich ganz froh nur Teil eines älteren Liebespaares zu sein das den mäandernden Weg zum Thronsaal nimmt hätte ich hier so viel zu sagen gewusst wie in Frankfurt vor der Gerbermühle oder in Weimar dann hätte ich mir Sabrina vielleicht herbeigewünscht aber die Zeit ihr Vorträge zu halten war schon lange vorbei (eigentlich doch seit ihrem siebten Lebensjahr in dem ich begriff dass ich mich mit ihr über nahezu alles unterhalten konnte dass sich in ihrem Augenaufschlag wie in dem aller Kinder das mächtige universelle Interesse offenbarte der Garant der kompletten Erneuerung der Menschheit durch den Menschen der kleine Buddha der einmal alles wissen wird mit seinem Milliardengehirn)

Goethe

hätte statt durch das Heidelberger Schloss durch die Alhambra wandeln sollen in der Zeit seiner hessisch-orientalischen Liebe

Marianne

der kleine Blücher wie er sie gern nannte

zupft die Gitarre

der GROSSE KAISER spielt auf seiner letzten Insel mit der grauen Brandwoge seiner Toten einmal

eroberte er Ägypten riss die Pyramiden aus dem Schlaf (232 Transportschiffe 2000 Kanonen 32 000 Soldaten 175 Gelehrte)

der Orient

erwachte ächzend unter seiner Gluthitze seinen verstaubten Palmen seinen zerbröckelnden Palästen in seinen abgeschotteten Medresen unter dem Leib des alt gewordenen Türken im

eigenen Blut (ein Streifschuss vorerst)

stell dir den alten Goethe vor gebeugt und weißhaarig zahnlos aber wieder schlank sich aufrecht haltend im braunen Mantel

wie er umgeben von den üblichen Verehrern und seligen Experten oder vielleicht auch nur mit seinem kunstsachverständigen Müller zu zweit also wie wir den Löwenhof betritt (behutsam ein Ginkoblatt am Stil zwischen den Fingern drehend) und sofort die Verhältnisse erläutert zwischen den eleganten wie im Morgenrot erträumten Säulen mit ihrem schwebenden Klöppelwerk

zwölf Löwen tragen das Brunnenbecken im Zentrum drei (die Trinität die vollkommene Zahl Himmel Hölle Erde) mal vier (die teilbare und doch alles umfassende Anzahl der Windrichtungen der Elemente der Körpersäfte) ergibt die zwölf Tierkreisbilder während die Summe aus Trinität und Welteckenzahl die Siebenzahl der Planeten darstellt entsprechend den sieben Arkaden der beiden Seiten des Myrtenhofes

genau so mag er gedacht und doziert haben

oder ganz im Gegenteil alle mathematische Hexerei verwünschend und also nicht-quantitativ sinnierend im Angesicht der Löwen über die vier rechtwinkelig verlaufenden

Bäche des Paradieses schreitend

ich erinnere mich

an einige Augenblicke oder Herzschläge eine halbe Minute vielleicht

in der wir plötzlich zu zweit im Löwenhof der Alhambra standen völlig losgelöst vom Touristenstrom ein glücklicher Zufall der Leere der uns (verwirrt) allein ließ auf dem sonnigen steingepflasterten Areal zwischen den mit spitzen Dächern gedeckten Säulengängen

alles (auch der Brunnen im Zentrum) ist kleiner (intimer) als wir es erwartet hatten

persönlicher

als wäre das Paradies nur ein lichtdurchfluteter Saal

Luisa erscheint mir perfekt und vollkommen in der Stille des im Rankenwerk der Säulenkapitelle spielenden Lichts mit ihrem schwarz glänzenden Haar der festen Brust der roten Bluse der schwarzen Hose den Lederschuhen in denen sie Flamenco tanzen könnte sie ist am richtigen Ort denke ich einen falschen glücklichen Augenblick lang so wie man sich wohl gerne Illusionen macht über die Harmonie das Verständnis die Toleranz das gedeihliche Miteinander der Kulturen im Andalusien der arabischen Herrschaft

es gibt immer

den Palast und die schwitzenden stöhnenden blutenden Fundamente unter ihm deren Sehnsüchte er spiegelt im Gold des Innenhofs — für noch einen unwahrscheinlichen Moment der Stille — scheint es mir plötzlich als würden Luisa und ich

durchstrahlt

(geprüft geröntgt) von einem Licht das keine Stelle an uns verborgen lässt das durch unsere Zellen flutet bis an die schmerzliche erlösende Grenze der Veränderung

Flüchtlinge aus der alten Welt ein bald müde werdendes spätes Pärchen das Glück hatte sich noch zu finden

im Licht eines Ortes an dem wir nicht sein können

unser Paradies

ist nur noch

nicht zu wissen

was kommt

Muna

Dass du solche Geschichten erfinden kannst

sagt Huda

ist doch verrückt

unter dem Bett der eigenen Schwester ganz wie Dinarasad aber etwas ist doch auch dran oder nicht deine Schwester kennt doch Leute beim Militär und wenn man in der Ölindustrie arbeitet

sagt meine Mutter sagt Huda

kann man nicht sauber bleiben das Öl

kriecht unter die Finger zwischen die Haarwurzeln läuft dir in die Ohren die Nasenlöcher in die aufgerissenen Augen den Mund stell dir vor du wärst ein Taucher im Öl mit nacktem bleichen Körper Taucherbrille Sauerstoffflasche natürlich mit einer starken Taschenlampe du sagst dir das Öl das sind vor Jahrmillionen gestorbene Pflanzen und Tiere du tauchst

vielleicht weil man dich in eines der Bohrlöcher gesenkt hat bei Mossul oder Kirkuk und du (als Wissenschaftlerin) untersuchen sollst ob noch mehr noch schwereres und köstlicheres Öl tief unter der letzten Quelle existiert du tauchst

Huda

neben mir auf dem Sofa wir haben die steifen Schuluniformen ausgezogen wir tragen jetzt Stöckelschuhe Jeansröcke und Seidenstrümpfe mit glitzernden Fäden durchzogene knappe Pullover darunter BHs die wie all diese Kleider von einer der Shopping-Touren stammen die Hudas Mutter regelmäßig in Amman und Beirut unternimmt

um sich zu trösten

sagt Huda heute schminken wir uns nicht wir tanzen auch nicht wie sonst hier des Öfteren in der geräumigen Dienstwohnung in der Nähe des Nationalmuseums über einem der Außendepots wo wir keine Angst haben müssen jemanden zu stören (unter uns nur die in großen Kisten in Holzwolle erstickten Steinköpfe aus Uruk jene Frauen mit den durchgezogenen Augenbrauen über den leeren Höhlen 5000 Jahre ohne Blick oder ist es die Stadtgöttin Ianna selbst die nach innen sieht und uns hineinsaugt in den Abgrund der Frühzeit) oder jemanden zu erregen jemand anderen als uns selbst wenn wir manchmal zwei Stunden lang tanzen herumhüpfen springen in dem weiß gekalkten kleinfenstrigen Raum neben Hudas Zimmer ein Raum ohne nähere Bestimmung weil er einmal als Erholungszimmer für Hudas Mutter gedacht war die sich aber nie erholt unser heimlicher kahler hallender Club in dem unsere eingemauerte Hitze manchmal so groß wird dass man jeden Augenblick mit

SEX

rechnet in irgendeiner bedrohenden aber doch auch wundersamen körperlosen Form

auf der Hochzeit deiner Schwester wie verrückt bist du wirklich unter das Bett gekrochen wie als Kind oder hast du das auch erfunden

möchte Huda wissen beide haben wir die Füße mit den Stöckelschuhen auf Stühle vor dem längs zur Wand stehenden Sofa gelegt und starren an uns herab wie in eine andere Welt

ich kroch wirklich

unter das Bett meiner Großeltern in ihrem Haus in Wasiriya während der Hochzeit wenn auch nur für kurze Minuten in denen mir die Idee zu dieser Szene kam niemand denkt sich wirklich hinein in

Dinarasad

die vielleicht nicht nur hören sondern auch fühlen will oder mit einem Dolch dort liegt jede Nacht und den König nur nicht ermordet weil sie wie er süchtig geworden ist nach der Fortsetzung der Geschichte sein

lauernder gequälter Komplize (Erzähl doch Schwester …)

dass sich das Bett in ein Schiff verwandelt gefällt mir am besten sagt Huda und dann zerreiße ich das Papier auf das ich die kurze Geschichte geschrieben habe obwohl Huda protestiert aber auch gleich begreift dass ich mich durch das Zerreißen in Sicherheit bringe vor allem und allen

außerhalb

aber vielleicht auch noch mehr vor meiner eigenen maßlosen Fantasie die mir so zusetzt dass ich noch auf der Hochzeit beinahe schreiend unter die Gäste gelaufen wäre um meine Schwester und den Major (ein ungemein schönes Paar eigentlich) anzuklagen mit der Hand auf das Schlafzimmerfenster zeigend als vollziehe es sich dort gerade hinter dem verschnörkelten Holzgitter während sich doch Jasmin im Brautkleid an der Seite ihres sorgsam herausgeputzten Kasim (der Major irgendwo rechts weit weggesetzt mit einem anderen Uniformierten) direkt vor mir befindet

wenn ich

es erfunden habe verfolgt es mich

bis ich es zerreiße

und ich es gelesen habe ich liebe solche Geschichten lacht Huda ihre großen Augen funkeln ihre blendend weißen Zähne erinnern mich noch einmal an den Damast des Brautkleids meiner Schwester

beinahe hätte ich es Tarik erzählt und Sami als wäre es tatsächlich geschehen ich tauche ein in die Bilder (tauchte

schon immer schon als Kind)

wie in das schwarzgrüne zähe Öl in dem wir uns gerade befinden als Taucherinnen mit weiß strahlenden Taschenlampen zerfrisst es nicht

unsere Haut

fragt Huda und ich stelle mir vor

stell dir vor

du befindest dich inmitten eines dieser riesigen Tanks und plötzlich schlagen Funken aus deiner Lampe und das Öl um dich herum entzündet sich ganz blitzartig ein weißer oder orangefarbener Feuerball der von innen heraus aus diesem haushohen Zylinder glänzender schwarzer Flüssigkeit entsteht und sich ausbreitet wie eine explodierende Sonne

es braucht Sauerstoff hör auf damit sagt Huda

schaudernd sie holt unser Chemiebuch das beschreibt wie sich der Luftsauerstoff in die Ketten der Ölmoleküle hineinfrisst und sie spaltet wobei Kohlendioxid entsteht und Wasser und eben diese ungeheure Hitze (stell dir vor Huda dass der ganze Tank explodiert ein einziger Feuerball dass aber du selbst dass wir (die Taucherinnen) unverletzt bleiben inmitten dieser Explosion wie im Auge eines Hurricans)

es kann nicht sein frag doch deine Schwester Jasmin sie arbeitet doch in Dora und das ist etwas das meine Mutter natürlich ganz großartig findet dieser Wiederaufbau der von den Amerikanern zerbombten und zerschossenen Raffinerie ganz mit eigenen Mitteln

Hudas Mutter Schiruk finde ich selbst großartig wenn auch mit einem schlechten Gewissen (das mir mein Vater eingepflanzt hat wer in leitender Stellung im Nationalmuseum arbeitet kann nicht sauber bleiben) Hudas Mutter ist etwas das wir Frauen im Irak auch sein können sein konnten vielmehr denn die Dinge bewegen sich wieder zurück als läge alles auf einer dunklen Drehscheibe die sich in die Vergangenheit bewegt selbst der

PRÄSIDENT

sinkt in die Knie (auf dem Gebetsteppich) was für eine widerliche Komödie

ruft meine Mutter empört vor dem Fernseher

Schiruk ist vielleicht die falsche Frau (aber das ist mir egal) für die richtige Idee für das was eine Frau eben auch sein kann nicht

versteckt sein nicht zermürbt von Niederlagen nicht nur klug und müde und sanft abwehrend wie meine eigene Mutter Farida die Huda so sehr schätzt weil sie Bücher übersetzt hat und so gut kocht Schiruk spürt dass ich sie verehre dass ich es liebe wenn uns der Pförtner freundlich durch das babylonische Palast-Tor des Museums winkt und sie mit uns durch die Ausstellungsräume ihrer Abteilung geht uns mitnimmt in die Depots mit den riesigen Kisten in die Werkstätten zu den merkwürdig schläfrig-eifrigen Restauratoren denen sie aufmerksam über die Schulter sieht früher empfing sie ganze Lehrerkollegien aus Kirkuk oder Basra und Journalisten aus Schweden Wissenschaftler aus Tokio London Berlin bevor wir Embargo-Land und Bomben-Abwurfsland wurden und die wertvollsten Bestände in die Depots wanderten um öden politischen Ausstellungen Platz zu machen dennoch kommt Schiruk immer wieder auf die eigentliche Funktion des Museums zurück und es ist das Verstehen das wirklich Kundige das mich so an ihrer Arbeit und Art reizt

in der Schule ist Geschichte oft nur Angeberei ein Sich-in-die-Brust-Werfen

vor 12 000 Jahren

verkündet der neue (zu meiner Schulzeit vierte) Direktor hätten überall nur kleinere Rudel von Neandertalern gelebt in Europa Asien und den USA aber dann wäre es eben hier (früher als in Ägypten) geschehen dass der Mensch sich erhob und die Schrift erfand die Radachse die Töpferscheibe den Streitwagen das Hochhaus das Gesetz

Auge um Auge

in Stein gemeißelt

bei Schiruk ist es nicht dieses Protzen sondern ein Nachdenken eine Art waches aufmerksames Zurückgehen sie fragt mich

weshalb es heute von Vorteil ist dass man mit einem so brüchigen und wasserempfindlichen Material wie Lehm baute (so baute man Schicht auf Schicht und so können wir uns Schicht um Schicht in der Zeit zurückbewegen) sie zeigt mir einen Steinzylinder der mit einem Jagdszenen-Relief versehen ist und erklärt wie man das Rollsiegel zur persönlichen Markierung von Getreidesäcken verwendete sie möchte von uns wissen (Huda verdreht nur die Augen) was es heißt dass vor 5000 Jahren in Uruk erwiesenermaßen 25–30 000 Menschen wohnten aber diese unmöglich von den Erträgen der unmittelbar die Stadt umgebenden Landwirtschaft hatten leben können

vier Sprachen und kein Mann sagt Huda böse

über ihre Mutter ich verstehe sie denn Schiruk ist oft verreist und lässt sie bei Verwandten zurück aber ich finde dass Schiruk mit ihren eleganten Kostümen ihrem perfekten Auftreten ihrer energischen Art überhaupt nichts Bemitleidenswertes hat sie hat oft Angst sagt Huda

wenn ich mich fürchte

stelle ich mir manchmal die Löwen von Babylon vor die aus den blauen Ziegelmauern der Prozessionsstraße wie aus einem tiefen Sommerhimmel heraustreten und unerschütterlich und ruhig neben mir hergehen wie glühendes Gold höher als meine Schultern an meinen Seiten wie gemeißelt und unzerstörbar mich einrahmen mit ihren steinernen Muskeln bei jedem Schritt

du hast so verrückte Ideen aber dann willst du wieder alles so genau wissen meint Huda als wir am späten Nachmittag wieder über die Ahrar-Brücke gehen um das Geschenk für ihre Cousine auf dem Goldmarkt zu kaufen der Tigris ist schon fast grau geworden die Autoschlangen bewegen sich so langsam als müssten sie tatsächlich auf Schuppen über den Asphalt kriechen wiederum Gehupe ich ziehe doch noch ein Kopftuch auf schimpft Huda auch wenn meine Mutter das hasst

auf dem Suk der Schmiede und Kesselflicker hämmert ein Fünfjähriger Eisennägel auf einem Amboss gerade Henkeltöpfe und Pfannen schweben klappernd über uns vor einem kleinen internationalen Hotel stehen die Wechsler mit Büscheln von Dinaren und warten auf die wenigen Touristen die noch in der Stadt sind oder die UN-Diplomaten

deine Schwester sagt Huda einige Gassen weiter so ruhig und leise als fiele ihr noch eine ironische Bemerkung ein

durch einen schwankenden Vorhang von goldenen Halsketten durch eine Lücke in diesem Vorhang vielmehr trifft mich unvermittelt Jasmins Blick von oben herab von so weit oben wie sie immer über mir stand ihre sorgsam gezupften Augenbrauen heben sich leicht ist es Mitleid oder Spott du bist ja ganz hübsch sagte Huda einmal aber deine Schwester ist schön wie ein

Falke denke ich plötzlich

als wollte sie mir etwas antun sie trägt ein blaues Kleid und hat eine weiße Strickjacke über ihre Schultern geworfen ich glaube sie wiegt weniger als ich die Nähe ihres Gazellenkörpers gibt mir stets das Gefühl von Plumpheit und irgendwie tragischer Langsamkeit im Blick des Falken gibt es

eine Warnung eine Art

stummen Befehl

und jetzt verstehe ich alles denn

im Fenster zwischen den Goldkettchen taucht eine schwarze behaarte Hand auf zu stark und braun um Kasim zu gehören und doch so nah an Jasmins dünnem vornehmen Hals (um eine Perlenkette darum zu legen) das grüne Tuch der Uniform das bärtige Gesicht des Majors

ich träume

was geschieht

Tarik

Jasmins Hände greifen durch die biegsamen grünen Maschen des Schulhofzauns nach meinen Händen sie ist gerade sieben also zu jung mein Freund um schon etwas über Muhammad Schams ad-Din zu lernen den ihr Hafis nennt und über die wahren Gründe des Krieges wird sie in einer Schule in der jeder Lehrer in der PARTEI sein muss ohnehin nichts erfahren in einem Land dessen oberster Vertreter ist gleich oberster Führer der Armee ist gleich PRÄSIDENT genau so denkt wie es in dem wütenden alten Buch seines Onkels ist gleich korrupter Bürgermeister von Bagdad steht

Juden Fliegen und Perser

hätte Gott nicht erschaffen sollen die Attacke gegen die Perser erfolgt jetzt so will es das Monstrum das aus dem Bauch des Monstrums PARTEI kroch mit Orden beklebt wie ein grüner Fliegenstreifen

bald schon bekommt er von den deutschen Spezialisten eine schöne neue Insektenvertilgungsmittelfabrik (Leipziger Toxikologen Laborbauer aus Frankfurt am Main) er reißt zehntausend Arme mit Schwertern empor und ist schon überall und wie endgültig an jede Wand geklebt in jedes Buch in alle Räume auf die Bildschirme Geldscheine Ziffernblätter der Armbanduhren fast noch auf die Ärsche der Wasserbüffel in den brackigen Kanälen von Basra und in jedes Körnchen der Sandschleier der gelben Sonnenfinsternisse die Straße um Straße im Sommer verschlingen und staubverkrustet nach Stunden erst wieder ans Tageslicht husten

ich spüre Jasmins weiche kleine Finger durch den Zaun und mein (noch junges erst fünfunddreißigjähriges) Gesicht erscheint mir selbst schrecklicher als alle väterlichen Gesichter meiner eigenen Kindheit von denen keines sich über mich beugte mit der Zumutung begreifen zu sollen akzeptieren zu müssen dass es nun in einen Krieg verschwinde die

Schleier

das weiße leichte Gewebe vor deinem vom Sturm gepeitschten Gesicht

zerreißen

die Wohnung in dem vornehmen Neubauviertel die du mit deiner Familie bezogen hast die vor zwei Jahren neu eröffnete Praxis der Club in dessen Swimmingpool Jasmin mit einem Gummitier herumplanschte während du mit Kollegen einen Drink nahmst während im Hintergrund die Grillkohlen rauchten und noch weiter dahinter die Kräne Betonträger in die hohe Zukunft balancierten

der PRÄSIDENT

schwamm in Öl (das seine Partei mit Beifall des ganzen Landes endlich den Engländern wieder abgenommen hatte) verschenkte Kühlschränke und Fernsehgeräte leitete Strom schickte Traktoren in entlegene Dörfer wie ein Gott wanderte Arm in Arm mit den Kommunisten für das sozialistische Arabien bis zur nächste Ecke

um die er sie gleich darauf brachte

die Schleier färbten sich an den Rändern mit Blut senke den Kopf lies die Zeitungen des Vaterlandes die Wiedergeburt des sumerischen Großreichs unter dem wahren König Saddam

Flughäfen Schulen Einkaufszentren Krankenhäuser schießen aus dem Boden es gibt schon neue Universitäten es gibt höhere Gehälter für Soldaten Polizisten Ärzte Folterknechte

die beste Zeit

ist der Glanz der Entwicklung des mit Gold und Öl und dem Blut seiner Oppositionellen überspülten Irak

es gibt

Krieg den keiner will den zunächst

kaum jemand

ernst nimmt denn Bagdad baut als wäre es ein Architekturwettbewerb als würden die Mullahs in Teheran nur mit Gegenbaustellen reagieren und gewinnen wollen mit dem besten Hochhaus und dem protzigsten internationalen Luxushotel

es ist Krieg

weil der PRÄSIDENT glaubt die revolutionären schwarzen Vögel auf den geschleiften Palästen des Schahs seien schwach die Gelegenheit also günstig einige alte Rechnungen zu begleichen und die Wunden und Schrecken zu rächen die der große persische Pfau (ausgestopft bis zum Hals mit den prachtvollen Waffen Amerikas) uns zufügen und zumuten konnte insbesondere jenen Griff nach dem Hafenfluss Sindbads Schatt al-Arab unserem einzigen Zugang zum Meer

die Mullahs sollten zudem gründlich erschreckt und gedemütigt werden damit sie uns Revolutionären keine Rückwärtsrevolution schenkten und nicht das Feuer anzündeten unter unseren Schiiten

in drei Wochen schon

erklärte der PRÄSIDENT

stünden wir in Teheran

zwei Monate später verband ich auf der Ladefläche eines Militärlastwagens die ersten (noch bloß von Unfällen während des Aufmarschs herrührenden) Wunden und träumte am Tag fassungslos zwischen den Soldaten dass ich mit ihnen in den Krieg fuhr Sindbads Stadt entgegen kein Vogel Rukh der seine Jungen mit Elefanten füttert riss uns empor und heraus (schon jetzt waren wir zu mager und kläglich) aus

dem Spiel Leben und Vernichtet-Werden gemeinsam mit diesen noch atmenden noch lachenden rauchenden jungen Männern auf der hart erschütterten Ladefläche auf die man niedrige Bänke geschraubt hatte (der ein oder andere von ihnen kehrte als Toter mit dem Taxi zurück so luxuriös auf Befehl des PRÄSIDENTEN dem der Fuhrpark ausging) ich wollte das alles

von Paris aus sehen auf einem Nachrichtenbildschirm an der Gare de Lyon oder vor einem mit Ramsch verstopften Elektrogeschäft im 20. Arrondissement oder

vom Oberarztzimmer einer vornehmlich für die Parteikader errichteten blitzmodernen Bagdader Klinik aus in das ich vielleicht gelangt wäre

hätte mir nicht Alis Freund Khalid ein PARTEI-Mann und hervorragender Chirurg und Noch-immer-Philanthrop erklärt dass sich mein Desinteresse an der PARTEI schlingenartig um meinen Hals zu legen begänne so dass ich plötzlich meine wahre Begabung meine Berufung und mein Bedürfnis nach praktischer unmittelbarer Tätigkeit erkannte und

unverzüglich

die Klinik verließ um in eine Arztpraxis einzusteigen wobei mich Prof. Dr. Khalid Yussef freundlichst unterstützte und mich damit wohl vor einer Gefängniszelle bewahrte nicht aber vor der dreimaligen Frontverwendung als Arzt im längsten und zähesten Krieg des Jahrhunderts

sieh noch einmal

Basra

in der Götterdämmerung seines Rufs als Venedig des Arabischen Golfs

und sieh

wie

(die Bände einer klassischen Ausgabe neben Abu Nuwas und Rumi neben al-Mutanabbi und Abu Alla al-Maari in der Bibliothek meines Großvaters)

Hafis

(Farida erzählte dass sie als Kind Tee Datteln und Brot zu den Persern brachte die in Zelten vor der Stadt nächtigten auf ihrem langen Weg nach Nadschaf und Kerbela mit ihren Kindern und ihren Toten)

stirbt

mit einem Stirnband um den Kopf die leuchtend bestickte Eintrittskarte ins Paradies

Mahdi gib mir Kraft — Für Dich Hussein — Jeder Tag ist Kerbela

sie tranken den Wein des Todes wie Süchtige in den Minenfeldern

junge Männer Schüler Lehrlinge

Kinder mit Spielzeug näherten sich winkend und warfen lachend

Handgranaten

bis man auch auf sie schoss Großväter und ihre Enkel als hätten sich die Tore einer schrecklichen Fabrik einer düsteren Schule eines riesigen Gefängnisses geöffnet so dass sie sich jubelschreiend in die Stacheldrahtwälle warfen und sich türmten Menschen-

Wellen

denn der PRÄSIDENT

hat nicht bedacht dass die Revolutionen ihre Kinder anzünden und hineinschicken können in eine Angriffswelle aus Feuer und Blut

solange

ihre Zeit währt die Verbrennung der Gegenwart für die blendende Illusion einer besseren Zukunft

aber die Mullahs wissen es und sie haben erkannt dass ihnen nichts mehr nützt als das Rollen der Blutwalze

Märtyrer auf Märtyrer

vor unseren Schützengräben die wie Visierschlitze in die lehmgelbe Einöde gezogen waren durch welche die Erde Blut und Eingeweide trank ich assistierte den Feldchirurgen ich musste selbst schneiden flicken Drainagen legen im Schein von Öllampen ich sah mit zitternden Knien und mir selbst unbegreiflich ruhigen Händen das blasse immer nur scheinbar schläfrige Krötengesicht von Marcel Cassin vor mir als hätte er einen Video-Übertragungskanal vom Engel Gabriel erhalten direkt aus einem OP der Pitié Salpêtrière in mein Gehirn Chirurgisches Praktikum I, II, III (Tarik! Eine Aorta ist kein Wasserpfeifenschlauch! Aber wenigstens führt der Mann die Nadel wie Generationen von Teppichknüpfern vor ihm und steht still wie ein Dromedar und da hat er recht Messieurs denn Ruhe ist alles und eine Naht ist nichts weniger als eine Visitenkarte!) so steuerte er mich noch ich musste (in den Nächten zwischen schreienden jammernden Soldaten) an den Junggesellenspeisesaal einer weiteren ehrwürdigen Klinik zurückdenken in dem ich Cassin zuletzt gesehen hatte einmal vor mir am Tisch und einmal als Satyr der sich über eine maskierte Schwarze hermachte inmitten weiterer als Orgienteilnehmer verewigter Chef- und Oberärzte gemalt von hierzu aufgerufenen Studenten es gab da eine Tradition der obszönen

Bilder

der AYATOLLAH winkt grandios (seht den Ring an seinem kleinen Finger)

der PRÄSIDENT mit Beduinenkopftuch und einem Kind auf dem Arm

noch in den Lazaretten starrt er auf die ihm zujubelnden Wunden eines Tages klebte er auf dem Deckel eines Mülleimers im OP und öffnete das Maul für durchgeblutete Pflaster und Verbände (einen kleinen Finger eine halbe rechte Hand)

schweige arbeite schweige wie die Soldaten die äußerlich nichts davongetragen hatten die im Schützengraben lehnten wie gefroren die es nicht mehr ausgehalten hatten Leichenberge vor sich aufzuhäufen und verrückt wurden

ohne einen Laut

bei einem der Toten (feindlichen Toten: als würden wir uns im Paradies noch abschlachten für den Triumph im nächsten Paradies) einem dreißigjährigen Mann aus Schiraz vielleicht (oder einer der anderen Städte die wir mit französischen Jagdbombern attackierten während ich mit den vertrauten Spritzen Kanülen Binden Kompressen Medikamenten von Aventis / Rhône-Poulenc / Sanofi das Leben der Instrumente des Todes zu erhalten versuchte junge Männer die auf Befehl alter Männer junge Männer ermordeten wie jener fast spurlos erschossene Perser) rutschte ein Gedichtband aus der Brusttasche der Uniform

persische Ghaselen von Hafis und Rumi in arabischer Schrift (denke an Hölderlin und Rilke in den Gräben vor Verdun mein Freund endlich erreichten wir europäisches Niveau)

Mein Herzliebster ist ein Kind,

er wird mich spielend eines Tages

töten ohne dass des Blutes

das Gesetz ihn schuldig macht.

blutige Kinder mit schwarzen Turbanen

blutiges Kind in grüner Uniform

ein Volk schafft das Monster dessen Kindereien seine Kinder morden

blutige Greise die die Falltüren für ihre Enkel öffnen

jedes Volk fürchtete das Monster des anderen Volkes kämpften wir deshalb vor Khorramshar bis selbst

die Luft blutete

ich kehrte zurück ich

stand am gleichen Schulzaun (ungläubig wie ein Toter) ich umschloss wieder Jasmins kleine Hände mit den Händen an fast genau der gleichen Stelle sie erhielt die Erlaubnis mit mir nachhause zu gehen anstatt noch ein Lied auf den PRÄSIDENTEN auswendig zu lernen den neuen Saad ibn-Abi Waqqas der nach 1300 Jahren die Perser noch einmal schlagen und bekehren musste die Wiederholungen der Geschichte sind immer eine Farce so habe ich es (über Ali) von Marx gelernt der nicht geahnt hatte in welchem Ausmaß an Mordlust die Farcen ihre bescheidenen Originale zu übertreffen imstande sein würden ich führte Jasmin durch die Hitze im Juli durch die Baustellen eines immer noch reichen hämmernden bohrenden pulsierenden sich aufwärts in die chaotische Moderne der Zuspätgekommenen hebenden Bagdad für das der Krieg fast noch wie eine TV-Serie war etwas wie ein Unwetter in einem anderen Land das der PRÄSIDENT schier ganz alleine niederkämpfte an einer fernen Fernsehfront ich fürchtete Jasmin könnte die Kälte des Todes in meiner Hand durch mein Fleisch hindurch spüren ich schwitzte in der Uniform des IRREN den wir so bald wohl nicht mehr abzuschütteln vermochten (einen Sommer später versuchten es die Schiiten im Dorf Dujail das daraufhin fast vollständig von der Landkarte verschwand)

noch zweimal ging ich in den Krieg

ich sah

die von deutschem Giftgas zerfressenen Gesichter und die wie mit Senf überkrusteten halb aufgelösten Gliedmaßen unserer Soldaten die man nicht rechtzeitig aus der Gefahrenzone unseres eigenen Angriffs gebracht hatte (bald darauf kehrten die Iraner mit Gasmasken made in Germany zurück)

als es schlecht stand für

den PRÄSIDENTEN und die nächsten hunderttausend Todgeweihten (nie wurde ich verletzt es war als hätte ich zum Ausgleich für den Feind im Gesundheitsministerium der mich an die Front schickte einen unsichtbaren Freund im Krieg der mich dort beschützte) als

DERANJEDERWANDKLEBENDE

Zehntausende ins Marschland jagte um bei 50 Grad Hitze Schilf zu schneiden damit es den vordringenden Feind nicht mehr tarnen konnte (während er selbst in immer neuen Bunkern und immer neuen absurden Palästen umherkroch) als ER die Kellner der Luxushotels an die Front schickte und mehr Überstunden von allen verlangte schließlich auch energisch mehr

Fortpflanzung

für mehr Kanonenfutter

bekam Farida erschreckend fristgemäß mit der ihr eigenen rätselhaften unwiderstehlich ausbrechenden Kraft zu leben mit siebenunddreißig und achtunddreißig Jahren Kinder euch verrückte Himmelskinder als hätte sie den Entschluss gefasst mich auf diese absolute Art zurück ins Leben zu rufen oder besser nicht daraus gehen zu lassen

kurz bevor du geboren wurdest Muna

kamen die Amerikaner nach Bagdad und brachten neue Jagdbomber für den

Krieg der Städte

wir konnten nicht fliehen ich war registriert ich wurde überwacht und einberufen

Farida stillte Muna

stillte Sami

in der Erbitterung der langsamen Zersetzung der Hoffnung erhältst du

überwältigend physisch fast unvermeidbar absurd

zwei atmende schreiende lachende Gründe zu leben zu heilen zu fluchen

häufe nicht zu viele Wünsche auf den zerbrechlichen Körper eines Kindes stand bei al-Ghazzali in der Bibliothek meines Großvaters

und nicht zu viel Angst sagte Farida

ich sah die brennenden Tanker im Golf die Feuerbälle über den Ölplattformen und die mit grünen Stirnbändern markierten Paradiesvögel die auf Schnellbooten rasend den Übergang in ihre versprochene bessere Heimat suchten durch das brennende schwarze Meer der Krieg drohte den gesamten Golf zu entzünden das fette Ölfass auf dem wir uns mit den Persern mordeten und schließlich kamen zu den Panzern aus Russland den Flugzeugen aus Frankreich dem Geld der Saudis den Kalaschnikows aus Ägypten den Satellitenkarten der CIA auch noch

die großen internationalen Flotten hinzu die unsere Küste und den PRÄSIDENTEN und seinen ÖLigen Ausfluss beschützten

Jasmin zog deinen Kinderwagen Muna über das blanke Marmorglacis der mächtigen gespaltenen blauen Zwiebel die an den Hohlkopf des Märtyrermachers erinnerte und

die vier Hände an den vier Unterarmen des PRÄSIDENTEN wie der Scharia gemäß abgehackt für den Diebstahl des Lebens von einer Million Menschen wurden an den Enden der Paradestraße paarweise montiert und kreuzten ihre Säbel zu Triumphbögen hoch über der Mitte

unseres Lebens

ich ließ die Arme sinken Muna so etwa kann ich es beschreiben schon vor dem Ende des Kriegs ging ich mit hängenden Armen durchs Leben durch den Tod auch wenn ich verband pflasterte nähte arbeitete bis ich im Stehen hätte schlafen können brauchte ich die Arme gar nicht zu bewegen es war (und ist) eine Art von Befreiung und Leichtigkeit darin der PRÄSIDENT riss die Säbel empor und feierte seinen Sieg über das Leben seiner Untertanen mit

Gas

über Halabja zehn Jahre später erst (in Paris) las ich Genaueres über die an einem Tag ermordeten 5000 Kurden so viele

Nachrichten

die den Weg nicht mehr fanden nach Bagdad in unser

schäbigeres ärmlicheres Leben in dem ich die immer schäbigeren ärmlicheren Patienten verarztete wehrlos

heilend so gut ich es eben verstand

Watan (Heimat)

Bohre ins Herz dir das Eis

Glühender Tage, du siehst:

Niemand von außen begreift,

Dass ihr Schmerzen noch fühlt.

Hitze ist Kälte und weiß

Schwärzeste Nacht noch, es schließt

Eng sich um alles der Kreis

Lauf! Doch du bleibst, wenn du fliehst.

Sabrina

Eric

wird in fünf Minuten kommen mein Rucksack steht schon im Flur er ist leicht die fehlenden Studienbücher scheinen ihn anzuheben es sind fast nur T-Shirts und Badesachen und Amandas blauer Pullover

wenn Eric pünktlich kommt bleibt uns

eine halbe Stunde wenn

ich darauf bestehe den 12-Uhr-Zug zu nehmen was ich nicht müsste und doch will oder nicht wenn ich vor den großen Spiegel im Bad trete sehe ich nur ein schmales vielleicht ganz hübsches gerade Frau gewordenes Mädchen das mir unscheinbar und streng (mein zurückgebundenes Haar) vorkommt ich sitze und träume mit den Ellbogen auf den Knien mit den noch nicht über die Mitte der Oberschenkel gezogenen Jeans starre ich dann auf meinen roten Slip als trüge ihn eine andere die schmalen Streifen wie Flügel über meiner Haut meinen Leisten ein

Feuer-

Vogel mit gebogenem weichen gespaltenen

Schnabel

ich blute nur noch schwach also

muss ich mich fragen weshalb ich Eric gestern Abend nicht eingeladen habe nachdem Seymour nach Manhattan gefahren ist es wäre das erste Mal gewesen dass ich einen Jungen in diesem Haus bei mir hätte übernachten lassen und das erste Mal mit Eric aber es hätte wohl nicht funktioniert (oder nur: funktioniert) im

Haus meiner Mutter

durch dessen Vorgarten zur Düne hin um drei Uhr morgens der Liebhaber stolpert (Lesley angetrunken und ausgetrunken) ich kann nicht

nur einfach nicht tun was

sie tut

sagt Eric und hat recht aber das hier (das blendend helle Bad die weiße Treppe das Wohnzimmer mit der hohen Fensterfront mein geräumiger Himmelskerker mein Seeräuberinnen-Nest mit Meeresblick) ist meine Verbannungslandschaft mein Pubertäts-Exil der

hölzerne Palast in den mich der Dschinn verschleppt hat damit ich zwei Jahre lang Gedichte in den Dünensand schreiben konnte und jeden Tag tausend weiße Gedankenstriche auf die salzige blaue Folie des Atlantik

weine rede flüstere

in der Küche bei Mrs Donally das Schachbrettmuster des Fußbodens die Wärme das von Halogenlämpchen erzeugte stets gleichmäßig strahlende Atelier- oder Filmstudiolicht des Erdgeschossraums in dem ich morgens allein mit der Haushälterin frühstückte und lange Nachmittage und Abende saß

getröstet immer

ruhiger werdend von Monat zu Monat

weil ich mich aussprechen oder auch schweigen konnte endlich kochen lernte und Iris (Mrs Donally) so viel zu erzählen wusste

sie ist wirklich interessant nicht wahr sagte Seymour der

auch damit

meinen Widerstand gegen ihn (den zweiten Mann meiner Mutter) stark herabsetzte er mochte Iris wie ich sie mochte als ich begann sie zu begreifen eine robuste und ganz und gar nicht schöne Frau deren Tochter seit langem in Brooklyn lebte und Kriminalromane schrieb während sie selbst ihr ganzes Berufsleben lang alle drei Jahre den Arbeitgeber und die Stadt manchmal auch das Land wechselte

einfach aus Prinzip weil mir sonst langweilig wird

(sagte sie) eine kleine Wohnung in Queens in der sie ihre Schätze verwahrte und drei Koffer mit denen sie reiste reichten aus

man muss nicht schön sein

man benötigt keinen Uni-Abschluss

man braucht keinen großartigen Beruf

keinen Ehemann keinen Verein kein Auto keine Religion nur

den Mut ins Leben zu steigen wie in die Brandung an einer Felsküste es ist kalt frisch und nicht ungefährlich aber

du lernst schwimmen

manchmal möchte ich

so weit kommen so gelöst sein wie Iris so ohne das Bedürfnis nach einem Rahmen einer Organisation einer Wissenschaft oder nah lebenden Familie (in Kalifornien weiterstudieren?)

in der Mitte des Wohnzimmers

stehe ich in Jeans und hellbraunem T-Shirt in meinen schwarzen Schuhen in denen ich sowohl lange auf Straßenpflaster gehen als auch auf Parkett tanzen kann könnte es ist noch heller und sonniger geworden so dass sich Meer und Himmel aufzulösen scheinen wie auf einem überbelichteten Foto ich stand noch nie in Straßenschuhen Tanzschuhen ganz allein an dieser Stelle vor einer Woche hatte Seymour wichtige Leute aus seiner Branche eingeladen

Ölmänner

die mit ihren Weingläsern klirrten nachdem sie die ruinierte Garage auf der anderen Straßenseite bestaunt hatten (verbrannte Erde das übliche Nebenprodukt ihres Geschäfts hier aber nur) das

Leichtsinnswerk meiner Mutter

vor einem Jahr

fuhr ich mit meinem Vater nach Boston und schämte mich plötzlich für seinen alten Ford den wir mit meinen Habseligkeiten vollgestopft hatten für die ich mich plötzlich auch schämte ich verstand mit einem Mal dass ich gar nichts oder kaum etwas besaß so wenig

Dinge

dass ich so leicht

zu beseitigen war dachte ich dass ich nur mich hatte und dieses wie

unzerstörbare

Jungsein

das ich in Eric wiederfinde einen Spiegel der mich umarmt in einer neu zu gründenden Welt die jähe

Abstoßung

der Abschied Aufbruch

vor einem Jahr erschien mir Martin seltsam fremd als er den alten PC in mein Studentenwohnheimzimmer schleppte und Bücher- und Kleiderstapel der Herr Professor in Jeans und UMass-Sweatshirt wie ein Möbelpacker der einmal etwas Besseres gewesen war oder hatte sein wollen

er ist absolut interessant

flüsterte Julia mir zu (als wäre er Mrs Donally) aber sie meinte es in erotischer Hinsicht er hatte ja auch tatsächlich ein neues Liebesleben bella Luisa seit drei Jahren Schwester am Anfang waren sie so verklemmt es ist albern und peinlich wenn dein Vater glaubt du verstündest nichts er wäre so dezent so rücksichtvoll und geschickt dass er dir vormachen könnte noch nach sechs Jahren der Trennung wie ein Mönch zu leben und nur der armen Luisa ein wenig helfen würde die großen runden Ohrringe zu schleppen wir sind aber die

Seherinnen

die Spinnerinnen der Geschichten in der Zeit aus der Zeit heraus ich sehe nur nicht

das Jetzt das mich unmittelbar umgibt meine

gläserne federleichte fließende Gegenwart

stattdessen spüre ich dieses Weggefallensein der Wände der Räume in denen ich etwas war das ich zu kennen glaubte und alles erscheint mir gleich weit entfernt (das Zimmer in Amherst die seltsame Schiffskabine auf dem Ozean der Wissenschaft in Boston die ich mir mit Julia teile das Eckzimmer im Sommerhaus der Garten der Charles River der Atlantik)

es klingelt und als Eric den Flur betritt bin ich

fremd und hemmungslos für zehn Minuten so dass wir durch den Flur purzeln und im Wohnzimmer auf dem Sofa uns glücklich verrenken bis zu einem Punkt an dem Eric spürt dass mir einfällt

wo ich bin

jetzt sehen wir aus als hätten Räuber versucht uns die Kleider vom Leib zu reißen (wobei es allerdings unverständlich ist weshalb ihnen meine Brustwarzen und Erics kleinerer bläulicher Kopf über dem Bund seiner Unterhose immer noch entgegenkommen wollen) und es scheint auch gleich als müssten wir fliehen (angetrieben von der langen Mittagspause im Fahrplan der Long Island Rail Road) so rasch ordnen wir uns und greifen nach meinem Rucksack verlassen das Haus

Eric

ist ein einfaches vollkommen müheloses leichtes

Verstehen

es ist nicht nötig zu sagen was ich erst allmählich begreife nämlich dass ich wohl

die Schwebe

aufrecht — waagerecht — die Möwe auf einer unsichtbaren nervösen kippeligen Schaukel über den Dächern der Holzhäuser

halten will das

Versprechen unseres Aufbruchs das Gefühl dass alles dass das Bestmögliche zwischen uns geschehen wird morgen nein wohl frühestens in drei Tagen wenn wir mit dem Greyhound-Bus Los Angeles erreicht haben werden auf dem Weg zum Bahnhof trägt Eric meinen Rucksack ich sehe mich so klar und deutlich noch einmal im Wohnzimmer des Sommerhauses ganz genau an der Stelle an der ich vor Erics Läuten stand als wäre ich noch dort

in einer anderen Zeit aus der ich nicht mehr

fliehen kann

Leave your shadows

heißt es im Refrain des ersten Songtextes den ich für Eric geschrieben habe er ist nicht sonderlich gut geworden aber wenn Eric das Lied singt wird er so stimmig und scheinbar unabänderlich dass ich heulen könnte aber das ist nicht nötig an diesem sonnigen Nachmittag in East Hampton an dem wir Hand in Hand zur Bahnstation gehen ich bin noch immer erregt und gespannt und zufrieden zugleich

Erics dunkelblonde Haare wehen ihm in die Augen die Handbewegung mit der er sie aus dem Gesicht streicht wirkt unbeholfen wegen des Rucksacks beinahe wie die Bewegung eines Tiefseetauchers oder Astronauten

in der hellen Sommerluft durch die wir schwimmen

oder schweben und es ist auch so dass ich jetzt konkret zurück möchte auf die Couch im Wohnzimmer und das vollkommen Wirkliche möchte bis zu diesem unterirdischen Schlagen Zucken einer fremden wilden Ader in mir

woher

nimmt er nehme ich das alles wir sind doch nur Fahrrad gefahren haben uns einen Frisbee zugeworfen schwammen faulenzten am Strand lasen uns vor sangen zu seiner Gitarre er hat einen Platz für Jazz- und Sologitarre an einem Konservatorium in L.A. er will in einer Band spielen er will sich ablösen von East Hampton von seiner überherzlichen ondulierten Mutter und seinem Vater dem hohen Polizeibeamten und seinem älteren Bruder der in der Army dient und stolz darauf ist den allerneuesten High-Tech-Panzer (STRIKER) zu fahren

wir sind nicht

irgendwo

sondern in Amerika also

glauben wir an uns Eric so hat man uns aufgezogen mit der Hand auf der Brust die Flagge der Freiheit besingend wir müssen uns selbst definieren und irgendetwas in Erics lässiger und doch bestimmter Art sagt mir dass er nicht nur ein Traumtänzer ist sondern immer Mittel und Wege finden wird wenigstens einen Teil der Träume zur Erde zu holen

die du doch studierst

er liebt es das zu sagen und auch dass die Erde sogar in Kalifornien existiere ja dass ich sie gerade dort wo sie ja äußerst lebendig sei noch besser erforschen könne er sagte auch er bräuchte die Gravitation meiner Bücher und meine deutsche

Nach-Denklichkeit

(das Wort brachte ich ihm bei)

im Sonnenlicht

lehnen wir aneinander am Bahnsteig

in unseren Körpern lodert eine Flamme auf

die überschlägt

und uns verbindet als hätten wir keine Kleider keine trennende Haut

schon fährt der Long-Island-Zug ein das Quietschen Fauchen und Zischen eines höheren (stärkeren) Wesens überragt uns (nur eine Maschine) küss mich Eric

öffne die Augen

die gelb gestreifte Front der Lok dann

eine verschmierte blaue Eisenwand

Martin

Es sind nur noch zwei Meilen zu laufen

ein (Sabrinas) Kinderleben lang benötigte ich bis mir das Denken in Meilen Fuß Zoll selbstverständlich wurde die Bürotürme der UMass ragen wie Burgzinnen hinter fahl himbeerroten Sportplatzumzäunungen auf hinter denen sich undeutlich einige Frühsportler bewegen Studenten und Oberschüler wie in großen Netzen gefangen von schrecklichen Fischkuttern der Luft die Bilder

flirren vorbei verschwimmen verwischen zu

Lichtfiguren der Regen an jenem Tag vor einem Jahr an dem ich Sabrina nach Boston fuhr

endgültig wie ich immer wieder und wieder

denken muss

hörte plötzlich auf die Sonne brach schier gewaltsam hervor auf dem Fenster der Beifahrerseite das Sabrina zur Hälfte heruntergelassen hatte sah ich mit zerlaufenen Wassertropfen und kondensiertem Dampf gemalt

in dieser Vergangenheit den Spiegel einer Vergangenheit

die Silhouette der Alhambra wie Luisa und ich sie einen Monat zuvor vom Albacín-Viertel aus (auf einer Steinmauer neben einer weißen Kirche sitzend) erblickt hatten mächtig und doch gelassen auf ihrem ockerfarbenen Felssockel ruhend ich dachte mir damals bezüglich dieses Urlaubs was Sabrina mit Blick auf unser Haus ihre alte Schule das ganze hinweggleitende vertraute Amherst meinte nämlich dass man gar nicht mehr heraus müsse dass man ebenso gut immer bleiben könnte ein naiver Gedanke den schon ein Blick über die Schulter widerlegt vom Heck her über die nach vorn geklappten Rücksitze des Ford bis zu den unwillig nachgebenden Lehnen der Vordersitze türmen sich die Kleider- und Bücherkartons Sporttaschen Plastiktüten (Sabrinas Schlittschuhe in bedrohlicher Nähe zur Glasscheibe des in eine Daunenjacke gesteckten alten PC-Monitors es wurde Zeit für ein Notebook)

es ist wiederum

ein früher Septembertag

ein später Sommertag

kälter nässer gleißender (blendende Lichtschneisen über dem Highway Nr 90 auf den wir bei Springfield auffahren) als der heutige bald in der Erinnerung erstarrende Tag meines letzten Laufes für so lange Zeit

der Lauf ist

noch nicht zu Ende

das letzte Jahr ist

noch nicht angebrochen

die Grenzübertritte haben noch nicht einmal Silhouetten im Nebel der Zukunft

es würde ihr helfen sagt Sabrina dass wir gerade erst aus Europa zurückgekommen seien nach der fünfwöchigen Reise wäre sie einfach unterwegs geblieben habe sie ihre Koffer nur wieder umgepackt ich sehe unter dem Vorwand die rechte Spur beobachten zu müssen zu ihr hinüber erschrecke gleichermaßen über ihren Mut ihre Leichtigkeit den noch so mädchenhaften schmalen Körper an meiner Seite ich würde am liebsten das Steuer herumreißen und sie zurück nachhause fahren ich muss die klügere Instanz in mir wiederherstellen die es vor Kurzem noch lieber gesehen hätte wenn sie zum Studium weiter weggegangen wäre (nach Kalifornien wenigstens oder sogar nach Berlin) als sich Boston auszusuchen gewissermaßen den geografischen Kompromiss zwischen der Villa auf Long Island und dem Holzhaus in Amherst

in Cambridge

wo ich in einer Frühstückspension übernachtete um unseren Abschied hinauszuziehen offiziell aber nur wegen des geplanten Mittagessens am nächsten Tag mit Amanda und

dem Ölmann

wie Sabrina und ich ihn immer nannten als bestünde er von Kopf bis Fuß nur aus einer viskösen schwarz glänzenden Masse oder spiegelnden Flüssigkeit vielmehr die durch ein Wunder (der Petrochemie) zusammenhielt zu menschenähnlicher Gestalt

in Boston und Cambridge hatte sich der frühe Septembertag im Jahr 2000 zu einem klassisch schönen Sommertag entwickelt (übertrieben dreidimensionale Marmorwölkchen wie fliegende Steine vor dem Hintergrund einer stahlblauen Himmelsfläche) in einem neuen Jahrtausend ihr Studium zu beginnen erschien Sabrina weniger bemerkenswert als mir (der ich oft daran gezweifelt hatte so lange zu leben)

die ersten Stunden

betäubten wir uns mit Organisation schleppten Kartons packten aus räumten ein und ich versuchte nicht zu eifrig zu wirken um nicht den Anschein zu erwecken Sabrina loswerden zu wollen auch wenn ich in dem Augenblick in dem ich das Studentenwohnheim am Charles River sah (eines jener nüchternen fünfstöckigen Gebäude welche die klassische Brownstone-Architektur nachahmen nur etwas kantiger und transparenter so dass nichts verloren und nichts gewonnen scheint) den nicht wieder zu schließenden Riss der Trennung spürte

der noch einmal zugewachsen war als sie mit sechzehn beschlossen hatte zu mir nach Amherst zu ziehen und dort (zuhause) die Highschool zu beenden plötzlich so konzentriert und engagiert dass ihre MIT-Bewerbung angenommen wurde

der Riss ist nichts weiter als

das notwendigerweise vollkommen eigenständige Leben des anderen des eigenen Kindes

deiner Tochter die auf einem Kiefernholzsofa an deiner Seite zwischen halb ausgepackten Umzugskartons die Listen des MIT Housing studiert What’s in the room: Extra-long bed — Mattress — Desk — Desk-Chair — Bureau — Phone — Ethernet-Access — Waste baskets … What to bring: Adress book — Alarm clock — Aspirin or other

Pain

reliever

Sabrina greift nach ihrem einen Popsong dudelnden mobile es ist ihre Mutter die noch einmal unseren Termin für den kommenden Mittag bestätigt dessen Sinn mir unklar ist dem ich aber auch nicht ausweichen möchte (eine der Mutproben ähnelnden Amanda-Inszenierungen von Patchwork-Familien-Harmonie) und als Sabrina auflegt versetzt mich das Nachklingen von Amandas Stimme in dieser Umgebung so lebhaft in die Zeit in der wir gemeinsam in einem Wohnheim-Zimmer hausten büffelten und uns liebten dass es mir so vorkommt als besuchte Sabrina mich und nicht ich sie in ihrer neuen Behausung und das Gefühl hält noch an

als wir aufstehen das Zimmer verlassen und die Gerätschaften der Gemeinschaftsküche besichtigen im Fahrstuhl erscheinen mir Studienanfänger wie ich sie seit so vielen Jahren in meinen Vorlesungen und Übungen sehe fast so mysteriös und interessant wie sie Sabrina wohl vorkommen (immerhin sind es künftige MIT-Leute und nicht Frischlinge unserer Wald- und Wiesenuniversitäten)

noch während wir in die Tiefgarage rumpeln

hält die illusionäre Zeitverschiebung an ich fühle mich wie ein älterer Kommilitone dieser Freshmen deren Eltern und Freunde ebenfalls Kartons CD-Player Kleiderbündel Baseballschläger und Fernsehgeräte in das Heim schleppen am Labours Day

gegen Abend kommt dann auch Sabrinas Zimmergenossin Julia an eine ironische Rothaarige mit trägem fülligen Körper und schnellem Mundwerk wir besuchen einen Irish Pub auf dem Campus und noch immer und obgleich oder weil die beiden jungen Frauen sich blendend verstehen und lebhaft miteinander reden kehre ich nicht so recht in mein Professorenalter zurück sondern schwimme in einer diffusen Zeitzone zwischen den Studenten mit ihren flackernden mobiles den Guinness-Reklamen den Schwarz-Weiß-Fotografien die das Leben der irischen Einwanderer in halb ironischer halb glorifizierender Weise in die vage Gegenwart projizieren

am nächsten Tag

frühstückte Sabrina schon allein mit Julia und ich erwachte in meiner Pension in der Harvard Street

plötzlich 52-jährig mit einer jähen Empörung als sei ich im Zeitraffer in ein unerträgliches Alter geworfen worden Hochzeit Promotion Alkoholsucht und Scheidung lagen schon hinter mir (Reihenfolge daher egal) man hatte mich mit dem eigenen Leben abgespeist oder gar betrogen

aber als ich gegen neun Sabrina treffe um zu sehen wie rasch sie und Julia sich in ihrem Doppelzimmer arrangiert haben kann ich mich wieder mit mir abfinden der mächtige alte Trost ein Kind zu haben befreit mich von mir und mit dem Blick auf die wackeligen Regale und kleinen Schreibtische überkommt mich auch die Erleichterung

das alles

nicht mehr nicht noch einmal

leben zu müssen

Sabrina würde vielleicht mit gespannterem Interesse und höherer Energie als es mir einmal möglich gewesen war (vor dreißig Jahren in Bremen) ihr Studium beginnen neben der fülligen witzigen fraulichen Julia wirkt sie entrückt wie eine herabgesegelte Fee die ihre Zauberkräfte mit MIT-Spezialwissen untermauern möchte es sind die Earth, Atmospheric and Planetary Sciences denen sie sich verschreiben will zu meiner Verwunderung als ein mit Literatur aufgewachsenes Kind das mit fünfeinhalb Jahren lesen konnte und noch heute Gedichte schreibt (die noch als junge Frau Gedichte schrieb) womöglich braucht die künftige Lyrik genauere Kenntnisse über die Tektonik der Erde die Physik der Ozeane die Bewegungen der Luft

womöglich braucht Sabrina auch das Profane Moderne entschieden Diesseitige des MIT mit seinen Glas- und Betonbauten seinen eingeengten Grünflächen und kalkulierten Passagen in kahlgeräumte Innenhöfe den modernisierten Backsteinbauten und rezivilisierten Exponaten der wüsten Architekturmoden der sechziger und siebziger Jahre zwischen denen manchmal noch die Erinnerung an die Barackenbauten der Vierziger aufschimmert als man hier die Funkcodes deutscher und japanischer Kriegsschiffe knackte es muss ein heilsamer Schock oder eine Art groß angelegter

Ernüchterung

sein was sie hier sucht

Kontakt mit der technologischen physikalischen subkutanen härteren Unterschicht der Realität

die sie nicht finden würde ginge sie immer nur wie jetzt neben mir

in traumhafter Unschärfe zwischen den gepflegten Vorgärten den roten und weißen blauen blassgrünen Holzhäusern frisch gestrichenen Veranden gestutzten Straßenbäumen ondulierten Büschen dezenten teuren Gemeinschaftswohnanlagen der Harvard Street zum Harvard Square der ihr immerhin gefällt von einem Caféhaustisch aus betrachtet

während sie mir nur einen Gefallen zu tun scheint als sie vorgibt auch den ehrwürdigen Campus sehen zu wollen (der reichsten Universität der Welt) und wir finden wie leicht Betrunkene oder Gleichgewichtsgestörte keinen rechten Halt auf den strahlenförmig angelegten Wegen des Innenhofs ich zeige ihr die Freshmen-Unterkünfte die den ihren am MIT ähneln aber hier wie Küken um die Glucke gelagert sind wir polieren die linke silbern glänzende Schuhspitze des bronzenen John Harvard (wie alle Glück wünschend das es nicht gäbe hätten es alle) wir sehen kurz in den fantastischen Lesesaal der Widener Library hinein und stehen vor der Gedenk-Nische den frischen Blumen dem Ölgemälde des ehemaligen Studenten dessen Mutter die Bibliothek stiftete nachdem er beim Untergang der Titanic ums Leben gekommen war

er soll

erklärt uns Judith eine sechzigjährige Kollegin die hier Germanistik lehrt und wie durch Zauberhand erscheint

verbotenerweise Bücher der Harvard-Bibliothek mit auf den Ozeanriesen genommen haben

Judith glaubt natürlich Sabrina beginne hier das Studium der Germanistik und Literaturwissenschaft in Harvard aber dann bewundert sie Sabrina ausdrücklich für die Earth Sciences am MIT und erzählt die Geschichte vom ewigen Speiseeis das es auf Anordnung der Mutter von Harry Elkins Widener in der Mensa immer geben müsse (da es sein Lieblingsdessert gewesen sei)

welcher Nachtisch für brennende Türme für die Titanic der Luft anstelle einer Bibliothek wenigstens ein Buch

neben ihrer Mutter

wirkt Sabrina nicht mehr so zerbrechlich sondern kindlich robust und auch etwas trotzig ein Reflex darauf dass Amanda in Jeans und legerer Sommerbluse ihre eigene Collegegirl-Vergangenheit zitiert (dabei ist sie auf jene irritierende Weise mager und sehnig geworden die blonden Frauen ihres Alters etwas Scharfkantiges fast Schneidendes gibt)

schweigend

neben Seymour deVries auf dem Beifahrersitz eines großen fetten dennoch irgendwie hybrid oder sonst wie energiesparend betriebenen Riesen-Rangers oder Monster-Rovers zu sitzen

während meine Ex-Frau und meine Tochter sich auf der Rückbank aufgekratzt immer vergnügter fast schon hysterisch laut unterhielten

war nicht weiter schlimm (bloßer Auftakt der Mutprobe)

wir segelten wie auf einer Yacht im Strom kleinerer Boote über die Harvard-Bridge auf die Commonwealth Avenue und wieder zurück über die Longfellow-Bridge weil Seymour auf der Suche nach einem legendären Restaurant sich verfuhr oder es genoss uns ausführlich durch seine Geburtsstadt zu chauffieren uns gleich dreimal über den Charles River schweben zu lassen so dass wir die glitzernde kühle komprimierte Business-Energie der Stadt spüren konnten ihre gemäßigte Hektik die Coolness eines bulligen athletischen aber gepflegten Bankers in kurzem weißen Hemd oder einer von ihren Buchführungstabellen nicht völlig unverführerisch aufblickenden nadelgestreiften Lady (matronenhaft aber fest) zu viele Fernsehfilme selbst in meinem Kopf es waren nur der Fluss die Parkstreifen an den Ufern die Hochhäuser der Back Bay

Sabrina (ihre kühle weiche Hand die sie auf meine Schulter legte so dass sie leicht meine Halsseite berührte so oft auf diese Weise so beiläufig) erinnerte mich daran dass wir sechs Wochen zuvor erst

von Europa her kommend

hier gelandet waren

letzte Sicht auf den Fluss dann Autobahnschleifen dieses Mal die richtige Ausfahrt und bald darauf die vornehme britische Kleinstadtwelt von Beacon Hill durch die uns Seymour zu Fuß führte (nachdem er seinen Straßenpanzer mit Hilfe piepsender Kleincomputer und denkender Minikameras hatte einparken können) das ist sterbenslangweilig hier sagte Sabrina so superenglisch was für ein Kitsch

wärst du je in ein Neu-Deutschland gezogen fragte Amanda plötzlich und ich sagte natürlich nicht schließlich seien wir doch dort gewesen als Sabrina sechs Jahre alt war am Kontrollpunkt Friedrichstraße im Tränenpalast als wir nicht wussten ob wir uns in a) Deutscher mit Green Card b) US-Bürgerin und c) Sabrina trennen mussten ob ich immer noch so sehr den Wald liebe (in den sie mich doch geführt hatte

behalt es für dich)

wie Thoreau

sagte Seymour ich habe ihn nie unsympathisch gefunden er ist kein Bostoner Brahmin und auch kein Nachfahre der irischen Einwanderer (die ehemaligen Underdogs die schon längst in der Stadt den Ton angeben) seine Eltern sind aus Rotterdam geflohen kurz bevor die deutsche Luftwaffe die Stadt bombardierte ihr das Zentrum das Herz herausriss er erinnert (blond sommersprossig blauäugig) an einen Holländer (oder Hamburger oder Stockholmer) Seymour ist unser Ölmann obwohl er etwas angenehm Trockenes an sich hat eben jene Yachthafen-Noblesse die ich immer an Amanda bewunderte es wäre leichter wenn man seinen erfolgreichen Nebenbuhler einfach nur hassen und meiden könnte es bliebe einem diese bedrückende Affinität und Nähe zu den Liebeswahlen des ehemaligen Partners erspart

man bräuchte auch solche kultivierten Mittagessen nicht wie eben dieses hier in einem Restaurant in der Chestnut Street das wir dem unauffindbaren Geheimtipp dann doch vorziehen

brauche ich

ertrage ich jetzt

das letzte gemeinsame Mittagessen bei dem ich wenig sage und noch nicht einmal gut zuhöre die im Nachhinein so unverzeihliche Geistesabwesenheit teile ich wohl mit Amanda vielleicht dachte sie wie ich an den Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße im August 1988 diese Selbstverständlichkeit mit der ich damals Amandas Ellbogen berührte Sabrinas Kopf drückte sich Schutz suchend gegen meinen Bauch wir nahmen den Zugang für US-Bürger und wurden sehr höflich behandelt

ein Aufflackern vielleicht in Amandas Augen eine kurze Nachgiebigkeit gegenüber dem nostalgischen Ausflug eine knappe ironische Parade etwa so als würde sie einem alten männlichen Bekannten gelten der für einen Augenblick aus seiner Freundesrolle fällt und ihr einen zu tief gehenden Blick zuwirft

in der Vergangenheit

gibt es keine Luft für uns

ganz gleich wie verzweifelt die Zukunft dort atmen möchte sich dort noch einmal und viel besser umsehen will immerhin habe ich ein sehr klares Bild meiner geschiedenen Frau an jenem Restauranttisch mir gegenüber zur Mittagsstunde ein stehendes und doch flackerndes Kippbild der Empfindung die für einige Sekunden Amanda in eine gar nicht mehr angebrachte lebendige Nähe bringt um sie gleich darauf weit abzurücken in die wunderliche und fast schon wieder bewundernde Distanz eines fremden Blickes auf eine energische Geschäftsfrau der man an dem Kontrast zwischen professionellem Make-up und schlichter Garderobe anmerkt dass sie ihrer Tochter einen Gefallen tun will eine jener vordergründig kühlen Blondinen deren träumenden Körper man sich selbst dann nicht recht vorstellen kann wenn man ihn eine halbe Stunde zuvor nackt in den Armen hielt scheinbar so gepanzert so

unverletzlich

jetzt

im Sommer

wo ich darunter leide dass ich Sabrina nicht so klar an dem Tisch sehen kann wie ihre Mutter weil sie links neben mir saß

ja dass ich

mich auch kaum an ihre Worte erinnere an ihre Überlegungen und heftigen Einwände meine (nostalgische) Abwesenheit und mein väterlicher Stolz nahmen nur ihre Gesten wahr und die Wirkungen die ihre Argumente auf den mir schräg gegenüber sitzenden Ölmann hatten dass er immer wieder beeindruckt dass er amüsiert und erstaunt bisweilen sogar betroffen aussah das

reichte mir schon aus

und verrückter- (später vielleicht verständlicher-)weise

behielt ich genau im Gedächtnis was er (der ebenfalls am MIT studiert hatte der sich mit einer für mich doch schwer erträglichen Mischung aus Expertendünkel und angemaßtem Vaterstolz meiner Tochter zuwandte) ihrer Kritik an der ölfressenden amerikanischen Gesellschaft entgegenhielt es hämmert noch heute in meinem Kopf (als wäre er schon jene schneebedeckte Gestalt im Sturm und schrie verzweifelt in sein Mobiltelefon) was er doch ganz ruhig ironisch geduldig Sabrina vorhielt dass es niemand genau wisse dass Öl eine begrenzte Ressource wäre dass andererseits historisch erwiesen sei wie die Magie des steigenden Preises immer wieder neue Techniken neue Quellen neue nunmehr profitable Erschließungsmethoden hervorgezaubert habe und verändertes Konsumentenverhalten bewirken könne sogar in den USA

Öl ist tief in der Erde vergraben so einfach so schwierig ist das (sagte Seymour)

halte dich an die Dinge

die vor dir in der Luft vergraben sind (im Vakuum der Vergangenheit)

Amanda und Sabrina an jenem helllichten Tag von dem ich lange Zeit dachte er müsse einer meiner glücklichsten werden da

Sabrina ihr Studium begann

Muna

Auf dem Heimweg kurz vor dem alten Haus meines Urgroßvaters das mit seinen schmalen Fensterschlitzen und dicken kühlenden Mauern wie eine kleine sandfarbene Burg oder ein Teil eines Indianer-Pueblos der Hitze trotzt

stolpert Achmed gegen mich

gejagt von seiner älteren Schwester Hind der er (wie sie entrüstet versichert) die ihr zustehende Portion Baklawa stibitzen wollte und ich nehme den Kleinen mit zu Farida in die Küche wo es immer etwas Süßes für ihn gibt

beim Wiederhinausrennen rempelt er mich erneut an ohne Dank quiekend vor Freude ein lustiges Räubergesicht mit Zahnlücke im oberen Kiefer und dicken Augenbrauen seine weichen Knochen schmerzen nicht beim Aufprall der energische Kinderkörper weckt mich nur auf und bringt mich in die Wirklichkeit

zurück

in Faridas Küche zu Faridas lässigen akkuraten Bewegungen wenn sie kocht

Zwiebeln Petersilie Minze Knoblauch hackend mit Blick auf das schattige Geviert des Innenhofs in dem sie ihre Zierpflanzen und Kräuter zieht

auf einer Kante des Tischs liegt ein Buch das sie gerade übersetzt sie steht oft ganz abrupt von ihrer Schreibtischarbeit auf und beginnt zu kochen das Kochen

bringt dich immer wieder zurück auf die Erde

eben dahin will ich wenigstens für einige Stunden auf die

Erde der Erde

denn schließlich ist der Major wirklich seine kräftige Hand am Hals meiner Schwester (und wenn sie das braucht sagt Huda

kichernd

in meinem Kopf) und meine ganze

rechthaberische Fantasie

erdrückt mich beschwert mich klagt mich an als hätte ich durch sie erzwungen erzwingen können was wirklich geschieht ich wollte es wäre

nichts

Faridas Küche

schneide Kürbisse knete Teig zupfe Blätter hacke Kräuter zerteile Fleisch wasche Reis und Bulgur koche Tee

so oft finde ich neben Farida wieder zurück

in die Familie

in der Küche treffen wir uns wie an einem wirklicheren Ort selbst Tarik fällt ganz automatisch in den Rhythmus der Frauen schneidet Gurken Tomaten Auberginen Kohlblätter mit seinem Lieblingsmesser das er abwechselnd Die Machete oder Das Skalpell nennt und selbst Sami tut in der Küche was man ihm aufträgt ohne zu murren wenn auch ungeschickt und sehr schläfrig im Vergleich zu dem was seine Finger auf einer Computertastatur bewerkstelligen können rühre die Harisse dabei kannst du programmieren sagt Farida lachend

Yiom was kochen wir Yiom

das Kochen ist immer eine Rettung ein Anker für das irre fantastische Schiff

Kardamom Pfeffer Koriander Cumin

es gibt immer weniger Fleisch und Fisch aber Farida kennt auch so genügend Rezepte heute etwa ist es ein Auberginenauflauf mach einen Orangensalat dazu wie du es von Tante Nawal kennst und während ich drei Orangen schäle und in dünne Scheiben schneide rote Zwiebeln häute und in feine Ringe zerlege schwarze Oliven darübergebe Minzeblätter zupfe und Öl in das ich einen Teelöffel Cumin gerührt habe (kam Salz dazu?) kann ich mich wieder einmal fragen welche Mutter ich lieber hätte eine die erfolgreich mit den Wölfen spielt oder diese ruhige weiche blasse Frau in dem grünen von einer Goldlitze gesäumten Hauskleid die einmal Lehrerin war bis alle Lehrer in der Partei sein mussten die einmal für einen großen Verlag Romane übersetzte bis fast nichts mehr übersetzt werden durfte die sich ganz auf die Familie die Verwandten die Küche und die Bücher zurückgezogen hat

und doch

das ist was bleibt denke ich immer und es scheint mir oft dass Farida das ähnlich sieht und dass sie daher ihre Kraft nimmt und den Stolz sie hat nichts Eingeschüchtertes an sich obwohl sie doch geschlagen ist und begrenzt auf das alte Haus in Betawiyn und die Häuser der Nachbarschaft nur selten besuchen Tarik und sie noch alte Freunde (sofern diese noch in Bagdad wohnen und nicht in Amman Beirut London Berlin Köln)

einmal kämpfte mein Vater mit Jasmin

in Paris

ich habe es bemerkt aber nicht verstanden ich war erst elf

was soll ich dieses Krankenpflegebuch noch weiter übersetzen fragt Farida wenn es die Hälfte der Medikamente und Pflegemittel überhaupt nicht mehr gibt God bless America

was macht Huda fragt Tarik die lustige Haddawi mit ihrer Super-Mutter dem achtsprachigen Weib mit vier Zungen und sechs Armen wusstest du dass sie vergangenen Monat in Uruk das Skelett eines königlichen Menschenaffen gefunden haben der bei der Rekonstruktion mit Knetmasse genauso aussah wie Saddam

er spürt

den Schatten

der auf mir liegt weil ich von meiner Schwester geträumt habe aber was

weiß ich schon

ich spüle Geschirr mit Farida während Sami in seinem Zimmer genau über uns mit Microsoft dahinfliegt wie

ein Fliege im Glas (die falschen Flugzeuge die verzweifelt von innen gegen die Glasscheibe des Monitors anstürmen)

Tarik will einen Dichterfreund auswärts treffen und verschwindet nach dem Kaffee

wir lesen ich muss nicht fürchten dass Farida plötzlich auf Jasmin zu sprechen kommt zwischen Farida und Jasmin scheint es kaum mehr ein Band zu geben es fällt so selten noch ein Wort über meine große Schwester die noch alles tun konnte wovon mir nur zu träumen bleibt die nun auch noch meine Alpträume für sich reklamiert

nachts

winkt mir der kleine Achmed von gegenüber zu (doch noch dankbar) er sitzt auf seinem Bett wie ein struppiges kleines Gespenst in seinem hellen Schlafanzug nur wenn ich an dem schmalen Bettenhaus vorbeigehe in dem wir unsere Matratzen für draußen aufbewahren kann ich das Dach unserer Nachbarsfamilie einsehen die Betten von Achmed Hind Frau Rikabi und ihres selten anwesenden Mannes und Yusufs Hängematte natürlich der Freund meines Bruders eben taucht er hinter Achmed auf und packt und kitzelt ihn aus Verlegenheit weil er sonst wieder einmal bei meinem Anblick glühend erstarren würde

wir können Moskitonetze über unsere Betten ziehen (sie stammen aus England und Tarik pflegt deshalb zu behaupten dass Tony Blair ihn persönlich beschütze) aber wenn der Wind aus dem Osten kommt ist es nicht nötig und Tarik Sami und ich (Farida schläft nie auf dem Dach und Jasmin tat es auch nie) breiten die Netze dann nicht über die in Kopfhöhe angebrachten Holzstangen

Achmed von gegenüber quiekt auf und Yusuf kichert

wenn man sich küssen würde

und aneinander reiben

etwas von der Energie ginge dann vielleicht verloren die in mir kreist die mich spannt und federleicht macht ich schwebe auf dem Dach in den Fieberkreisen meiner Fantasie wie in unsichtbaren phosphoreszierenden Ringen in verborgen glühenden Farben

unter der Haut

Autohupen Stimmen Musikfetzen das Rauschen der Nacht

am frühen Abend war der Himmel an den Rändern blutrot und purpurn

jetzt sieht man wenige Sterne in einem gedeckten pastellartigen bläulichen Grau ein Schleier eine Decke ich habe keine Kraft mehr

für einen Himmelsflug der Tag fällt mir ein an dem wir Jasmin zum Flughafen gebracht haben ich war sechs es war kurz nach dem Krieg am Abend noch kaufte mir Tarik auf dem Suk ein rotes Fahrrad mein Paris mein leichtes rollendes Leben drei Jahre lang fuhr ich um die Neubausiedlung in der stillen vornehmen Gegend in der wir einmal wohnten

steige auf dem Fahrrad in den Himmel

ich könnte es Achmed schenken wäre es nicht während unseres Umzugs verschwunden Schwester vielleicht siehst du es von oben in den Träumen der Vergangenheit über unserer Stadt wenn dein blutrünstiger König in Träume verfallen ist und die Dau über Bagdad hin schwebt

es heißt

der Kalif al-Mansur habe am Ufer des Tigris eine Nacht verbracht und niemals leichter und unbeschwerter geschlafen so dass er beim Aufwachen die neue große Stadt gründete vor über 1200 Jahren die Hauptstadt der leichten Träume oder

gar keiner Träume vielleicht

Sabrina

MTA Long Island Rail Road Departure East Hampton 11:47 AM

wir treffen uns morgen sage ich

klar sagt Eric um zwei vorm Virgin Megastore Broadway Ecke 45. Straße und wir gehen zusammen zur Greyhound Station wie besprochen

der Zug fährt gleich los du stehst auf der Treppe

im Waggon jetzt schon sagt Eric wir treffen uns morgen auch wenn

auch wenn?

wenn ich jetzt noch eine Stunde mit dir fahre oder etwas länger bis

bis?

Babylon sagt Eric dort wohnt ein Freund von mir er wird mich mit dem Auto zurückbringen ich kann dich einfach noch nicht alleinlassen

auf der Sitzbank nebeneinander in Fahrtrichtung über uns mein blauer Rucksack auf der Gepäckablage der obere Teil seltsam menschlich wie ein eingewickelter Kopf ein Zuhörer aus einem anderen Leben stell dir vor jedes Mal wenn du dich schwer fühlst trägst du einen unsichtbaren Zuhörer oder gar Zuschauer und wenn dir ein Stein vom Herzen fällt entschwebt er nach oben in die Gepäckablage es sind wenig Passagiere zur Mittagszeit es scheint als wäre der Waggon nur für uns da (der Zug die Parkplätze die Ladenzeilen dann wieder Sommerhäuser) plötzlich ist alles leicht geworden klar durchsichtig fast und ohne wirkliche

Unterschiede

als könnten wir ineinanderfließen verschmelzen wie Zellen oder Flammen oder durch die Metallwand des fahrenden Waggons hinausrollen wie auf eine Sommerwiese als gäbe es eigentlich gar keine Geschwindigkeiten (Kräfte Spannungen Vernichtungen)

alles (vieles)

fällt von mir ab weil ich erwartet hatte dass die Last in dem Augenblick deutlich spürbar wird in dem ich allein auf der Bank sitze und Eric ein letztes Mal zuwinke während er doch einen Arm um mich legt und mein Ohr küsst die

Möglichkeiten

sind

Zimmer eines Hauses durch das ich leichthin gehe ich hatte Angst heute Abend mit meiner Mutter zu sprechen aber jetzt nicht mehr erzähle ich

ach Eric ich kann nicht sagen wie wichtig es für mich ist dass Du mitkommst es ist schon so dass ich den Eindruck habe Du würdest nach Los Angeles mitkommen obwohl ich mit Dir gehe es war einmal so dass mein Vater nicht mit mir ging

als meine Mutter ihn verließ

das ist absurd kindisch trotzig ich weiß aber ich hatte es dennoch erwartet und als ich ihn zwei Jahre später anrief (weil ich wusste dass er nicht mehr trank) hatte er es begriffen und sagte ich solle nicht nach Amherst kommen sondern er wolle mich abholen

Eric wir sind gar nichts (nur jung)

fangen wir

die Welt an das

funktioniert nein: es geht auf es wird

einfach sein nach Los Angeles zu gehen und zu sehen ob ich dort weiterstudieren könnte wenn Eric dort studiert endlich woanders als in New England in ewiger Hitze ewigem Smog im brütenden riesigen Stahl-Beton-Glas-Brei der Horizontal City gibt es

jede Menge Geologie sagt Eric Erdbeben am San-Andreas-Graben und auch eine ganze Menge Illusionen

Hollywood

im Film meines Lebens ist Kalifornien das Land meiner amerikanischen Großeltern in Palo Alto das Holz-Steinhaus veraltet modern wie aus einem Film aus den sechziger Jahren es gibt einen Duft nach Apfelkuchen und die Erinnerung an völlig einsame und doch glückliche Abende mit dicken Romanen während meine Frühaufsteher-Großeltern schon lange schliefen eine aufgeregte Ruhe die Gewissheit dass ich bald erwachsen sein und außergewöhnliche Dinge erleben würde für die ich hier noch Kräfte sammeln konnte Eric ich kann behaupten dass ich in etlichen sehr schönen Räumen mit hervorragender Aussicht alleine war

in den Semesterferien könnten wir wenigstens zusammensein und gemeinsam reisen oder jobben

wenn du schon nicht von deiner Elite-Uni lassen möchtest was ich gut verstehe obwohl du vielleicht eine Dichterin bist und eine tolle Songwriterin entscheidend ist doch was dir Spaß macht das meine ich wirklich ernst noch können wir bestimmen sagt Eric so wie du den Kopf hebst bist du wieder Katharine Hepburn (der ich überhaupt nicht ähnele) die klassische New-England-Lady mit fünfundachtzig schwamm sie noch jeden Tag im Long Island Sound auch im Winter

mit fünfundachtzig

bin ich tot sage ich

also berühmt erwidert Eric nur die berühmten Toten haben Geburtstag schreibst du mir ein Lied über Katharine Hepburn und Spencer Tracy könnten wir nicht auch so ein Paar werden so rauflustig verliebt und stark

wir sehen nicht so aus und ich bin überhaupt nicht so mürrisch wie Katharine willst du ein Zigarrenstummel kauender Sportreporter werden

aber natürlich sagt Eric gleich nach meiner Jazzgitarristen-Karriere

glatte Bahnsteige ein Drugstore ein Motorbootverleih die Durchsicht auf ein regelrechtes Sommerschloss mit riesigem Park dann wieder Bäume eng gedrängte Einfamilienhäuser ein jäher Ausblick zum Meer

was ich bin was ich kann

was ich will

die Fragen mit denen ich meine Ferien verbringen muss wie mit unangenehm großen Hunden die man mir gegen meinen Willen für einige Wochen anvertraut hat laufen davon (Hunde aus Rauch)

am MIT vergesse ich das alles wieder es wird einen Stundenplan geben die Klausuren die Vorlesungen Seminare Praktika den Takt frühestens im nächsten Semester könnte ich an die Ostküste gehen

aber von Los Angeles aus betrachtet

in einer halben Woche

wird es vielleicht ganz anders aussehen

ich stelle mir die Orte vor durch die wir fahren werden im Greyhound-Bus sagt Eric drei Tage lang Pittsburgh Columbus Dayton Indianapolis St Louis Kansas City Denver Las Vegas El Monte man glaubt niemals anzukommen wird das sind aber bestimmt die besten Reisen oder nicht

ich rede plötzlich rede

zu viel

oder das was ich reden muss es war das Praktikum in New Hampshire zu Beginn des Sommers bei dem ich mich zum ersten Mal geborgen und frei zugleich gefühlt habe und so als könnte ich in einem wirklichen (wirklich existierenden) Beruf zufrieden sein (wenn ich hin und wieder Gedichte schriebe wenn ich

nachts bei Eric schlafen dürfte)

vier Wochen lang war ich fast jeden Tag mit den Schulkindern zusammen die im Odiorne Point State Park das Seacoast Science Center besuchten und dort Kurse belegten ich half den Kleinsten sich die Hände zu waschen bevor sie in die Aquarien greifen und die Seesterne anfassen durften (lebendiger kühl-rauer Sand) ich kletterte mit den Älteren über die Küstenfelsen auf der Suche nach Schnecken und Krebsen und mit den Größten die etwas von der Geologie des Golfs von Maine lernen sollten untersuchte ich die Stein- und Schleifspuren der letzten Eiszeit wir konstruierten Fische am Computer in einem Simulationsprogramm das die Überlebenschancen unserer Geschöpfe testete (Kabeljaukopf Haifischflossen Delphinschwanz die meisten verendeten schnell) wir ließen uns in die Tiefsee hinab mit einem virtuellen U-Boot und sammelten dann wieder Krebsschalen und Schneckenhäuser draußen in den ruhigeren Buchten entdeckten wir einen schlüsselbeinartigen Knochen den niemand zuordnen konnte ich zeichnete mit den Kindern und stieg

abends allein

mit Blick nach Norden über die taubengrauen Dächer des Besucherzentrums die darum angelegten breiten Wege Rasenflächen den großzügigen sanften Schwung der Küste dahinter einen Hügel empor wie getragen vom Abendlicht es fehlte nicht viel dachte ich es könnte hier an der Grenze zwischen Maine und New Hampshire schon eine

Definition von Glück

geben das wären dann: Kinder Wissenschaft Meer und eben dann genau das noch

was Eric mir gibt mir zu geben verspricht unverhofft und vollkommen ich hörte Emilys Verse in meinem Kopf

rezitiert von einer verhaltenen leisen aber plötzlich leidenschaftlich glühenden Stimme


Wild Nights — Wild Nights!

Were I whith thee

Wild Nights should be

Our luxury!

auf dem Hügel befand sich einmal eine Geschützstellung und über den Parkplatz hinweg sieht man die Anhöhe mit den halbkreisförmig angeordneten Sockeln der 155-Millimeter-Kanonen aus dem Zweiten Weltkrieg (jeder Millimeter ist verzeichnet) an der Rückwand eines aufgelassenen Toilettenhäuschens die obszöne Skizze einer liegenden nackten Frau deren Kopf durch den zurechtgebogenen Schriftzug Your Mother gebildet wird daneben ein sorgfältig gemaltes Verkehrs-Halteschild mit der Unterschrift Stop Bush!

wir müssen

in der Wirklichkeit

einen Weg finden Eric also

Kinder Wissenschaft Meer Wilde Nächte

oder in der Unwirklichkeit so spröde scheu vergeblich großartig wie Emily könnte man auch sein es ist mir sonst fast egal aber heute nicht und vielleicht wochen- und monatelang nicht mehr

weshalb heißt es eigentlich Babylon du

weißt doch alles

fragt Eric nah an meinem Ohr es war nur eine Kneipe auf die jene Mutter des Stadtgründers von ihrem Haus aus blicken musste eine Taverne die ihr so verrucht erschien wie die Stadt in der Bibel

ich gehe den Hügel wieder hinab zur Küste

es ist früher Vormittag als

hätte ich die ganz Nacht da oben gestanden wie die Soldaten der Battery 204 aber auch als wäre ich beim Hinabgehen in

eine andere

frühere

Zeit geglitten und an einen anderen

Ort

wir sind zu zweit hinausgegangen um die Krabben zu wecken sagt Martin er stolpert benommen neben mir her seine Brille beschlägt jede Menge Hunde rasen an uns vorbei so dass ich mich immer nah an den Beinen meines Vater halte der Strand ist schmal heimisch nah er säumt eine Landzunge auf der sich alte Fischerhäuser Restaurants Hotels Souvenirshops Malerateliers reihen ich sehe nackte Füße im Schlick weiche blasse Kinderfüße die nie zu frieren scheinen (sagt Martin) der grüne Plastikeimer in meiner Hand ist schon halb mit Steinen und Muscheln gefüllt die Hunde kommen näher und beißen stoßen streifen mich doch nie weil sie nämlich Martin fürchten es gibt eine Menge Fragen und morgens vor dem Frühstück rede ich besonders viel will besonders viel wissen und erkläre mir oft laut die Dinge selbst ehe Martin einen guten Satz findet werfe ich schon neue große ungeheuerliche schöne Fragen auf wie goldene Meeresungeheuer und feuerspeiende chinesische Drachen in der graublauen Morgenluft es war vielleicht nur die Nähe die größere Hand das gemeinsame Gehen dieses Gefühl einer immer zureichenden

Antwort (aber: was hatte ich gefragt)

Amanda

schläft noch

in Rockport verbrachten wir drei Sommerferien im Haus eines Bekannten

noch

können wir ausgekühlt frisch lachend in Kleidern gerade noch ohne Schuhe und Jacken in Amandas Bett fallen und sie umarmt uns als Seehunde wie sie sagt

mit Eric wird auch das besser was war

er wirft ein neues ein ganz anderes Licht auf andere unabänderliche Teile der Vergangenheit

steig mit mir aus in Babylon schlägt er scherzhaft vor wir könnten morgen früh gemeinsam zu deiner Mutter fahren

nein danke höre ich mich sagen

denn ich war schon mal da

in Babylon ich

erinnere mich

Gedächtnis

Auf den Seiten deiner Bücher

Seerose im Widerstreit

Treiben deine Feuerbilder

In den Brand der Ewigkeit.

Tarik

Auf dem Nachhauseweg mit meiner alten Ledertasche in der linken Hand (Stethoskop Blutdruckmesser Reflexhammer Verbandszeug Spritzen Notfallmedikamente ess- oder trinkbare Gaben von Patienten manchmal ein Stück Hammelfleisch oder ein ganzes ungerupftes Huhn Dinge die vor wenigen Jahren niemand einem Arzt anzubieten gewagt hätte) mein weißes Hemd zum Feierabend leider schon beträchtlich verschwitzt aus dem Ausschnitt wuchert das Bärenfell meiner Hühnerbrust immerhin imponieren mein grauschwarzer Schnurrbart und der wollige Haarkranz um die im Abendlicht glänzende Schädelplatte

in der Dämmerung mit Abgasen und dem Rauch eines Restaurantgrills vermischt könnten aus meiner Müdigkeit und Erschöpfung Träume aufsteigen Bilder Munas fliegendes Schiff

die Arche

in der sie all diejenigen retten wollte denen hierzulande nicht mehr zu helfen ist ich wollte sie schwebte wirklich über mir so nah dass man nur eine Strickleiter über Bord werfen müsste ich könnte es jeden Tag gebrauchen das Rettungsschiff wohin auch immer es flöge jetzt denke ich mir eine still und langsam in der Abendluft segelnde Dau und das Seilende der Rettungsleiter berührte meine Schulter ich bräuchte nur ein Zeichen zu geben damit man die kritischen Patienten an Bord holte

immerhin konnte ich einigen helfen etwa der Mutter deren Mann die UN-Lebensmittelration für Arrak verkaufte (woraufhin sie ihren schreienden Säugling anstatt mit Milchpulver mit Mehlbrei vollstopfte) und auch dem Mullah mit dem Abszess am rechten Oberschenkel (Ubi pus, ibi evacua.)

ich nähte (ohne Lokalanästhesie) eine lange Kopfschnittwunde über deren Herkunft ich nichts zu wissen brauche und sagte einfach

Stillliegen

zu den drei gebrochenen Rippen eines jungen Mannes

aber das Mädchen mit akuter Leukämie wird in wenigen Monaten tot sein weil es keine Zytostatika für die Armen gibt während der Elfjährige mit geschlossener Tuberkulose überleben könnte hätten seine Eltern auch nur einen schwachen Begriff von der Regelmäßigkeit eines Herzschrittmachers den der seufzende fette Leibwächter (kein Tikriti immerhin) der sich nicht mehr von meinem Praxisstuhl herunterbewegen mochte dringend bräuchte aber auf keinen Fall bekommen wird (allenfalls in einer der Luxuskliniken seines Herrchens)

gegen den Typhus in drei Fällen kann ich etwas tun weil es gerade einmal wieder Chloramphenicol gibt nachdem ich Dutzende von Kindern daran habe sterben sehen wie auch an Brechdurchfällen und an Cholera

Mächtige des Reiches!

sauft Tigris-Wasser bis eure Gedärme zu Schlamm geworden sind

Mächtige der UN!

sauft Öl bis ihr begreift dass ihr nicht den Tyrannen geschwächt sondern Hand in Hand mit ihm die Kinder des von ihm geschundenen Landes ermordet habt

die Arche

müsste zu einer ganzen Flotte gehören Muna die Flotte der unnötig Sterbenden die keinen Anlegeplatz findet die über Washington schweben sollte über Berlin Stockholm Paris

es ist eine Erinnerung an Paris

sagte der alte Oberst Basil

und überreichte mir einen originalverpackten Flakon mit französischem Parfum aus Kuwait vermutlich ein Beutestück aus seinen Glanzjahren in der Armee in denen er eine Villa im Yarmuk-Viertel besaß wo er auch heute noch lebt jedoch mit sechs Familienangehörigen in einer zweizimmrigen Erdgeschosswohnung liegt raucht hustet Blut spuckt

für ihn habe ich noch Morphium aus der stillen Reserve die ich mir mit zwei Kollegen teile und erneuere wenn aus einem der geheimen Kanäle etwas fließt aus denen mitunter auch saubere Infusionsbestecke Schmerzmittel oder ein Karton mit sterilen Handschuhen kommen gegen eine kostenlose Behandlung zumeist oder eine blanke Diagnose das ist überhaupt unsere Spezialität die ohnmächtige Hellsicht denn der

irakische Arzt

ist zum Wahrsager am Körper geworden mein Freund ein menschlicher Röntgenapparat der in das Unabänderliche blickt das man allenfalls in den Privatkliniken Bagdads heilen könnte oder überall sonst

in glücklicheren Ländern

der alte Oberst Basil kennt Leipzig (Geheimdienstausbildung unter Honecker) und Paris (Verhandlungsdelegation zu Jagdbomber-Ankäufen) er weiß aber nicht den Grund der ihn vor sechs Jahren nach Safina brachte in das steinerne schroffe Kriegsschiff des Geheimdienstes eingerammt in den Leib der Stadt

zwei Jahre im roten Trakt

die blutüberströmte Etage Basil besitzt ein Video es steht in einem Regal über seinem Bett und zeigt unter anderem wie ein maskierter Mann ihm die gefesselten Arme nach vorn zieht während ein anderer seinen entblößten Rücken mit einem Kabel zerfetzt es zeigt wie man anderen Gefangenen mit Eisenstangen den Schädel einschlägt und wieder andere von einem hoch gelegenen Fenster in den Tod stürzt nachdem sie auf alle erdenkliche Arten malträtiert wurden das ist

eine Grußbotschaft

der Geheimdienste an das Volk

erhältlich auf sämtlichen größeren Märkten und nur scheinbar unter der Hand denn sie soll verkauft werden und einwirken auf die

tieferen Schichten

die Angst ist aber so alt ihre tiefen und tiefsten Schichten so vollgesogen mit Blut dass fast nur noch die Müdigkeit bleibt und die Apathie es gibt eine zermürbte schläfrige Todesangst die ihrer selbst überdrüssig geworden ist als läge dein Kopf im Maul eines Löwen und beide gähnten der Löwe und du

die Arche für den Irak

ist das Schiff der Folterer

auch so kommt man hinaus endgültig Grüße

aus Paris

sagt Basil dem ich Morphium gebe für seinen halb zerstörten Körper weil ich ohne ihn vermutlich nicht mehr am Leben wäre denn er schickte den Spitzel der mich in einem Sanitätszelt über den

STOLZDERARABER

fluchen hörte angesichts eines zerrissenen Unterleibs

auf ein Himmelfahrtskommando aber das war wohl nicht der Grund der ihn ins Totenschiff brachte sondern

es gab und gibt keinen Grund

das ist die stärkste reinste obszönste Form der Macht Zerstörung Begnadigung Bestrafung Liquidation Folter und Beförderung

ohne Grund

denn dann ist

nichts

zwischen dir und der grell brodelnden Sonne der Macht (allenfalls der dünne Äther der Todesangst)

sie gaben Basil zwei Jahre nachdem sie ihn grundlos entlassen hatten ein Viertel der ihm zustehenden Rente ohne Grund etwa so wie sie ihm das halbe Leben ließen

mit dem Hochzeitsgeschenk für Jasmin

trete ich hinaus auf die abendliche Straße ich war lange nicht mehr hier in der Nähe des alten Diplomatenviertels die Bilder der Hochzeit kehren zurück es ist gerade zwei Wochen her dass meine Älteste ihren blassen wankelmütigen Langzeitverlobten geheiratet hat im großen alten Haus meines verstorbenen Vaters in Wasiriya in dem wir einmal auch ihre Geburt feierten kurz nach unserer Heimkehr nach Paris und alles schien sich zu wiederholen die Wärme die Geräusche das (heute jedoch nur mit allen Mühen organisierte) Festessen die Arrak- und Whiskey-Seligkeit und Dumpfheit die Nähe der Körper die Vertrautheit mit allen Räumen und Winkeln des Hauses

nur wissen spüren wir in allen Knochen durch die Kebabdämpfe und Fischgrilldüfte hindurch dass sich alles verändert und verformt hat auch ohne die Erinnerung an die Verlorenen (mein vielleicht in einer Kaserne exekutierter vielleicht aber auch durch einen nächtlichen Gruß von George Bush senior ums Leben gekommener Neffe

Faridas jüngere Schwester Fatima und ihre gesamte fünfköpfige Familie bei der Racheaktion Saddams gegen die Schiiten denen der amerikanische PRÄSIDENT plötzlich doch nicht mehr helfen wollte nachdem er sie zum Sturz des Tyrannen aufgefordert hatte)

Fatima geht oft unter uns um so freundlich so leicht so schwer vergesslich

keiner von uns ist mehr was er war und wir feiern dagegen an weil wir spüren erwarten glauben dass alles noch schlimmer kommen kann im Land der

geprügelten Hunde

das wir geworden sind (das ist der Unterschied über das Alter hinaus dass wir

innerlich

geprügelte Hunde sind mein Freund bissig trostlos unruhig mit falschem Stolz und echtem Hass) in unserer Rolle als Untertanen durch die Düfte und den Arrak-Schleier hindurch

sehe ich Jasmin und muss mit der lebendigen Nähe und ungeheuerlichen Entfernung zugleich zurechtkommen die mir der Anblick dieser energischen schönen jungen Frau einflößt sie heiratet mit aufrechter Haltung im westlichen Stil sie hat (schon immer wollte ich sagen schon damals als sie in der Schule Fußball spielte und ich am Zaun verzweifelt ihre Hände umklammerte) mühelos den alten islamischen Seelenballast abgestreift (Farida häufte ihr allerdings wenig auf) sie hat nie eine Abaya getragen und kocht fast nie sie ist das geworden was man vor zwanzig Jahren der irakischen Frau versprach an ihr ist alles wahr geworden und

falsch zugleich ich weiß nicht

wie sehr wie weit es ist sechs Jahre her dass wir offen und frei miteinander geredet haben damals in Paris unsere zärtlichen wütenden abstrakten Gespräche vor Munas erschrockenen Augen

jetzt erreiche ich sie nicht mehr und wenn sie mich im Festtrubel umarmt und ich ihren wohlduftenden Körper spüre dessen sehnige Kraft mich irgendwie tröstet und beruhigt als könnte sie ihr helfen

mit ihrem Karriere-Chemiker Kasim hat sie in Paris schon den Kreis betreten in dem keine aufrichtige Begegnung mehr möglich ist sie suchte das Beste (für sich) sie wollte als Chemikerin arbeiten sie wollte ihre eigene Karriere

sie bringt mit Kasim auch dessen uniformierte Freunde ins Haus die an der Tafel sitzen und Witze reißen über die alle Umsitzenden so vorsichtig lachen als kalkulierten sie Schachzüge bei einer Meisterschaft (ein Videoverleiher der Saddam-Reden als Pornos verkaufte und nie einen Protest erntete Bill Clinton und die Zigarre George Bush auf dem Fahrrad in Bagdad)

Jasmin hat eine Ehe geschlossen die so genau das Richtige für sie ist dass sie nie damit zufrieden sein kann

sie warf mir auf der Hochzeit keinen einzigen zweifelnden suchenden fragenden Blick zu als wollte sie mir sagen dass sie dieses Mal ohne den geringsten Schmerz verlorengehe ohne Träne ganz anders als damals

ein Jahr nach dem Krieg

ein halbes Jahr vor dem Krieg

im Sommer 1990 brachten wir sie zum Flughafen

eine Woche zuvor hatte es auch einen Witz gegeben einen falschen Witz unserer Nachbarin Amal über den

UNAUSSPRECHLICHEN

woraufhin sie für drei Tage verschwand und dann im Morgengrauen übersät mit blauen Flecken mit Verbrennungen von Zigarettenstummeln mit gebrochenen Fingern ausgeschlagenen Zähnen blutendem Schoß aus einem Auto vor die Tür ihres Hauses geworfen wurde

neue Schulen neue Kindergärten neue

Frauen für die Miliz

noch schien es Geld zu geben noch war es möglich von Bagdad aus nach Paris zu fliegen

jener Abschied

bei dem die 16-jährige Jasmin glaubte er sei für zwei oder drei Jahre während ich damals schon hoffte er dauere zehn

fuhr mir in die Glieder ich habe mich niemals (auch nicht in den Kriegen) schwerer langsamer ohnmächtiger gefühlt mir war als trüge ich eine eiserne Rüstung die mir den Atem abpresste ich wusste dass wir alle hätten gehen sollen die ganze Familie

aber ich war nicht klar und entschieden genug es gab Anteile die nach Paris wollten mit der ihre Tränen niederkämpfenden und dann noch einmal knapp und fröhlich winkenden Jasmin und es gab Anteile die

hierbleiben wollten

versinken

überleben aushalten im Aushalten gewinnen wollten ich sah (als wäre es ein Grund für das alles und auch der bestmögliche) Faridas müdes und doch so anziehendes Gesicht und hinter ihr gerahmt von Fayencen mit Nachahmungen oder Kopien sumerischer oder assyrischer Keilschrift (du wirst mir das einmal genau erklären Muna) den

SCHLÄCHTER

als blöde Nachahmung Nebukadnezars dem er folgen wollte bis zur Zerstörung Jerusalems

an der Wand erschien eine Schrift die nur ich lesen konnte

es war eine kleine Botschaft der Zukunft für mich für dich Muna nämlich dass ich es nicht noch einmal schaffen würde eine Tochter im Ausland studieren zu lassen

und wir drehten uns um an diesem warmen Abend im Mai nahmen eines der rot-weißen Taxis und stiegen vor unserer Straße aus um noch zu bummeln in dem Schock und Glück über die Abreise Jasmins und ich kaufte verzweifelt und glücklich zwei Kinderfahrräder für das Geld

das ich heute in einem Monat verdiene

elf Jahre ist es her dass wir in der Nachbarschaft des halbtoten Botschaftsviertels den englischen Club besucht haben und Cocktails tranken die Clubs sind bankrott die ehemaligen Luxusboutiquen mit Brettern vernagelt nur an der monströsen Baustelle der Rahman-Moschee herrscht Leben mit ihren anschwellenden Außentürmen die unter ihren Kuppeln in jeder ihrer acht Seitenwände wiederum (shuttleartig bepackt trächtig wie eine Betonspinne) rundkuppelige zweistöckige Embryonalbauten tragen sollten die gewaltigste Moschee im Lande des

GEWALTIGSTEN

erbaut im verrotteten verwaisten einstigen Nobelviertel zur Bebauchpinselung der Ulama ich sehe

durch die Scheibe eines Restaurants in der Jordan-Straße

von links nach rechts zuckende Schrift wild gestikulierende TV-Reporter

die Feuer- und Trümmerwolke die aus den Wolkenkratzern hervorquillt wie blühendes Mark aus dem Stängel einer Blume hinter dem Glas eines Bildschirms auf der Theke eines Restaurants am Nisur-Platz ein Wolkenkratzer ein zweiter brennender Turm ich sehe durch das Fenster wie

in den geöffneten Schädel eines Irren

es ist das World Trade Center beide Türme brennen und ich wende mich ab für eine Sekunde als könnte ich es ausblenden

ich stehe aber schon im Restaurant inmitten der Männer dicht vor der Mattscheibe ich habe nicht bemerkt wie ich hineingekommen bin und werde später oft denken ich hätte die Füße auch gar nicht bewegt aber niemals vergesse ich die zwei Gedanken die sich mühlsteinartig in meinem Kopf gegeneinander drehten zwischen den Restaurantgästen von denen einige wie gelähmt schienen andere mehr als beobachteten sie ein Fußballspiel und manche stumm beglückt oder schon lachend wie im Angesicht eines viel zu großen Geschenks

dass es Krieg geben würde

und dass es in dem Turm so sein musste wie es in der Schrift an der nicht zu zweifeln ist geschrieben steht wie

in einem Höllenfeuer

dessen Brennstoff Steine sind und Menschen

Martin

Etwas muss sich in dir

auftrennen

es ist nicht möglich zu überleben wenn du aus einem Stück gemacht sein willst wie eine gläserne Kugel die auf einen Steinboden geschleudert wird es ist nicht möglich

auch wenn ich zunächst so unfassbar ahnungslos blieb und keinen Riss in mir spürte ich hätte den Einschlag in den Südturm schier ohne Verzögerung mitverfolgen können (auf der geschlossenen unzerbrochenen gläsernen Schicht) in Echtzeit ich bin eine Viertelstunde vor neun zurück ins Haus gekommen (in eben der Minute den Sekunden womöglich) ich lasse tagsüber nie den Fernseher laufen ich schalte kein Radio ein ich bin so

befestigt so gleichgültig vertrauensselig

so einverstanden mit der

Welt ohne mich

dass ich vormittags sogar das Telefon stummschalte und so blieb ich während ich Wasser trank eine Dusche nahm an meinem Schreibtisch vorbei ans Fenster trat unerträglich ruhig gelassen unbeeindruckt von dem rasenden Anhämmern der Sehnsucht der verzweifelten Wut einer

zukünftigen

Erinnerung und trinke Kaffee und sehe in den Garten hinaus die ersten Ahornblätter auf dem fahl werdenden Rasen gelbe Drachenhände im September vor 186 Jahren erfand der Geheimrat (im Spätherbst seines Lebens) sich eine

Suleika

und eine kleine dreißigjährige Frau kam ihm entgegen das Zirkuskind das sich aufschwang in die Kuppel der poetischen Manege

nimm einen anderen Namen an um zu lieben um zu leben um dich zu retten um

nicht in Stücke zu springen ich

bin Hatem geworden ein kalter eitler souveräner innig alle Welt umfassender unzerstörbarer Titan

des Überblicks oder einfach nur ein Nichts im letzten Winkel unter der Zimmerdecke in den es mich geschleudert hat als ich von meinem Schreibtisch aufstand erst gegen 16 Uhr um endlich das Telefon einzuschalten und den Anrufbeantworter mit den verzweifelten Sätzen des Ölmannes

aus

der Finsternis

DER FERNSEHAPPARAT

ich bin da es ist

da

ich

(werde es niemals

berühren können ich)

stehe

auf dem gläsernen fliegenden Teppich zweihundert Meter hoch in der Luft über Downtown Manhattan vor dem Oberkörper eines CNN-Reporters der nur auf den Zehenspitzen vielleicht noch mit dem Rücken zum Abgrund (über der South Street oder der Water Street ungeheuerliche Fallschluchten wenn du erst einmal in der Luft bist) auf der äußersten Kante des Teppichs steht sich aber nur um mich sorgt sich unendlich bekümmert mir zuwendet und leicht nach vorn beugt mit schmerzlicher Miene vor den

Türmen im Hintergrund

die verschwinden wieder auftauchen wieder

verschwinden

wir sind plötzlich noch viel höher in den Himmel geraten und sehen die Battery den Financial District die gesamte Lower East Side wie ein düsteres riesiges Schiff das unter Rauchwolken erstickt vielleicht bombardiert von Raketen beschossen von unterirdischen Sprengladungen zerstört die man tonnenweise im Verlauf der vergangenen Monate dort versteckt hat ich

denke nichts

ich stehe auf dem schwankenden gläsernen Teppich vor dem CNN-Reporter als wollte ich ihn hinabwerfen als sich der

Himmel teilt blitzschnell sein wässriges Plasma in ein neues strahlend blaues Quadrat fließen lässt in dem die Türme

wiederauferstehen und nun

und noch immer denke ich nichts

es wird nur Zeit sich

zu spalten mein Bruder etwas von uns muss über den Dingen stehen über dem gläsernen Teppich über dem zerkochten zerrissenen zerstörten Herz es wird jetzt unerbittlich

klar der in der Höhe des 80. Stockwerks aus einem klaffenden Schlitz qualmende Nordturm

BREAKING NEWS

AMERICA UNDER ATTACK

TERRORISTS CRASH HIJACKED AIRLINERS CNN

INTO WORLD TRADE CENTER; PENTAGON LIVE

keine Wolke um daraus

zu fallen

ein auf dem Boden einer steinernen Höhle liegender bärtiger schlanker Mann mit orientalischer Kopfbedeckung die Wange in die Hand des rechten Arms gestützt unter einer Wolldecke locker plaudernd irgendwie ausgestopft mit einer Art unheilbarer Eitelkeit

BREAKING NEWS

SOURCES:»GOOD INDICATIONS «OSAMA CNN

BIN LADEN INVOLVED IN ATTACKS

«WALKING WOUNDED «EVACUATED TO AREA AROU

das Telefon

jetzt weiß ich dass Seymours Anruf genau zu den Bildern gehört die ich sah genau aus dem Rauch und Qualm kam von einer der benommen im Nebel wandernden stolpernden Figuren die mit Asche mit weißem Schaum mit Schnee und schwarzen Federn bedeckt schienen am Boden hinter zerbeulten Autos kauerten

BREAKING NEWS CNN

AMERICA UNDER ATTACK

HUGHES: PRESIDENT SECURE AT

AIR FORCE BASE IN NEBRASKA

10:26 AM ET: SECOND WTC TOWER COLLAP

das Telefon

er war nur etwa 400 Meter entfernt horizontal er war noch eine Minute entfernt vom Zusammenbruch des ersten Turms er hatte Dutzende Male versucht Amanda zu erreichen er stand unversehens in einer ungeheuerlichen Säule wirbelnden Papiers vor der Siegesparade des Terrors durch deren Schneetreiben hindurch die Fassaden der Türme glänzten aus denen Menschen fielen wie Tränen

er sah

nichts

er sah wie sich aus einer Nebelwand über und über mit Staub bedeckte Gestalten schälten und ihm schreiend entgegenrannten

er sagte (drei Tage später) dass er sich unmittelbar vor dem Beben und dem Zusammensturz des Südturms zwischen bereits verbeulten Autos und der wundersamerweise noch unzerstörten Auslage eines Reisebüros (Visit Egypt) plötzlich wie auf einer Insel befunden habe einem fast kreisrunden wie abgeschlossenen Areal auf dem trotz eines markdurchdringenden Wind- oder Pfeifgeräuschs um ihn her vielleicht der unerträglichen Lautstärke und Schrillheit des Lärms wegen eine Art lokaler oder inklusiver Stille sich ausgebreitet habe wozu der von Ascheflocken Papierfetzen zu hellem glitzerndem Flaum verbrannten Dingen (Kunststoffen) wie von Schnee bedeckte Boden passte ebenso die Wölbung oder Wandung um ihn herum es war (für zwei drei Sekunden oder auch fünf) wie in einer hausgroßen Schneekugel der Umkehrung oder Inversion einer Schneekugel vielmehr denn die aufgewirbelten Fetzen und Trümmer schienen wie von einer gläsernen Kuppel abgehalten es

ist der DRITTE WELTKRIEG DIE SCHWEINE schrie ihm ein aus der weißen Wand taumelnder mit Schnee oder Schaum bedeckter gefederter Mensch ins Gesicht es ist die bebende

Erde des

Zusammenbruchs des Südturms den er später immer wieder vor strahlendem Sommerhimmel aus der Perspektive von Millionen Unberührter (hinter gläsernen Schirmen durch deren Emulsion der zuckende Strahl der Braunschen Röhre kaum dringt) sah etwas wie das plötzliche Aufbrechen Aufschäumen der dreißig oberen Stockwerke zu einem graphitfarbenen riesigen Wolkenpilz der blitzschnell heller wird und noch größer die Farbe tosenden Wassers annimmt der wie ein gewaltiger Pudelkopf den Turm krönt seine Wände entlang hinabrast als Rauchlawine die Wände doch alles schon mit sich nimmt niederreißt sofort das NICHTS über sich in den Himmel türmt um dann ganz auf die Straßen niederzustürzen wie (er dachte es dort unten in diesem Augenblick)

ein Meer aus Trümmern Schaum und Stein

und bald schon

nimmt alles eine festgelegte zeremonielle Form an

ein Ritual der Vernichtung für zwei Wolkenkratzer und zwei Flugzeuge

und dreitausend Menschen ich

dachte nicht

an Amanda ich sehe den rauchenden Nordturm und die unversehrte Front des Südturms und wie aus meinem linken Augenwinkel plötzlich den Schemen eines Flugzeugs der sich in das Bild schiebt und allen Erwartungen gemäß die Türme einfach passieren müsste aber direkt jede Entfernung vernichtet jede Erwartung der in die Mitte des Südturms einschlägt so leicht scheinbar wie in das Seidenpapier eines grauen Kastendrachens der augenblicklich Feuer fängt in Gestalt zweier Rauchwolken wie von aufbrechenden filzigen Schalen umgebener sich rasch aufblähender Feuerbälle die im nächsten Augenblick schon Tonnen von Stein und Glas in die Tiefe schleudern Hunderte von Menschen-

teilen ich dachte nicht an

Amanda ich

dachte nicht

ich sah immer wieder den gnadenlos heiteren Himmel das gnadenlos Lebendige der wasserstoffblonden CNN-Sprecherin im grünen Kostüm der feuerfesten Echsen das gnadenlose Anhalten Repetieren Wiedereintreten der Katastrophe die

zu einem unentwirrbaren Büschel einem blutigen qualmenden Knäuel zerfledderte geballte Zeit in der die Türme fallen auferstehen zusammenbrechen niederkrachen bluten aufflammen in einer Wolke verschwinden wieder unversehrt vor dem Himmel glänzen nur noch als Strünke dastehen erneut über Manhattan thronen wieder in die Straßen hinabschäumen

du berührst

es nicht

in deinem Holzhaus in Amherst 150 Meilen nördlich von New York City inmitten deines schon gar nicht mehr vorhandenen Lebens starrst du auf den Bildschirm inmitten deines Wohnzimmers das es schon gar nicht mehr gibt das schon weggeflogen weggebrochen ist wie die Zwillingstürme das du ebenso wenig berühren kannst

wie noch einmal ihre Wange ihr Haar

die grüne Ledercouch der Tisch mit den Zeitschriften die Regale die Bücher und Pflanzen sprenge dein Arbeitszimmer das nur noch als Bild vor deinen Augen flimmert deinen Schreibtisch auf den du eine zitternde Hand legst wie auf ein Kissen aus (eingebildeten)

Elektronen

Martin Lechner: Goethe lieben

weiße Asche in zweihundertfünfzig Bögen ich wünschte es wäre ein

einziger Atemzug von Dir

der alles verweht hätte jetzt denn dann wärst Du

an meiner Seite wieder an meiner Seite

Hafis mein Freund den ich mir aus der Verzweiflung erschaffe in der Aufspaltung meiner Trauer der Trennung meines Gehirns von meinem Herzen ich betrachte das Haus das untere Stockwerk des Hauses als

gesprengt

ich sah mit bleiernem Gehirn das mir schier die Augen aus den Höhlen presste immer wieder

und ich dachte nicht ich sah nur wieder und wieder

und wieder

die Endlosschleife des Untergangs

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