Du brauchst nicht mehr
zu erwachen
das ist eine ungeheure Erleichterung so wie Du nie wieder müde wirst
was Du noch kennst (anstelle von Aktivität und Schlaf) ist vielleicht nur ein Flackern der Aufmerksamkeit oder des Grades des Vorhandenseins an einem bestimmten Ort oder zu verschiedenen Orten und Zeiten
wohin man Dich verbracht hat oder Du steuerst alles nach Belieben (aber wäre es dann eine Erlösung) vielleicht
bist Du immer noch da
nur mit einer fragilen gleichsam drucklosen Präsenz Du kannst Dir eine solche Daseinsweise besser vorstellen indem Du sie in den äußeren Dingen spiegelst indem Du die scheinbare Festigkeit und Massivität gleichsam den optischen Aggregatzustand der Dinge einmal
minderst
bis an die Grenze zur Durchsichtigkeit (im Falle Deiner Abwesenheit)
einmal übersteigerst (wenn Du wiederkehrst) zu einer so perfekten atemberaubenden strahlenden unumstößlichen Gegenwärtigkeit als bestünde die ganze Welt aus Metallen unfassbarer Schwere und unerträglichen Glanzes man glaubte dann keinen einzigen Ort mehr verlassen zu können infolge seiner vernichtenden Anziehungskraft
die Gegenwart
noch der flüchtigste und frischeste Moment wird uralt und brüchig unter Deinem Blick es ist dieser (unvorstellbare) Abstand mit dem Du sie betrachtest der Oberkörper eines neben Dir schlafenden Menschen von dem die Decke herabgeglitten ist erscheint Dir wie der Torso einer vieltausendjährigen Statue durchzogen von Rissen und Sprüngen die Haut (eine Kalk-Lehm-Schicht) wie der Boden eines von der Sonne verdampften Sees ein Mosaik von feinsten Scherben ein hoch kompliziertes Puzzle das in einem Sekundenbruchteil zusammenzusetzen Dir Dein ungeahnter neuer Zustand ermöglicht
hinter dem Glas einer hohen Vitrine
die armlose Statue einer Frau
das ist konkret
große mandelförmige blinde Steine in ihren Augenhöhlen lassen sie vergeblich in unsere Zeit starren und ihr Schrei entsteht erst gar nicht denn unter ihrer schwach ausgeprägten Nase gibt es keinen Mund (als hätte man so diese Sekundenbruchteile modelliert die keine Zeit mehr ließen die Lungen mit Luft zu füllen)
wegen dieser Schädel (echte Menschenschädel) die man mit Lehm überformt und bemalt hat und mit steinernen Augen versah für einen entsetzten ewigen Blick stürzte ich wieder zurück in jene Tage in Manhattan zu den mit den Schärpen der Sicherheitsgurte markierten Torsos auf der World-Trade-Center-Plaza
wenn Du es jetzt sähest dann womöglich nur noch mit einem abwesenden Blick
so dass die ganze Stadt gläsern erschiene oder zelluloidhaft
selbst ihr Lärm wäre gleichsam durchsichtig nur noch gegenwärtig als Rauschen oder als eine Art akustischer Nebel in dem hin und wieder diffuse Stimmen flüstern oder Bruchstücke von Sätzen erscheinen
Du gehst durch die Mauern wie durch Vorhänge die sich an jeder Stelle teilen lassen alles ist transparent schemenhaft und leicht wenn man auf diese Weise (aus diesem Abstand von 7000 Jahren)
zurücksieht
gibt es nichts Eindeutiges mehr aber es wird auch leichter sich etwas auszumalen etwas zu skizzieren zu einem Gemälde oder gar Film reicht die Kraft unmöglich aus (etwas Derartiges zu gestalten und zu ertragen)
durchscheinend und folienhaft sind die Möglichkeiten die sich in der fließenden gläsernen Stadt ergeben das eine und einzige Leben wird zu einem Schwarm geisterhafter Existenzen es ist nur diese eigentümliche Farblosigkeit die Dich das denken lässt und die große Distanz in der nun alles geschieht (oder geschehen ist) denn es sind keine Fischleben es ist überhaupt nichts Kühles oder Gleichgültiges es ist eher so als hätte man eine Sicht auf
anrührende höchst dramatische melancholische und herzzerreißende Szenen in Schwarzweißfilmen die niemals gedreht wurden
die Möglichkeiten die Du hast wie Eintrittskarten in ganz verschiedene Handlungen und Genres
Du rufst noch einmal Deine Mutter an und sie sagt Dir dass Du sofort zurückgehen und mit ihrem Mann (zweiten Ehemann) zu Abend essen sollst Du übernachtest in dessen Wohnung alles verläuft wie üblich und erwartungsgemäß und Du bist am nächsten Morgen um neun bei ihr im World-Trade-Center-Büro
Du rufst niemanden an keinen Deiner Freunde weder Deinen Vater in Amherst noch Eric oder die Haushälterin Iris auf Long Island mit der Du über alles reden konntest Du bleibst einfach allein (fassungslos) und lässt Dich durch die Stadt treiben du siehst der Zeit zu die in ihr verstreicht bis es Nacht wird und früher Morgen es werden Mädchen in Parkanlagen ermordet unter Brücken in schäbigen Hotels oder sie werden angesprochen und in eigenartige vielleicht schreckliche vielleicht nur abstoßende und gewöhnliche gläserne durchsichtige nebulöse Angelegenheiten verwickelt es
kann sein
dass Du einen ganzen warmen Sommerabend lang auf einer Bank am East River sitzt (ein fragiles in sich versunkenes in ein Notizbuch schreibendes Mädchen) und dir nicht das Geringste geschieht
Dein erster Reflex auf der Little Brazil Street als Dir Deine Einsamkeit plötzlich bewusst wird ist der Griff zum Telefon und Du wählst hintereinander alle Nummern von Studenten die hier leben und irgendwie (auf einer Party einer Uni-Veranstaltung etc) in Deinem Adressverzeichnis gelandet sind
es meldet sich ein Junge der an der Columbia studiert und ein Studentenwohnheimzimmer hat er ist begeistert über Deinen Anruf er erinnert sich genau an ein Gespräch mit Dir das Dir ebenso lückenhaft und verschwommen im Gedächtnis ist wie der Junge selbst erst als Du ihm gegenüberstehst fällt er Dir wieder ein er ist ein Charmeur ein Tölpel ein eingebildeter Poet ein tumber Sportler ein Business-Streber ein
sehr jovial und vernünftig tuender eher klein gewachsener aber sportlicher Typ mit hektischen roten Wangen und streichholzkurzen eingegelten Haaren stolz auf seine blendend weißen Zähne und den Pokal der letzten Triathlon- oder Florettfecht- oder Judo-Uni-Meisterschaft (Du siehst nicht so genau hin) jetzt ist er glücklich und verlegen zugleich denn er muss heute Abend unbedingt zu der Geburtstagsfeier seines besten Freundes dessen Eltern wirklich Kohle haben und ein überwältigendes Dachgeschoss auf der Upper-West-Side Du könntest doch einfach mitkommen (was Dir sehr recht ist) bei der Rückkehr oder auf der Party wird sich garantiert ein Zimmer im Wohnheim oder bei einem Bekannten finden lassen
Du hältst bis drei oder vier Uhr auf der Party aus Du hast nichts bei diesem Jungen der Dich mitbrachte hinterlassen und kannst ihn einfach mit Hilfe Deines Durchhaltewillens abschütteln oder loswerden Du könntest dann ein Mädchen eine junge Frau in Deinem Alter ansprechen und mit ihr für eine Mütze Schlaf noch nachhause gehen (wäre das nicht die einfachste Lösung) Du könntest aber auch weiter durchhalten bis zum Sonnenaufgang und allein durch die Straßen gehen in irgendeinem Deli ein Frühstück nehmen oder eben
doch den Jungen begleiten der natürlich nur sein eigenes Zimmer zu bieten hat in diesem Alter schläft man durchaus einmal nebeneinander auf geschwisterliche Weise in einem Bett Du verzerrst so leicht das Bild einer Jugend die ebenso gierig und zärtlich und elend und großmütig sein wird (gewesen sein muss) wie Deine eigene und selbst wenn es geschähe dass Du trotz Deiner romantischen Verliebtheit in Eric oder gerade deswegen oder aus keinem anderen Grund als dem der Gelegenheit und des gleichsam automatischen Einrastens eines robusten unverwüstlichen biologischen Mechanismus mit ihm schläfst wäre das
nur ein Moment des Lebens der Dir allein gehört was
auch immer geschieht an diesem
gläsernen Ort an dem sich Zukunft und Vergangenheit vernichtend und zeugend berühren
es wird nie kompakt und deutlich werden es ist nichts als das Geschwirr durchsichtiger Phantome in Deinem Kopf es ist ein gläserner Knoten in der gläsernen Stadt der zerreißt
was bleibt sind die harten endgültigen Farben in Stein Glas Asphalt sind der Schweiß und Duft Deiner Jugend in der unerbittlichen Wirklichkeit des letzten Abends die wenigen
Augenblicke vor dem Durchsichtig-Werden oder der hypothetischen Verflüssigung der Dinge im Moment in dem Du auf der Sixth Avenue reflexhaft und fast panisch Dein Mobiltelefon hervorziehst und keine Taste darauf drückst sondern im Menschenstrom stehenbleibst als hätte Dich eine Zauberhand (die Nebelhand eines Dschinns) auf dem Kapitell einer einsam stehenden Säule abgesetzt ein unsichtbarer rauschender Abgrund umgibt Dich und Du spürst die Mitleidlosigkeit und das Grandiose der Stadt im selben Atemzug ein Spiegel aller möglichen Zustände vor Dir Du könntest jederzeit jemanden erreichen den Du kennst Deine Mutter Deinen Vater Deinen neuen Freund all die Freunde und Kommilitonen in Boston aber
Du schweigst Du drückst keine Taste und
so
verwandelst Du die Stadt in eine Stadt ohne Namen ohne Deinen eigenen Namen also unvermeidlicherweise auch
mehr kann man
über Dich nicht sagen
weiter nicht denken als bis zu diesen Augenblicken oder
Du nimmst Dir einfach ein Hotelzimmer auch wenn Du das bislang nur selten gemacht hast es erinnerte Dich an die Europareise mit Deiner Cousine Lotta vielleicht aber auch an Paris an die letzte gemeinsame Reise mit Deinen Eltern weil Du damals (mit dreizehn) zum ersten Mal ein eigenes Hotelzimmer erhieltest sogar in einem anderen Stockwerk als dieses sich mühsam vor Dir beherrschende Paar dessen aktivistische Verbitterung (der Louvre der Montmartre die Oper die berühmten Cafés die Buchhandlung Shakespeare & Co) dich quält und das streitend
Deinen Namen auslöscht
einmal erwachtest Du lange vor ihnen und gingst einfach auf die Straße hinaus eine kopfsteingepflasterte filmkulissenhafte Straße im Quartier Latin niemand beachtete Dich niemand hinderte Dich keiner fragte etwas die Stadt schien so ungeheuerlich gleichgültig und befreiend die Furcht und die Erregung hielten sich die Waage genau wie jetzt auf der Sixth Avenue
nachdem Du
fünf oder zehn Minuten gegangen warst
vorbei an Buchläden Bistros Geschäften mit goldenen Bezeichnungen auf schwarzem oder rotem Grund
fingst Du wieder an (nach Jahren) mit der arabischen Schwester zu sprechen die Du Dir einmal erfunden hattest und Du sahst sie ja auch hier in Paris an einem benachbarten Cafétisch im Freien es war eine orientalische Familie ein Vater und seine zwei Töchter vielmehr der Mann hatte einen schwarzen Schnurrbart eine hohe Stirn und gelichtetes Haar er wirkte sehr gütig aber auch mitgenommen erregt diskutierte er mit der älteren Tochter einer elegant und westlich gekleideten fast mannequinhaften jungen Frau die eine Zigarette zwischen den Fingern hielt und ihm heftig widersprach während die Jüngere
ein Mädchen von elf oder zwölf Jahren
betroffen und dann wieder abwesend aussah sie war etwas rundlich und untersetzt sehr zurückhaltend und auf eine unauffällige Art hübsch (so wie Du selbst vielleicht) aber auch irgendwie selbstbewusst Du verspürtest plötzlich eine soghafte Neugierde mehr über sie zu wissen und einmal trafen sich Eure Blicke
Ihr erlittet einen seltsamen kleinen Schock der Euch gleichzeitig wortlos die Lippen öffnete
was
hättest Du sagen wollen oder sollen wie
begrüßt man die scheinbare Widerspiegelung eines lange gehegten Tagtraums was stellte sie wohl dar in ihrem vollkommen undurchdringlichen Pariser Leben
das Hotelzimmer
in dem Du erwachst passt nicht zum Quartier Latin es ist das zweite Mal dass Du an diesem Morgen zu Dir kommst und mit dem Anblick einer maurischen Zierleiste an der Wand in Deckennähe fällt Dir ein dass Dich beim ersten Mal tatsächlich der Gebetsruf eines Muezzin aus dem Schlaf schreckte
Du bist
im Land (in einem der möglichen Länder) der arabischen Schwester kein Zweifel öffne die Vorhänge und der Blick stürzt ins Licht heller Beton vertrocknete Palmwedel staubige Autos arabische Neonschriften noch beleuchtet mit einem schwachen Glimmen wie unter Asche nachglühendes Feuer
die rissigen Torsos die wie verbrannte und gesprungene tönerne Haut die mit steinernen Augen in Deine Zeit starrenden Köpfe
gehörten zu den neolithischen Statuen im Museum auf dem Zitadellenhügel in Amman
am gestrigen Nachmittag noch
standest Du dort vor zwei mächtigen griechischen Säulen und hattest diesen cäsarischen Blick über die mit lehmgrauen und ockerfarbenen Häusern übersäten Hügel der Stadt futuristische Hochhäuser ragen aus einem Viertel hervor über einem anderen weht an einem aberwitzig hohen Fahnenmast die Nationalflagge auf den verbackenen Strukturen der Altstadthäuser schimmern die Wassertanks als wäre ein Schwarm flügelloser künstlicher Insekten oder eine Armee fröhlicher Roboter über die dürstende Stadt hergefallen und saugte das Wasser auf anstatt es zu spenden wie der in Sandstein verewigte Abdruck einer riesigen Muschelschale liegt das römische Theater am Anstieg des Jaufa-Hügels kein Zweifel
Du warst hier in so vielen Zeiten und Fällen
wie Du Dir vorstellen willst
den Fahrstuhl zum Frühstücksraum verstopfen aufgeregte Pauschaltouristen die ihren Bus nicht versäumen dürfen also nimmst Du die Treppe
Luisa sitzt bereits an dem Tisch neben einem Ziermäuerchen mit grünen Pflanzen sie braucht morgens sogleich ihren Tee sie winkt richtet sich auf als Du näher kommst nach der zweiten Nacht in Amman wirkt sie schon gut erholt mit ihrer braunen Haut den schwarzen Haaren und dunklen Augen könnte man sie mühelos als Araberin verkleiden denkst Du es ist der Süden die Wärme und die Sonne die sie so aufblühen lassen vielleicht sollten wir doch an eine kalifornische Universität wechseln
alles scheint Dir auf eine beinahe peinliche oder unheimliche Art miteinander in Verbindung zu stehen während Du auf sie zugehst hat dies aber die Form eines wiederkehrenden Glücks Du spürst erneut die tiefe Erleichterung dass sie sich für Dich entschieden hat
nur für eine Sekunde bevor Du Dich ebenfalls am Tisch niederlässt und Dir wie fast an jedem gemeinsamen Morgen das Sich-Gegenübersitzen wie ein perfektes Einrasten in einen idealen (dualen) Zustand erscheint wie etwas fast Technisches oder besser Chemisches vielleicht zwei Wasserstoff- oder Sauerstoffatome die gemeinsam einen energetisch günstigeren und stabilen Verbund eingehen trifft Dich der elektrische Schlag einer überraschenden unangenehmen Feststellung weil Du erkennst
dass der Tisch nur für zwei Personen gedeckt ist
es ist unsinnig darüber zu erschrecken oder sich gar zu ärgern es
distanziert Dich jedoch Du kannst nichts dagegen unternehmen zu entgleiten (wohin) und obwohl es doch großartig ist und auch ein verdientes weil durch Geständnisse Aufrichtigkeit und Konsequenz erworbenes (begünstigtes) Glück (das auf das Angebot einer einjährigen Gastprofessur in Tel Aviv mit einer gemeinsamen Reise nach Jordanien und Israel reagiert um sich darüber schlüssig zu werden ob man hier zu zweit ein Jahr verbringen möchte)
musst Du den ganzen Tag um die Nähe zu diesem Paar ringen das Dir immer wieder in Staubwirbeln verlorengeht in Schleiern von Traurigkeit und Apathie (Körper denkst Du die sich an einem unsagbar weit entfernten Ort gegenseitig zerschlagen ohne deutliche Schmerzen zu empfinden bis sie den armlosen Statuen in jenem Museum auf dem Zitadellenhügel ähneln)
Du siehst sie aus einem Taxi steigen und eine Art Fort oder kleine Burg besichtigen die direkt aus dem Himmel in eine kittfarbene Steinwüste gefallen ist
sie stehen vor einem Käfig mit Straußen und werden dort von Souvenirhändlern bedrängt
die Staubwolke verschluckt sie wieder ein aquäduktähnliches Bauwerk taucht in der nächsten helleren Phase auf und der hoch gewachsene fast magere ältere Mann mit der Brille und dem grauen Bürstenhaar sagt ein Wort zu der Frau mit Strohhut weißer Bluse und tintenblauer Hose das sie nicht gleich zu verstehen scheint aber dann sieht man sie lachen
es folgen unscharf wiedergegebene Häuser auf den Hügeln und in den engen Gassen der Stadt ein wie auf einem Stillleben in schweren Ölfarben gehaltener Suk vor bröckelndem Mauerwerk mit pastösen Früchten matt schimmernden Kupferwaren prallen Gewürzsäcken und altem Silber eine Moschee
sich verdichtende Bewegung auf den engen Plätzen der Altstadt Kinder und Jugendliche springen über herumliegende Mülltüten
die weißen Zelte eines UNHCR-Flüchtlingslagers
das Paar tritt den Rückzug an (peinlich berührt denkst Du beschämt vielleicht oder auch ängstlich der Taxifahrer ließ kaum ein gutes Haar an den irakischen Flüchtlingen) sie zögern jedoch wieder der Mann mit dem Bürstenhaarschnitt bleibt stehen und die Frau greift nach seinem Oberarm nicht um ihn wegzuziehen sondern um ihn ihrer Anwesenheit zu versichern offensichtlich hat ihn das Auftauchen eines anderen Mannes gefesselt der wie er Mitte oder Ende Fünfzig sein könnte sichtlich jedoch ein Orientale ist mit ausgeprägter Stirnglatze und grauem Schnurrbart ein hagerer bedächtig und vornehm wirkender Mann der in der Nachmittagshitze einen grauen Anzug trägt und der alten ledernen Tasche nach die er in der Rechten hält ein Arzt sein könnte
ich habe ihn wiedergetroffen
sagst Du am Abend auf der linken (westlichen) Seite eines großen Doppelbettes
Luisa dreht überrascht den Kopf das Gestell ihrer Lesebrille hat dieselbe glänzende Schwärze wie ihr schulterlanges Haar das Dringliche ja beinahe Geständnishafte Deiner Bemerkung verwundert sie so dass Du rasch erklärst dass Du den Mann mit der Arzttasche meintest
als sie sich vor dem Abendessen für eine Stunde im Hotelzimmer ausruhte bist Du noch einmal hinausgegangen erst nur um ein paar Schritte zu machen weil Du Dich trotz Eures reichen Besichtigungsprogramms unausgelastet oder vielmehr unruhig fühltest dann folgtest Du einer abwärts fallenden Straße deren melodischer Schwung Dich an San Francisco erinnerte und Dich immer weiter nach unten lockte und so
gelangtest Du zum zweiten Mal während des kurzen Amman-Aufenthalts in die schütteren Parkanlagen vor dem römischen Theater Du überlegtest gerade ob Du noch einmal durch die Sitzreihen zum höchsten Umgang steigen solltest um die Aussicht auf die frühabendliche Stadt zu genießen
als Du den hageren gleichaltrigen Mann mit der hohen Stirn und dem Schnurrbart erkanntest (wiederzuerkennen glaubtest)
dieses Mal war er nicht allein sondern in Begleitung einer jungen Frau die ein blaues Kopftuch Jeans und eine weite langärmelige Bluse trug beide betrachteten eingehend und liebevoll ein schon recht abgenutztes Reittier für Kleinkinder das auf einem Podest stand es handelte sich um einen dicken roten Elefanten mit Sattel und noch während Du überlegtest wie Du den Mann ansprechen könntest (denn Du spürtest ein geradezu heftiges Verlangen danach eine Neugierde an einer anderen unmittelbar physisch gegebenen Existenz die Dir üblicherweise völlig fremd ist)
sagte er auf Französisch dass
der Elefant das Lieblingstier seiner Tochter wäre sie hätte es Hannibal getauft als sie elf Jahre alt gewesen sei und es zum ersten Mal hier gesehen habe
und so
kamt ihr ins Gespräch (fragt Luisa)
wir standen zehn Minuten bei dem Reittier dann verließ uns die junge Frau und wir tranken einen Kaffee mit Kardamom an einem der Tische bei den Kiosken
was ihn veranlasst hat mir so viel zu erzählen (so vieles aber ohne Unschärfe oder Ausmalungen es waren nur die Schlagzeilen seines Dramas die ihn selbst fast nicht mehr zu berühren schienen) ist mir absolut rätselhaft
Du dachtest womöglich dass
dieser gleichaltrige Mann aus dem Westen geduldiger und interessierter wirkte als die meisten die Du in den letzten Wochen gesehen hattest
oder Du
wollest ihm einfach (knapp und ohne Larmoyanz) einen Einblick geben weil er Dich ärgerte mit seiner irgendwie beamtenhaften Ausstrahlung gewissenhaft würde er alles registrieren aber geschehen würde daraufhin nichts (dachtest Du) er hätte Franzose sein können oder Amerikaner ein Ingenieur oder Lehrer gewiss war er ein verheirateter Mann und hatte einen Sohn oder eine Tochter im Alter von Fatima
aber was hat er erzählt fragt Luisa sanft
sie lässt ihren Reiseführer auf die Decke sinken auf den aufgeschlagenen Seiten erblickt man erneut die rissigen armlosen 7000-jährigen Statuen aus Ain Ghazal blaugrau jetzt wie eine Keramik im diffusen Licht der Nachttischlampe
vor zwei Wochen kam er aus Bagdad hier an er ist ein irakischer Arzt seine Familie überlebte drei Kriege doch vergangenen Monat kamen seine Frau und seine ältere Tochter bei einem Terroranschlag ums Leben die jüngere Tochter die den Reitelefanten so gern mochte überlebte den Anschlag wie durch ein Wunder sie sei Anfang zwanzig und er vermute sie schwanger von einem Studenten der von einer Miliz ermordet worden sei bald werde er sie darauf ansprechen aber sie hätten sich eigentlich schon wortlos verständigt auch dieses mutmaßlichen Kindes in ihrem Bauch wegen (vielleicht noch mehr als wegen der gegen ihn ausgesprochenen ernst zu nehmenden Todesdrohungen) habe er Bagdad verlassen obwohl dort noch ein Großteil seiner Familie lebe unter anderem sein einziger Sohn der im Untergrund verschwunden sei
hast Du ihm auch etwas von Dir erzählt?
es schien mir –
unangebracht willst Du sagen aber warum hat er Dir diesen Bericht erstattet was hat er sich erhofft
nichts wirklich nichts ich denke es ging ihm nur darum –
fortzufahren
ja es ging ihm darum etwas zu formulieren etwas festzuhalten und abzuschließen
ganz wie Dir oder nicht? als Du die Gedichte von Sabrina vervollständigt hast und als Du Deinen Schmerz niederschriebst anstatt das Buch über Goethes Frauen zu beenden Luisa nimmt die Brille vom Gesicht und klappt sacht die Bügel übereinander wie hießen der Mann und seine Tochter
Fatima und Machmud
glaube ich
tief in der Nacht
kehrt eine Erinnerung zurück
sie stammt aus einem glücklicheren Tag in einem anderen Land noch einmal bist Du völlig aufgehoben selbstverständlich heil normal Ihr seid nur zwei Touristen die ein Zufallsgott allein in den Löwenhof der Alhambra schickte leicht berührt Ihr Euch mit den Schultern als Ihr auf die von freundlich wirkenden Löwen getragene Brunnenschale in der Mitte zugeht
die in alle vier Himmelsrichtungen leitenden schmalen Kanäle die vom Zentrum ausstrahlen schimmern trocken
noch einen Augenblick lang
Stille
Luisas hohe Brust ihre wie unerschütterliche warme Gestalt an Deiner Seite
die Tränen der Nasriden fielen vor über 500 Jahren eine Reisegruppe strömt herein
schwarze Tropfen fallen
aus der Zukunft in den Marmor der Wasserläufe sehr rasch und mehr und mehr bis sich um das Löwenbecken ein Kranz glänzenden Öls gebildet hat und
entflammt
ich höre noch (im Feuer als könnte man langsam und ruhig in den Flammen umhergehen wie in einem hohen Maisfeld oder zwischen an Wäscheleinen aufgehängten grell orange und gelb lodernden Seidentüchern) wie Luisa sagt
immer das gleiche Motto
der Wappenspruch
finde sich hundertfach an den Wänden Decken Säulen zwischen Arabesken und Gitterwerk ich sehe ihre weiche Hand mit den schlanken Fingern deren Nägel kirschrot lackiert sind an diesem Tag leicht und vorsichtig berührt sie die kunstvoll in den hellen Stein gemeißelte Schrift und ihre Fingerspitze wandert von rechts nach links
Wa la ghalib illa-llah
Es gibt keinen Sieger außer Gott.