Für Dorle
und für Fadhil,
von denen ich nicht genug lernen kann.
Die Geschichte ist der Irrgarten der Gewalt.
An dieser Welt bleib ich doch immer kleben,
An ihr erlahmt mein noch so hohes Streben,
Kein Wissen, das mich über sie erhebt,
Und kein Verstand, um ohne sie zu leben.
Und ich sage jedem Mann und jeder Frau:
Lass deine Seele kühl und gefasst vor einer Million Universen stehen.
Und ich sage allen Menschen: Seid nicht neugierig auf Gott,
Denn ich, der neugierig auf alles ist, bin nicht neugierig auf Gott.
Unsere Geschichte
hängt in der Luft in der Nacht
Schwester denn du beendest sie nicht ihr seidener Faden hält unser Leben unsichtbar im Dunkel wer ihn zerschneidet
braucht es nicht gewusst zu haben
immer schon wunderte es mich weshalb es den König nicht störte dass Dinarasad jede Nacht unter seinem Bett lag und ich fragte mich auch um was für ein Bett es sich handelte damit sie darunter liegen konnte ich denke es mir oben wie einen kleinen Palast aus Seidenkissen Flamingofedern schwellendem Purpur Rosenblättern und Zungen und darunter den Staub die Knochen die Spinnweben ich habe keine Ahnung wie sie die Schlafstätten der Könige bauten
im Inselreich von Indien und China
im Fernen Osten in dem es noch exotischere Märchen geben soll als hier in Bagdad nirgendwo fantasiert man besser als unter dem mächtigen Bett meines Großvaters (ich kannte ihn nicht er starb ein Jahr vor meiner Geburt und war eine Art Radio- und Fernsehkönig) in seinem Haus in Wasiriya in dem ich mit Sami Verstecken spielte um auch ihn so oft unter jenem Bett zu finden in dem meine Großmutter alleine schlief schon seit mehr als tausend Nächten
an jenem Tag vor drei Wochen an dem ich
siebzehnjährig
nur aus Spaß noch einmal das Versteckspiel wiederholte (allein) dieses Sich-Begraben am helllichten Tag Skorpion im Wüstensand während draußen im Innenhof seit Stunden die Hochzeitsgesellschaft tafelt trinkt tanzt liege ich noch einmal unter dem nach Rosenwasser Lavendelsträußchen Moder und getrockneten Orangenschalen riechenden Bett der Spaß den ich mir machte war aber nur die Flucht
vor der Flucht es war doch so dass ich den kalt triefenden Blick (Spucke auf Eiswürfeln) des Majors nicht mehr ertrug dieses angeblichen Freundes des zu allem lächelnden Bräutigams meiner Schwester
still lag ich unter dem Lattenrost im Grab der verwitweten Frauen ich wünschte mir Sami an meine Seite noch einmal als Zehn- oder Zwölfjährigen vergnügt ohne Angst zu allem bereit dann hätten wir dem Major heimlich Salz in den Arrak geschüttet oder gar hineingespuckt in den Nebel den er trinkt das Glas strahlte im Innenhof für eine Sekunde so leuchtend weiß auf wie das perlenbesetzte Kleid meiner Schwester Täubchen sagte er zu mir wie zu einem Kind und streifte scheinbar versehentlich mit dem Ellbogen meine Brust Täubchen und ich sah den kurdischen Jungen am Rand des Saadun-Parks vor mir der die Federn aus einer von einem Auto angefahrenen Taube riss aus mir als liefe das Blut
aus meinen Brustwarzen
die ich jetzt mit flachen Händen schütze während der Rost unter der großen Matratze sich biegt Schwester fast stößt er mir ins Gesicht auch dich nennt er Täubchen Jasmin diese Stimme gerade als ich unter dem Bett wieder hervorkriechen wollte ich muss dich jetzt haben heute hier als Braut es ist vielleicht das letzte Mal glaub mir ach was Kasim wird nichts merken ich werde mit ihm saufen bis er seinen Hosenschlitz nicht mehr aufkriegt leg dich doch mein Täubchen
und wie du muss ich die Beine öffnen die Knie nach außen drehen den Kopf abwenden als wollten mich die schwingenden Latten (grau staubig hart) küssen mir Nase und Zähne brechen
ihr
das Ungeheuer
gegürtet mit federnden Spanten
der König Tod in dir sein Pfahl ich sah ihn nur als Stein Onyx eines Gottes in einer Vitrine und als schlackerndes Anhängsel meines Bruders bevor er zur Schule ging wiegt er dich (von innen) was weiß er schon von deinen Schätzen Schwester was für ein stöhnendes Kamel ihr geworden seid in einer Wüstennacht Kamel mit zwei gegenüberliegenden Buckeln
Tauben
in der Nacht weiß schwarz schwarz weiß
Nacht vernagelt mit ächzendem Holz brecht nicht die Knochen meines Gesichts meine Rippen unter fröstelnder Haut unter dem Ansturm des Rosts des Saurierbrustkastens in dem ihr wütet Rippe an Rippe ich spüre euer Herz das Herz eines roten Ifrit es könnte ein Schiffskiel sein der über mich hinwegfährt der ganze Rumpf eines Schiffs der Lattenrost zurechtgebogen neu verfugt vergrößert hoch in der Luft Schwester
euer Bett ist
das Segelschiff deiner verräterischen Liebe
in einem rauschenden Himmel hinter meinen geschlossenen Lidern sehe ich unendlich weit als wäre eure Dau von einem Hafen inmitten der Wüste direkt in den Himmel ausgelaufen Sand trockene Körner rieseln auf meine Wangen welche Figuren nur bewegen sich in den geblähten Segeln unter den steilen Rahen machtvoll bläst uns der Wind hinauf oder zieht euch die Gier des Königs der in grünem Öl badet empor was träume ich es ist
nichts es ist
nur der Major der in meiner Schwester
brennt
wie hält sie es aus (entweder den Falschen zu heiraten oder sich benutzen zu lassen oder zwischen zwei Lügen zu leben) spritze daneben sagt sie plötzlich so kühl als stünde sie in ihrem Labor neben einem Laboranten mit einer Destillierflasche in der Hand während der
Taubenschlächter
den siebten Himmel durchpflügt
unter mir
die ich unter eurem Kiel treibe wie der helle Schatten eures Ankers
sind sechs Himmel und sieben Erden auf dem Rücken des Stiers der die Hufe auf den Fisch gestellt hat im letzten Wasser des schwarzen Meeres das auf der Dunkelheit ruht vergiss
alles vergiss alles
ich
müsste jetzt meine Stimme erheben und sagen: Erzähl mir eine Geschichte Schwester
aber du
bist in einem anderen Land
An einem leuchtenden Morgen beim Frühstück im Haus auf Long Island
mit Blick auf einen Streifen Sand einen Streifen Meer eine schmale Himmelslinie die Flagge Sommer im weißen Lackrahmen eines Küchenfensters es ist ein schön hinausgedehnter Sommer ein Immer-noch-Sommer fast wolkenlos mit dem Versprechen auf erträgliche Hitze an diesem Tag die Haut die Knochen noch durchglüht von Erinnerung der Duft von Sonnenmilch und Gras Sandkörnchen im Ohr unter den Fingernägeln zwischen den Zehen
aber warten wir nicht mit der ersten Geschichte des ersten Tages während du unter uns dahinfliegst mit dem Rücken zur Erde unter dem Kiel des Himmelsschiffs
meine Mutter Amanda
(zwei Wochen ist es her) sie war rasch aus ihrem Sportwagen gestiegen und hatte die Handbremse nicht oder nicht genügend angezogen so dass er leer und lautlos wie ein Spielzeugauto rückwärts die Auffahrt hinabrollte zwischen einem radelnden Jungen und einem gelben Lieferwagen hindurch über die vollkommen ruhige Straße genau zwischen die Pfosten der Einfahrt des gegenüberliegenden Hauses und dort auch in die Garage hinein wie perfekt einparkend jedoch viel zu schnell auf die Werkbank voller Flaschen Lackdosen Kanister mit Säuren und Lösungsmitteln zu und die Erinnerung an jenen Tag verwandelt sich mit einem ohrenbetäubenden Knall (die Rückwand der Garage vielleicht auch die seitliche Fensterreihe die Wellenfläche des Dachs wie ein berstender Teich) zu einer glühenden geballten Faust
ich besuche dich durch
einen Turm aus Feuer Schwester
so leicht wie nur ein
Gedanke
so wie ein helles weißes Licht die Laser-
Fee aus gleichmäßig tanzenden Atomen mitten
durch eine Explosion durch eine Feuersbrunst durch einen kochenden Planeten eilen kann
unser fliegendes Schiff verwandelt sich
zu weißer Asche hoch in der Luft leise segelnd vorsichtiger als alles andere auf der Welt es zerfällt so rasch wie eine Idee eine Geschichte ein
Leben
Schwester vieles stellen wir uns falsch vor nur weil wir zu wenig Geschichten hörten unter dem Bett durch die Matratze siehst du vielleicht nur dich selbst auf der anderen Seite in
meiner weißen Haut
als deinen eigenen Traum vom tödlichen König wir müssen alle Geschichten kennen den großen Reigen auf der Erde dann siehst du auch den dunkelblonden Jungen der aus dem Haus läuft dessen Garage in Flammen aufging wie durch den Schleier
eines Traums er ist zu Tode
erschrocken er glaubt vielleicht ein Krieg habe begonnen
brennendes Öl ein Feuerengel der mit einer weiteren Explosion die Glasfront des Wintergartens sprengt ein Bote der immer das Ziel findet aber noch einmal vertrieben werden kann denn alle helfen mit sämtliche Nachbarn der herbeigeeilte Liebhaber meiner Mutter die Eltern des Jungen die Feuerwehr endlich die hier noch einmal eine leichte Übung hat
niemand ist
zu Schaden gekommen man sitzt beieinander neben den gelb gestreiften Rittern des F.D.N.Y. Erics Mutter neben meiner Mutter zwei vollkommen verschiedene Frauen mit der nahezu gleichen Frisur (sie gehen beide zum besten Damenfriseur der nächsten größeren Stadt und werfen sich in all der Aufregung doch immer wieder einen peinlichen Spiegelblick zu) die gepflegte mollige Hausfrau aus der Vorabendserie erschrocken und rosarot um Fassung ringend dagegen Amanda aus dem Abendprogramm des Fernsehers Leben wo man kalte schöne Managerinnen zeigt aber sie ist doch ein wenig aufgelöst für ihre Verhältnisse und seltsam heiter
Heiterkeit ist der Bote des Schmerzes
sagt Emily
in meinem Kopf in meiner Brust
so leicht und einfach und sie dreht sich gelassen um und verschwindet in ihrem Zimmer ohne die Tür ganz zu schließen
(spucke Blut du bist verletzt!)
regelrecht ausgelassen erscheint mir Amanda vielleicht weil ihr endlich einmal etwas schiefgegangen ist und wenn es nur für mich wäre denn ich denke plötzlich dass ich das von ihr lernen möchte so elegant so menschlich einfach ein Versagen einzugestehen in der weißen Sommerhose und dem malvenfarbenen T-Shirt in dem offenkundig wird dass ihre von Sommersprossen und Leberflecken gepunkteten Oberarme nicht mehr die Spannung von früher haben so entspannt entwaffnend so als könnte sie im nächsten Moment auch den freundlichen untersetzten Mann mit dem gelichteten Haar und der betont sportlich-lässigen Kleidung diesen wie von sich selbst erfundenen typischen Long-Island-Drehbuchautor vorstellen als
gestatten mein Liebhaber Lesley
entwaffnend entschuldigend weil er ihrem zweiten Ehemann ähnelt aber eigentlich weniger gut aussieht als dieser
aber ihre Verhältnisse und Manöver stören mich heute nicht so sehr der Brand- und Aschegeruch des Unfalls lässt alles zugleich falsch und richtig erscheinen man weiß einfach nicht mehr was stimmt und lehnt sich müde und doch seltsam erregt in die blaue rauchige Luft so dass man sich leicht an einer fremden Schulter wiederfinden könnte
stell dir vor
wird Eric in einigen noch ganz unvorstellbaren Tagen zu mir sagen dass sie einfach nur einen Freund braucht jemanden mit dem sie reden kann wenn dein Stiefvater nicht da ist vielleicht ist das alles nur eine
Projektion
und er wird grinsend einen Zeigefinger heben also befreie dich lieber selbst und komm mit nach L.A.
schließe die Tür von außen statt sie halb geöffnet zu lassen als Abstoßung als Anziehung als Zumutung für deine irritierte Umwelt aber jetzt
reden wir zum ersten Mal miteinander nachdem wir uns zuvor nur verstohlen beobachtet und verlegen gegrüßt haben
die Nachtigall
fliegt zur Rose Schwester
er hat so freundlich unordentlich geschnittenes Haar seine Ohren stehen zu weit ab so dass er nicht zu hübsch wirkt nicht zu glatt er hat ungleich lange Fingernägel (rechts länger der Mann spielt Gitarre Watson) keine Haare im Brustausschnitt seines hellblauen kurzärmligen Hemdes
der Feuerwehrzug steht ruhig vor unserem Haus die Versicherungsgesellschaft werde alles regeln er könne sich schon einmal ein neues kaufen sagt meine Mutter und Erics linke Schulter berührt mich tatsächlich als wir am Ende noch einmal das unsinnig verbogene unter dem Ruß glänzende Skelett seines Rads betrachten du könntest dir vorstellen
ein Wesen aus Asche und verkohlten Resten zu sein ein fast nicht zusammenhängender Körper der in dem Augenblick stirbt in dem ein Lebewesen auf ihn tritt der drei Sekunden existiert oder auch dreitausend Jahre
wie heißt du eigentlich
fragt Eric sanft
Begrüßung
Mein Schleier, Liebster, ist mein Haar.
Lüfte ihn und sieh.
Meine Lippen flüstern dich.
Berühre sie und flieh!
Die Glücklichen sollten klug sein und fünfmal am Tag (wie ein guter Moslem betet) spüren dass ihr Leben gelingt wie
ein Kinderspiel
so hätten sie noch immer einige gute Stunden
vor der Vertreibung ich atme ruhig ich gehe in die Küche und koche Kaffee mit einer deutschen Maschine die ich noch vor Kurzem so reflexhaft in der Ipswich-Mall als wahrscheinlich gute Qualität kaufte wie es die meisten Amerikaner auch getan hätten ich gestehe mir ein (entgegen dem Widerwillen einer unvorstellbar nahen Zukunft) dass ich froh bin das Haus wieder für mich zu haben denn obwohl ich noch zu wenig über Mohammed und Marianne weiß habe ich
Suleika
schon längst gefunden und bin ihr erlegen und staune und bin dankbar für den Sturm den sie (auch nach drei Jahren noch ganz leicht) in mir entfacht für die plötzlichen Anfälle von ruhiger gelassen einige Bücher oder einen Stuhl beiseite schiebender eine Schürze den Rock ein sonnengebräuntes weiches Bein hebender Gastlichkeit in der Küche oder auf der schmalen Treppe (dort verunglückend und wie halb noch gefesselte Flüchtlinge aus der Gefangenschaft unserer College-Professoren-Seriosität in die verblüffte junggesellige Arroganz meines Leseschlafzimmers stolpernd)
jetzt bin ich noch
und schon
ganz allein ich ärgere mich (zum schrecklichen letzten Mal) über Sabrina über ein abhanden gekommenes Buch ich stehe (schon versöhnt) in ihrem Zimmer ihrem einstigen Mädchenzimmer seit sie in Cambridge studiert ist sie nur selten hier gewesen alles scheint unverändert wie konserviert in dem eigenartigen Übergangszustand zwischen chaotisch-märchenhafter Mädchenwelt (frühe Poesiealben und alte Disney-Comics treue Plüschtiere das Poster eines weiblichen Rockstars) und der erst auf den zweiten Blick eingängigen gewissermaßen heimlichen Ordnung einer jungen Frau (chronologisch eingestellte National-Geographic-Magazine Lehrbücher Songbooks Romane Lyrikanthologien PC-Manuale CD-Stapel) es gibt aber noch den jetzt fast freien Platz im Bücherregal unter den sie auf meinen ironischen Vorschlag vor einigen Jahren hin ein handbeschriebenes Etikett klebte
Geklaut von Papa
hier finde ich auch meine Hafis-Ausgabe die einzige die halbwegs erfolgreich versucht die arabischen Metren ins Deutsche zu übertragen und dann werde ich
sanft
wie von einer Mädchenhand (es ist die einer jungen Erwachsenen) zurückgedrängt aus dem schon versiegelten schon unberührbaren Bereich und wende mich vergnügt ab eine Tochter die dir Bücher stibitzt ist eine Gestalt aus einem Märchen das du dir früher nicht einmal erträumen konntest ich werde das Frühstück verschieben es ist der fast wolkenlose Morgen
des letzten Tags
es ist acht Uhr ich schnüre meine Laufschuhe ich nestle an den Bügeln meiner Sportbrille zwischen Ohrmuscheln und kurz geschorenem Schläfenhaar (silbrig gestreift wie ein Dachspapafell sagte sie) und trete auf die Holzveranda hinaus mit Blick über eine große Rasenfläche auf die North Pleasant Street der Vorgeschmack von Herbst liegt schon auf den Lippen ich denke mit Vorfreude und einer gewissen andächtigen Hilflosigkeit oder Ehrfurcht an die fünfte Jahreszeit die die Hügel rings um die Stadt mit feurigen Laubdecken überziehen wird (das Blut des Großen Bären wie es in den Indianerlegenden heißt) mit Wirbeln aus honigfarbenen grell orangenen fleischroten violetten hellbraunen kastanienbraunen umbrafarbenen
Blättern
die auf den blauen Spiegelbahnen der Straßen treiben die als raschelndes Flammenmeer die weißen Holzhäuser einschließen ihnen einen fast erhabenen Glanz verleihen als wären ihre lackierten Bretter Marmor als hielten die rosafarbenen Steine und der Zuckerbäckergips an den städtischen Gebäuden jahrtausendelang oft setze ich mich dann ins Auto und fahre aus der Stadt zum Metacomet Trail oder auch bis zum Holyoke Park ich laufe viel und meine längsten und einsamsten Strecken in dieser traumlos schönen Jahreszeit die ein Glück durchsetzt mit unfassbarer leiser Verzweiflung für mich darstellt schon immer vielleicht notwendigerweise einfach nur so etwas wie ein Geburtsfehler des nein eigentlich jeden Idylls
wie die feinen Bruchlinien die Haarrisse die sich nun im tiefen Muranoglas des Himmels abzeichnen nicht wegzuwischen nicht zu beseitigen außer durch
Vergessen oder es sind
Risse im Glaskörper meines Auges Risse aus der Zukunft weil du nicht erträgst wie bruchlos die Vergangenheit dir einmal erscheinen konnte als ich die Hafis-Ausgabe in Sabrinas Zimmer suchte fiel mein Blick zum ersten Mal auf einen Schuhkarton auf dessen Deckel sie zwei Postkarten befestigt hatte eine zeigte in Schwarzweiß eine ägyptische Sängerin mit einer Art Fez auf dem Kopf wohl eine Aufnahme aus den fünfziger Jahren während die andere farbig und aktuell war ein Werbegag eines kalifornischen Winzers unter der Aufschrift Really Dry Red Wines sah man eine Wüstenlandschaft und im Vordergrund an einem steinernen Tisch einen Orientalen im Burnus mit kurz geschorenem weißen Haar und schwarzem Schnurrbart der auf ein leuchtend rotes Glas Wein blickt ein ausdrucksvoller ernster Mann in meinem Alter etwa und es schien mir nicht zufällig denn vor Monaten hatte ich Sabrina erzählt dass ich jemanden bräuchte um Zutritt zum Orient zu finden und dabei an einen Kollegen vom Middle Eastern Studies Department gedacht den ich endlich ansprechen müsste einer kulturellen Hilfestellung wegen ich glaubte ich bräuchte nur einen Blick (nicht den Inhalt der Schachtel) einen Ratschlag eine Bücherliste aber jetzt benötige ich viel mehr als einen Kollegen nämlich
Hafis
(einen Bruder)
auf einem Holzstuhl vor dem steinernen Tisch das Glas gefüllt mit dem flüssigen Rubin Herzblut des Engels der uns einmal die Augen öffnen wird am Ende des Schlafes Leben ich brauche jemanden der mir das alles zu verstehen hilft eine
Spiegelung (1)
In meinem Glas das Spiegelbild,
das nicht erklärt, wie es entstand.
Ein Ornament aus Zeit, aus Licht,
der vage Puls in meiner Hand.
In meinem Haus ein Skorpion,
der sich den weißen Stachel JETZT
tief in den eignen Nacken stieß,
bis ihn im Schlaf das Flugzeug fand.
Auf einem Himmelsblatt aus Wein
schwebt still von Ost nach West der Traum.
Der Flug, der Stahl, das Öl, der Tod.
Ein Finger schreibt es an die Wand:
Aus Blut wird Glas, aus Glas wird Sand.
Schnippe an das Glas es genügt um
auf die andere Seite zu kommen die feine Spiegelfläche löst sich auf und findet
umgekehrt
wieder zusammen wie aus tanzenden Scherben im Inneren des
Gegenblicks der langsam zu sich kommt eben in jenem weißhaarigen schwarzschnurrbärtigen Typ (really dry) dessen Lider sich mühsam heben der auf die friedliche gelöste von rosenholzschwarzen Wellen umflossene Landschaft blickt in der er immer zuhause sein wird ganz gleich wo er sich befindet
Faridas Gesicht
verschwindet noch einmal hinter einem (verdammt subjektiven) Schleier
ich falle zurück um fünf Uhr morgens noch einmal in trüberes stilleres verstecktes Leben sieh auf die Spiegelfläche wie auf Wasser wie auf verschleierte kühl fiebernde Luft in der die Gesichter zu Flundern werden zu anderen Plattfischen
Hafis
glaubte er wäre ein Vogel
aus dem Paradies und sein Körper sei Staub der ihm die Sicht auf jenen Garten Ridhwan nehme auf den goldenen Baum den Juwelenzweig auf dem er sitze
dann ist der Körper meines Körpers ein Fisch im Untergrund der Untergründe dem Wasser nämlich das alles bestimmt vor zehntausend Jahren schon und noch immer lass mich los mein Freund und ich klatsche zappelnd in eine der beiden großen Arterien dieses Landes dessen Grenzen die Engländer erfunden haben (der Großvater meiner Frau lebte in Basra und man fragte ihn wie die Eroberung durch die Engländer gewesen sei aber er hatte keine Engländer gesehen nur englische Flaggen und Schiffe und Uniformen derer sich die Inder bemächtigt hatten) bei denen es immer regnet und deren Land überall von Meer umspült wird weshalb sie nicht so recht begreifen wie angenehm es ist wenn die lächelnden Nachbarn im Norden an der Kehle des Wassers mit den Messern spielen und im Süden das Euter zum Golf zwischen Persien und Kuwait gequetscht wird sie dachten einfach zu viel an Öl und schenkten uns bald Mossul mitsamt seinen wütenden Kurden und 1001 höhere Beamte aus England und schließlich einen neuen König aus dem Hedschas den wir einsichtigst wählten nachdem 10 001 Aufständische das Leben gelassen hatten das Paradies ist so nah bei uns wie im Märchen und wie der Gedanke dass man mit Gewalt jedes Problem in kürzester Zeit lösen kann oder wenigstens
hinüberschaffen
im Paradies jedenfalls fließen die Bäche und wenn wir uns dort treffen wollen dann nimm den anderen Fluss mein Bruder als Fisch als Kampfschwimmer als mit High-Tech vollgestopfter Spürkarpfen der seine Teleskopaugen ausfährt und die zarten elektronischen Fühler durch den Schlamm zieht auf der Suche nach Sprengköpfen und Dosen mit chemischen Waffe nimm den Euphrat durch die Kalkstein- und Marmorschluchten im Norden (aufschäumend eiskalt kochend zwischen Felswänden mit den eingemeißelten Figuren der alten hethitischen Krieger und Könige und den protzigen Reliefschriften immer nur zeitweiliger Eroberungen beides übersät mit historischen Schussnarben die vom Kunstsinn und der Wut der Bergvölker zeugen)
der Euphrat ist der große wilde Mutterfluss aber er wird mir zu fromm in der Mitte wenn er an den auferstehungssüchtigen Leichenfeldern von Kerbela und Nadschaf vorbeiströmt wohingegen ich im träge sich windenden Tigris außerordentlich männliche Phänomene beobachten kann wie das Aufblitzen der Jagdbombergeschütze am 36. Breitengrad entlang der Flugverbotszone (glucksende Vibration des Wassers bei der Zerstörung ufernaher Raketenstellungen) wie den U-Boot-ähnlichen Schemen eines Walfischs der Sorte welche Jonas nach Ninive transportierte (noch findet man dort den Originalschwanz oder — zahn des Tieres) wahrscheinlich war es nur ein Riesenkarpfen wie ich einer bin aufgebläht zu biblisch-koranischen Dimensionen in welchen schon lange der
GROSSE SOHN
und Killer von Tikrit über uns schwebt
über uns auf dem Wasser trudeln jetzt die unförmigen massiven Kalaks aus luftgefüllten Ziegenhäuten wie eine Silhouette SEINER zeitlebens schlecht gelaunten militanten Mutter (sie schrie sie werde den Teufel gebären als ER aus ihr herauswollte) ein falsches Wort über sie und
du badest in Säure
mit unseren Fischlippen sollten wir ihr blankes Mausoleum putzen
das lausige Nest aus Lehmziegelbauten aus dem fast die ganze Bande gekrochen ist die uns regiert Saladin wurde hier geboren und ein historisches Augenblinzeln später ER unter dem Vorbild seines Nazi-begeisterten Onkels immer endet es in Strömen von Blut gib einem wahnsinnigen geprügelten Kind eine Pistole vergiss dass es schlau und skrupellos ist verschmähe es aus der souveränen Perspektive viel klügerer und gebildeterer Parteigenossen bis es dir den Lauf zwischen die Zähne stößt sieh den naiven blauen Himmel durch das Loch in deiner hinteren Schädelwand
sinke in den Schlamm
gleite stumm über die zerbrochenen Skelette durch die Schlingpflanzen die an deinen alten eisernen Schuppen zerreißen in den verzweifelten Windungen des Flusses bis
Licht
in dein trübes Auge strömt und du hinabstürzt durch eines der geöffneten Fluttore bei Samarra (einmal war das Land klug genug einen fünfzig Meter hohen Turm zu bauen um den fünf Mal eine spiralige Rampe läuft einmal war es klug genug mit Öl Wasser zu kaufen zu stauen umzuleiten in riesige Becken zur Versorgung der Denkverbotszone)
ich könnte die zappelnden Beine des Jungen sehen der ich gewesen bin schwämmen wir in den fünfziger Jahren durch den fast noch sauberen zinnfarbenen Strom durch die geschichtstrunken sich windenden Mäander des Wassers bei
Bagdad
als Jungfisch sähe ich den grün bewachsenen Brückenpfeiler der über der Wasseroberfläche in die Sommerhitze taucht wie kleine Frösche klammern wir uns an Steinvorsprüngen fest einer will höher hinauf als der andere unsere trockene warme Jungenhaut reibt sich aneinander mit dem Vergnügen dass der andere lebt Kraft hat wie du und klettert ich sehe meine beiden Propheten an den Stein geklammert den dünnen Ali mit seinem vornehmen ägyptischen Gesicht dagegen Husseins breites gutmütiges Lachen als trüge er schon den künstlerischen Bart seiner Erwachsenenjahre wir sind zwölf Jahre alt die englische Zeit endet gerade denn die Leute sind hier nach vierzig Jahren Ausbeutung und Bevormundung doch etwas wütend geworden sie erschossen den König und seine Familie sie schleppten den toten Regenten durch die Straßen und erkannten den ewigen Ministerpräsidenten den größten Freund der Engländer als er in Frauenkleidern zu fliehen versuchte lynchten ihn begruben ihn exhumierten ihn und rissen die Leiche in Stücke dies war nicht die feine englische Art mein Freund sondern die irre die sie hier sehr unenglisch gefördert haben aber wir sind das schon gewohnt denn
wir sind alte Karpfen geworden
verschrammt mürrisch zäh schlau feig unter Umständen auch schon tot
und ich fächle dahin als 1,80 Meter langer Schabbut und zögen sie mich jetzt heraus bestünde ich auf der ehrwürdig perversen Zubereitungsart bei der man mich mit Zitronenblättern Granatapfelkernen Petersilie und Kreuzkümmel füllt um mich (den Kopf in einem wassergefüllten Gefäß den Bauch mit ölgetränktem Leinen umwickelt den Schwanz in Baumwolle gesteckt) in einem Stück zugleich zu kochen zu braten und zu backen
so fintenreich
erledigt man uns hier
schwimme im Euphrat weiter nach Süden wetteifernder Bruder meine kundige Tochter Muna sollte dir etwas über Babylon und Uruk und Ur erzählen die alte Trauer die toten Libellen des Gilgamesch treiben dir auf dem Fluss entgegen aber
das Paradies liegt nun zwischen uns
das Schwemmland in dem ich dir etwas über Hafis berichten würde auch wenn er kein Iraker war
klingelte nicht mein Wecker in zwei Minuten und stellte ich ihn nicht ab bevor er Farida aus dem Schlaf reißt erwache und erhebe dich Tarik und
wandle in die Küche im Pyjama denn das hier ist
Pyjamaland
am Morgen (schieße fröhlich mit der Schrotflinte in die
Decke) nimm deinen Arztkoffer von der Truhe aber
leise
Mit geblähten Segeln
aus dem Himmel fallen
noch einmal war ich am Meer und dachte an ein mögliches Gedicht Montag am Strand (Montagmorgen am Strand? Montag am Meer?)
dein Schiff
Schwester könnte vom Himmel herabsegeln und
leise
auf dem fast glatten noch graublauen Schild des Atlantik vor Anker gehen ich würde hier am Strand auf dich warten zusehen wie du auf einem kleinen Boot herangerudert wirst von
Mamelucken?
ägyptischen oder nubischen Dienern schwarzen Männern jedenfalls mit gewaltigen schwarzen Armen Seidenjäckchen Ohrringen und Turbanen glänzend geschminkten Gesichtern in jeder Pore
Hollywood
wie ich es von Kindesbeinen an vor dem Fernseher einatmete den unermüdlich flackernden Dunst der tausendfachen falschen Dschinns die nie aus ihrem Glas entweichen
(erstickten sie doch am beißenden Sauerstoff
der Wirklichkeit)
du musstest fliehen Schwester du brauchtest
Asyl
aus nie ganz ersichtlichen geheimnisvollen todernsten Gründen und auf ähnlich unterirdische Weise warst du mit mir verwandt eben eine Schwester (im gleichen Alter ein Zwilling aus einem anderen Körper) die an meiner Seite lebte mit mir zur Schule ging jede Mahlzeit mit mir teilte und in meinem Bett schlief der ich wie einem eigenwilligen stolzen mit Goldkettchen Münzschnüren (völlig lautlosen) Glöckchen silbernen Schleiern verhängten Schatten alles was ich tat vormachen und erklären musste in einem unauflöslichen Geflecht aus Lust und Leid (eine auf mich angewiesene Zeugin für alles und jedes zu haben
das immergleiche stumme aber vollkommen deutliche ablehnende Urteil lastete auf mir denn nichts war dir gut genug und nichts konnte dich beeindrucken)
ein ganzes Jahr lang träumte ich von dir
der arabischen Prinzessin
trug dich mit mir herum wir lebten noch alle (Martin Amanda und ich) zusammen in Amherst ich war elf Jahre alt die Paris-Reise lag noch in der Zukunft ich las zu viel und war zu viel allein ich stieß meine besten Freundinnen vor den Kopf mit
deinem Stolz
oder dem Phantom des Stolzes das ich mir von dir lieh für die ich keinen Namen finden
wollte
an deren stummer störrischer schöner Fremdheit ich litt um sie in mich aufzunehmen um etwas Ähnliches in mir wachsen zu lassen vielleicht hattest du fliehen müssen weil du die Nächste warst mit der ein König Schahriyar ihre letzte Nacht verbringen wollte und ich behütete dich ich schützte dein Leben und las und las um in dem Augenblick in dem er uns finden würde vor ihn hinzutreten und ihn aufzufordern die Nacht mit mir zu verbringen und ihn einzuspinnen in das wunderbare
Garn meiner Erzählungen
aber die Ohnmacht der Stolz die arabische Prinzessin
war ich als
die Angst vor der Trennung von Martin und Amanda der Versuch ihnen zu zeigen dass sie mich verletzen würden
mit neunzehn begreifst du das allmählich es ist von heute aus betrachtet fast leicht
dem Meer den Rücken zu kehren (ein besserer Titel für das Gedicht?)
auf das weiße Gebäude zuzugehen das Sommerhaus das dreimal so groß ist wie unser altes Familienhaus in Amherst und cottage heißen muss da hier noch ganz andere Paläste zu Hütten werden eine flache grasbewachsene Düne steigt (wie der fahle Rücken eines mageren afrikanischen Büffels) gegen eine höhere an auf der Hagebuttenhecken mit grellrot leuchtenden Früchten den Weg zu Schlangenlinien zwingen
von dort oben
sehe ich doch noch einmal zurück Richtung Strand in die vergangenen Tage Silber fliegende Gischt hochschäumende Wellen es war heiß und oft stürmisch ein sprühender energischer Noch-einmal-Sommer in der blendend verschleierten Gegenlichtluft bewegten sich die Schemen der Badenden wie in einer fröhlichen Hypnose (sie hören sich nicht sie scheinen keine Absichten mehr zu haben) ich selbst bin im Vordergrund als könnte ich noch weiter im Vordergrund sein und mich beobachten in den schattenhaften wie betäubten Farben ein schlankes (erwachsenes) Mädchen mit rotem (fast grau erscheinenden) Badeanzug mit nassen Haaren erstarrt in einer schwungvollen Geste die langen Arme halb vom Körper gestreckt und mit gedrehter Hüfte als hätte ich gerade einen Frisbee geworfen hin zu
Eric
der mir in den flachen Wellen entgegenkommt lächelnd mit hängenden Armen und ich erschrecke für eine Sekunde als hätte ich wirklich etwas geworfen das ihn verletzen könnte ihn ins Gesicht treffen oder am Hals den ich küsste wir
versteckten uns manchmal
liegend
hinter unseren Badematten vor den herangepeitschten Sandkörnern vor den Blicken lagen wie in einem Strohkorb den ein riesiger Vogel übers Meer trug schließ nur einmal die Augen Eric
während die eilends herbeigerufenen Bauarbeiter (in East Hampton ist eine schwarz verkohlte Garagenruine recht unpassend) den Schutt beseitigten und leise und diskret in der vornehmen letzten Dorfstraße vorm Strand eine neue schmucke Autohütte (Garagenpalast) errichteten
in diesen zwei Wochen in denen nicht mehr nicht weniger geschah als
der sanfte kaum spürbare
Austausch
des Planeten unter unserem Strandstreifen es
fühlt sich so befreiend und beängstigend an es ist aber doch (zunächst) nicht mehr als eine Absicht ein kleiner Ausbruch ich schwänze nur die erste Woche des neuen Semesters
die Erde wird sich nicht verschieben
sagt Eric
du kennst sie doch
verdammt denke ich es hätte geholfen es wäre besser gewesen wenn wir …
aber du schläfst nicht (und ihr wirklich nie? Schwester?) das erste Mal mit einem Freund wenn du gerade
blutest
es hätte nichts geändert gib es zu es wäre nur etwas weniger verrückt etwas weniger romantisch wie dieses wie todsichere Versprechen auf uns selbst auf eine Intensität und gemeinsame Lust die noch nie da war Schwester es ist wenn du aus deinem Schmerz deinem Stolz
herausgehst
aus dem Winkel
in dem du dich verkrochen hast es ist so absurd so schwer zu sehen wenn dieser Winkel doch ein großes helles Zimmer im ersten Stock ist in dem du zwei Jahre lang wie in einem erträumten oft auch traumartigen Exil lebtest mit Blick zum Meer wie ich es mir als Kind oft gewünscht hatte in unseren Ferien in Rockport
immer weiter am Meer
leben zu dürfen
die arabische Prinzessin
kehrte zurück
in mich in dieser Zeit als ich meiner Mutter Amanda folgte mit dreizehn in Seymours Sommerhaus einzog auf Long Island in dem ich alles wunderbar finden sollte das ist Mrs Donally willst du ein Pferd sie kocht wunderbar sie sorgt für dich und dein Pferd wenn wir beide in New York City sind nein rief ich denn ich will ein Kamel so sieht Mrs Donally nämlich aus ich bekomme ein Kamel das ein Pferd kocht
schon einmal aber fand ich die Kraft von hier wegzugehen als ich nämlich wieder zu Martin nach Amherst zog und wieder ruhig wurde und normal nur
ernster
und deshalb kann ich jetzt leichteren Herzens eine Zeitlang hier wohnen in den Ferien oder am Wochenende und ich kann lange Zeit wieder von hier verschwinden also weshalb
macht es mich so nervös ich
gehe nur für zwei Wochen nach Kalifornien ich muss zur Vernunft kommen ich muss etwas finden das mich wieder auf die Erde bringt (nach diesem Urlaub wenigstens) die ich doch
studiere
Etwa von unserem lautlosen
Luftschiff aus
Schwester getrieben von
Fantasie und davon brauchst du eine Menge wenn du eine Schwester verloren hast über dir in einem Bett mit gespreizten Beinen kalt das fiebrige weiße Blut der Armee empfangend meine klare geordnete überlegene große Schwester Jasmin die mir so viele Briefe schrieb die in meinem Alter schon nach Paris ging um acht Jahre später als diplomierte Chemikerin zurückzukehren als Verlobte eines älteren Mannes der bereits verheiratet war ich wollte einmal
einen Piloten heiraten den ich in Paris sah nicht in der Luft oder am Flughafen sondern auf einem der Märkte auf denen man Arabisch hört fast wie daheim er beachtete mich natürlich nicht ein orientalisches Kind von elf Jahren er streifte mich nicht einmal
mit seiner blauen Uniform
er ist Franzose Schwester Engländer oder Deutscher Franzose es sind ja immer nur Figuren aus Feuer aus Wasser aus Rauch
im Feuer
unserer Geschichte der Pilot sieht hinab auf das ockerfarbene Häusermeer von Bagdad gespalten vom Tigris wie von einer grauen stählernen Schlange die Kuppeln der Moscheen sitzen wie türkisfarbene Muscheln im Staub unaufhaltsam zieht die Maschine in ihre Wahnsinnshöhe hinauf rüttelt wie ein Bus auf einer unsichtbaren holprigen steilen Piste in lichtblauer Wüste
der Pilot dreht den Kopf mit der funkelnden Sonnenbrille er wirft einen Blick durch das Seitenfenster er sieht
(als einen gefährlichen Traum!)
unser Schiff
in der Luft
nur wir beide stünden an der Reling denn der König wäre ausgegangen um junge Männer (von jungen Männern) zerquetschen zu lassen (das Übliche) er sähe uns im Sommerhimmel flirren das silberne Segel die schmalen silbernen Bänder in unseren weißen leichten Kleidern er spürte die Nachgiebigkeit
der Liebe
denn das hätte einmal sein können (oder auch nicht) ich wäre eine Tänzerin
gewesen
im Innenhof einer alten Karawanserei zum Beispiel die man in ein Restaurant verwandelt hätte tanzte ich bis eine Flut von Geldscheinen über meinen kurzen Schleier meine Schultern meine halb entblößten Brüste meinen schwingenden nackten Bauch segelten (die ägyptischen Filme der sechziger Jahre in Videokassetten versiegelt wie in schmalen Särgen im Kleiderschrank von Farida) der Pilot sieht mich jetzt im Himmel fliegen wie am Vortag im Rauch der Wasserpfeifen im Schweiß
meiner Raserei
ich muss doch auch wie meine Schwester sein ich muss doch auch
mich
lösen können ich verschwimme in der Luft (ebenso das Schiff unsere Dau die fiebrige irrlichternde Kontur meiner Schwester) und der Pilot kann jetzt wieder klar sehen die Instrumente (Ladedruckmesser Höhenmesser Fahrtmesser sanft schwappende Blau-Braun-Drehscheibe der künstliche Horizont sagt Sami hatten wir je einen anderen Schwester kreiselnde blinkende flackernde Elektronik Wasser Treibstoff zitternde weiße Zeiger auf schwarzem Grund)
die Libelle sagt Sami dieses weiße Dings das wie eine Banane aussieht
Turn Coordinator
dreh dich zurück Schwester nimm den Piloten aus der Luft die toten Libellen aus dem Fluss lösche das Flugzeug aus dem Himmel
seit zehn Jahren kann es gar nicht sein dass eine Verkehrsmaschine von Bagdad nach Paris fliegt es gibt Bagdad nicht einmal im Flight Simulator morgens um sieben schaukelt Sami mit schläfrigem Blick über einer Landschaft in Italien vor Rom wie er glaubt über sanften Hügeln ohne Häuser ohne Menschen und Bäume als wäre dort alles wie von einer Wut gelöscht oder mit lehmgelber Farbe überpinselt wie die Straßen von Bagdad in jenem
Sturm
der letzte Woche Sandkörner in jede Ritze unseres Hauses trieb als hätte er einfach durch das Glas der Fenster wehen können gestern putzte ich mit Farida die Küche das Bad und jedes Zimmer aber heute Morgen streicht nur noch ein leichter Wind um das Haus das in einem ruhigen safrangelben Licht liegt das alte schiefe plump vergrößerte Haus meines Urgroßvaters in Betawiyn in das wir vor vier Jahren zogen nachdem Tarik für immer mehr Arbeit immer weniger Geld erhielt und auch wenn Jasmin nicht mehr zu uns zurückkehrte nachdem sie aus Paris kam (mit Kasim der drei Jahre für die Scheidung von seiner ersten Frau brauchte obwohl sie schon längst beschlossene Sache und mit dem Kadi geregelt war) sitzen wir hier enger aufeinander als je zuvor
die helle Neubauwohnung hätten wir auch nicht halten können wenn Tarik wie so viele Ärzte Wissenschaftler Dichter Professoren seine Bücher und die unseres Urgroßvaters verkauft hätte
auf einer alten Decke auf der Erde wie ein fliegender Händler
fliege
weiter mein wirrer kluger kleiner Bruder Sami auf dem gebrauchten Computer den Jasmin beisteuern durfte (sonst nichts außer Bücher und Videokassetten für mich) er klappert auf der Tastatur pfeift er träumt vom Studium in Amerika und den Girls dort er fiele tot auf den Rücken sähe er ein Mädchen wie dich Schwester woanders als auf einem Bildschirm
im Bad
wasche ich mir das Gesicht streiche mit nassen Händen über mein Haar wasche die Arme bis zu den Ellbogen die Füße bis zu den Knöcheln ich spreche die Fatiha ich kehre in mein Zimmer zurück sinke zu Boden auf meinen schmalen hellblauen Teppich atme den Wachsgeruch der Dielen ein es hilft manchmal noch manchmal gelingt es mir noch ohne jeden Zwischengedanken zu beten und ich spreche den Thronvers weil ich etwas Großartiges und Beruhigendes möchte etwas das alles auch die Wunde meiner Schwester
(in ihrem Kopf das was sie verändert hat)
verschließt und den Himmel über Bagdad wieder öffnet während wir nur weiter leben und träumen und schlafen
Gott schläft niemals
Schwester für dich ist es noch die Nacht des ersten Tages die Schattenlinie wandert langsam über das zarte Blau und Weiß der Erdkugel es gibt Paris es gibt New York es gibt Bombay und Peking mein Vater Tarik brachte Sami eine CD von einem dankbaren Patienten auf der man sich Städte in Postkartenmotiven ansehen kann vom Boden aus als wäre man dort auf den Straßen ich betrachte das viel lieber als den Flight Simulator über die Schulter meines Bruders der sonst eigentlich geweckt werden muss
von Tarik der morgens zumeist als Erster in der Küche sitzt Tee trinkt und liest oder gar Gedichte schreibt bevor er zur Arbeit geht als könnte er mit Versen heilen
dein Gesicht sagte er einmal zu mir
macht mich gesund
wir frühstücken Farida besteht darauf dass Sami etwas isst wir gehen zu dritt aus dem Haus die Männer unserer Familie mit keinem rede ich über Jasmin aus Furcht sie fänden nichts dabei oder glaubten umgekehrt den (einflussreichen und gefährlichen) Major angreifen zu müssen was für ein Unsinn was denke ich noch ist die Luft halbwegs angenehm in drei Stunden wird es über 40 Grad heiß sein eine verstaubte Palme raschelt im Wind neben einem Telefonmast von dem zerrissene Kabel hängen der Getränkeverkäufer (SevenUp Mirinda Orangen- und Granatapfelsaft) verscheucht einen zerlumpten Jungen von seiner Auslage ich ziehe mein Kopftuch zurecht hebe die Füße über die inmitten der Gasse laufende Abwasserrinne ich brauche nur zehn Minuten nach Norden zu gehen um zur Schule zu kommen an der Nidhal-Straße trenne ich mich von Tarik und Sami seit wir in Betawiyn leben mit seinen verschachtelten alten lehm- und ockerfarbenen Häusern mit den zu Sitzbänken hochgezogenen Türschwellen den engen Gassen dem ineinander verkeilten Leben sind wir tiefer und vollständiger wie neu
eingeboren
in Bagdad
damals aber waren wir modern und hatten ein hohes Einkommen wir gingen in einen Club ich trug einen kurzen weißen Rock brauste auf meinem roten Fahrrad durchs Viertel ich sollte Tennis lernen und wir fuhren mit dem Taxi auf einer glatten endlos langen Piste durch die Wüste zum Flughafen nach Amman und so
kam ich nach Paris mit elf ins Ausland ein
einziges Mal
Die University Lodge eine Art Garagenmotel auf einem Grashügel Triangle Street die orangefarbene abwehrende Hand der Fußgängerampel ist hier ernst zu nehmen falls es dir dein Leben noch ist aber hier fehlt nur der Überblick über drei seltsam zusammenlaufende Straßen danach geht alles
glatt und gefahrlos zwischen flachen weißen und backsteinroten Shops Cafés Restaurants die Blue Sky Gallery The Toy Box ein Buchladen ein Plattenladen St. Brigid’s Catholic Church mit dem frei stehenden Glockenturm gegenüber dem Unitarian Meetinghouse
morgens um acht
ist es noch still die Busse die schnaubend und unermüdlich die fünf Colleges und die Schlafstätten der Studenten miteinander verbinden sind noch fast leer
man grüßt mich vor der Feuerwehrstation
noch
bin ich nur der nicht mehr unfröhlich geschiedene UMass-Professor Anfang fünfzig und einigermaßen gut erhalten (wiederhergestellt) und wieder
ahnungslos
auf dem letzten Lauf für mehr als ein Jahr
es ist das Alleinsein mit meinen Gedanken meinem Atem dem rhythmisch pulsierenden Kaleidoskop meines Lebens in der Erinnerung das mir das Laufen so wertvoll macht die letzten unbeschwerten unverblümten Gedanken an die glatten Brustwarzen wie große kastanienfarbene Spielzeughütchen an die Kollegin vom Hampshire College (das rauchblaue Haus in der Spring Street) an der üblicherweise belebten aber ebenfalls noch schlafenden wichtigsten Kreuzung des Orts sehe ich stets (mechanisch eigentlich) nach links in die Main Street hinein zu dem Ensemble aus backsteinroter City Hall und granitgrauer Episkopalischer Kirche das mich mit seinen Steinbögen und Burgzinnen an die Modelleisenbahnlandschaften meiner Kindheit erinnert wohingegen die
Jones Library
mit ihrem wundervoll altmodischen Hitchcock-Film-tauglichen Interieur zu so vielen Erlebnissen in Sabrinas frühem Schulalter zurückführt und ich jedes Mal wenn ich das dahinter liegende kleine historische Museum sehe das ich nie betrat (aufwändig gearbeitete Quilts vermutlich und mit Schnitzereien versehene Walfischzähne alte Wetterfahnen in Indianer- und Adlergestalt Heckbretter Spinnräder Flinten Bärenfallen und sorgsam bemalte Gallionsfiguren die unentwegt in die blassen Meere des Vergessens hinter den staubigen Museumsfenstern tauchen in denen wir achtlos vorbeischwimmen) eine einzige Szene vor mir habe gestochen scharf in
glücklicher Panik
als Amanda elf Tage über dem errechneten Termin
eben hier
wankte und zu Boden ging sich auf den Rasenstreifen setzte bis ein freundlicher dicker junger Bankangestellter von gegenüber um die Ecke lief und mit einem Rettungswagen zurückkehrte
vor neunzehn Jahren
kam hier (nur einen Hügel weiter die Klinik hinter den noch sommergrünen Ahornbäumen und Kastanien) Sabrina zur Welt auf Amandas Bauch ihrer
Mayflower
zitternd hob sie das feuchte Köpfchen und suchte unseren Blick mit einem schwarzen magischen unbedingten Ans-Land-Gehen-Wollen und in diesen Minuten vollkommener
Dreieinigkeit
bin ich ebenfalls von Bord gegangen und angekommen zwischen den Green Mountains und den White Mountains den Kühen von Vermont und den Buckelwalen von Nantucket südlich von HISTORIC Deerfield und malerischem Springfield im eifrig Studenten hätschelnden und quälenden Südende von Pioneer Valley hier in dieser Universitätsstadt in deren Zentrum es ab vier Uhr nachmittags so aussieht als würde man sämtlichen Bewohnern das wirksamste Elixier ewiger Jugend über die Trinkwasserversorgung einflößen abgesehen nur von einigen Alibi-Erwachsenen im besseren Alter und seltsam gefälscht wirkenden Kleinkindern hier kam ich an
wenigstens mit allem was ich liebte und meinem besseren erwachsenen Leben zurechnen konnte meiner Vernunft und der Faszination daran dass ich mit Sabrina nun
endgültig
zur Hälfte in Amerika beheimatet war
zu zwei Dritteln vielmehr denn Amanda war damals noch lebendiges Zuhause ihr sehniger Hals der Schweiß zwischen ihren Schlüsselbeinansätzen ihr selbst nach vierstündigen Wehen noch glattes kühl wirkendes silberblondes Haar das frische helle Meer in ihren Augen eine morgendliche See schon immer hatte sie diese maritime Ausstrahlung für mich du denkst unwillkürlich an einen klaren Tag an trockene Salzkristalle frischen Bootslack gewachste Seile poliertes Teakholz gescheuertes Messing weiße Segeltuchschuhe an die Klarheit und Energie einer Küstenregion wie an den Stränden von Cape Cod oder
auf jenem scheußlichen Long Island eben
wir hätten vielleicht am Meer wohnen sollen nicht nur einige Sommerferien im Haus eines Kollegen in Rockport verbringen aber das ist nur ein besserwisserischer Gedanke aus einer schlechteren Zukunft die wie ein zerfledderter Rabe hinabsieht auf Amanda in Jeans und T-Shirt die Fensterrahmen lackierend die Blumentöpfe auf die Porch schleppend Sabrinas Fahrrad über den Rasen schiebend unter ein Sonnensegel zwischen Garage und südlicher Hauswand das sie selbst zugeschnitten und gespannt hat mit Gartenschere und Strohhut zwischen phosphorgelb glühenden Hecken mit einer grünen BBQ-Schürze und Grillzange zwischen meinen Lehrerkollegen perfekt
falsch
in jedem Bild als hätte sie eine penible Künstlerin (Sabrina als Zehnjährige) aus einem der nie publizierten großen Fotokataloge des Lebens geschnitten als fehlte sie plötzlich auf einer Yacht vor Rhode Island in einem Restaurant auf der Upper West Side bei einem Geschäftsessen in der heimatlichen Kulisse von Palo Alto (die schrecklich genauen Schattenrisse ihrer Abwesenheit) als wäre sie aus dem ihr bestimmten Rahmen herausgetrennt und willkürlich oder gar mit einem gewissen Sadismus unter die Laubkronen auf die Holzveranden vor die Sportanlagen und in die Bibliotheken und Unterrichtsräume der überall auf diese Hügel und grünen Täler verstreuten kleinen Highschools montiert um sie
zu prüfen vielleicht
einer jahrelangen selbstquälerischen Prozedur zu unterwerfen an deren Ende sie immerhin herausbekam wofür sie gemacht war (Küste Stadt Gesellschaft Geschäft) sie die mir zugeredet hatte New York City zu verlassen mit unserem noch ungeborenen Kind aus der Überzeugung heraus dass Neuengland das Richtige wäre dass eine Kalifornierin und ein Norddeutscher sich am besten in jenem weißen und grünen roten und goldenen Ur-Amerika der WASPs niederlassen würden in dem die Puritaner landeten die Winchester erfunden Cambridge und Berlin wiedererbaut der Kabeljau und die höheren Rekruten gefangen die besten Denker und Preiselbeeren gezüchtet die Präsidenten und die Ökofreaks gezogen die Hexen verbrannt die ersten großen Romane und schönsten Gedichte des Landes geschrieben worden waren erinnerst du dich an Woodstock
für mich
für Sabrina (vielleicht)
hatte Amanda recht
selbst hier noch im Wald zwischen 17 000 Einwohnern und 30 000 Studenten
BIS JETZT
in meiner Seifenblase noch intakter Gegenwart in der ich hinauslaufe
westwärts
zum Stadion und zu den Sportanlagen der University of Massachusetts um die ich meine zwei Runden drehe bevor ich wieder Frank Morgans Gartenzaun entlanglaufe die weißen hohen Latten in deren jetzt abwärts flackerndem Raster ich die Standbilder meines Lebens sehen könnte oder nur eine
weiße Wand
weiße Landkarte
Blutflecken auf dem weißen Land die vernichteten Indianerstämme die jahrzehntelang attackierten Siedlerdörfer (Sabrina mit acht oder neun Jahren im Heimatmuseum von Deerfield ungläubig vor der schweren Holztür des so genannten Indian House stehend in deren Mitte zahlreiche Axthiebe die unvergessene Narbe des Indianerangriffs von 1704 hinterlassen hatten ein faustgroßes Auge der Rückblick auf
unerbittliche Kämpfe
unerbittliche
Erinnerungen die Tür
in einer Vitrine
kann nicht mehr geöffnet werden) es gibt kein Weiß in der Geschichte es gibt immer nur ein Ausblenden oder Verengen Kaschieren des Blicks durchaus auch beim Tiefergehen Sich-Vertiefen in die relative Unschuld des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ich kam auf Goethe als ich Amanda verlor als sie nach New York City zurückging in das ich einmal aufgebrochen war um radikal im späten 20. Jahrhundert zu leben ein Großstadtleben zu führen aus dem sie mich gelockt hatte (Sabrinas wegen und in der Vorspiegelung einer Familienidylle die sie selbst energischer als jeder andere zu glauben versuchte) um mich dann (kurz nach unserer Rückkehr aus Paris nach jener unseligen unsinnigen Reise zu dritt) in den Hügeln von West-Massachusetts sitzen zu lassen zu versenken wie in der Schlammzeit der
mud season
in der eine mit Ästen und Wurzeln gespickte graue Pampe die Wälder füllt als gäre etwas darin (der schmutzige Gedankenbrei einer künftigen Katastrophe)
nach dem eisigen Frühling in Paris sank ich ins 18. Jahrhundert zurück es war Zufall nicht Amandas nicht meine Absicht ich folgte dem Sarg meines vierundsechzig Jahre zuvor in Wien geborenen Kollegen Sigi Ramsauer eines famosen Klopstock-Goethe-Schiller-Herder-Hegel-Hölderlin-Mannes der nun sanglos dahinging in einem gemeinen beerdigungsüblichen Nieselregen der gegen meine honigfarben getönte Glasglocke (die Erweiterung meiner Sonnenbrille um meinen gesamten Körper herum den Skaphander aus Restalkohol und Guten-Morgen-Drink) tröpfelte ohne mich weiter zu stören ohne mich wirklich erreichen zu können hinter meiner Schutzhülle die aber dann doch
durchbrochen wurde so unmittelbar als hätte sie nie existiert und als würde ich nur dämlich angetrunken hinter einer Sonnenbrille meine geschwollenen Tränensäcke verstecken in schnöder Trauer-Camouflage
die feiste kräftige Hand des Dekans der UMass ging einfach hindurch (ich sah plötzlich die feinen Regentröpfchen auf meinem eigenen Anzug wie die Haut einer schwarzen Kobra) das rosige Gesicht glänzte vor mir auf er verstand sofort alles was willst du ihm schon vormachen seine Urahnen kauften tonnenweise Melasse auf den Westindischen Inseln brannten Rum daraus den sie nach Afrika gegen Sklaven verkauften die sie wiederum gegen Melasse tauschten der
Dekan lächelte im Regen (im Auftrag des Toten wie ich später erfuhr)
er sprach von den Fußstapfen die sich mit gelbem Wasser füllten während der Schlamm unter unseren Absätzen schmatzte wie in den Straßen des 18. Jahrhunderts in das ich mit seinem Händedruck versank als wäre unterhalb des Schlamms aus Whiskey und Selbstmitleid eine Schicht oder Sphäre einer blässeren ruhigeren sanften in gedämpften Farbtönen gehaltenen mit schwächeren Stimmen flüsternden Welt geisterhaft leichter Bewegungen die
Vergangenheit
die mir bislang regungslos und unzugänglich erschienen war jenes noch friedliche schwache noch träumende noch nachdenkliche Deutschland der Klein- und Kleinststaaten leidlich gequetscht zwischen dem zynischen schwulen preußischen Stiefel und den herzlichhochkatholischen Eisentitten der habsburgerischen Mutter jenes pfeifenrauchende Besinnungsdeutschland das erst mit dem harten Fall und Schnitt der Guillotine erwachen musste wurde für mich zu einem überschaubaren Expeditionsraum ich fand mich indem ich immer mehr darin verlorenging und etwas von der knorrigen Ruhe des alten toten Sigi Ramsauer überkam mich bisweilen eine Art Frühverholzung aus der ich langsam wieder Blätter trieb
die Vergangenheit ist erstaunlich
gesund
sagte der Dekan und strahlte als hätte sich gleich auch das Deutschland Wilhelm des II. und gar noch Hitlers und Goebbels’ zurückverwandelt in seine freundliche verworrene genialische Pubertät
nach den Jahren am Amherst College half mir die alltägliche Gegenwart der UMass ganz in die Wirklichkeit zurück eine große fette gewöhnliche Straßenkatze die auf einem flachen Hügel liegt einige massive Bürotürme ein trauriger künstlicher See die alte Kapelle das betonklotzige Fine Arts Center und die frischen Durchblicke auf die Wälder der Umgebung ich las
über Hölderlin und Goethe reiste nach Frankfurt und Weimar publizierte wieder erhielt Einladungen zu Vorträgen schrieb nicht Goethes Lieben sondern Goethe lieben auf Luisas Vorschlag hin
denk nicht über die Frauen hinweg sondern aus ihnen heraus gib ihnen deine Stimme einmal wolltest du doch Schriftsteller werden wirf die Fußnoten in den Papierkorb und sprich mit mir wenn du glaubst du bräuchtest Auskünfte vom anderen Planeten auf deinem Kopfkissen und so begann alles neu das Spiel mit
den Frauen dem Leben der Zeit
gegen die Scham oder Beschämung weibliche Stimmen anzunehmen gegen die mächtige Hypnose des 20. Jahrhunderts gegen die Furcht vor der freien ungeschützten narrativen (irgendwie femininen?) Sprache gegen den (männlichen?) Whiskey
schließlich hast du eine Tochter aufgezogen du weißt wie ein weiblicher Mensch groß wird (prinzipiell und in einem Beispiel wenigstens) und was eine Frau ist (die Professorin legt mir die warmen Fersen auf den Rücken)
Amerika kam zu sich
in den Zeiten von Goethes Lieben
stell dir Krawalle in Boston vor mit Friederike aus Straßburg (eine quicklebendige Pfarrerstochter schleppt ein Transparent in einer Wolke aus Tränengas Stop Bush’s War!) komm zur Tea-Party mit Lotte die das Brot schneidet im Kreise ihrer Geschwister (flieh bevor sie das Messer auf dich richtet) in einem Continental-Congress-Hotel in Philadelphia die Affäre mit Lili aus der Banker-Familie sie wendet sich dir offen und frei zu und bedroht dich mit einem ganzen Leben
also mach dich davon im Jahr der Unabhängigkeit nach Washington/Weimar zur blassen Frau von Stein der Hofdame die mit dreiunddreißig schon sieben Kinder geboren und fortgegeben hat und nun statt derer dich säugt mit ihrer blassen Milch ohne je von dir erfüllt zu werden umgeht sie dich dann höflich nach fünfzig Jahren Bekanntschaft mit ihrem Leichenzug einmal entliefst du ihr nach Italien um endlich (mit siebenunddreißig) die Jungmannschaft zu verlieren und auf den Geschmack der Jungen Schönen Derben Zupackenden zu kommen zehn Jahre nach der Unabhängigkeit wirklicher Krieg und wirklicher Frieden mit Christiane bis zum nächsten Krieg
es gibt eine Dorothy im Grass Root Kindergarten (University of Massachusetts Child Care) die dreimal pro Woche den Herrn Professor verschämt und zufrieden anlächelt als wäre die Arbeit an ihrer sommersprossigen Statue die Ursache seiner keuchenden Erhitzung im Spiel sein heißt immer auch die Fähigkeit zu anderen Spielen in sich zu spüren zwei Jahre lang (in den Schlammjahren aus denen mich der Dekan zog indem er mich im Campuspond der UMass versenkte) sah ich die Frauen gar nicht mehr an mit sechsundvierzig und siebenundvierzig hatte ich abgedankt bis ich mit einem Schlag nüchtern wurde und wieder so lebensfroh und gesellig dass Sabrina zu mir zog um doch in Amherst und nicht auf Long Island ihren Highschool-Abschluss zu machen
Suleika kommt Jussuph niemals näher wir sind
(glücklicherweise)
nicht Goethe und Marianne wir können so viel quälend Besonderes weniger und so viel glücklich Gewöhnliches mehr (Luisa groß und ruhig zwischen ihren hechelnden Studenten spanische Grammatik und lateinamerikanische Prosa erklärend Tapas und Fino auf der Porch sie drängelt mich mit den Knien hinaus als Sabrina mit David ankommt steuert meinen Ford vier Straßen weiter wir haben es eiliger als die Jungen wir sind denke ich viel stärker und deutlicher d a)
der Sultan wider Willen fürchtete die Frauen ebenso sehr wie er sie brauchte kam er deshalb auf den Orient (stickige Patriarchenluft in den Männercafés)
ich laufe im Tempo einer mäßig vorankommenden Pferdekutsche das Deutschland des Jahres 1815 wird erst in 130 Jahren und nur mit Hilfe der Vereinigten Staaten eine haltbare Demokratie entwickeln auf den Leichenfeldern zweier Kriege die vielleicht sogar für Napoleon Bonaparte unvorstellbar gewesen wären der nun gerade seine letzte Schlacht geschlagen hat mit dessen Ehrenlegionsorden sich der Alte schmückt wenn er am Nachmittag im Frack auftaucht um gesellschaftlich aufzutauen auf der Gerbermühle bei Oberrad am Main er ist gerade in den Orden der verrückten Hofräte aufgenommen worden ob orientalismum occidentalem er sieht von seinem Westfenster im Eckzimmer der alten Mühle über den Main nach Frankfurt hin keucht dann die Stiege herunter 66 Jahre alt zahnlos aber wieder schlanker nach vorn gebeugt die beinahe schwarzen Augen der in den Winkeln sinnlich geschwungene an der Oberlippe eingefallene Mund er bekommt einen Turban aus indischem Musselin zwei Körbe mit exotischen Früchten ein Feldblumenkränzchen mit Versen von Hafis und liest später am Abend aus dem eigenen Diwan lächelt und erschrickt über Mariannes Bajaderenlied (der Flammentod ich trage dich auf Armen aus Feuer in den Himmel die Stoffe die einen menschlichen Körper tausendmal schneller als Zunder in eine Flamme verwandeln
kommen erst noch)
beginnt nun bald den lyrischen Dialog mit dem Schauspielerinnenkind der kleinen drallen jetzt dreißigjährigen angeheirateten Ex-Adoptivtochter umsichtig bewirtet vom schöngeistig verworrenen Ex-Bankier und Ehemann
Suleika
Allgegenwärtige, gleich erkenn ich dich
überlebt
und wenn ich Allahs Namenhundert nenne
als Marianne
mit jedem klingt ein Name nach für dich
als fideles altes Frauchen immer noch (aber nie wieder auf Suleikas Höhe) dichtend auf der Gitarre klimpernd (die sie beherrschte nichts ist leicht sagt Sabrina) vor einem Jahr noch saß ich mit Sabrina und Luisa unter einer Kastanie vor der ahistorisch und schmucklos wiedererbauten Gerbermühle die Verhältnisse mit Frauen allein könnten doch das Leben nicht ausfüllen sagte der Alte auf der Kutschfahrt nach Heidelberg sie führten zu ausufernden Verwicklungen zu Qualen und Leiden oder zur vollkommenen Leere schließlich
all diese Pseudo-Nonnen mütterlich Frigiden bauernmagdhaft Derben oder pueril Künstlichen stets auf der Flucht vor der gleichwertigen Partnerin
aus Feigheit sagt Luisa aus Feigheit und Klugheit sage ich wie willst du Goethe werden wenn du bereits 1774 Lili Schönemann heiraten müsstest
im langsamen Pferdekutschentempo umrunde ich die Sportanlagen die noch völlig verwaist in der Morgenluft ruhen und im Sommer erst am Nachmittag zum Leben erwachen dann aber auf eine so geballte und energische Art mit Hunderten von Football und Baseball Spielenden eine Wiese nach der anderen (Männer- und Frauenmannschaften getrennt) füllend so dass man erschrecken könnte aber es ist doch so bei allen großen athletischen Stätten (die mich deshalb schon immer abgestoßen haben und zwar in jedem Land) und wir mobilisieren hier doch für Bildung und Erziehung we live in the heart of America’s education state we stand for freedom and enlightment, social justice and personal responsibility this is where liberal arts education started — and where it’s going this is
Massachusetts
im zügigeren Pferdekutschentempo werde ich überholt von einem Modellathleten mit Pferdeschwanz und nacktem Oberkörper ich höre die eisenbeschlagenen Räder auf dem hellen trockenen Asphalt Bagdad ist noch weit (die dunstige dröhnende sechsspurige Raschid-Straße verstopft mit Hunderten unwillig im Schritt fahrender rostiger verbeulter Autos in die Strommitte einscherenden roten Doppeldecker-Bussen kreuz und quer laufenden Fußgängern auf den Bürgersteigen türmen sich Teppichrollen Möbel Haushaltsgeräte Töpferwaren Kleiderkartons Wasser- und Eisverkäufer schreien und Frauen eilen vorbei mit weißen Kopftüchern und Baumwollkleidern oder in Jeans und Pullover oder verhüllt in schwarze Abayas) die Kutsche braucht kein Benzin im Jahre 1815 brennt die Öllampe noch mit dem Fett der Walfische die erst das Petroleum retten wird bei Kirkuk schlägt Feuer aus der Erde noch fast ungenutzt zwischen den grasenden Schafsherden öffnen sich die glühenden Feueröfen der Bibel in die Nebukadnezar Gefangene werfen ließ
die Schmetterlinge der toten Frauen umgeistern mich
die Flamme des Hafis lockt sie an
ich spüre nichts ich laufe ich bin inmitten meiner Zeit
wie
im Schlaf
Über Hafis
kann ich einiges erzählen aber es wird mir gar nicht schön gelingen es ist
wie eine falsche oder gefälschte
Verschränkung von Zeit und Raum (wir sind jede Fälschung gewohnt wir lesen Orwell als Gebrauchsanweisung für den Fernsehapparat und als Wegweiser zum Kindergarten) die poetischen Höhenflüge und die besten Absichten landen und versinken in den Sümpfen des Marschlands in dem sich der Tigris in schweren Träumen verzettelt so gewunden und verworren wie du selbst im Schilf und Sumpfgras deiner Überlegungen begreifst dass du einmal deinen Staat dein ganzes Land erfassen und bewerten musst auch wenn du das nie wolltest in meinem
einzigen und wirklichen Leben
geriet ich tatsächlich einmal in die Sümpfe aber besser wir treffen uns im Vorgriff auf den Raum doch gleich weiter südlich im Paradies bei Al-Qurnah wo Euphrat und Tigris eins werden im Garten Eden als hätte der alte Fisch bei Bagdad den Köchen Grillmeistern Bäckern entrinnen können
durch einen 1000-Kilometer-Flug (genießen wir den Blick hinüber auf die grandiose Faltung des Zagros-Gebirges)
Fisch fliegt weit im Irak
wenn die Granaten einschlagen oder hundert Kilogramm fetter Gittan nebst Leibkoch sich die PRÄSIDENTENMASCHINE nimmt um nach Paris zu eilen wo man ihn flankiert von sonnenbebrillten Leibwächtern über dem offenen Feuer einer Nobelhotelküche nach original irakischer Art für den französischen PRÄSIDENTEN schmort in der Begeisterung darüber dass er unserem NOCHSTELLVERTRETER (Nebukadnezars Timurs Napoleons Hitlers und Stalins auf Erden) einen kleinen Atomreaktor zu unbedingt nur friedlichen Zwecken verkaufte
wie zwanzig Jahre zuvor an die israelischen Freunde die fünf Jahre nach dem Pariser Fischgrillfest den schönen neuen irakischen Reaktor in die Luft jagten aber
das ist lange her wiederum zwanzig Jahre die natürlich nichts bedeuten in der blutigen pulsierenden Lawine der Menschenzeit seit
Adam
in Al-Qurnah steht sein Baum hier kann man uns alte Fische zugleich aus dem Tigris und dem Euphrat ziehen aus der trägen Spiegelfläche des Zusammenflusses über die pechschwarze Kähne gleiten mit fünfzackigen Speeren Dynamitstangen oder Handgranaten fischt man hier da fliegen wir also im günstigen Falle am Stück zum Baum hinüber einem starr und schief stehenden blattlosen verdorrten Halbriesen eingeschnürt von Steinplatten vom Satan fälschlicherweise als endlose Herrschaft bringend gepriesen und doch die Erkenntnis verschaffend die Vertreibung bringend die Blendung am Jüngsten Tag droht seither allen die unsterbliche Herrschaft anstreben (Saddam mein Folter-Freund: das Gluteisen des Engels!)
der gestorbene Baum der Unsterblichkeit einmal war er grün er war schlangenlos im Koran und die Frau verführte nicht sondern aß einfach mit
ohne dass wir wissen ob sich die REDE hier wie ein Gentleman verhält oder Eva auch hier schon nichts zu sagen hatte
er war vielleicht grün in arabischer Doppeldeutigkeit Dreifachbödigkeit bei uns mein Bruder gibt es immer etwas zwischen Wahr und Falsch und das ist dann eine Geschichte
Kan ya ma kan … Es war und es war nicht …
eine Geschichte wie die unseres Lebens in dem die Unsterblichkeit erst unauffällig dann aber mit lautem Türknall verschwindet
der Baum war einmal grün und so kann Schahrasad die Geschichte vom jüngsten Kaufmannssohn und der belesenen Kindergärtnerin erzählen
Farida
hebt das Gesicht im heißen staubigen Frühling in Bagdad unverschleiert zwanzigjährig
die Braue sticht ins Herz
Jahre in der Morgenröte
heftige stille sich in den Unterarm beißende Paradiese die nach Moschus und Orangen duften wie soll ich es sagen mein Bruder ich zerschnitt meine erste Leiche im Anatomiesaal und wurde zur Hälfte religiös denn die Ehe sagt der Prophet ist die halbe Religion (er selbst war also mindestens sechsfach gläubig) ich geriet in jene bedingungslose Haft die meine einzige und größte Befreiung war
Bestimmung
Dein Schlaf ließ meinen Atem stocken,
Sacht umfasst ich deine Wangen,
Als die Schellen deiner Locken
Sich um meine Hände schlangen.
Lebenslang war ich gefangen,
Sterbenslang nur noch allein.
Denn in jedem Paradiese
Werden wir zusammensein.
natürlich ist das Kitsch aber ich war viele Monate einsam wie ein Hund in Baracken Kasernen Militärhospitälern doch im Nachhinein erscheint mir die erste Zeit in Paris am schlimmsten das Jahr ohne Farida als ich in einem winzigen Zimmer mit Hussein lebte und mit den Sprachen kämpfte das sternenweit überlegene Akademiegenäsel der Hörsäle mein verzweifelt und zerrauft mit Rotz in der Nase den schnellen blauen Leuten auf der Straße hinterherrennendes Petit-Larousse-Gestammel das winzige und doch imperiale Uhrwerk-Latein der Anatomieatlanten die ersten Fachartikel auf Englisch das mir nüchtern und beruhigend erschien wie eine mit Palmseife gewaschene Kinderfrau mein Arabisch verwehte tagsüber wie ein in den Sand gezeichnetes Ornament und kehrte doch machtvoll in meinen Träumen zurück zwischen Husseins Ölfarbengespenstern (brennende Dali’sche Kamele unter dem Eiffelturm Herrscherporträts mit madenzerfressenen Gesichtern)
wiederum im Frühling kam Farida nach Paris nachdem ich eine Wohnung im 20. Arrondissement gefunden hatte um dort der dünne Iraki zu werden der mit seiner hübschen dünnen Frau zwischen dünnen Wänden phlegmatischen Senegalesen erektionsgeplagten Marokkanern und algerischen Großfamilien mit Ohrstöpseln Physiologie paukte
die Welt stand Kopf
kaum waren wir wieder zusammen wir gerieten in eine von Wasserwerfern zersprühte Demonstration wir standen vor dem von Studenten verbarrikadierten Quartier Latin als um zwei Uhr morgens die Polizei angriff mit unserer arabischen Angst jetzt würde dort gleich scharf geschossen wir übertrieben vieles und nahmen anderes zu leicht unsere politischen Waagen hatten die Eichung verloren aus der Ferne erschien die Baath-Revolution fast wie ein Ereignis vor der Sorbonne oder in Berkeley oder Berlin dabei hätten wir doch besser wissen sollen dass bei uns daheim anders abgerechnet wurde
in unserem Blütenfrühling
im Rahmen unseres tiefer liegenden machtlosen innigeren Lebens sind wir auch früher schon
gewarnt und gezeichnet worden
als ich siebzehn war
so alt wie Muna jetzt unendlich weit entfernt käme es mir vor könnte ich heute meine ernst und komisch würdig sich aus der Kindheit schälende Jungengestalt dort sehen zwischen den alten Männern in ihren Dischdaschas vor einem Fernsehapparat in einem nachtblauen Café an der Raschid-Straße auf dem Monitor setzt man die Leiche des Präsidenten auf einen Stuhl jedes Einschussloch wird herangezoomt und gefeiert ein Soldat packt den Kopf an den Haaren und spuckt in das tote Gesicht das einmal auf rote und blaue Luftballons aufgemalt hoch vom Himmel herab zu uns Kindern gesegelt war das Gesicht des Der-Irak-zuerst-Mannes
Abd al-Karim Qasim
die alten Männer
verzogen keine Miene ich sah die regungslosen Falten der Stirn der Wangen des Halses meines Großvaters als hätte er sich in ein ausgestopftes Kamel verwandelt hochmütig und grausam infolge des jahrzehntelangen Studiums der Schriften in seinem Haus dachte ich aber er hatte sich nur schon seit langem geschützt mit einem ledernen Einband selbst das Gesicht war verschlossen wie mit einer Patte wie der Schnitt der alten Koranexemplare aus Afrika die er besaß es ging darum sich der Furcht zu entziehen nicht auf den Schrecken zu reagieren sich dem
Theater der Grausamkeit
nicht zu beugen sei es im Schwarzweiß der Elektronenröhren inszeniert sei es im Blutrotocker der unglaublichen Wirklichkeit
die Erhängten auf dem Tahrir-Platz
sahen wir Jahre später in einer Pariser Vorstellung in den gleichen verwackelten fehlfarbenen Handkamerabildern wie die Kriegsaufnahmen aus Kambodscha in einem Schaufenster bei der Gare de Lyon flankiert von Monitoren auf denen Asterix der Gallier kämpfte als befände sich unser Land auf einem lichtschwachen Witz-Planeten auf dem noch wirklich gestorben wurde weshalb man ihn nicht so deutlich zeigte etwa die comichaft unglaubwürdig in die Länge gezogenen Hälse der selbstredend zionistischen Verschwörer die Brücke tauchte auf über die wir ungezählte Male zum Platz der Befreiung gegangen waren angeblich sollten sich Zehntausende versammelt haben vom Radio aufgerufen mit Bussen herangekarrt um das Fest zu genießen
nur der Auftakt behauptete Ali nur einige spektakuläre Picknick-Morde fürs Volk was wir nicht sehen ist viel schlimmer Ali dessen vornehmer Pharaonenkopf auf dem hageren Torso eines Mittzwanzigjährigen in T-Shirt und Levis-Jeans irgendwie tröstlich wirkt als könnte man alle möglichen Zeiten miteinander versöhnen und anfassen wie einen Freund seit 1968 regierte die PARTEI und es gab
Bildschleier und
Wortschleier
Instrument der Sehnsucht Amt für Öffentlichkeitsarbeit Spezieller Dienst der Tod hatte einen Palast errichtet in unserem Land der für die Wollust die Protzigkeit den ornamentalen Luxus die Prasserei und Maßlosigkeit des Mordens stand
Schleier des Vergessens des Unglaubens der Sehnsucht der Hoffnung des blinden Muts
immer wieder muss ich mir erklären wie wir
nach sieben Jahren Paris (vier Jahre nach jenen Lynchmorden)
im Sommer 1974 an den Flughafen Orly fahren konnten um die Heimreise anzutreten
Farida im sechsten Monat mit einem abgewetzten Lederkoffer in der Hand in einem blauen Mantel eine weiße Spange im Haar 25 Jahre alt so seltsam
unangreifbar vollkommen ruhig
so zuversichtlich dass uns nie etwas geschehen würde (uns dreien) es war ja auch so ich kann es nicht begründen es war nur die blödsinnige noch unangetastete in unglaublichem Leichtsinn auf die eigenen Kräfte vertrauende Weltgewissheit von Ahnungslosen mit noch nicht einmal dreißig Lebensjahren das dürre Tarik-Ich frisch approbiert wie sein Kindheitsfreund Ali der als Kinderarzt arbeiten wollte und zwar gleichfalls in Bagdad es war (zwischen den lärmenden Kindern den noch pariserisch aufgemachten irakischen Frauen den Pyramiden von Koffern Paketen zusammengeschnürten und wie Folteropfer mit Plastikfolie und Klebebändern unkenntlich gemachten nein bloß aufprallgeschützten Bündeln mit kostbaren Fundstücken der Beutezüge in Supermärkten Elektrogeschäften Einrichtungshäusern) die Zeit des schwarz aus der Erde schießenden Geldes der heroisch verstaatlichten Ölindustrie dem großen Lotteriegewinn des OPEC-Boykotts der modernen Wohnblocks Autobahnen Schulen Kindergärten Krankenhäuser schönen Panzern aus der UdSSR überall im Irak man wollte
glauben
dass es ein wenig Lügezensurfoltermord gegeben hatte vorübergehend das Bild trübend die Aussicht verzerrend aber der Weg stimmte
vielleicht
in Richtung auf ein Land das die Kolonisation abgeschüttelt die Selbstlähmung überwunden eine Position zwischen Ost und West gefunden hatte sozialistisch-arabisch-kurdisch-sunnitisch-schiitisch alles ausgewogen zermahlen zur Puderung der
Parteigenossen
es würde sich rezivilisieren weil es die älteste der Zivilisationen schon in sich trug und das Rad und die Schrift erfunden hatte es würde ganz eigen und doch auch wie Frankreich sein und dieselbe Binnenzivilisiertheit (vergiss Algerien) vorweisen die wir hatten erleben dürfen das Kind in Munas Bauch würde einmal in Paris studieren (treffende irre Gewissheit) um Auslandserfahrung zu erwerben vielleicht nur für ein Jahr
wenn ich
Gründe Argumente Anhaltspunkte im Gewirr der Menge vor dem Check-in-Schalter finden muss über dem Bagdad steht in einer Alltäglichkeit die einmal so unvorstellbar sein wird wie der blöde Stolz der Ali und mich zu strahlenden heimkehrenden Jungärzten machte so waren es einfache starke Gründe ohne Fragen die uns zurückführten wo wir hergekommen waren mein Land meine Heimatstadt meine gebrechlichen Eltern Faridas Land Faridas Heimatstadt ihr verwitweter Vater die Gräber all ihrer Verwandten bei Nadschaf und Kerbela und die Zuversicht meiner eigenen Propheten die in billigen Wintermänteln vor mir standen
Ali der mit mir zusammen heimkehrte war der Einzige der sich wirklich für Politik interessierte sich nächtelang mit Nasseristen Kommunisten Baathisten gestritten hatte
Hussein der sich entschieden hatte bei seiner französischen Frau zu bleiben in der Stadt die für Maler alles (alle Oberflächen) bot war so einfach zu verstehen dass die Trennung ganz natürlich wirkte natürlicher jedenfalls als hätten wir alle drei die gleiche Maschine zurück genommen
wir schnallten uns an man stellte das Rauchen ein ich fragte mich noch ohne Nachdruck und wirkliche Sorge ob vielleicht eines der Bücher die ich zwischen meinen Kleidern deponiert hatte eine Gefahr darstellte (ich hatte die Antwort und habe sie noch heute: Ich wollte Arzt im Irak sein und nirgendwo sonst)
und sah schon als hätte der Flug kaum eine Stunde gedauert den von zahllosen Lichtbrillanten durchsetzten Rauchschleier der Dämmerung über Bagdad
Keine Wolke
beim Blick aus dem Fenster der Tag schwebt
zur See hin das Haus als
bewegte es sich mit mir als bräuchte ich nirgendwohin zu gehen um anzukommen Eric
denke ich
müsste nur hier bei mir wohnen und ich könnte auch in East Hampton bleiben Jahr für Jahr als was wäre mir egal so aber packe ich den blauen Rucksack den ich zusammen mit Martin in einem Outdoor-Laden bei Springfield gekauft habe bevor wir nach Europa flogen der Staub von Berlin Frankfurt München Florenz Rom haftet noch außen an seinen Kunststoffporen ich brauche nur Sommerbekleidung für zwei Wochen für
das Leben
in Kalifornien einen Pullover vielleicht den ich mir von Amanda leihen kann schon stehe ich vor ihrem großen Kleiderschrank mit den weißen Schiebetüren wie vor der Garderobe einer Schauspielerin und sehe meine Mutter in ihren rasch und wie übergangslos wechselnden Rollen
so nah plötzlich
dass es mir möglich erscheint selbst in ihre Haut zu schlüpfen und in ihrer härteren ernsteren funkelnden Welt zu bestehen es ist eine Illusion ich höre sofort ihre gesenkte nicht einmal unfreundliche eher schon gelangweilte Stimme (geh — halt dich gerade — steh nicht immer in der Ecke — entspann dich und mach den Mund auf) ich komme nie so weit in mir
nach vorne als
könnte man in sich wie in diesem Sommerhaus ganz nah an die Fensterfläche treten ins Licht
etwas
von der Energie die Amanda federleicht von einer Rolle in die andere bringt ist in mir ich werde es vielleicht doch noch lernen wach zu sein mitten am Tag (wie sie es immer von mir verlangt) ich könnte mir das Geld für die Reise aus dem geheimen Fach in der Küche nehmen und einen Zettel schreiben aber ich will sie direkt bitten ich will es durchstehen dass sie mir vorwirft die erste Uni-Woche zu verpassen bleibt es
wird sie mich fragen (blaues Kostüm gestärkte Bluse weiße Perlenkette perfekt frisiertes Haar)
bei zwei Wochen Los Angeles
denn das ist meine eigene Frage seit sie mit ihrem Sportwagen die Garage der Nachbarn von gegenüber gesprengt hat (ausgerechnet die eines höheren Polizeibeamten) ob die Sache nicht viel ernster werden könnte ich halte ein physikalisches Lehrbuch in den Händen vor dem geöffneten Rucksack ich muss mir ernste Gedanken machen es ist ja auch das was ich am MIT gesucht habe diese andere Entschlossenheit (keine Designerkostüme und Nadelstreifenanzüge aber auch keine energisch auf ihren schwarzen Drahteseln strampelnden Professoren in senffarbenen Cordjacketts mit Ledertaschen voller Bücher) die Erde verstehen als geophysikalisches System als Klimasystem als Planeten im Weltall
die grundlose Bläue über dem Strand
als Ort der Auseinandersetzung von Atmosphäre Festland und Ozean höre lies Geophysik Geochemie ich muss Differentialgleichungen II belegen und Nichtlineare Dynamik I: Chaos und mich anmelden für die Exkursion im Spätjahr
das Physikbuch sinkt wieder auf den Tisch und mit der Erleichterung kommen sofort die Skrupel auf ich muss
mich lösen das ist nur ein Urlaub und eine Liebe und eine
Frage
wie es begonnen hat mit National-Geographic-Magazinen mit zunehmend schwerleibigeren Büchern (Schnitte durch das Tortenprofil der Erdkruste Reliefdarstellungen des Meeresbodens von Isobaren marmorierte Luft) die lange auf einer einzigen mit Formeln und Diagrammen gespickten Seite liegen bleiben und mich
beruhigen
es ist mehr wie eine Meditation über einen kurzen Text es sind nicht diese Bücherstapel auf Bücherstapel wie in Martins Arbeitszimmer oder die Phalanx von schnell gezogenen benutzten wieder in Reih und Glied gestellten Aktenordnern Amandas es flößte ihnen Respekt ein wenn ich mit der Erde still an einem Tisch saß oder im Garten aber
nicht mehr mit
ihnen gemeinsam
in Amherst war es mein Vater allein der sich anerkennend wunderte wenn er von der Arbeit kam und mich nicht Musik hören oder Romane lesen oder in meinen Kladden Gedichte schreiben sah eben das was man von mir erwartete als Literaturprofessoren-Tochter aber
Schahrasads Vater
war der Wesir eine Art Politiker mithin eher jemand wie Seymour (der Berater) der sich nur freut wenn er mich mit der Geologie ertappt und wissenschaftliche Gespräche mit mir führen will so dass ich mich (ungewollt mittlerweile) in die arabische Prinzessin verwandle zu Boden blicke in mein Zimmer gehe den Fernseher anschalte und Gedichte herauskrame den Fernseher ausschalte das weiße Land Papier in das ich fliehe
(in dem ich
von oben her
erscheine
in seltsam gewundenen kurzen Tintenflüssen) öfter schreibe ich auch am PC die weiße Fläche der gestanzte Druck das Schnurren der Festplatte während ich Worte suche ein Schutzpolster mit dem du die Leere betrittst ich bin also
eine Dichterin am Meer (ach was: die störrische Prinzessin die Verse sucht)
oder die scheue Tochter
die durchaus einen keuchenden Jungen in ihrer Hand zucken lassen kann
von der Jones Library kommend in der ich so viele Kindernachmittage verbracht habe mit einem wissenschaftlichen Folianten als Brustwehr ging ich nach meiner Rückkehr zu Martin zwei Jahre lang so siegesgewiss durch Amherst als sei es schon eine Art
Paradies
der Ort eines ständigen verheißungsvollen Aufbruchs nämlich an dem man
immer bleiben könnte immer steckenbleiben immer mit einem Lehrbuch im Arm durch die Amity Street zur Ecke Main Street — North Pleasant Street schlendern möchte durch die vor den Copyshops Pizzerien Buchläden beisammenstehenden Jungs von der UMass vom Hampshire- oder Amherst-College hindurch sie zerteilen wie ein Seepferdchen eine nervöse Koralle (ich fasse dich nicht noch mal an Robert vergiss es)
ein Jahr mit festem Freund
das letzte (mein achtzehntes) ohne David war noch besser weil ich blieb um zu gehen und mich spannen konnte wie eine Feder
oder Nonne (Jeanne d’Arc) dreizehn Monate lange küsste ich niemanden
jedenfalls bin ich im Bewusstsein des baldigen Aufbruchs viel energischer und leichter geworden (wie Martin als er wieder zu joggen begann) heller im Inneren wenn es so etwas gibt aber man sieht doch die Ausstrahlung auch bei anderen ich war frei weil ich demnächst zum Studium nach Boston ziehen würde ich wollte keinen Freund mehr der hier irgendwo mit einem Zimmergenossen in einem Wohnheim hauste (und dann reuelos und zum Ohrfeigen kalt mit einem größeren Stipendium nach Texas in die Nähe seiner Eltern zog) ich wollte nicht mehr
die Professorentochter sein auf die man in den umliegenden Colleges schon wartete all die Lehrer die mich auf den Cocktailpartys auf den Schoß gezogen hatten und Deutsch sprechen ließen wie eine Puppe mit eingebautem Sprach-Wunderwerk
auch an Emily wollte ich nicht mehr denken ich war in meinem letzten Amherst-Jahr nicht mehr im Homestead- oder Evergreens-Haus und nur noch ein einziges Mal an ihrem Grab die Idee die ich früher liebte
im Verborgenen zu arbeiten
1700 nie veröffentlichte Gedichte als Brief an die Welt nach deinem Tod zu schreiben und in einem Haus in West-Massachusetts zu leben als stünde es auf einem grasgrünen kleinen Meteor im
Weltall
der Zeit man spürt
ich spüre
nicht genug wenn ich mich nicht bewege nicht reise nicht gegen die Dinge stoße und so gesehen war es einmal (wird es einmal) von Vorteil für mich (gewesen sein) dass sie mir die Wurzeln herausgerissen haben als wir von Paris zurückkehrten begann ich zu bluten auf Long Island in New York City in den
Gärten meiner Mutter
gibt es keine Erde für mich aber es (das Blut) war ja auch ein Zeichen für das Älter-Werden das Frau-Werden ich fand das
ruhelose Gedicht
des Hafis
schwarzes Wasser ewig ziehende Kamele schrillende Morgenglocken Pilger ohne Ziel
den ich eigentlich nur las um meinen Vater zu beeindrucken und weil mir die arabische Schrift der zweisprachigen Ausgabe so geheimnisvoll erschien es waren zu viel Weinkelche zu viele Schenken zu viele Räusche darin
der Rausch der Verzweiflung
ist womöglich eine große Musik aber nicht für Siebzehnjährige die begreifen
dass es ihnen nicht schlechtgeht ich wollte nicht mehr in Amherst bleiben und Emily Dickinson werden mir war klar dass ich die arabische Prinzessin verlassen musste
den Karton mit meinen Gedichten beklebte ich mit zwei Postkarten passend orientalisch (eine Sängerin und ein Wein trinkender älterer Mann im Burnus) und ließ ihn in Amherst zurück
in diesem Zimmer hier auf Long Island
dem Rausch-Ort meiner Verzweiflungen in meinem dreizehnten und vierzehnten Jahr
bin ich ohnehin nur noch zu Gast gewesen der Rucksack ist nur halb so schwer wie damals für die Europa-Reise im Wohnzimmer mit der großen Fensterfront zum Meer und den Dünen hin saß ich manchmal und hörte Musik und einmal schreckte ich auf und spürte ein schier blendendes Glück weil ich eine halbe Stunde neben meiner Mutter Amanda gesessen hatte wie aus Versehen vollkommen ruhig und frei
Eric wird ganz sicher
pünktlich sein
Hedschra
Verlass dein Haus, zerreiß dein Buch. Und geh!
Zerstöre, was dich kennt und liebt. Und geh!
Dein Herz ist ausgebrochen. Verbrenne es und geh!
Dein Gott verlor den Namen. So töte ihn und geh!
An der weiß gekalkten narbigen Wand des alten Kinos verblasst seit Jahren
der PRÄSIDENT
dicht neben unserer Schule ist sein Schnurrbart zerfasert und das linke Auge scheint allmählich von einer Krankheit aufgezehrt zu werden
aber wenn SEIN Name fällt (wie ein Schwert)
klatschen wir
wir singen es jeden Morgen aufgereiht in unseren blauen Kleidern und weißen Blusen er ist unser Vater der Schrecken den wir anbeten müssen dessen Name man nur singt nicht spricht nicht in den Mund nimmt wenn Nachbarn wenn Freunde wenn Jasmin und ihr Mann zu Besuch sind sagen wir nichts über den
PRÄSIDENTEN
ich verliere die Schwester die Sprache
fehlt mir ich würde mich wahnsinnig
schweigen hätte ich nicht Huda und Eren hinter den ockerfarbenen Mauern der Schule deren Eingang so nah an jenem Wandbild (eines von Millionen) liegt jeden Abend wünscht ER uns im Fernsehen
GUTE NACHT
als Drohung damit wir bloß nicht aufwachen in seinem Land sagt Tarik schau dir das Pferd an auf dem er sitzt sie haben es chloroformiert damit es ihn erträgt der PRÄSIDENT reitet winkend davon in die untergehende Sonne nach Westen also sagt Tarik denn heute Abend will er mit seiner Frau in London einkaufen gehen seit ich sechzehn bin redet er so mit mir und macht mir Angst damit und erfüllt mich mit Stolz zweimal im Jahr kommt Onkel Munir der die Elektrogeschäfte von Großvater weiterführt und befühlt jede Wand und jeden Schrank mit geheimnisvollen Geräten er sucht Ohren wir können das sagt Tarik eine Familie mit Spürsinn und so kann er weiter frei reden und mich stolz und traurig machen mich bestürzen und quälen mit seinen Witzen und seiner Verzweiflung bis Farida ihn beschimpft (wegen Sami sie spürt dass er mehr als ich die Stärke und die Gelassenheit seines Vaters braucht)
das verstaubte Mosaik im Innenhof der Schule zeigte die Themse und Big Ben
gegenüber hängt das glänzende doppelt so große Mosaik auf dem Saddam als Fedajin mit rot gemustertem Kopftuch und Prachtgewand Saladins Säbel schwingt gegen die angstverzerrten Gesichter von George Bush und Margaret Thatcher denn das hier ist das alte englische Mädchengymnasium auch wenn es in den vergangenen fünfzehn Jahren drei andere Namen erhielt und drei neue Direktoren und es nur noch zwei Stunden Englisch in der Woche gibt selbst für die oberen Klassen man soll das nur Nötigste
über den FEIND
verstehen
für das Mosaik zahlten die Eltern deren Kinder auf der Schule bleiben wollten freiwillig zwei Millionen Dinar
ich atme
leichter wenn ich Huda und Eren sehe die Bänke in unseren langsam dahinsiechenden Schulräumen sind so alt dass Huda den eingeritzten Namen ihrer Mutter finden konnte die Tafeln haben Sprünge seit vor zehn Jahren eine amerikanische Bombe neben dem Kino einschlug eine Bäckerei zerstörte acht Kunden tötete weil sie Brot gegen Amerika kauften
wenn Jasmin behauptet der Irak müsse sich wehren dann frage ich mich ob das heißt prahlerische Mosaike gegen Bomben an die Wand zu mörteln oder im Haus deiner Familie jederzeit von der Armee aufs Bett geworfen werden zu können ich werde mit Eren darüber sprechen als Einzigster nur sie kann schweigen wie ich ihr langer weißer Hals mit dem kleinen Muttermal am Schlüsselbeinansatz dreht sich im offenen Kragen ihrer Bluse verletzlich und frei Huda aber wird wohl sagen
wenn sie es wollte und wenn sie es will
und mich dabei mit ihren indischen Augen und millimeterweise immer weiter nach oben wandernden Brauen so lange anstarren bis mir die Röte ins Gesicht schießt und wir in Gelächter ausbrechen aber ich ertrüge es nicht in diesem Fall ertrage es nicht mehr weil ich den Major schon ertragen musste in meiner Rolle als
an den Boden genagelter Schatten
meiner Schwester
beruhige dich bei Herrn Barams Mathematiklektionen aus zwanzig Jahre alten fadenscheinigen Schulbüchern in der dritten Klasse kam er neu an die Schule und stellte sich mit einer lustigen Aufgabe vor: Wenn eine Hussein-Rakete ein voll besetztes Spionageflugzeug mit vier Doppelsitzen abschießt, wie viele Amerikaner kommen dann ums Leben?
stirb im Fach Nationale Bestimmung
an Langeweile alles das kennen wir viel besser aus dem Fernsehen das Tarik hasst und doch immer laufen lässt damit wir lernen durch die Bilder zu sehen durch den flimmernden Schneesturm der Halbwahrheiten und Lügen damit wir uns leise unterhalten können bei offenem Fenster schließlich bin ich ein Fernseh-Doktor sagt Tarik denn mit Radio- und später Fernsehgerät-Verkäufen bezahlte sein Vater sein Studium
wir sehen Bilder
ohne Scham ohne Hemmungen wie durch einen in der Vergangenheit wütenden und unermüdlich kreisenden Sturm in unsere Wohnzimmer geschleudert die blutbefleckten Leichen palästinensischer Familien die zerrissenen Helden der Golfkriege die Berge von Ermordeten in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila die Kinder unseres eigenen Landes verstümmelt missgestaltet mit riesigen Schädeln und zitternden Puppenarmen geschwollenen Bäuchen grotesk verdrehten Beinen offenen nicht heilen wollenden Wunden Kinder die das Uran in den Sprengköpfen der amerikanischen Raketen die neben ihren Häusern einschlugen als ihre Mütter sie noch im Leib trugen durchstrahlt und verkrüppelt hat der Hass der sie noch vor ihrer Geburt traf
Embargoland
geht die Luft aus das Leben weiterer Zehntausender Kinder erlosch und OIL FOR FOOD konnte sie nicht mehr lebendig machen und auch nicht der Hinweis darauf dass man sie nur halb getötet hat weil der gnadenlose Wahnsinn des PRÄSIDENTEN ihre andere Hälfte mordete
stimmt das denn alles nicht frage ich empört
wenn es kein Ringen um die Wahrheit gibt
gibt es keine Wahrheit sagt Tarik
ich wünsche mir ein Schiff
unser Schiff
Schwester wie die Arche Noah oder das große Segelschiff von Utnapischtim das der Sintflut entrann der Feuerwelle der Gewalt entrinnen mit allen verstümmelten unterernährten ausgemergelten todkranken Kindern die wir auf weißen sauberen kühlen Betten hinauffliegen in
das Land das es
noch nirgendwo gegeben hat oder etwa doch
es ist nicht so dass der Mann von der Baath-Partei der in der Aula der Schule hinter dem Fernsehapparat sitzt und versucht nicht müde zu werden während er in unsere Gesichter starrt durch unsere Schädel hindurchsehen kann wie mit
Uranaugen
meine Schwester Jasmin
versteht etwas vom radioaktiven Zerfall vom Zerfall überhaupt auf ein Segelschiff wäre mehr Verlass als auf die elektrischen Leitungen das plötzliche Erlöschen der Notbeleuchtung das Zusammenstürzen der Fernsehbilder die Kühlschränke stumm wie so oft
bei Stromausfall öffnen sich wieder die Vorhänge das Mittagslicht trifft das zerschabte Avocadogrün der Wände zwischen denen wir sitzen wie in einem Aquarium das keiner mehr reinigen will in unseren sauberen weißen Blusen und sorgsam ausgebesserten blauen Kleidern wir atmen auf denn vielleicht hätten wir noch einmal den sechsstündigen Spielfilm über SEINE Anfangsjahre sehen sollen Die langen Tage worin ER nicht mit der Wimper zuckt als man ihm ohne Betäubung die Kugel aus dem Bein entfernt die sich (laut Onkel Munir) nie darin befunden hat
kein Strom kein Wasser für lange Stunden oft in mehreren Stadtvierteln
die Englischstunde mit Frau Jadallah die seit zwei Jahren ein Kopftuch trägt und immer leiser spricht so als sei sie die ganze Zeit am Verschwinden ihr gesamtes Auftreten ist wie eine Entschuldigung für
sich
in der letzten Stunde versucht uns Onkel Machmud mit seiner eisern freundlichen Art seiner Aufmerksamkeit für jeden von uns seiner Beharrlichkeit und feinen Uhrmachergeduld die alten hocharabischen Gedichte so nah zu bringen als glitte ein unbezahlbar edler Seidenstoff durch unsere Hände oder als dürften wir in aller Öffentlichkeit wunderwirksame Drogen einnehmen in der Hitze unseres Klassenzimmers zerfließen die Gedanken die Konzentration Huda fächelt sich Luft mit einem Gedichtband zu heute Mittag kann ich mit ihr nachhause gehen und vielleicht auch ihre Mutter im Nationalmuseum besuchen schon
gehen wir Arm in Arm durch das Schultor am einäugigen PRÄSIDENTEN vorbei in den Nachmittagsbackofen der Stadt mit den gleichen weißen Spangen im Haar
in dem alten roten Doppeldeckerbus der vielleicht einmal durch London gefahren ist trägt mehr als die Hälfte der Frauen Abayas BMO — Black Moving Objects sagt Sami die großen internationalen Hotels (das Sheraton das Palestine Meridian) liegen rechts dann ruckeln die angrenzenden Luxusgeschäfte vorbei zerbeulte rot-weiße Taxis überholen einen nagelneuen aber wie für eine Filmkulisse irgendwie unglaubwürdig mit Staub überzogenen Mercedes wir schaukeln gegeneinander im Schweiß der Menge Hudas indische Augen verdrehen sich nach oben wenn uns die Blicke der Männer treffen oder sie absichtlich laut seufzen manchmal stößt sie vergnügt gegen mich um mich ihre runden Brüste und ihr Becken spüren zu lassen so wie sich die Jungen ihre Armmuskeln zeigen in unseren Trägerkleidern und durchgeschwitzten Blusen sind wir Laila und die Wölfe denke ich wer mit ihnen spielt braucht die eisernen Nerven die Intelligenz die Kühnheit die Arroganz
meiner Schwester
an der Ahrar-Brücke steigen wir aus rechts liegen die alten Moscheen und die assyrischen und chaldäischen Kirchen eingebettet in die großen Suks durch die wir manchmal bummeln heute Abend noch will Huda ein Armband für den Geburtstag ihrer Cousine kaufen aber wir gehen jetzt zur Karkh-Seite hinüber gönnen wir uns ein Scherbet sagt Huda was ich eigentlich nicht tun sollte hörte ich auf meinen Vater der mir jederzeit Vorträge über Milliarden und Abermilliarden von Mikroben in Wassereis hält aber ich habe schon viele Scherbets überlebt
der heiße Abgasatem der gegen unsere Körper bläst wird auf der Brücke beiseitegeschoben von einem frischen Wind über dem Tigris und mir wird plötzlich so leicht zumute als könnte ich fliegen wenn ich es nur wollte mein Flight Simulator ist mein Kopf wenn ich nur die Augen schließe für einige Sekunden das Brückengeländer an meiner Hüfte ist die Reling das Meer liegt unter mir ich denke dass mir das immer bleiben wird
die Träume die Bilder die Stille
geh schneller sie hupen doch schon wie verrückt die Böcke sagt Huda und wir beschleunigen unseren Schritt
Vor der Gerbermühle
im Sommer 2000
die bierfarbenen Tische und Holzbänke unter den alten Bäumen am Main es gibt die Absicht das nur klotzig und gesichtslos wiedererbaute Gebäude historisch genau oder genauer zu rekonstruieren (wird man das Mühlrad wieder anbringen Willemers Studienkabinett neu einrichten Mariannes Gitarre stimmen und mit rosa Bändern verziert an die Wand hängen) es gibt Äppelwoi paniertes Schnitzel Kartoffelsalat Rindsroulade mit Kohl es gibt einen
Grad von Realität gegen den der
Gedanke nichts hilft (den er aber auch nicht mehr zerstören kann) etwa die vollkommen geisterhafte Vorstellung dass wir nun im 3. Jahrtausend leben (der Okzident und die von seiner Zeitordnung bestimmte Welt) gegenüber der lachend und kopfschüttelnd die Speisekarte studierenden zweifachen Wirklichkeit von Sabrina und Luisa auf der Bank mir gegenüber unter einem blau-weißen Sonnenschirm das völlig Unvereinbare Unverwandte ihrer äußeren Gestalt so dass trotz des Altersunterschiedes der Vertrautheit ihrer Gesten und der Nähe ihrer Körper kaum jemand auf die Idee käme sie könnten Mutter und Tochter sein und wir drei eine Familie obwohl wir zumeist Englisch sprechen wenn nicht gerade Sabrina auf Deutsch einen ihr unbekannten Ausdruck (gri Soß) von der Karte abliest und mich dabei fragend ansieht
das Nicht-Zueinanderpassen freut mich es scheint mir die beste Chance für ein gutes gemeinsames Leben zu sein Luisa (das hochgesteckte blauschwarze Haar ihr großflächiges Gesicht die glühenden Goetheaugen (denke ich hier) der lange Hals über der schweren weißen Büste) könnte man für eine spanische Verwandte oder eine Lehrerin dieser jungen Amerikanerin halten die sich mit Hilfe einer sandfarbenen weiten Bluse einer hellbraunen Sommerhose dem immer wieder vor das Gesicht fallenden offenen Haar möglichst unauffällig zu machen versucht mit der Schamhaftigkeit oder natürlichen Abwehr junger Menschen die nicht ins Licht
Blitzlichtfeuer der Zerstörung jeder Individualität jedes menschlichen Überrests
gezerrt werden möchten
die schmale Nase die Form der Stirn ganz leicht erkennt uns jeder als Vater und Tochter
es wird nicht möglich sein
sie zu retten indem ich unsere Ähnlichkeit vergesse
Sabrina kann immer noch nicht glauben dass sie die Highschool wirklich hinter sich hat dass wir uns tatsächlich auf der versprochenen Europareise befinden dass sie als Nächstes nach Berlin fahren wird um dort ihre ältere Cousine zu treffen mit der sie weiter nach München Florenz und Rom reisen kann
sie macht sich zerbrechlicher als sie ist
dachte ich (in einem noch belanglosen noch völlig abstrakten Moment des Irrtums)
sie kramt in meinem Rucksack blättert in meinen Büchern Marianne interessiert sie als dichtende als seltsam verlorene und doch aufgefangene Frau (das der Mutter abgekaufte Schauspielerinnenkind) ich unterdrücke den Impuls ihr zu erzählen wie der (ächzend Billette dichtende den Salontänzern wie ein ordensbekränzter Truthahn voranstolzierende) 74-jährige Geheimrat dessen Scherenschnitt Marianne nachtrauert bis ans Ende ihres blutleeren wenn auch nicht unvergnügten Lebens sich acht Jahre nach der orientalischen Gerbermühlenzeit in Marienbad aufschwang zum einzigen Heiratsantrag seines Lebens adressiert an eine Liebe in gerade einmal Sabrinas Alter
Ulrike
verblasst und glüht weiter als
Elegie
als Luftgestalt eines Mädchens das sich in eine junge Frau verwandelt Sabrinas Hände mit den unlackierten Fingernägeln blättern in dem Gedichtband als Kind malte sie die Nägel rot und silbrig und blau an sie war verrückt nach Schminke und Glitzer in jedweder Form einmal malte sie sich selbst als Prinzessin mit drei auseinanderstehenden Goldzähnen im oberen Kiefer
sie hatte gerade einmal zwei kleine Zahnfüllungen sie trug nie eine Spange sie hat die Stelle gefunden sie liest leise und konzentriert so dass nur Luisa und ich es hören können (genau in der Mitte ihrer Daumennägel verläuft eine feine vertikale Linie eine Verfärbung die weder Amanda noch ich haben)
Zephyr, for thy humid wing,
Oh, how much I envy thee!
Thou to him canst tidings bring
How our parting saddens me!
und Deutsch sagt Luisa und Sabrina zitiert Mariannes Gedicht im Original den Blick zunächst auf die Buchseite gerichtet so als übersetze sie es gerade dann sieht sie wenigstens bis zur Tischplatte auf Bier- und Apfelweingläser der strohfarbene gekühlte Riesling in einem Glaskrug mit grünem Stiel dessen Wirkung in meiner Blutbahn schon dort und damals die Szene vor der Gerbermühle vom Ort und aus der Zeit zu lösen schien (sie hinüberrettete in die Bleikammern der Erinnerung) Sabrina spricht weiter mit halb gesenktem Kopf während Luisa mich ansieht vergnügt staunend großzügig oder vielleicht auch (ein wenig) verzeihend (ein wenig) überlegen es mag sein dass ich die Indizien einer Konkurrenz nicht wahrhaben will zwischen Tochter und Geliebter Sabrinas Deutsch ist fast ohne Akzent insbesondere wenn sie etwas rezitiert oder liest es ist
mein Deutsch eine ganz persönliche und doch zutiefst allgemeine Spiegelung in ihrem Gehirn die ersten fünf Jahre ihres Lebens sprach sie fast nur mit mir meine Muttersprache sie hat eine Vatersprache sie hat von mir fast jedes frühe Wort
Luftgebilde
Zeichen
das Herabfallen grüner Kastanienblätter
Wespen über einem vom Apfelsaft durchnässten Kassenzettel der sich vom Tisch löst und nun vorüberfliegt in Richtung Main ein sommerhimmelblauer Strom am anderen Ufer begrenzt von einer lang ausgezogenen Reihe hoher Pappeln hinter denen mächtige Speicherhallen emporwachsen deren betongraue Fassaden in der Helligkeit seltsam zurückhaltend wie schon halb aufgelöst wirken (als wären sie schon Erinnerung) an einer Wand erkenne ich plötzlich die zugleich enorm vergrößerte und wie eine Fotoprojektion bei Tageslicht verblasste Werbung für Aurora diese Sonne auf rotem Grund die ich als Kind auf den Mehltüten in der Küche meiner Mutter sah
Sabrina entdeckt als Erste die Ginkobäume auf der Wiese hinter der Mühle als wir am Ufer auf die Frankfurter City zuwandern und findet auch gleich darauf einen kleinen Sandsteinsockel ohne Denkmal auf dem in goldenen Buchstaben ICH steht sie
postiert sich lachend darauf
wir haben keine Kamera dabei und obwohl wir es erwogen mochte keiner das kurze Stück zurück zum Hotel laufen und so gehen wir weiter im Frühsommerlicht auf die Bögen der Deutschherrnbrücke zu große gewölbte Mädchenhaarspangen aneinandergelegt über den Main
dahinter die moderne Skyline die aus einem guten Dutzend wie rasch zusammengeschobener Hochhäuser besteht das höchste scheint einen Arm zu heben zum Hitlergruß sagt Luisa oder als wolle es die Flugzeuge aufhalten die sich in den blauen Himmel
brennen
Sabrina ging weit voraus sie war ja die Dritte so erwachsen nun dass sie sich auch an meiner Seite immer wieder als Störung eines Paares empfand und ich war über ihre Absonderung in diesem Moment ganz froh weil ich das Bedürfnis hatte Luisa vom Überdruss an meiner Arbeit zu erzählen der unter den Bäumen vor der Gerbermühle noch stärker geworden zu sein schien es war vielleicht nur jene Müdigkeit die schon immer ein gutes Stück vor dem Ende eines Projekts die Kräfte erlahmen lässt den Schwung nimmt den Zweifeln das Feld räumt oder ich hatte einfach keine Lust mehr
auf Marianne
und noch eine törichte zahnlose Liebe des Alten
schick ihm einen Pornofilm und ein flinkes auf siebzehn gestyltes zwanzigjähriges Kind aus Istanbul vom Frankfurter Hauptbahnhof zurück mit dem Sturm der Zeit der aus der Zukunft weht
es schien mir als wäre ich selbst von all diesen Frauen geschieden und sollte sie nun einzeln wiedersehen und ausführlich beschreiben (nach mehr als einem Jahrhundert)
Torschlusspanik sagte Luisa nachts
in einem der altfränkischen althessischen Doppelbetten des Hotels neben der Mühle in dem wir unter gewaltigen Kissen wie von weichen Himmelskörpern erschlagen seltsam distanziert nebeneinanderlagen (Sabrina in einem Einzelzimmer im unteren Stock)
dieses ganze sentimentalistisch verfälschte orientalische Zeug diese blöden Kostümierungen als Jussuph und Suleika diese falschen Turbane getürkten Prophetensprüche dahingemalten arabischen Sentenzen die handbestickten Sultanspantoffeln die immergrünen Kautschukzypressen die Chiffre-Bilder gelegt aus den Knochen des armen alten genialischen Hafis
entspann dich doch sagte Luisa unter ihrer massigen Wolke
in Granada wird dir alles leichter fallen und klar werden lass dich treiben
im Sturm
Ach, um deine feuchten Schwingen,
West, wie sehr ich dich beneide:
Denn du kannst ihm Kunde bringen,
Was ich in der Trennung leide.
Der blöde alte Witz: Schalom Moschel
sagte mein Bruder Munir vergnügt aber sehr leise in mein Ohr als er mich 1974 am Flughafen umarmte und mich fröhlich in die Rippen stieß um dann eine ehrfürchtige Verbeugung vor Faridas Sechsmonatsbauch zu machen
der Kreis schließt sich (die Halsschelle die du noch nicht bemerkst) unsere Ankunft in Bagdad zu dritt meine einsame Abreise sieben Jahre zuvor alles verläuft anders als geplant und doch auch wieder nicht
1974 die Wiederankunft
der Aufbruch 1967 ich hatte den Wehrdienst hinter mich gebracht jene erschöpfenden Monate im Norden bei Hatra und dann die langweilige Zeit im Süden in müden alten Städten unter Dattelpalmen und sepiafarbenen Wandbildern der Helden der Revolution und Farbfotografien von Abd al-Salam Arif dem Flugkünstler der den ägyptischen Adler auf dem irakischen Staatswappen hatte landen lassen und mit dem Hubschrauber abstürzte kaum dass ich in eine Sanitätseinheit versetzt worden war (weil mir ein freundlicher Oberst geglaubt hatte dass ich tatsächlich Medizin studieren wollte) und so hatte ich Glück denn der schwache ältere Bruder und Nachfolger von Abd al-Salam zeigte sofort seine nicht vorhandene Stärke und ließ Bomben auf kurdische Dörfer im Norden werfen wovon er sich als Fußballzuschauer erholte vor Hotelfernsehern in Istanbul ich jedenfalls kam mit heiler Haut aus der Langeweile zurück ich studierte ein Semester in Bagdad
ich heiratete
die samtäugige willensstarke störrische kluge lesende Kindergärtnerin die ich fünf Monate lang einmal in der Woche vor den Buchauslagen in der von Papier und Binderleim Blattgold Tinte Dichterwahn Philosophenweisheit überspülten verwinkelten Gasse des Suk as-Saray sah und nicht anzustarren versuchte als sie Camus und Ibn Arabi kaufte bis sie mich fragte ob wir
nicht
in einem Buch verschwinden könnten dachte ich
aber sie fragte ob ich nicht auch fände
dass
unsere Mütter miteinander sprechen sollten
beinahe wäre ich auf den Rücken gefallen ich war einundzwanzig (sie neunzehn) aber das
Gespinst
der Liebe hielt mich aufrecht ohne viel Worte die Blicke brauchten keinen Dolmetscher ich hatte jahrelang Französisch gelernt weil es schon immer festgestanden hatte dass ich zu einem einflussreichen Geschäftsfreund meines Vaters nach Paris gehen würde der mir einen Studienplatz eine düstere Wohnung ein altes verbeultes Auto eine wundervolle junge Frau und vielleicht noch Kinder besorgen konnte (und dem ich dann doch einiges davon abnahm) alles das gefiel mir nun gar nicht mehr nach dem einzigen und entscheidenden Gespräch mit Farida auf dem Suk aber kurz darauf musste mir mein Vater eröffnen dass es mit seinen Finanzen nicht mehr zum Besten stand seit er sein letztes Geld aus dem Seidenhandel in eine für ihn völlig neue Branche investiert hatte erst in zwei drei Jahren also könnte ich wenn alles gut liefe doch noch nach Frankreich gehen
so hatte er kein Argument gegen die sofortige Heirat mit Farida aber er suchte auch keines sondern verstand meinen absoluten Ernst der sich nie geändert hat wenn du Glück hast dann geschieht es dir dass du vor einer Frau stehst und ohne ein Wort sogleich alles klar und beschlossen ist Medschnun und Laila und Chosrau und Schirin und Jussuph und Suleika regen sich in dir (und wollen dein Leben) ich aber bin für
Dschamil und Buthaina
die gemeinsam liebend alt wurden (für was hat man schließlich studiert möchte man in dieser Angelegenheit sagen)
Farida sechsundzwanzigjährig selbstbewusst fast angriffslustig schön und perfekt ruhig und stark trägt unter der Haut die Frucht unserer schon siebenjährigen Liebe verborgen Jasmin (die später behaupten wird sie habe sechs Jahre lang im Himmel gewartet bis wir uns entschlossen Frankreich zu verlassen und nachhause zu gehen) schwimmt kopfüber nach Bagdad 1974 am Flughafen bei unserer Rückkehr meine Schwägerin Amal hakt Farida unter mein Bruder geht mit mir Arm in Arm wie läuft das Geschäft frage ich Transistoren sagt Munir und auch immer mehr Fernsehapparate jedenfalls nicht mehr die alten Röhrendinger
nicht mehr Nasser sondern Sadat sagt Munir und auch hier ist vieles anders als damals
1967
Radios Stimmen
Ahmad Hassan al-Bakr Frank Sinatra Gamal Abden-Nasser Umm Kulthum
verwoben mit den Rufen der Muezzin
etwas würde passieren es würde Ereignisse von historischer Tragweite geben Offiziere waren nach Bagdad zurückgekehrt die vor Kurzem erst ihrer Putschabsichten wegen hatten fliehen müssen
wir klebten aufeinander die Universität war ein Bienenstock frisch verheiratet und hungrig nach Büchern und Gesprächen taumelte ich über den Campus ich wollte lernen und verstehen ich wollte durchaus den menschlichen Körper studieren (Faridas unglaublich sanfter weißer Planet jede Nacht) ich hatte jedoch aufgehört Französisch zu lernen und versuchte Butrus al-Bustani und Salama Musa zu lesen die Romane von Mahfus neben Sartre und Trotzki auch die marxistischen ägyptischen Schriftsteller der jüngeren Zeit aber ich war und bin politisch ziemlich ungeeignet sogar als Leser ich glaube nicht genügend an die Möglichkeit große Menschenmassen direkt ins Paradies auf Erden zu steuern und all diese Gedankenflüge über die Völker und ihre Bestimmung erschienen mir wie Räusche wie
Bluträusche
der Macht ich konnte eigentlich und kann bis heute nur ganz klar ganz im Detail (das Atom das Herz der Kreislauf die Freundschaft der Bau von Arztpraxen und Kliniken) oder ganz dichterisch (das Universum die Liebe) denken obwohl ich mich immer bemühe und lerne aber ist Medizin Wissenschaft oder Poesie fragte Hussein oder nicht doch eher die Politik des kranken Körpers er hatte wohl recht ich las dennoch lieber Gedichte von Mutanabbi (und von Nizar Kabani in gesteigerten Verliebtheitszuständen) oder die Stücke von Brecht die das Studententheater aufzuführen plante bevor wir ganz andere Stücke aufführten
und schließlich
der ANGRIFF
im Juni
und am zweiten Tag des Krieges stand
MACK THE KNIFE neben mir in der Mensa der medizinischen Fakultät ohne dass ich es begriff das heißt mehr als Abneigung und Befremdung verspürte während er sich nach vorn drängte und brüllte es dürfe nicht das geringste Zögern der Regierung geben der jüdische Aggressor wäre sofort und endgültig zu zerschlagen
Saddam
diese eine Mal war ich ihm so nah wie dem Tod in der Pathologie von dem ich auch immer glaubte ich hätte nie etwas ganz persönlich mit ihm zu schaffen er trug eine Pistole am Gürtel er war glatt rasiert ein langer athletischer Typ er hatte vier oder fünf Gewichtheberfiguren um sich herum und schrie unentwegt in seinem beduinischen Dialekt man sagte ihm nach er habe schon einige Gegner um die Ecke gebracht wir nickten und wandten uns anderen Rednern zu auch die meisten Baathisten hielten ihn für nichts als einen brutalen Schläger den man ausschalten musste (er fand bald ihre Schalter und er zögerte nicht) wir versuchten im Gespräch mit einigen Professoren und Assistenten noch eine Art Überblick zu erhalten aber es war sinnlos der Hexenkessel trieb uns hinaus in
die Endschlacht gegen den Zionismus
wir hatten Nasser
den allergrößten Gewichtheber den Garanten der arabischen Einheit den Führer der Dritten Welt die Leuchte der Araber die uns gelehrt hatte den Kopf zu heben denn
es gab keinen Zweifel am Sieg jeden Tag vernichteten wir den Feind vollkommen im letzten Gefecht vier Tage später stand ich in Uniform auf dem Bahngleis und Farida fiel beinahe in Ohnmacht vor Hitze Wut Trauer ich
bin freiwillig
unfreiwillig gefahren das heißt ich wollte mich wehren ich wollte mit irgendetwas Höherem und Wichtigerem verschmelzen und wenn es sein musste auch mit ihm untergehen obwohl oder weil ich glücklich war und obwohl sich etwas in mir sträubte und den Kopf schüttelte in meinem Kopf und wie gelähmt und hilflos an die Wände meines Körpers starrte der inmitten der anderen voranstürzte
wir hatten keine Einberufungsbescheide es ging alles so schnell wie die irakischen Einheiten in Jordanien überrollt worden waren viele meldeten sich bei der Kaserne bei der sie zuletzt stationiert gewesen waren jung
als Araber
zu sterben und meine Freunde nicht zu überleben schien mir folgerichtig wenn auch nicht unbedingt großartig es war mein einziger Krieg als normaler Soldat ich kam nicht einmal aus der Kaserne heraus als auch schon entgegen der Triumphmeldungen aus Kairo Amman Damaskus
nach sechs Tagen
AL-NAKSA
DIE NIEDERLAGE
feststand nach weiteren sechs Tagen wusste man dass kein großer Flächenbrand entstehen würde und ich sollte einfach nachhause gehen
wie betäubt
fand ich zum ersten Mal eine wütende junge Ehefrau vor (bitte stirb beim nächsten Mal weil ich es dir sage) und einen Zulassungsbescheid für das Studium in Paris das ich mir nicht leisten konnte und
noch hingen alle klebten an kauften und kauften
Radios
wütende zeternde jammernde Geräte sie brüllten noch im Juli in den Sandstürmen sie hatten immer noch gewonnen
aber es war anders gewesen (ein echt deutscher BLITZKRIEG der in Frankfurt lebende Vetter von Hussein schrieb dass man in Deutschland Mosche Dayan zum wiederauferstandenen Rommel erklärte)
nach Jahren
nach so vielen Gesprächen in Paris Amman Damaskus Beirut Bagdad denkst du klarer oder vielleicht nur weniger illusionär wenn etliche der Kostüme und Masken gefallen sind in denen man die Erfolgsstücke der Geschichte immer wieder aufzuführen versucht wobei wir nicht vergessen wollen dass im Grunde keine Alternative zur Inszenierung existiert und es keine letzte Maske abzunehmen und keinen Straßenanzug unter dem letzten Kostüm hervorzuzaubern gibt erst recht nicht die nackte Wahrheit
heute könnte man sagen
es gab einmal einen Traum vom befreiten sozialistischen und demokratischen unabhängigen und vereinten modernen selbstbewussten Arabien zwischen den Machtblöcken über die vom englischen und französischen Kolonialismus rücksichtslos gezogenen Grenzen hinweg es war ein moderner politischer von Europa inspirierter Traum eine Art vorgezogene sozialistische EU ohne den entsetzlichen Geburtsschmerz den Europa sich in jenen zwei Kriegen bereitet hatte deren ungeheure Leichenberge wir blutrünstige Araber nur fassungslos betrachten konnten und in denen wir nicht mehr waren als Spielball Nebenkriegsschauplatz Rohstofflieferant
jener Traum war
wahrscheinlich schon verspielt (wenn überhaupt je zu realisieren) bevor der Krieg gegen Israel begann und nun war es (vielleicht) einfach nur so
dass der ägyptische PRÄSIDENT (bis über die Ohren all seiner Untertanen verschuldet) dem amerikanischen PRÄSIDENTEN (schon bis über die Ohren im Vietnam-Schlamassel) gegrollt hatte weil er ihm keinen Weizen mehr für sein Brot schicken wollte da er dem ägyptischen PRÄSIDENTEN wegen seiner Neigung zum sowjetischen PRÄSIDENTEN böse gewesen war und nun die ägyptischen MASSEN hungerten und der PRÄSIDENT ihnen die Mäuler hatte stopfen wollen indem er ihnen zeigte dass er noch immer 1000 mal größer und arabischer war als der syrische PRÄSIDENT und der grimmige KÖNIG der Saudis (der demnächst mit seinem ÖL die Bühne überfluten würde) und also dem israelischen PREMIER den Golf von Aqaba und den schönen Erdölhafen daran weggesperrt hatte und so schlimm mit dem Säbel weiterrasselte dass dieser fürchten musste man greife sein Land an oder wenigstens allen im Westen klarmachen konnte dass er dies wirklich habe fürchten müssen während der ägyptische PRÄSIDENT wahrscheinlich gedacht hatte dass er selbst doch eher nicht angegriffen werden würde aber wenn dann vielleicht sogar gewinnen könnte wegen seiner aus der UdSSR stammenden Luftwaffe vor der sich der israelische PREMIER wohl wirklich fürchtete da sie womöglich gar seinen Atomreaktor zerschießen konnte so dass er also vorsorglich die gesamte ägyptische Luftwaffe zerschoss am frühen Morgen im Wüstensand
die NIEDERLAGE schmerzte
den großen symbolischen Organismus der Araber
indem sie zeigte dass es ihn in Wirklichkeit nicht gab wenigstens nicht als politisch einstimmige und militärischen Erfolg versprechende Größe ich studierte wieder Medizin ich hörte auf an solche Schmerzen zu glauben ich glaubte (einige Monate später als die Schleier gefallen waren) an den Tod von zehntausend ägyptischen Soldaten die zwischen den Schrotthaufen von sowjetischen Panzern und zerschossenen MiGs starben ich glaubte an das Elend weiterer Hunderttausender palästinensischer Flüchtlinge die sich über die Schlachtfelder nach Jordanien schleppten viele schon in ihrer Vertreibung nach der Vertreibung von der Katastrophe in die Niederlage ich glaubte an das Wirkliche an die Besetzung des Gazastreifens des Westjordanlandes des Sinai und dass dies schwärende Wunden sein würden
aber für wen und für wen von welcher Art
tatsächliche blutende Wunden nicht für alle Araber sondern für die Palästinenser und die arabischen Nachbarstaaten die es in der Folgezeit direkt betraf
symbolische Wunden
dagegen für uns die Wunde der Ohnmacht des Schuldgefühls und des immer wieder verletzten Stolzes die Wunde der Unfähigkeit den Palästinensern zu helfen (bis auf den heutigen Tag) wie damals in jenem mit Soldaten überfüllten Zug in dem ich versehentlich einem alten Mann auf die Hand trat der im Gedränge einen Herzanfall erlitten hatte und niederstürzte und den ich nicht retten konnte schon gar nicht mit meinem verworrenen Wunsch auf einer der Nachschublinien nach Syrien mein Leben zu lassen oder einfach irgendwohin geschleudert zu werden obgleich ich doch Farida liebte die wütend zuhause auf mich wartete
gelernt habe ich damals vor allem die Konjugation der Ohnmacht also zu unterscheiden zwischen der Ohnmacht zu vernichten der Ohnmacht zu rächen und schließlich der Ohnmacht zu helfen die auch für den Friedlichsten noch übrigbleibt
still (aber endgültig) schloss ich daraus
dass man die Mäuler der MASSEN mit Brot füttern muss statt ihre symbolischen Wunden mit Salz
fanatisch begann ich zu glauben
dass man die tatsächlichen Wunden verbinden solle statt sie mit dem Blut der Gegner trostlos und infektiös zu tränken
verständnisvoll hörte und höre ich den Jammer über Jerusalem und selbstverständlich müssen sich unsere Nachfahren dereinst frei am Tempel und an der Moschee dort treffen können (oder keine Mühe und kein Leid hätte sich gelohnt) Juden Christen Muslime aber ich sage euch
dass nichts stimmt wenn sich nicht auch agnostische alte Mediziner wie ich einfinden dürfen mit ihrer ganz privaten Nicht-Meinung ihrem profunden Unglauben und dem unbedingten Verlangen nach Kulturen und Zivilisationen die ihren Namen wirklich verdienen
wie betäubt also fuhr ich nachhause in jenem Zug voll deprimierter Rückkehrer nach Bagdad die nicht hatten kämpfen dürfen und die Niederlage zu ahnen begannen bin ich aber endgültig Arzt geworden und ich habe kein einzelnes Schlüsselerlebnis dafür sondern der ganze quälende Zusammenhang der Rückfahrt muss für eine Art von Erklärung herhalten die Depression und der zu Boden fallende und sterbende alte Mann die Blicke aus den staubigen Zugfenstern auf die sich weiter und weiter drehende Welt und dann schließlich ein seltsames irgendwie absolutes aber eigentlich sinnloses Bild und vielleicht war es das vielleicht geriet ich allein deshalb in den unheilbar abgeklärten Zustand in dem ich mich heute noch befinde ich sah
fünf weiße Störche über dem tintenblauen Euphrat
eine Minute lang
bewegungslos in der Luft
wie eine perfekte andere Welt wie etwas
das hier war und doch nie berührt werden würde etwas das auf eine gewisse Weise endgültig war ein Bild von
Freiheit oder Liebe (oder vollkommener Harmonie? wie auf einer japanischen Tuschezeichnung vielleicht)
auf das die Müdigkeit folgte die Niedergeschlagenheit und die Beschämung vor Farida
wie soll ich also die Geschichte überschreiben sagen wir Die Störche des Hippokrates?
die während des Sechstagekriegs verkauften
Radios
schickten mich jedenfalls nach Paris
denn mein Vater hatte ein Jahr zuvor mit seinem letzten Kapital fünf Elektrogeschäfte gekauft
eine Nacht lang setzte ich mich vor eine stumme Reihe dieser elektrischen Wundertiere und starrte auf ihre polierten Holzgehäuse die Schleierwand vor dem Harem ihrer Lautsprecher die geriffelten Drehknöpfe an den Außenseiten die glasverkleideten Sendersuchleisten die elfenbeinfarbenen Klaviaturen zur Frequenzwahl ich senkte den Kopf und äugte durch die poröse Rückwand eines Geräts und schaltete es an als könnte über der glühenden Röhrenstadt in seinem Inneren etwas anderes aufsteigen als der Hass auf die Israelis und die vermeintlichen jüdischen Spione in der irakischen Regierung nämlich eine Antwort auf die Frage
ob ich auch allein nach Frankreich gehen sollte
denn wir hatten kaum unsere Koffer gepackt um als glücklich davongekommenes junges Paar ins Ausland zu fahren als Faridas Mutter schwer erkrankte
Anfang August gingen wir ein letztes Mal am Tigris spazieren die Radios wüteten noch immer
2 Millionen Israelis hatten 80 Millionen Araber besiegt (schrieb man im Westen als hätten wir mit Feldsteinen gekämpft und als wäre jeder Mann und jede Frau und jedes Kind dabei gewesen)
es waren die französischen Jagdbomber die deutschen Panzer die amerikanischen Kanonen hörten wir bei uns und wir hörten Doris Day singen wie in jenem Hitchcockfilm den wir Jahre später zusammen in Paris sehen würden Que Sera von einem der Fischrestaurants her wir setzten uns ans Ufer wir waren nicht fähig klar zu denken oder zu fühlen Que Sera war kismet ein beinahe muslimisches Lied es brach ab kaum dass wir uns gesetzt hatten
es ist keine Frage sagte Farida ich komme nach sobald es meiner Mutter bessergeht
ich würde nach Paris gehen mit Hilfe der Radios
ich ging und weil ich (der Jüngste) der Einzige war der studieren konnte noch dazu in Frankreich kam unter meinen Geschwistern jener durchaus nicht nur gut gemeinte Witz auf von meinem Freund Moschel zu reden dem ich das Auslandsstudium verdankte
in Paris träumte ich
neben Hussein in unserer Bude immer wieder vom israelischen Verteidigungsminister der eines meiner Augen verlangte als Provision bis Hussein mich heilte indem er Dutzende von Karikaturen zeichnete auf denen man mich und Mosche Dayan sah die letzte und aufwändigste auf einem großen Blatt auf dem ich den Kopf mit darübergeschlagenen Armen auf meinen Schreibtisch gelegt hatte umwimmelt von Dayans in der Größe von Mäusen Katzen Hunden allesamt mit Augenklappe einige flogen wie Fledermäuse um meinen Kopf oder saßen in kleinen Mirage- oder Mystère-Jagdbombern (ich kann solche Wunderwerke nicht voneinander unterscheiden) von denen einer meinen Papierkorb in Brand schoss ein anderer meinen Anatomie-Atlas
es war noch sieben Jahre später kein guter Witz
als Farida und ich 1974 zurückkehrten
waren wir schon einen Krieg weiter wir feierten die Geburt unseres ersten Kindes an seinem siebten Lebenstag ich hielt Jasmin in den Armen und sie schien mir weniger zu wiegen als eine Taube ich flüsterte ihr dreimal ihren Namen ins Ohr (ich glaube an den Namen des Menschen) wie ihr Faridas fromme Tante kurz nach der Geburt die Fatiha ins Ohr geraunt hatte das geschlachtete Lamm wurde im Innenhof des großen Hauses in Wasiriya gebraten das mein Vater nach dem Radio-Coup noch hatte erweitern können so dass zwei meiner Brüder mit ihren Familien darin Platz fanden uns dreien wäre das Haus meines Großvaters in Betawiyn geblieben aber ich hatte schon eine moderne Wohnung gemietet mein Vater war siebzig damals und noch ganz der große Scheich seiner Geschwister meiner Geschwister meiner Cousins die in seinen Elektroläden arbeiteten ich musste dagegen ankämpfen mich für Jasmins Geschlecht entschuldigen zu wollen aber er sagte doch kein Wort darüber dass die kleine Schiitin Farida ihm eine Enkeltochter serviert hatte nein vielleicht freute er sich sogar vor allem aber freute er sich dass ich tatsächlich zurückgekehrt war
als Arzt in den Irak
(das Land der unendlichen ärztlichen Arbeit)
die Wärme ist da sie umgibt mich meine Geschwister haben nicht geglaubt dass ich wiederkomme und jetzt ist ihre Freude ehrlich ich mag denken fürchten hoffen was ich will ich bin
zunächst einmal
zuhause ich spüre wieder die Hitze die vertrauten Stoffe rieche die Gewürze gehe unter den Dattelpalmen am Tigris streife die Lehmziegelmauern die Teppiche die Tücher wandere über die Brücken bummle mit Farida die Abu-Nuwas entlang und über die Suks ertaste die rissige jahrhundertealte Haut der Stadt als berührte ich einen mächtigen Elefanten mit der Ausdünstung von Kebab Kardamom Kohlenmonoxid Karbid sehe wie sich die modernen Wohnblocks die internationalen Geschäfte die neuen Hotels eingenistet haben und die Heimstatt der Weisheit die Wohnstätte der Vernunft die Mutter der Welt BAGDAD mit einem betonharten glasharten Versprechen auf ungeahnte Zukunft armiert während schon die Volkswagen Opel Renaults sogar Straßenkreuzer aus den USA durch ihre großen Arterien fahren
es ist die Idee dass vielleicht noch in einem einzelnen Land funktioniert was für alle arabischen Länder gemeinsam nicht herstellbar war eine Idee für die wir die Augen zukneifen und die untrüglichen Anzeichen ihrer baldigen gnadenlosen Pervertierung energisch
verkennen
ich spüre will unbedingt spüren
dass meine große oder beste Zeit beginnt mit Jasmins wundervoll bemühtem Hineinstarren in das über dem Innenhof schwebende blaue Quadrat der Zukunft
es war mir
sieben Jahre später
als richtete sie den gleichen Blick auf mich als sie von dem Fußball aufschaute den sie als schnellstes der Mädchen vor sich hergekickt hatte und mich am Zaun ihrer Schule stehen sah
wieder
in Uniform
Kompass
Mein Land liegt zwischen den Mühlsteinen Ost und West.
Sie drehen sich mit der Macht der großen Katastrophen
in entgegengesetzte Richtung.
Unaufhaltsam nähern sie sich einander.
Gehst Du nach Norden, verschwindet Dein Gesicht.
Gehst Du nach Süden, wartet in Basra der Tod.
Bleibe bei mir.
Sieh auf die Steine.
Wünsche Dir nichts.
Wir waren spät abends in Granada angekommen die Taxifahrt durch die engen Sträßchen und Gassen kam mir wie ein hastiger Tauchgang durch eine von orangegelben Scheinwerfern ausgestrahlte Unterwasserstadt vor der Zeitraffer mit dem alles gefilmt wurde erklärte das Wunder der immer gerade noch rechtzeitig zurückweichenden Menschenmenge dann die hohen alten Mauern und die Märchennachtblicke über die Stadt
das Morgenlicht des ersten Erwachens in dem Luisa über mich gleitet ihre Brüste mit der Fruchtschwere und Taubenwärme des Paradieses mit noch verschlafen seufzendem Behagen seid eine Kleidung füreinander (heißt es) Schleier Seidenmantel Pelzhandschuh schwarzer Nerz der über meinen Bauch gleitet sich über seinem Fund wölbt feuchter elastischer Ring erstaunlich kühl zunächst dann aber seine Glut verströmend das Feuer in unseren Körpern flammt auf
in
einander
gekleidet im hellen Licht der Fenster deren schwere große Läden Luisa geöffnet hat noch bevor sie selbst
erschien
vor den Gärten der Alhambra
die wir noch nicht gesehen haben die draußen in der noch frischen Morgenluft auf uns wartet noch heftig atmend liegen wir beieinander ein winziger silberner Vogel schießt vorbei auf der Suche nach seinem goldenen Baum der kräftige Körper neben mir Luisa buche sechs Monate im Voraus ein Zimmer im zweiten Stock sagt sie eine Hand auf meinen Nabel gelegt (als wäre ich — wie alle Paradiesbewohner — niemals geboren) und du bekommst noch vor dem Frühstück eine waschechte Andalusierin
das Netz weiß schimmernder feiner Linien auf einem gebräunten runden Oberschenkel
wie Lichtspiegelungen in einem Bassin
das Wunder noch immer und noch einmal neu lieben zu können
unser Hotel war Teil des Palastes und einer Moschee und wurde dann zum Kloster San Francisco umgebaut Luisa hat den Hotelprospekt vom Nachttisch geangelt sie ist sehr zufrieden mit der verspäteten Häresie unserer Liebe in einem ehemaligen Kloster zwischen verschnörkelten spanischen Holzmöbeln auf einem ausladenden massiven Bett in dem gewiss schon ein Ferdinand und eine Isabella ihrer katholischen Zeugungspflicht genügten
erst Frühstück dann der Orient das funktioniert hier viel besser als in Frankfurt und erst recht die Fantasie schließ die Augen sie dreht ihren Kopf zu mir so dass wir Stirn an Stirn liegen eine noch glückliche Vergangenheitskopie von mir und diesem großen starken spanischen Mädchen dessen Eltern vor Francos Armee von Sevilla nach Barcelona dann nach Paris und vor der deutschen Wehrmacht von Paris nach Marseille und Lissabon flohen und über London nach New York wir sind uns
wie neu begegnet
in der Neuen Welt und kehren jetzt auf dem Glacis unseres Alters zurück um noch einmal jung zu werden in Europa im morgendlichen Garten und Palast des ehemals maurisch besetzten Teils vielmehr also sag schon wie er aussieht der Orient mit dem du dich eigentlich gar nicht beschäftigen wolltest hätte der alte Goethe dich nicht mit seiner vorletzten Liebe dazu gezwungen
(an Luisas Stirn:) du meinst das Positive die naive Fantasie die Gazelle im Morgenwind die Dschinns die einen Berg überragen eine ganze Stadt schultern um sie woanders aufzustellen und ohnmächtig werden in einer kleinen verstöpselten Flasche wie die Vergangenheit die Kindheit in der wir von ihnen lasen
die absolute Tyrannei sagt Luisa die Macht und ihre Feier in der verschwenderischen Pracht der Paläste immer Sklaven Diener Eunuchen
der Harem (sage ich)
immer verborgene Gemächer Winkel Verstecke Paravents Höhlen Truhen und Strohkörbe Tontöpfe in denen sich Menschen verbergen fliegende Teppiche farbiger Rauch schreckliche Verstümmelungen
riesige Vögel kommen Luisa in den Sinn
die Metamorphose die stets vorhandene Möglichkeit dazu in jedem Augenblick kann jede Figur ein neues Schicksal erhalten (Kaufmannssöhne zu Bettlern Jungfrauen zu Dämoninnen Könige zu Adlern Eseln Hunden) so dass das menschliche Dasein in einem einzigen undurchschaubaren flimmernden Ornament verschmilzt im Mauerwerk
der Zeit
so las ich die Geschichte der Schahrasad
als Kind in Bremen
der nervtötende Friseur sagt Luisa
der einen anderen mit seinem aufdringlichen Geschwätz ruiniert ist so
lebensecht
wie meine Sorge meine erwachte Sorge an die ich mich genauso gut erinnere diese im Grunde noch vollkommen glückliche Bekümmerung die mich beim Frühstück im Patio des Hotels (leis plätschernder Springbrunnen maurischer Säulengang im Licht überwirklich (holografisch) schimmernde Orangenbäume) überfiel sofort entdeckt und enttarnt von Luisa die zwei Söhne aus zwei geschiedenen Ehen hat (Charles der in Boston studiert und mich kritisch taxiert und Francis der vielleicht einmal ein guter Maler wird wenn er es schafft der New Yorker Party-Szene zu entkommen)
sie ist neunzehn mein Lieber sie nimmt die Pille sie hat mehr Verstand als meine beiden Jungs zusammen je haben werden
ich kann ich muss mich auf Sabrina verlassen ich brauche nicht die Augen zu schließen um sie in München Florenz Rom vor mir zu sehen an der Seite ihrer vier Jahre älteren Cousine sie hat eine gewichtlose fast ephemere Art die durch die weiten langärmeligen Hemden die sie oft trägt noch betont wird mit fünfzehn und sechzehn trug sie knappe Röcke oder Shorts und schmückte sich mit Perlenkettchen Ringen Armreifen Flitter wie um sich von ihrer eigenen Jugend zu überzeugen jetzt aber
versteckt sie sich
die Garantie ist die Stärke die du ihr mitgegeben hast
der Rest
sagt Luisa
ist Glück und damals in Granada tröstete ich mich gut damit ich dachte daran wie schön Luisa mit achtzehn und neunzehn gewesen sein musste und dass sie es überlebt hatte und nun gelassen und strahlend als lebenskluge Fünfzigjährige vor mir saß draußen in den Gärten zwischen den Mauern Ruinen in den Palästen der Alhambra überkam mich ungeachtet der zahllosen Touristen der in die Innenhöfe um die Bassins zwischen die Säulen geschütteten Busladungen der Sklaven ihrer Kameralinsen die aus allen Schriften Bilder machten
die Ruhe das Schweigen das
Licht
in der Myriadengestalt der filigranen Explosion eines zentralen Himmelspunktes an der Decke der Sala de los Abencerrajes göttlicher Spinnweb Bienenwabe der Engel wäre das Universum solcherart überdacht
der Palast
bringt dich aus der Welt
das verschlungene Ornament
löst deine Seele
der genau bemessene Wasserlauf im Garten
gibt dich frei
das hat er gesucht sagt Luisa eben die exotische Ruhe die entrückte Pracht das (vermeintlich) Unabänderliche im alten Orient während in Europa die Freiheit und ihr Dämon die Throne bersten und die Reiche zittern ließen seit zwanzig Jahren Krieg Hoffnung Niederlage Erschütterung der Riesenstiefel des Kaisers zertritt die betulichen morschen Fürstenhäuser bricht Preußen das Genick die Grande Armée saugt Zehntausende junger Männer auf und zerstört sie in Russland
Schlacht bei Leipzig und Schlacht bei Waterloo
die Geschichte spielt jahrzehntelang ihr blutiges Roulette
wer eben noch des Kaisers Stiefel wienerte soll morgen schon die Hymne auf die Freiheit dichten im Auftrag der wiedererstarkten siechen alten Könige
glaube an die Unabänderlichkeit von Herrschaft ein gut haltbarer rechthaberischer Glaube der immer wieder seine Triumphe feiert
der Palast
erhält sich
zumindest in diesem Fall ich vermisste Sabrina nicht wirklich dort auf dieser so unzerstörbar scheinenden Insel der Vergangenheit war ich ganz froh nur Teil eines älteren Liebespaares zu sein das den mäandernden Weg zum Thronsaal nimmt hätte ich hier so viel zu sagen gewusst wie in Frankfurt vor der Gerbermühle oder in Weimar dann hätte ich mir Sabrina vielleicht herbeigewünscht aber die Zeit ihr Vorträge zu halten war schon lange vorbei (eigentlich doch seit ihrem siebten Lebensjahr in dem ich begriff dass ich mich mit ihr über nahezu alles unterhalten konnte dass sich in ihrem Augenaufschlag wie in dem aller Kinder das mächtige universelle Interesse offenbarte der Garant der kompletten Erneuerung der Menschheit durch den Menschen der kleine Buddha der einmal alles wissen wird mit seinem Milliardengehirn)
Goethe
hätte statt durch das Heidelberger Schloss durch die Alhambra wandeln sollen in der Zeit seiner hessisch-orientalischen Liebe
Marianne
der kleine Blücher wie er sie gern nannte
zupft die Gitarre
der GROSSE KAISER spielt auf seiner letzten Insel mit der grauen Brandwoge seiner Toten einmal
eroberte er Ägypten riss die Pyramiden aus dem Schlaf (232 Transportschiffe 2000 Kanonen 32 000 Soldaten 175 Gelehrte)
der Orient
erwachte ächzend unter seiner Gluthitze seinen verstaubten Palmen seinen zerbröckelnden Palästen in seinen abgeschotteten Medresen unter dem Leib des alt gewordenen Türken im
eigenen Blut (ein Streifschuss vorerst)
stell dir den alten Goethe vor gebeugt und weißhaarig zahnlos aber wieder schlank sich aufrecht haltend im braunen Mantel
wie er umgeben von den üblichen Verehrern und seligen Experten oder vielleicht auch nur mit seinem kunstsachverständigen Müller zu zweit also wie wir den Löwenhof betritt (behutsam ein Ginkoblatt am Stil zwischen den Fingern drehend) und sofort die Verhältnisse erläutert zwischen den eleganten wie im Morgenrot erträumten Säulen mit ihrem schwebenden Klöppelwerk
zwölf Löwen tragen das Brunnenbecken im Zentrum drei (die Trinität die vollkommene Zahl Himmel Hölle Erde) mal vier (die teilbare und doch alles umfassende Anzahl der Windrichtungen der Elemente der Körpersäfte) ergibt die zwölf Tierkreisbilder während die Summe aus Trinität und Welteckenzahl die Siebenzahl der Planeten darstellt entsprechend den sieben Arkaden der beiden Seiten des Myrtenhofes
genau so mag er gedacht und doziert haben
oder ganz im Gegenteil alle mathematische Hexerei verwünschend und also nicht-quantitativ sinnierend im Angesicht der Löwen über die vier rechtwinkelig verlaufenden
Bäche des Paradieses schreitend
ich erinnere mich
an einige Augenblicke oder Herzschläge eine halbe Minute vielleicht
in der wir plötzlich zu zweit im Löwenhof der Alhambra standen völlig losgelöst vom Touristenstrom ein glücklicher Zufall der Leere der uns (verwirrt) allein ließ auf dem sonnigen steingepflasterten Areal zwischen den mit spitzen Dächern gedeckten Säulengängen
alles (auch der Brunnen im Zentrum) ist kleiner (intimer) als wir es erwartet hatten
persönlicher
als wäre das Paradies nur ein lichtdurchfluteter Saal
Luisa erscheint mir perfekt und vollkommen in der Stille des im Rankenwerk der Säulenkapitelle spielenden Lichts mit ihrem schwarz glänzenden Haar der festen Brust der roten Bluse der schwarzen Hose den Lederschuhen in denen sie Flamenco tanzen könnte sie ist am richtigen Ort denke ich einen falschen glücklichen Augenblick lang so wie man sich wohl gerne Illusionen macht über die Harmonie das Verständnis die Toleranz das gedeihliche Miteinander der Kulturen im Andalusien der arabischen Herrschaft
es gibt immer
den Palast und die schwitzenden stöhnenden blutenden Fundamente unter ihm deren Sehnsüchte er spiegelt im Gold des Innenhofs — für noch einen unwahrscheinlichen Moment der Stille — scheint es mir plötzlich als würden Luisa und ich
durchstrahlt
(geprüft geröntgt) von einem Licht das keine Stelle an uns verborgen lässt das durch unsere Zellen flutet bis an die schmerzliche erlösende Grenze der Veränderung
Flüchtlinge aus der alten Welt ein bald müde werdendes spätes Pärchen das Glück hatte sich noch zu finden
im Licht eines Ortes an dem wir nicht sein können
unser Paradies
ist nur noch
nicht zu wissen
was kommt
Dass du solche Geschichten erfinden kannst
sagt Huda
ist doch verrückt
unter dem Bett der eigenen Schwester ganz wie Dinarasad aber etwas ist doch auch dran oder nicht deine Schwester kennt doch Leute beim Militär und wenn man in der Ölindustrie arbeitet
sagt meine Mutter sagt Huda
kann man nicht sauber bleiben das Öl
kriecht unter die Finger zwischen die Haarwurzeln läuft dir in die Ohren die Nasenlöcher in die aufgerissenen Augen den Mund stell dir vor du wärst ein Taucher im Öl mit nacktem bleichen Körper Taucherbrille Sauerstoffflasche natürlich mit einer starken Taschenlampe du sagst dir das Öl das sind vor Jahrmillionen gestorbene Pflanzen und Tiere du tauchst
vielleicht weil man dich in eines der Bohrlöcher gesenkt hat bei Mossul oder Kirkuk und du (als Wissenschaftlerin) untersuchen sollst ob noch mehr noch schwereres und köstlicheres Öl tief unter der letzten Quelle existiert du tauchst
Huda
neben mir auf dem Sofa wir haben die steifen Schuluniformen ausgezogen wir tragen jetzt Stöckelschuhe Jeansröcke und Seidenstrümpfe mit glitzernden Fäden durchzogene knappe Pullover darunter BHs die wie all diese Kleider von einer der Shopping-Touren stammen die Hudas Mutter regelmäßig in Amman und Beirut unternimmt
um sich zu trösten
sagt Huda heute schminken wir uns nicht wir tanzen auch nicht wie sonst hier des Öfteren in der geräumigen Dienstwohnung in der Nähe des Nationalmuseums über einem der Außendepots wo wir keine Angst haben müssen jemanden zu stören (unter uns nur die in großen Kisten in Holzwolle erstickten Steinköpfe aus Uruk jene Frauen mit den durchgezogenen Augenbrauen über den leeren Höhlen 5000 Jahre ohne Blick oder ist es die Stadtgöttin Ianna selbst die nach innen sieht und uns hineinsaugt in den Abgrund der Frühzeit) oder jemanden zu erregen jemand anderen als uns selbst wenn wir manchmal zwei Stunden lang tanzen herumhüpfen springen in dem weiß gekalkten kleinfenstrigen Raum neben Hudas Zimmer ein Raum ohne nähere Bestimmung weil er einmal als Erholungszimmer für Hudas Mutter gedacht war die sich aber nie erholt unser heimlicher kahler hallender Club in dem unsere eingemauerte Hitze manchmal so groß wird dass man jeden Augenblick mit
SEX
rechnet in irgendeiner bedrohenden aber doch auch wundersamen körperlosen Form
auf der Hochzeit deiner Schwester wie verrückt bist du wirklich unter das Bett gekrochen wie als Kind oder hast du das auch erfunden
möchte Huda wissen beide haben wir die Füße mit den Stöckelschuhen auf Stühle vor dem längs zur Wand stehenden Sofa gelegt und starren an uns herab wie in eine andere Welt
ich kroch wirklich
unter das Bett meiner Großeltern in ihrem Haus in Wasiriya während der Hochzeit wenn auch nur für kurze Minuten in denen mir die Idee zu dieser Szene kam niemand denkt sich wirklich hinein in
Dinarasad
die vielleicht nicht nur hören sondern auch fühlen will oder mit einem Dolch dort liegt jede Nacht und den König nur nicht ermordet weil sie wie er süchtig geworden ist nach der Fortsetzung der Geschichte sein
lauernder gequälter Komplize (Erzähl doch Schwester …)
dass sich das Bett in ein Schiff verwandelt gefällt mir am besten sagt Huda und dann zerreiße ich das Papier auf das ich die kurze Geschichte geschrieben habe obwohl Huda protestiert aber auch gleich begreift dass ich mich durch das Zerreißen in Sicherheit bringe vor allem und allen
außerhalb
aber vielleicht auch noch mehr vor meiner eigenen maßlosen Fantasie die mir so zusetzt dass ich noch auf der Hochzeit beinahe schreiend unter die Gäste gelaufen wäre um meine Schwester und den Major (ein ungemein schönes Paar eigentlich) anzuklagen mit der Hand auf das Schlafzimmerfenster zeigend als vollziehe es sich dort gerade hinter dem verschnörkelten Holzgitter während sich doch Jasmin im Brautkleid an der Seite ihres sorgsam herausgeputzten Kasim (der Major irgendwo rechts weit weggesetzt mit einem anderen Uniformierten) direkt vor mir befindet
wenn ich
es erfunden habe verfolgt es mich
bis ich es zerreiße
und ich es gelesen habe ich liebe solche Geschichten lacht Huda ihre großen Augen funkeln ihre blendend weißen Zähne erinnern mich noch einmal an den Damast des Brautkleids meiner Schwester
beinahe hätte ich es Tarik erzählt und Sami als wäre es tatsächlich geschehen ich tauche ein in die Bilder (tauchte
schon immer schon als Kind)
wie in das schwarzgrüne zähe Öl in dem wir uns gerade befinden als Taucherinnen mit weiß strahlenden Taschenlampen zerfrisst es nicht
unsere Haut
fragt Huda und ich stelle mir vor
stell dir vor
du befindest dich inmitten eines dieser riesigen Tanks und plötzlich schlagen Funken aus deiner Lampe und das Öl um dich herum entzündet sich ganz blitzartig ein weißer oder orangefarbener Feuerball der von innen heraus aus diesem haushohen Zylinder glänzender schwarzer Flüssigkeit entsteht und sich ausbreitet wie eine explodierende Sonne
es braucht Sauerstoff hör auf damit sagt Huda
schaudernd sie holt unser Chemiebuch das beschreibt wie sich der Luftsauerstoff in die Ketten der Ölmoleküle hineinfrisst und sie spaltet wobei Kohlendioxid entsteht und Wasser und eben diese ungeheure Hitze (stell dir vor Huda dass der ganze Tank explodiert ein einziger Feuerball dass aber du selbst dass wir (die Taucherinnen) unverletzt bleiben inmitten dieser Explosion wie im Auge eines Hurricans)
es kann nicht sein frag doch deine Schwester Jasmin sie arbeitet doch in Dora und das ist etwas das meine Mutter natürlich ganz großartig findet dieser Wiederaufbau der von den Amerikanern zerbombten und zerschossenen Raffinerie ganz mit eigenen Mitteln
Hudas Mutter Schiruk finde ich selbst großartig wenn auch mit einem schlechten Gewissen (das mir mein Vater eingepflanzt hat wer in leitender Stellung im Nationalmuseum arbeitet kann nicht sauber bleiben) Hudas Mutter ist etwas das wir Frauen im Irak auch sein können sein konnten vielmehr denn die Dinge bewegen sich wieder zurück als läge alles auf einer dunklen Drehscheibe die sich in die Vergangenheit bewegt selbst der
PRÄSIDENT
sinkt in die Knie (auf dem Gebetsteppich) was für eine widerliche Komödie
ruft meine Mutter empört vor dem Fernseher
Schiruk ist vielleicht die falsche Frau (aber das ist mir egal) für die richtige Idee für das was eine Frau eben auch sein kann nicht
versteckt sein nicht zermürbt von Niederlagen nicht nur klug und müde und sanft abwehrend wie meine eigene Mutter Farida die Huda so sehr schätzt weil sie Bücher übersetzt hat und so gut kocht Schiruk spürt dass ich sie verehre dass ich es liebe wenn uns der Pförtner freundlich durch das babylonische Palast-Tor des Museums winkt und sie mit uns durch die Ausstellungsräume ihrer Abteilung geht uns mitnimmt in die Depots mit den riesigen Kisten in die Werkstätten zu den merkwürdig schläfrig-eifrigen Restauratoren denen sie aufmerksam über die Schulter sieht früher empfing sie ganze Lehrerkollegien aus Kirkuk oder Basra und Journalisten aus Schweden Wissenschaftler aus Tokio London Berlin bevor wir Embargo-Land und Bomben-Abwurfsland wurden und die wertvollsten Bestände in die Depots wanderten um öden politischen Ausstellungen Platz zu machen dennoch kommt Schiruk immer wieder auf die eigentliche Funktion des Museums zurück und es ist das Verstehen das wirklich Kundige das mich so an ihrer Arbeit und Art reizt
in der Schule ist Geschichte oft nur Angeberei ein Sich-in-die-Brust-Werfen
vor 12 000 Jahren
verkündet der neue (zu meiner Schulzeit vierte) Direktor hätten überall nur kleinere Rudel von Neandertalern gelebt in Europa Asien und den USA aber dann wäre es eben hier (früher als in Ägypten) geschehen dass der Mensch sich erhob und die Schrift erfand die Radachse die Töpferscheibe den Streitwagen das Hochhaus das Gesetz
Auge um Auge
in Stein gemeißelt
bei Schiruk ist es nicht dieses Protzen sondern ein Nachdenken eine Art waches aufmerksames Zurückgehen sie fragt mich
weshalb es heute von Vorteil ist dass man mit einem so brüchigen und wasserempfindlichen Material wie Lehm baute (so baute man Schicht auf Schicht und so können wir uns Schicht um Schicht in der Zeit zurückbewegen) sie zeigt mir einen Steinzylinder der mit einem Jagdszenen-Relief versehen ist und erklärt wie man das Rollsiegel zur persönlichen Markierung von Getreidesäcken verwendete sie möchte von uns wissen (Huda verdreht nur die Augen) was es heißt dass vor 5000 Jahren in Uruk erwiesenermaßen 25–30 000 Menschen wohnten aber diese unmöglich von den Erträgen der unmittelbar die Stadt umgebenden Landwirtschaft hatten leben können
vier Sprachen und kein Mann sagt Huda böse
über ihre Mutter ich verstehe sie denn Schiruk ist oft verreist und lässt sie bei Verwandten zurück aber ich finde dass Schiruk mit ihren eleganten Kostümen ihrem perfekten Auftreten ihrer energischen Art überhaupt nichts Bemitleidenswertes hat sie hat oft Angst sagt Huda
wenn ich mich fürchte
stelle ich mir manchmal die Löwen von Babylon vor die aus den blauen Ziegelmauern der Prozessionsstraße wie aus einem tiefen Sommerhimmel heraustreten und unerschütterlich und ruhig neben mir hergehen wie glühendes Gold höher als meine Schultern an meinen Seiten wie gemeißelt und unzerstörbar mich einrahmen mit ihren steinernen Muskeln bei jedem Schritt
du hast so verrückte Ideen aber dann willst du wieder alles so genau wissen meint Huda als wir am späten Nachmittag wieder über die Ahrar-Brücke gehen um das Geschenk für ihre Cousine auf dem Goldmarkt zu kaufen der Tigris ist schon fast grau geworden die Autoschlangen bewegen sich so langsam als müssten sie tatsächlich auf Schuppen über den Asphalt kriechen wiederum Gehupe ich ziehe doch noch ein Kopftuch auf schimpft Huda auch wenn meine Mutter das hasst
auf dem Suk der Schmiede und Kesselflicker hämmert ein Fünfjähriger Eisennägel auf einem Amboss gerade Henkeltöpfe und Pfannen schweben klappernd über uns vor einem kleinen internationalen Hotel stehen die Wechsler mit Büscheln von Dinaren und warten auf die wenigen Touristen die noch in der Stadt sind oder die UN-Diplomaten
deine Schwester sagt Huda einige Gassen weiter so ruhig und leise als fiele ihr noch eine ironische Bemerkung ein
durch einen schwankenden Vorhang von goldenen Halsketten durch eine Lücke in diesem Vorhang vielmehr trifft mich unvermittelt Jasmins Blick von oben herab von so weit oben wie sie immer über mir stand ihre sorgsam gezupften Augenbrauen heben sich leicht ist es Mitleid oder Spott du bist ja ganz hübsch sagte Huda einmal aber deine Schwester ist schön wie ein
Falke denke ich plötzlich
als wollte sie mir etwas antun sie trägt ein blaues Kleid und hat eine weiße Strickjacke über ihre Schultern geworfen ich glaube sie wiegt weniger als ich die Nähe ihres Gazellenkörpers gibt mir stets das Gefühl von Plumpheit und irgendwie tragischer Langsamkeit im Blick des Falken gibt es
eine Warnung eine Art
stummen Befehl
und jetzt verstehe ich alles denn
im Fenster zwischen den Goldkettchen taucht eine schwarze behaarte Hand auf zu stark und braun um Kasim zu gehören und doch so nah an Jasmins dünnem vornehmen Hals (um eine Perlenkette darum zu legen) das grüne Tuch der Uniform das bärtige Gesicht des Majors
ich träume
was geschieht
Jasmins Hände greifen durch die biegsamen grünen Maschen des Schulhofzauns nach meinen Händen sie ist gerade sieben also zu jung mein Freund um schon etwas über Muhammad Schams ad-Din zu lernen den ihr Hafis nennt und über die wahren Gründe des Krieges wird sie in einer Schule in der jeder Lehrer in der PARTEI sein muss ohnehin nichts erfahren in einem Land dessen oberster Vertreter ist gleich oberster Führer der Armee ist gleich PRÄSIDENT genau so denkt wie es in dem wütenden alten Buch seines Onkels ist gleich korrupter Bürgermeister von Bagdad steht
Juden Fliegen und Perser
hätte Gott nicht erschaffen sollen die Attacke gegen die Perser erfolgt jetzt so will es das Monstrum das aus dem Bauch des Monstrums PARTEI kroch mit Orden beklebt wie ein grüner Fliegenstreifen
bald schon bekommt er von den deutschen Spezialisten eine schöne neue Insektenvertilgungsmittelfabrik (Leipziger Toxikologen Laborbauer aus Frankfurt am Main) er reißt zehntausend Arme mit Schwertern empor und ist schon überall und wie endgültig an jede Wand geklebt in jedes Buch in alle Räume auf die Bildschirme Geldscheine Ziffernblätter der Armbanduhren fast noch auf die Ärsche der Wasserbüffel in den brackigen Kanälen von Basra und in jedes Körnchen der Sandschleier der gelben Sonnenfinsternisse die Straße um Straße im Sommer verschlingen und staubverkrustet nach Stunden erst wieder ans Tageslicht husten
ich spüre Jasmins weiche kleine Finger durch den Zaun und mein (noch junges erst fünfunddreißigjähriges) Gesicht erscheint mir selbst schrecklicher als alle väterlichen Gesichter meiner eigenen Kindheit von denen keines sich über mich beugte mit der Zumutung begreifen zu sollen akzeptieren zu müssen dass es nun in einen Krieg verschwinde die
Schleier
das weiße leichte Gewebe vor deinem vom Sturm gepeitschten Gesicht
zerreißen
die Wohnung in dem vornehmen Neubauviertel die du mit deiner Familie bezogen hast die vor zwei Jahren neu eröffnete Praxis der Club in dessen Swimmingpool Jasmin mit einem Gummitier herumplanschte während du mit Kollegen einen Drink nahmst während im Hintergrund die Grillkohlen rauchten und noch weiter dahinter die Kräne Betonträger in die hohe Zukunft balancierten
der PRÄSIDENT
schwamm in Öl (das seine Partei mit Beifall des ganzen Landes endlich den Engländern wieder abgenommen hatte) verschenkte Kühlschränke und Fernsehgeräte leitete Strom schickte Traktoren in entlegene Dörfer wie ein Gott wanderte Arm in Arm mit den Kommunisten für das sozialistische Arabien bis zur nächste Ecke
um die er sie gleich darauf brachte
die Schleier färbten sich an den Rändern mit Blut senke den Kopf lies die Zeitungen des Vaterlandes die Wiedergeburt des sumerischen Großreichs unter dem wahren König Saddam
Flughäfen Schulen Einkaufszentren Krankenhäuser schießen aus dem Boden es gibt schon neue Universitäten es gibt höhere Gehälter für Soldaten Polizisten Ärzte Folterknechte
die beste Zeit
ist der Glanz der Entwicklung des mit Gold und Öl und dem Blut seiner Oppositionellen überspülten Irak
es gibt
Krieg den keiner will den zunächst
kaum jemand
ernst nimmt denn Bagdad baut als wäre es ein Architekturwettbewerb als würden die Mullahs in Teheran nur mit Gegenbaustellen reagieren und gewinnen wollen mit dem besten Hochhaus und dem protzigsten internationalen Luxushotel
es ist Krieg
weil der PRÄSIDENT glaubt die revolutionären schwarzen Vögel auf den geschleiften Palästen des Schahs seien schwach die Gelegenheit also günstig einige alte Rechnungen zu begleichen und die Wunden und Schrecken zu rächen die der große persische Pfau (ausgestopft bis zum Hals mit den prachtvollen Waffen Amerikas) uns zufügen und zumuten konnte insbesondere jenen Griff nach dem Hafenfluss Sindbads Schatt al-Arab unserem einzigen Zugang zum Meer
die Mullahs sollten zudem gründlich erschreckt und gedemütigt werden damit sie uns Revolutionären keine Rückwärtsrevolution schenkten und nicht das Feuer anzündeten unter unseren Schiiten
in drei Wochen schon
erklärte der PRÄSIDENT
stünden wir in Teheran
zwei Monate später verband ich auf der Ladefläche eines Militärlastwagens die ersten (noch bloß von Unfällen während des Aufmarschs herrührenden) Wunden und träumte am Tag fassungslos zwischen den Soldaten dass ich mit ihnen in den Krieg fuhr Sindbads Stadt entgegen kein Vogel Rukh der seine Jungen mit Elefanten füttert riss uns empor und heraus (schon jetzt waren wir zu mager und kläglich) aus
dem Spiel Leben und Vernichtet-Werden gemeinsam mit diesen noch atmenden noch lachenden rauchenden jungen Männern auf der hart erschütterten Ladefläche auf die man niedrige Bänke geschraubt hatte (der ein oder andere von ihnen kehrte als Toter mit dem Taxi zurück so luxuriös auf Befehl des PRÄSIDENTEN dem der Fuhrpark ausging) ich wollte das alles
von Paris aus sehen auf einem Nachrichtenbildschirm an der Gare de Lyon oder vor einem mit Ramsch verstopften Elektrogeschäft im 20. Arrondissement oder
vom Oberarztzimmer einer vornehmlich für die Parteikader errichteten blitzmodernen Bagdader Klinik aus in das ich vielleicht gelangt wäre
hätte mir nicht Alis Freund Khalid ein PARTEI-Mann und hervorragender Chirurg und Noch-immer-Philanthrop erklärt dass sich mein Desinteresse an der PARTEI schlingenartig um meinen Hals zu legen begänne so dass ich plötzlich meine wahre Begabung meine Berufung und mein Bedürfnis nach praktischer unmittelbarer Tätigkeit erkannte und
unverzüglich
die Klinik verließ um in eine Arztpraxis einzusteigen wobei mich Prof. Dr. Khalid Yussef freundlichst unterstützte und mich damit wohl vor einer Gefängniszelle bewahrte nicht aber vor der dreimaligen Frontverwendung als Arzt im längsten und zähesten Krieg des Jahrhunderts
sieh noch einmal
Basra
in der Götterdämmerung seines Rufs als Venedig des Arabischen Golfs
und sieh
wie
(die Bände einer klassischen Ausgabe neben Abu Nuwas und Rumi neben al-Mutanabbi und Abu Alla al-Maari in der Bibliothek meines Großvaters)
Hafis
(Farida erzählte dass sie als Kind Tee Datteln und Brot zu den Persern brachte die in Zelten vor der Stadt nächtigten auf ihrem langen Weg nach Nadschaf und Kerbela mit ihren Kindern und ihren Toten)
stirbt
mit einem Stirnband um den Kopf die leuchtend bestickte Eintrittskarte ins Paradies
Mahdi gib mir Kraft — Für Dich Hussein — Jeder Tag ist Kerbela
sie tranken den Wein des Todes wie Süchtige in den Minenfeldern
junge Männer Schüler Lehrlinge
Kinder mit Spielzeug näherten sich winkend und warfen lachend
Handgranaten
bis man auch auf sie schoss Großväter und ihre Enkel als hätten sich die Tore einer schrecklichen Fabrik einer düsteren Schule eines riesigen Gefängnisses geöffnet so dass sie sich jubelschreiend in die Stacheldrahtwälle warfen und sich türmten Menschen-
Wellen
denn der PRÄSIDENT
hat nicht bedacht dass die Revolutionen ihre Kinder anzünden und hineinschicken können in eine Angriffswelle aus Feuer und Blut
solange
ihre Zeit währt die Verbrennung der Gegenwart für die blendende Illusion einer besseren Zukunft
aber die Mullahs wissen es und sie haben erkannt dass ihnen nichts mehr nützt als das Rollen der Blutwalze
Märtyrer auf Märtyrer
vor unseren Schützengräben die wie Visierschlitze in die lehmgelbe Einöde gezogen waren durch welche die Erde Blut und Eingeweide trank ich assistierte den Feldchirurgen ich musste selbst schneiden flicken Drainagen legen im Schein von Öllampen ich sah mit zitternden Knien und mir selbst unbegreiflich ruhigen Händen das blasse immer nur scheinbar schläfrige Krötengesicht von Marcel Cassin vor mir als hätte er einen Video-Übertragungskanal vom Engel Gabriel erhalten direkt aus einem OP der Pitié Salpêtrière in mein Gehirn Chirurgisches Praktikum I, II, III (Tarik! Eine Aorta ist kein Wasserpfeifenschlauch! Aber wenigstens führt der Mann die Nadel wie Generationen von Teppichknüpfern vor ihm und steht still wie ein Dromedar und da hat er recht Messieurs denn Ruhe ist alles und eine Naht ist nichts weniger als eine Visitenkarte!) so steuerte er mich noch ich musste (in den Nächten zwischen schreienden jammernden Soldaten) an den Junggesellenspeisesaal einer weiteren ehrwürdigen Klinik zurückdenken in dem ich Cassin zuletzt gesehen hatte einmal vor mir am Tisch und einmal als Satyr der sich über eine maskierte Schwarze hermachte inmitten weiterer als Orgienteilnehmer verewigter Chef- und Oberärzte gemalt von hierzu aufgerufenen Studenten es gab da eine Tradition der obszönen
Bilder
der AYATOLLAH winkt grandios (seht den Ring an seinem kleinen Finger)
der PRÄSIDENT mit Beduinenkopftuch und einem Kind auf dem Arm
noch in den Lazaretten starrt er auf die ihm zujubelnden Wunden eines Tages klebte er auf dem Deckel eines Mülleimers im OP und öffnete das Maul für durchgeblutete Pflaster und Verbände (einen kleinen Finger eine halbe rechte Hand)
schweige arbeite schweige wie die Soldaten die äußerlich nichts davongetragen hatten die im Schützengraben lehnten wie gefroren die es nicht mehr ausgehalten hatten Leichenberge vor sich aufzuhäufen und verrückt wurden
ohne einen Laut
bei einem der Toten (feindlichen Toten: als würden wir uns im Paradies noch abschlachten für den Triumph im nächsten Paradies) einem dreißigjährigen Mann aus Schiraz vielleicht (oder einer der anderen Städte die wir mit französischen Jagdbombern attackierten während ich mit den vertrauten Spritzen Kanülen Binden Kompressen Medikamenten von Aventis / Rhône-Poulenc / Sanofi das Leben der Instrumente des Todes zu erhalten versuchte junge Männer die auf Befehl alter Männer junge Männer ermordeten wie jener fast spurlos erschossene Perser) rutschte ein Gedichtband aus der Brusttasche der Uniform
persische Ghaselen von Hafis und Rumi in arabischer Schrift (denke an Hölderlin und Rilke in den Gräben vor Verdun mein Freund endlich erreichten wir europäisches Niveau)
Mein Herzliebster ist ein Kind,
er wird mich spielend eines Tages
töten ohne dass des Blutes
das Gesetz ihn schuldig macht.
blutige Kinder mit schwarzen Turbanen
blutiges Kind in grüner Uniform
ein Volk schafft das Monster dessen Kindereien seine Kinder morden
blutige Greise die die Falltüren für ihre Enkel öffnen
jedes Volk fürchtete das Monster des anderen Volkes kämpften wir deshalb vor Khorramshar bis selbst
die Luft blutete
ich kehrte zurück ich
stand am gleichen Schulzaun (ungläubig wie ein Toter) ich umschloss wieder Jasmins kleine Hände mit den Händen an fast genau der gleichen Stelle sie erhielt die Erlaubnis mit mir nachhause zu gehen anstatt noch ein Lied auf den PRÄSIDENTEN auswendig zu lernen den neuen Saad ibn-Abi Waqqas der nach 1300 Jahren die Perser noch einmal schlagen und bekehren musste die Wiederholungen der Geschichte sind immer eine Farce so habe ich es (über Ali) von Marx gelernt der nicht geahnt hatte in welchem Ausmaß an Mordlust die Farcen ihre bescheidenen Originale zu übertreffen imstande sein würden ich führte Jasmin durch die Hitze im Juli durch die Baustellen eines immer noch reichen hämmernden bohrenden pulsierenden sich aufwärts in die chaotische Moderne der Zuspätgekommenen hebenden Bagdad für das der Krieg fast noch wie eine TV-Serie war etwas wie ein Unwetter in einem anderen Land das der PRÄSIDENT schier ganz alleine niederkämpfte an einer fernen Fernsehfront ich fürchtete Jasmin könnte die Kälte des Todes in meiner Hand durch mein Fleisch hindurch spüren ich schwitzte in der Uniform des IRREN den wir so bald wohl nicht mehr abzuschütteln vermochten (einen Sommer später versuchten es die Schiiten im Dorf Dujail das daraufhin fast vollständig von der Landkarte verschwand)
noch zweimal ging ich in den Krieg
ich sah
die von deutschem Giftgas zerfressenen Gesichter und die wie mit Senf überkrusteten halb aufgelösten Gliedmaßen unserer Soldaten die man nicht rechtzeitig aus der Gefahrenzone unseres eigenen Angriffs gebracht hatte (bald darauf kehrten die Iraner mit Gasmasken made in Germany zurück)
als es schlecht stand für
den PRÄSIDENTEN und die nächsten hunderttausend Todgeweihten (nie wurde ich verletzt es war als hätte ich zum Ausgleich für den Feind im Gesundheitsministerium der mich an die Front schickte einen unsichtbaren Freund im Krieg der mich dort beschützte) als
DERANJEDERWANDKLEBENDE
Zehntausende ins Marschland jagte um bei 50 Grad Hitze Schilf zu schneiden damit es den vordringenden Feind nicht mehr tarnen konnte (während er selbst in immer neuen Bunkern und immer neuen absurden Palästen umherkroch) als ER die Kellner der Luxushotels an die Front schickte und mehr Überstunden von allen verlangte schließlich auch energisch mehr
Fortpflanzung
für mehr Kanonenfutter
bekam Farida erschreckend fristgemäß mit der ihr eigenen rätselhaften unwiderstehlich ausbrechenden Kraft zu leben mit siebenunddreißig und achtunddreißig Jahren Kinder euch verrückte Himmelskinder als hätte sie den Entschluss gefasst mich auf diese absolute Art zurück ins Leben zu rufen oder besser nicht daraus gehen zu lassen
kurz bevor du geboren wurdest Muna
kamen die Amerikaner nach Bagdad und brachten neue Jagdbomber für den
Krieg der Städte
wir konnten nicht fliehen ich war registriert ich wurde überwacht und einberufen
Farida stillte Muna
stillte Sami
in der Erbitterung der langsamen Zersetzung der Hoffnung erhältst du
überwältigend physisch fast unvermeidbar absurd
zwei atmende schreiende lachende Gründe zu leben zu heilen zu fluchen
häufe nicht zu viele Wünsche auf den zerbrechlichen Körper eines Kindes stand bei al-Ghazzali in der Bibliothek meines Großvaters
und nicht zu viel Angst sagte Farida
ich sah die brennenden Tanker im Golf die Feuerbälle über den Ölplattformen und die mit grünen Stirnbändern markierten Paradiesvögel die auf Schnellbooten rasend den Übergang in ihre versprochene bessere Heimat suchten durch das brennende schwarze Meer der Krieg drohte den gesamten Golf zu entzünden das fette Ölfass auf dem wir uns mit den Persern mordeten und schließlich kamen zu den Panzern aus Russland den Flugzeugen aus Frankreich dem Geld der Saudis den Kalaschnikows aus Ägypten den Satellitenkarten der CIA auch noch
die großen internationalen Flotten hinzu die unsere Küste und den PRÄSIDENTEN und seinen ÖLigen Ausfluss beschützten
Jasmin zog deinen Kinderwagen Muna über das blanke Marmorglacis der mächtigen gespaltenen blauen Zwiebel die an den Hohlkopf des Märtyrermachers erinnerte und
die vier Hände an den vier Unterarmen des PRÄSIDENTEN wie der Scharia gemäß abgehackt für den Diebstahl des Lebens von einer Million Menschen wurden an den Enden der Paradestraße paarweise montiert und kreuzten ihre Säbel zu Triumphbögen hoch über der Mitte
unseres Lebens
ich ließ die Arme sinken Muna so etwa kann ich es beschreiben schon vor dem Ende des Kriegs ging ich mit hängenden Armen durchs Leben durch den Tod auch wenn ich verband pflasterte nähte arbeitete bis ich im Stehen hätte schlafen können brauchte ich die Arme gar nicht zu bewegen es war (und ist) eine Art von Befreiung und Leichtigkeit darin der PRÄSIDENT riss die Säbel empor und feierte seinen Sieg über das Leben seiner Untertanen mit
Gas
über Halabja zehn Jahre später erst (in Paris) las ich Genaueres über die an einem Tag ermordeten 5000 Kurden so viele
Nachrichten
die den Weg nicht mehr fanden nach Bagdad in unser
schäbigeres ärmlicheres Leben in dem ich die immer schäbigeren ärmlicheren Patienten verarztete wehrlos
heilend so gut ich es eben verstand
Watan (Heimat)
Bohre ins Herz dir das Eis
Glühender Tage, du siehst:
Niemand von außen begreift,
Dass ihr Schmerzen noch fühlt.
Hitze ist Kälte und weiß
Schwärzeste Nacht noch, es schließt
Eng sich um alles der Kreis
Lauf! Doch du bleibst, wenn du fliehst.
Eric
wird in fünf Minuten kommen mein Rucksack steht schon im Flur er ist leicht die fehlenden Studienbücher scheinen ihn anzuheben es sind fast nur T-Shirts und Badesachen und Amandas blauer Pullover
wenn Eric pünktlich kommt bleibt uns
eine halbe Stunde wenn
ich darauf bestehe den 12-Uhr-Zug zu nehmen was ich nicht müsste und doch will oder nicht wenn ich vor den großen Spiegel im Bad trete sehe ich nur ein schmales vielleicht ganz hübsches gerade Frau gewordenes Mädchen das mir unscheinbar und streng (mein zurückgebundenes Haar) vorkommt ich sitze und träume mit den Ellbogen auf den Knien mit den noch nicht über die Mitte der Oberschenkel gezogenen Jeans starre ich dann auf meinen roten Slip als trüge ihn eine andere die schmalen Streifen wie Flügel über meiner Haut meinen Leisten ein
Feuer-
Vogel mit gebogenem weichen gespaltenen
Schnabel
ich blute nur noch schwach also
muss ich mich fragen weshalb ich Eric gestern Abend nicht eingeladen habe nachdem Seymour nach Manhattan gefahren ist es wäre das erste Mal gewesen dass ich einen Jungen in diesem Haus bei mir hätte übernachten lassen und das erste Mal mit Eric aber es hätte wohl nicht funktioniert (oder nur: funktioniert) im
Haus meiner Mutter
durch dessen Vorgarten zur Düne hin um drei Uhr morgens der Liebhaber stolpert (Lesley angetrunken und ausgetrunken) ich kann nicht
nur einfach nicht tun was
sie tut
sagt Eric und hat recht aber das hier (das blendend helle Bad die weiße Treppe das Wohnzimmer mit der hohen Fensterfront mein geräumiger Himmelskerker mein Seeräuberinnen-Nest mit Meeresblick) ist meine Verbannungslandschaft mein Pubertäts-Exil der
hölzerne Palast in den mich der Dschinn verschleppt hat damit ich zwei Jahre lang Gedichte in den Dünensand schreiben konnte und jeden Tag tausend weiße Gedankenstriche auf die salzige blaue Folie des Atlantik
weine rede flüstere
in der Küche bei Mrs Donally das Schachbrettmuster des Fußbodens die Wärme das von Halogenlämpchen erzeugte stets gleichmäßig strahlende Atelier- oder Filmstudiolicht des Erdgeschossraums in dem ich morgens allein mit der Haushälterin frühstückte und lange Nachmittage und Abende saß
getröstet immer
ruhiger werdend von Monat zu Monat
weil ich mich aussprechen oder auch schweigen konnte endlich kochen lernte und Iris (Mrs Donally) so viel zu erzählen wusste
sie ist wirklich interessant nicht wahr sagte Seymour der
auch damit
meinen Widerstand gegen ihn (den zweiten Mann meiner Mutter) stark herabsetzte er mochte Iris wie ich sie mochte als ich begann sie zu begreifen eine robuste und ganz und gar nicht schöne Frau deren Tochter seit langem in Brooklyn lebte und Kriminalromane schrieb während sie selbst ihr ganzes Berufsleben lang alle drei Jahre den Arbeitgeber und die Stadt manchmal auch das Land wechselte
einfach aus Prinzip weil mir sonst langweilig wird
(sagte sie) eine kleine Wohnung in Queens in der sie ihre Schätze verwahrte und drei Koffer mit denen sie reiste reichten aus
man muss nicht schön sein
man benötigt keinen Uni-Abschluss
man braucht keinen großartigen Beruf
keinen Ehemann keinen Verein kein Auto keine Religion nur
den Mut ins Leben zu steigen wie in die Brandung an einer Felsküste es ist kalt frisch und nicht ungefährlich aber
du lernst schwimmen
manchmal möchte ich
so weit kommen so gelöst sein wie Iris so ohne das Bedürfnis nach einem Rahmen einer Organisation einer Wissenschaft oder nah lebenden Familie (in Kalifornien weiterstudieren?)
in der Mitte des Wohnzimmers
stehe ich in Jeans und hellbraunem T-Shirt in meinen schwarzen Schuhen in denen ich sowohl lange auf Straßenpflaster gehen als auch auf Parkett tanzen kann könnte es ist noch heller und sonniger geworden so dass sich Meer und Himmel aufzulösen scheinen wie auf einem überbelichteten Foto ich stand noch nie in Straßenschuhen Tanzschuhen ganz allein an dieser Stelle vor einer Woche hatte Seymour wichtige Leute aus seiner Branche eingeladen
Ölmänner
die mit ihren Weingläsern klirrten nachdem sie die ruinierte Garage auf der anderen Straßenseite bestaunt hatten (verbrannte Erde das übliche Nebenprodukt ihres Geschäfts hier aber nur) das
Leichtsinnswerk meiner Mutter
vor einem Jahr
fuhr ich mit meinem Vater nach Boston und schämte mich plötzlich für seinen alten Ford den wir mit meinen Habseligkeiten vollgestopft hatten für die ich mich plötzlich auch schämte ich verstand mit einem Mal dass ich gar nichts oder kaum etwas besaß so wenig
Dinge
dass ich so leicht
zu beseitigen war dachte ich dass ich nur mich hatte und dieses wie
unzerstörbare
Jungsein
das ich in Eric wiederfinde einen Spiegel der mich umarmt in einer neu zu gründenden Welt die jähe
Abstoßung
der Abschied Aufbruch
vor einem Jahr erschien mir Martin seltsam fremd als er den alten PC in mein Studentenwohnheimzimmer schleppte und Bücher- und Kleiderstapel der Herr Professor in Jeans und UMass-Sweatshirt wie ein Möbelpacker der einmal etwas Besseres gewesen war oder hatte sein wollen
er ist absolut interessant
flüsterte Julia mir zu (als wäre er Mrs Donally) aber sie meinte es in erotischer Hinsicht er hatte ja auch tatsächlich ein neues Liebesleben bella Luisa seit drei Jahren Schwester am Anfang waren sie so verklemmt es ist albern und peinlich wenn dein Vater glaubt du verstündest nichts er wäre so dezent so rücksichtvoll und geschickt dass er dir vormachen könnte noch nach sechs Jahren der Trennung wie ein Mönch zu leben und nur der armen Luisa ein wenig helfen würde die großen runden Ohrringe zu schleppen wir sind aber die
Seherinnen
die Spinnerinnen der Geschichten in der Zeit aus der Zeit heraus ich sehe nur nicht
das Jetzt das mich unmittelbar umgibt meine
gläserne federleichte fließende Gegenwart
stattdessen spüre ich dieses Weggefallensein der Wände der Räume in denen ich etwas war das ich zu kennen glaubte und alles erscheint mir gleich weit entfernt (das Zimmer in Amherst die seltsame Schiffskabine auf dem Ozean der Wissenschaft in Boston die ich mir mit Julia teile das Eckzimmer im Sommerhaus der Garten der Charles River der Atlantik)
es klingelt und als Eric den Flur betritt bin ich
fremd und hemmungslos für zehn Minuten so dass wir durch den Flur purzeln und im Wohnzimmer auf dem Sofa uns glücklich verrenken bis zu einem Punkt an dem Eric spürt dass mir einfällt
wo ich bin
jetzt sehen wir aus als hätten Räuber versucht uns die Kleider vom Leib zu reißen (wobei es allerdings unverständlich ist weshalb ihnen meine Brustwarzen und Erics kleinerer bläulicher Kopf über dem Bund seiner Unterhose immer noch entgegenkommen wollen) und es scheint auch gleich als müssten wir fliehen (angetrieben von der langen Mittagspause im Fahrplan der Long Island Rail Road) so rasch ordnen wir uns und greifen nach meinem Rucksack verlassen das Haus
Eric
ist ein einfaches vollkommen müheloses leichtes
Verstehen
es ist nicht nötig zu sagen was ich erst allmählich begreife nämlich dass ich wohl
die Schwebe
aufrecht — waagerecht — die Möwe auf einer unsichtbaren nervösen kippeligen Schaukel über den Dächern der Holzhäuser
halten will das
Versprechen unseres Aufbruchs das Gefühl dass alles dass das Bestmögliche zwischen uns geschehen wird morgen nein wohl frühestens in drei Tagen wenn wir mit dem Greyhound-Bus Los Angeles erreicht haben werden auf dem Weg zum Bahnhof trägt Eric meinen Rucksack ich sehe mich so klar und deutlich noch einmal im Wohnzimmer des Sommerhauses ganz genau an der Stelle an der ich vor Erics Läuten stand als wäre ich noch dort
in einer anderen Zeit aus der ich nicht mehr
fliehen kann
Leave your shadows
heißt es im Refrain des ersten Songtextes den ich für Eric geschrieben habe er ist nicht sonderlich gut geworden aber wenn Eric das Lied singt wird er so stimmig und scheinbar unabänderlich dass ich heulen könnte aber das ist nicht nötig an diesem sonnigen Nachmittag in East Hampton an dem wir Hand in Hand zur Bahnstation gehen ich bin noch immer erregt und gespannt und zufrieden zugleich
Erics dunkelblonde Haare wehen ihm in die Augen die Handbewegung mit der er sie aus dem Gesicht streicht wirkt unbeholfen wegen des Rucksacks beinahe wie die Bewegung eines Tiefseetauchers oder Astronauten
in der hellen Sommerluft durch die wir schwimmen
oder schweben und es ist auch so dass ich jetzt konkret zurück möchte auf die Couch im Wohnzimmer und das vollkommen Wirkliche möchte bis zu diesem unterirdischen Schlagen Zucken einer fremden wilden Ader in mir
woher
nimmt er nehme ich das alles wir sind doch nur Fahrrad gefahren haben uns einen Frisbee zugeworfen schwammen faulenzten am Strand lasen uns vor sangen zu seiner Gitarre er hat einen Platz für Jazz- und Sologitarre an einem Konservatorium in L.A. er will in einer Band spielen er will sich ablösen von East Hampton von seiner überherzlichen ondulierten Mutter und seinem Vater dem hohen Polizeibeamten und seinem älteren Bruder der in der Army dient und stolz darauf ist den allerneuesten High-Tech-Panzer (STRIKER) zu fahren
wir sind nicht
irgendwo
sondern in Amerika also
glauben wir an uns Eric so hat man uns aufgezogen mit der Hand auf der Brust die Flagge der Freiheit besingend wir müssen uns selbst definieren und irgendetwas in Erics lässiger und doch bestimmter Art sagt mir dass er nicht nur ein Traumtänzer ist sondern immer Mittel und Wege finden wird wenigstens einen Teil der Träume zur Erde zu holen
die du doch studierst
er liebt es das zu sagen und auch dass die Erde sogar in Kalifornien existiere ja dass ich sie gerade dort wo sie ja äußerst lebendig sei noch besser erforschen könne er sagte auch er bräuchte die Gravitation meiner Bücher und meine deutsche
Nach-Denklichkeit
(das Wort brachte ich ihm bei)
im Sonnenlicht
lehnen wir aneinander am Bahnsteig
in unseren Körpern lodert eine Flamme auf
die überschlägt
und uns verbindet als hätten wir keine Kleider keine trennende Haut
schon fährt der Long-Island-Zug ein das Quietschen Fauchen und Zischen eines höheren (stärkeren) Wesens überragt uns (nur eine Maschine) küss mich Eric
öffne die Augen
die gelb gestreifte Front der Lok dann
eine verschmierte blaue Eisenwand
Es sind nur noch zwei Meilen zu laufen
ein (Sabrinas) Kinderleben lang benötigte ich bis mir das Denken in Meilen Fuß Zoll selbstverständlich wurde die Bürotürme der UMass ragen wie Burgzinnen hinter fahl himbeerroten Sportplatzumzäunungen auf hinter denen sich undeutlich einige Frühsportler bewegen Studenten und Oberschüler wie in großen Netzen gefangen von schrecklichen Fischkuttern der Luft die Bilder
flirren vorbei verschwimmen verwischen zu
Lichtfiguren der Regen an jenem Tag vor einem Jahr an dem ich Sabrina nach Boston fuhr
endgültig wie ich immer wieder und wieder
denken muss
hörte plötzlich auf die Sonne brach schier gewaltsam hervor auf dem Fenster der Beifahrerseite das Sabrina zur Hälfte heruntergelassen hatte sah ich mit zerlaufenen Wassertropfen und kondensiertem Dampf gemalt
in dieser Vergangenheit den Spiegel einer Vergangenheit
die Silhouette der Alhambra wie Luisa und ich sie einen Monat zuvor vom Albacín-Viertel aus (auf einer Steinmauer neben einer weißen Kirche sitzend) erblickt hatten mächtig und doch gelassen auf ihrem ockerfarbenen Felssockel ruhend ich dachte mir damals bezüglich dieses Urlaubs was Sabrina mit Blick auf unser Haus ihre alte Schule das ganze hinweggleitende vertraute Amherst meinte nämlich dass man gar nicht mehr heraus müsse dass man ebenso gut immer bleiben könnte ein naiver Gedanke den schon ein Blick über die Schulter widerlegt vom Heck her über die nach vorn geklappten Rücksitze des Ford bis zu den unwillig nachgebenden Lehnen der Vordersitze türmen sich die Kleider- und Bücherkartons Sporttaschen Plastiktüten (Sabrinas Schlittschuhe in bedrohlicher Nähe zur Glasscheibe des in eine Daunenjacke gesteckten alten PC-Monitors es wurde Zeit für ein Notebook)
es ist wiederum
ein früher Septembertag
ein später Sommertag
kälter nässer gleißender (blendende Lichtschneisen über dem Highway Nr 90 auf den wir bei Springfield auffahren) als der heutige bald in der Erinnerung erstarrende Tag meines letzten Laufes für so lange Zeit
der Lauf ist
noch nicht zu Ende
das letzte Jahr ist
noch nicht angebrochen
die Grenzübertritte haben noch nicht einmal Silhouetten im Nebel der Zukunft
es würde ihr helfen sagt Sabrina dass wir gerade erst aus Europa zurückgekommen seien nach der fünfwöchigen Reise wäre sie einfach unterwegs geblieben habe sie ihre Koffer nur wieder umgepackt ich sehe unter dem Vorwand die rechte Spur beobachten zu müssen zu ihr hinüber erschrecke gleichermaßen über ihren Mut ihre Leichtigkeit den noch so mädchenhaften schmalen Körper an meiner Seite ich würde am liebsten das Steuer herumreißen und sie zurück nachhause fahren ich muss die klügere Instanz in mir wiederherstellen die es vor Kurzem noch lieber gesehen hätte wenn sie zum Studium weiter weggegangen wäre (nach Kalifornien wenigstens oder sogar nach Berlin) als sich Boston auszusuchen gewissermaßen den geografischen Kompromiss zwischen der Villa auf Long Island und dem Holzhaus in Amherst
in Cambridge
wo ich in einer Frühstückspension übernachtete um unseren Abschied hinauszuziehen offiziell aber nur wegen des geplanten Mittagessens am nächsten Tag mit Amanda und
dem Ölmann
wie Sabrina und ich ihn immer nannten als bestünde er von Kopf bis Fuß nur aus einer viskösen schwarz glänzenden Masse oder spiegelnden Flüssigkeit vielmehr die durch ein Wunder (der Petrochemie) zusammenhielt zu menschenähnlicher Gestalt
in Boston und Cambridge hatte sich der frühe Septembertag im Jahr 2000 zu einem klassisch schönen Sommertag entwickelt (übertrieben dreidimensionale Marmorwölkchen wie fliegende Steine vor dem Hintergrund einer stahlblauen Himmelsfläche) in einem neuen Jahrtausend ihr Studium zu beginnen erschien Sabrina weniger bemerkenswert als mir (der ich oft daran gezweifelt hatte so lange zu leben)
die ersten Stunden
betäubten wir uns mit Organisation schleppten Kartons packten aus räumten ein und ich versuchte nicht zu eifrig zu wirken um nicht den Anschein zu erwecken Sabrina loswerden zu wollen auch wenn ich in dem Augenblick in dem ich das Studentenwohnheim am Charles River sah (eines jener nüchternen fünfstöckigen Gebäude welche die klassische Brownstone-Architektur nachahmen nur etwas kantiger und transparenter so dass nichts verloren und nichts gewonnen scheint) den nicht wieder zu schließenden Riss der Trennung spürte
der noch einmal zugewachsen war als sie mit sechzehn beschlossen hatte zu mir nach Amherst zu ziehen und dort (zuhause) die Highschool zu beenden plötzlich so konzentriert und engagiert dass ihre MIT-Bewerbung angenommen wurde
der Riss ist nichts weiter als
das notwendigerweise vollkommen eigenständige Leben des anderen des eigenen Kindes
deiner Tochter die auf einem Kiefernholzsofa an deiner Seite zwischen halb ausgepackten Umzugskartons die Listen des MIT Housing studiert What’s in the room: Extra-long bed — Mattress — Desk — Desk-Chair — Bureau — Phone — Ethernet-Access — Waste baskets … What to bring: Adress book — Alarm clock — Aspirin or other
Pain
reliever
Sabrina greift nach ihrem einen Popsong dudelnden mobile es ist ihre Mutter die noch einmal unseren Termin für den kommenden Mittag bestätigt dessen Sinn mir unklar ist dem ich aber auch nicht ausweichen möchte (eine der Mutproben ähnelnden Amanda-Inszenierungen von Patchwork-Familien-Harmonie) und als Sabrina auflegt versetzt mich das Nachklingen von Amandas Stimme in dieser Umgebung so lebhaft in die Zeit in der wir gemeinsam in einem Wohnheim-Zimmer hausten büffelten und uns liebten dass es mir so vorkommt als besuchte Sabrina mich und nicht ich sie in ihrer neuen Behausung und das Gefühl hält noch an
als wir aufstehen das Zimmer verlassen und die Gerätschaften der Gemeinschaftsküche besichtigen im Fahrstuhl erscheinen mir Studienanfänger wie ich sie seit so vielen Jahren in meinen Vorlesungen und Übungen sehe fast so mysteriös und interessant wie sie Sabrina wohl vorkommen (immerhin sind es künftige MIT-Leute und nicht Frischlinge unserer Wald- und Wiesenuniversitäten)
noch während wir in die Tiefgarage rumpeln
hält die illusionäre Zeitverschiebung an ich fühle mich wie ein älterer Kommilitone dieser Freshmen deren Eltern und Freunde ebenfalls Kartons CD-Player Kleiderbündel Baseballschläger und Fernsehgeräte in das Heim schleppen am Labours Day
gegen Abend kommt dann auch Sabrinas Zimmergenossin Julia an eine ironische Rothaarige mit trägem fülligen Körper und schnellem Mundwerk wir besuchen einen Irish Pub auf dem Campus und noch immer und obgleich oder weil die beiden jungen Frauen sich blendend verstehen und lebhaft miteinander reden kehre ich nicht so recht in mein Professorenalter zurück sondern schwimme in einer diffusen Zeitzone zwischen den Studenten mit ihren flackernden mobiles den Guinness-Reklamen den Schwarz-Weiß-Fotografien die das Leben der irischen Einwanderer in halb ironischer halb glorifizierender Weise in die vage Gegenwart projizieren
am nächsten Tag
frühstückte Sabrina schon allein mit Julia und ich erwachte in meiner Pension in der Harvard Street
plötzlich 52-jährig mit einer jähen Empörung als sei ich im Zeitraffer in ein unerträgliches Alter geworfen worden Hochzeit Promotion Alkoholsucht und Scheidung lagen schon hinter mir (Reihenfolge daher egal) man hatte mich mit dem eigenen Leben abgespeist oder gar betrogen
aber als ich gegen neun Sabrina treffe um zu sehen wie rasch sie und Julia sich in ihrem Doppelzimmer arrangiert haben kann ich mich wieder mit mir abfinden der mächtige alte Trost ein Kind zu haben befreit mich von mir und mit dem Blick auf die wackeligen Regale und kleinen Schreibtische überkommt mich auch die Erleichterung
das alles
nicht mehr nicht noch einmal
leben zu müssen
Sabrina würde vielleicht mit gespannterem Interesse und höherer Energie als es mir einmal möglich gewesen war (vor dreißig Jahren in Bremen) ihr Studium beginnen neben der fülligen witzigen fraulichen Julia wirkt sie entrückt wie eine herabgesegelte Fee die ihre Zauberkräfte mit MIT-Spezialwissen untermauern möchte es sind die Earth, Atmospheric and Planetary Sciences denen sie sich verschreiben will zu meiner Verwunderung als ein mit Literatur aufgewachsenes Kind das mit fünfeinhalb Jahren lesen konnte und noch heute Gedichte schreibt (die noch als junge Frau Gedichte schrieb) womöglich braucht die künftige Lyrik genauere Kenntnisse über die Tektonik der Erde die Physik der Ozeane die Bewegungen der Luft
womöglich braucht Sabrina auch das Profane Moderne entschieden Diesseitige des MIT mit seinen Glas- und Betonbauten seinen eingeengten Grünflächen und kalkulierten Passagen in kahlgeräumte Innenhöfe den modernisierten Backsteinbauten und rezivilisierten Exponaten der wüsten Architekturmoden der sechziger und siebziger Jahre zwischen denen manchmal noch die Erinnerung an die Barackenbauten der Vierziger aufschimmert als man hier die Funkcodes deutscher und japanischer Kriegsschiffe knackte es muss ein heilsamer Schock oder eine Art groß angelegter
Ernüchterung
sein was sie hier sucht
Kontakt mit der technologischen physikalischen subkutanen härteren Unterschicht der Realität
die sie nicht finden würde ginge sie immer nur wie jetzt neben mir
in traumhafter Unschärfe zwischen den gepflegten Vorgärten den roten und weißen blauen blassgrünen Holzhäusern frisch gestrichenen Veranden gestutzten Straßenbäumen ondulierten Büschen dezenten teuren Gemeinschaftswohnanlagen der Harvard Street zum Harvard Square der ihr immerhin gefällt von einem Caféhaustisch aus betrachtet
während sie mir nur einen Gefallen zu tun scheint als sie vorgibt auch den ehrwürdigen Campus sehen zu wollen (der reichsten Universität der Welt) und wir finden wie leicht Betrunkene oder Gleichgewichtsgestörte keinen rechten Halt auf den strahlenförmig angelegten Wegen des Innenhofs ich zeige ihr die Freshmen-Unterkünfte die den ihren am MIT ähneln aber hier wie Küken um die Glucke gelagert sind wir polieren die linke silbern glänzende Schuhspitze des bronzenen John Harvard (wie alle Glück wünschend das es nicht gäbe hätten es alle) wir sehen kurz in den fantastischen Lesesaal der Widener Library hinein und stehen vor der Gedenk-Nische den frischen Blumen dem Ölgemälde des ehemaligen Studenten dessen Mutter die Bibliothek stiftete nachdem er beim Untergang der Titanic ums Leben gekommen war
er soll
erklärt uns Judith eine sechzigjährige Kollegin die hier Germanistik lehrt und wie durch Zauberhand erscheint
verbotenerweise Bücher der Harvard-Bibliothek mit auf den Ozeanriesen genommen haben
Judith glaubt natürlich Sabrina beginne hier das Studium der Germanistik und Literaturwissenschaft in Harvard aber dann bewundert sie Sabrina ausdrücklich für die Earth Sciences am MIT und erzählt die Geschichte vom ewigen Speiseeis das es auf Anordnung der Mutter von Harry Elkins Widener in der Mensa immer geben müsse (da es sein Lieblingsdessert gewesen sei)
welcher Nachtisch für brennende Türme für die Titanic der Luft anstelle einer Bibliothek wenigstens ein Buch
neben ihrer Mutter
wirkt Sabrina nicht mehr so zerbrechlich sondern kindlich robust und auch etwas trotzig ein Reflex darauf dass Amanda in Jeans und legerer Sommerbluse ihre eigene Collegegirl-Vergangenheit zitiert (dabei ist sie auf jene irritierende Weise mager und sehnig geworden die blonden Frauen ihres Alters etwas Scharfkantiges fast Schneidendes gibt)
schweigend
neben Seymour deVries auf dem Beifahrersitz eines großen fetten dennoch irgendwie hybrid oder sonst wie energiesparend betriebenen Riesen-Rangers oder Monster-Rovers zu sitzen
während meine Ex-Frau und meine Tochter sich auf der Rückbank aufgekratzt immer vergnügter fast schon hysterisch laut unterhielten
war nicht weiter schlimm (bloßer Auftakt der Mutprobe)
wir segelten wie auf einer Yacht im Strom kleinerer Boote über die Harvard-Bridge auf die Commonwealth Avenue und wieder zurück über die Longfellow-Bridge weil Seymour auf der Suche nach einem legendären Restaurant sich verfuhr oder es genoss uns ausführlich durch seine Geburtsstadt zu chauffieren uns gleich dreimal über den Charles River schweben zu lassen so dass wir die glitzernde kühle komprimierte Business-Energie der Stadt spüren konnten ihre gemäßigte Hektik die Coolness eines bulligen athletischen aber gepflegten Bankers in kurzem weißen Hemd oder einer von ihren Buchführungstabellen nicht völlig unverführerisch aufblickenden nadelgestreiften Lady (matronenhaft aber fest) zu viele Fernsehfilme selbst in meinem Kopf es waren nur der Fluss die Parkstreifen an den Ufern die Hochhäuser der Back Bay
Sabrina (ihre kühle weiche Hand die sie auf meine Schulter legte so dass sie leicht meine Halsseite berührte so oft auf diese Weise so beiläufig) erinnerte mich daran dass wir sechs Wochen zuvor erst
von Europa her kommend
hier gelandet waren
letzte Sicht auf den Fluss dann Autobahnschleifen dieses Mal die richtige Ausfahrt und bald darauf die vornehme britische Kleinstadtwelt von Beacon Hill durch die uns Seymour zu Fuß führte (nachdem er seinen Straßenpanzer mit Hilfe piepsender Kleincomputer und denkender Minikameras hatte einparken können) das ist sterbenslangweilig hier sagte Sabrina so superenglisch was für ein Kitsch
wärst du je in ein Neu-Deutschland gezogen fragte Amanda plötzlich und ich sagte natürlich nicht schließlich seien wir doch dort gewesen als Sabrina sechs Jahre alt war am Kontrollpunkt Friedrichstraße im Tränenpalast als wir nicht wussten ob wir uns in a) Deutscher mit Green Card b) US-Bürgerin und c) Sabrina trennen mussten ob ich immer noch so sehr den Wald liebe (in den sie mich doch geführt hatte
behalt es für dich)
wie Thoreau
sagte Seymour ich habe ihn nie unsympathisch gefunden er ist kein Bostoner Brahmin und auch kein Nachfahre der irischen Einwanderer (die ehemaligen Underdogs die schon längst in der Stadt den Ton angeben) seine Eltern sind aus Rotterdam geflohen kurz bevor die deutsche Luftwaffe die Stadt bombardierte ihr das Zentrum das Herz herausriss er erinnert (blond sommersprossig blauäugig) an einen Holländer (oder Hamburger oder Stockholmer) Seymour ist unser Ölmann obwohl er etwas angenehm Trockenes an sich hat eben jene Yachthafen-Noblesse die ich immer an Amanda bewunderte es wäre leichter wenn man seinen erfolgreichen Nebenbuhler einfach nur hassen und meiden könnte es bliebe einem diese bedrückende Affinität und Nähe zu den Liebeswahlen des ehemaligen Partners erspart
man bräuchte auch solche kultivierten Mittagessen nicht wie eben dieses hier in einem Restaurant in der Chestnut Street das wir dem unauffindbaren Geheimtipp dann doch vorziehen
brauche ich
ertrage ich jetzt
das letzte gemeinsame Mittagessen bei dem ich wenig sage und noch nicht einmal gut zuhöre die im Nachhinein so unverzeihliche Geistesabwesenheit teile ich wohl mit Amanda vielleicht dachte sie wie ich an den Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße im August 1988 diese Selbstverständlichkeit mit der ich damals Amandas Ellbogen berührte Sabrinas Kopf drückte sich Schutz suchend gegen meinen Bauch wir nahmen den Zugang für US-Bürger und wurden sehr höflich behandelt
ein Aufflackern vielleicht in Amandas Augen eine kurze Nachgiebigkeit gegenüber dem nostalgischen Ausflug eine knappe ironische Parade etwa so als würde sie einem alten männlichen Bekannten gelten der für einen Augenblick aus seiner Freundesrolle fällt und ihr einen zu tief gehenden Blick zuwirft
in der Vergangenheit
gibt es keine Luft für uns
ganz gleich wie verzweifelt die Zukunft dort atmen möchte sich dort noch einmal und viel besser umsehen will immerhin habe ich ein sehr klares Bild meiner geschiedenen Frau an jenem Restauranttisch mir gegenüber zur Mittagsstunde ein stehendes und doch flackerndes Kippbild der Empfindung die für einige Sekunden Amanda in eine gar nicht mehr angebrachte lebendige Nähe bringt um sie gleich darauf weit abzurücken in die wunderliche und fast schon wieder bewundernde Distanz eines fremden Blickes auf eine energische Geschäftsfrau der man an dem Kontrast zwischen professionellem Make-up und schlichter Garderobe anmerkt dass sie ihrer Tochter einen Gefallen tun will eine jener vordergründig kühlen Blondinen deren träumenden Körper man sich selbst dann nicht recht vorstellen kann wenn man ihn eine halbe Stunde zuvor nackt in den Armen hielt scheinbar so gepanzert so
unverletzlich
jetzt
im Sommer
wo ich darunter leide dass ich Sabrina nicht so klar an dem Tisch sehen kann wie ihre Mutter weil sie links neben mir saß
ja dass ich
mich auch kaum an ihre Worte erinnere an ihre Überlegungen und heftigen Einwände meine (nostalgische) Abwesenheit und mein väterlicher Stolz nahmen nur ihre Gesten wahr und die Wirkungen die ihre Argumente auf den mir schräg gegenüber sitzenden Ölmann hatten dass er immer wieder beeindruckt dass er amüsiert und erstaunt bisweilen sogar betroffen aussah das
reichte mir schon aus
und verrückter- (später vielleicht verständlicher-)weise
behielt ich genau im Gedächtnis was er (der ebenfalls am MIT studiert hatte der sich mit einer für mich doch schwer erträglichen Mischung aus Expertendünkel und angemaßtem Vaterstolz meiner Tochter zuwandte) ihrer Kritik an der ölfressenden amerikanischen Gesellschaft entgegenhielt es hämmert noch heute in meinem Kopf (als wäre er schon jene schneebedeckte Gestalt im Sturm und schrie verzweifelt in sein Mobiltelefon) was er doch ganz ruhig ironisch geduldig Sabrina vorhielt dass es niemand genau wisse dass Öl eine begrenzte Ressource wäre dass andererseits historisch erwiesen sei wie die Magie des steigenden Preises immer wieder neue Techniken neue Quellen neue nunmehr profitable Erschließungsmethoden hervorgezaubert habe und verändertes Konsumentenverhalten bewirken könne sogar in den USA
Öl ist tief in der Erde vergraben so einfach so schwierig ist das (sagte Seymour)
halte dich an die Dinge
die vor dir in der Luft vergraben sind (im Vakuum der Vergangenheit)
Amanda und Sabrina an jenem helllichten Tag von dem ich lange Zeit dachte er müsse einer meiner glücklichsten werden da
Sabrina ihr Studium begann
Auf dem Heimweg kurz vor dem alten Haus meines Urgroßvaters das mit seinen schmalen Fensterschlitzen und dicken kühlenden Mauern wie eine kleine sandfarbene Burg oder ein Teil eines Indianer-Pueblos der Hitze trotzt
stolpert Achmed gegen mich
gejagt von seiner älteren Schwester Hind der er (wie sie entrüstet versichert) die ihr zustehende Portion Baklawa stibitzen wollte und ich nehme den Kleinen mit zu Farida in die Küche wo es immer etwas Süßes für ihn gibt
beim Wiederhinausrennen rempelt er mich erneut an ohne Dank quiekend vor Freude ein lustiges Räubergesicht mit Zahnlücke im oberen Kiefer und dicken Augenbrauen seine weichen Knochen schmerzen nicht beim Aufprall der energische Kinderkörper weckt mich nur auf und bringt mich in die Wirklichkeit
zurück
in Faridas Küche zu Faridas lässigen akkuraten Bewegungen wenn sie kocht
Zwiebeln Petersilie Minze Knoblauch hackend mit Blick auf das schattige Geviert des Innenhofs in dem sie ihre Zierpflanzen und Kräuter zieht
auf einer Kante des Tischs liegt ein Buch das sie gerade übersetzt sie steht oft ganz abrupt von ihrer Schreibtischarbeit auf und beginnt zu kochen das Kochen
bringt dich immer wieder zurück auf die Erde
eben dahin will ich wenigstens für einige Stunden auf die
Erde der Erde
denn schließlich ist der Major wirklich seine kräftige Hand am Hals meiner Schwester (und wenn sie das braucht sagt Huda
kichernd
in meinem Kopf) und meine ganze
rechthaberische Fantasie
erdrückt mich beschwert mich klagt mich an als hätte ich durch sie erzwungen erzwingen können was wirklich geschieht ich wollte es wäre
nichts
Faridas Küche
schneide Kürbisse knete Teig zupfe Blätter hacke Kräuter zerteile Fleisch wasche Reis und Bulgur koche Tee
so oft finde ich neben Farida wieder zurück
in die Familie
in der Küche treffen wir uns wie an einem wirklicheren Ort selbst Tarik fällt ganz automatisch in den Rhythmus der Frauen schneidet Gurken Tomaten Auberginen Kohlblätter mit seinem Lieblingsmesser das er abwechselnd Die Machete oder Das Skalpell nennt und selbst Sami tut in der Küche was man ihm aufträgt ohne zu murren wenn auch ungeschickt und sehr schläfrig im Vergleich zu dem was seine Finger auf einer Computertastatur bewerkstelligen können rühre die Harisse dabei kannst du programmieren sagt Farida lachend
Yiom was kochen wir Yiom
das Kochen ist immer eine Rettung ein Anker für das irre fantastische Schiff
Kardamom Pfeffer Koriander Cumin
es gibt immer weniger Fleisch und Fisch aber Farida kennt auch so genügend Rezepte heute etwa ist es ein Auberginenauflauf mach einen Orangensalat dazu wie du es von Tante Nawal kennst und während ich drei Orangen schäle und in dünne Scheiben schneide rote Zwiebeln häute und in feine Ringe zerlege schwarze Oliven darübergebe Minzeblätter zupfe und Öl in das ich einen Teelöffel Cumin gerührt habe (kam Salz dazu?) kann ich mich wieder einmal fragen welche Mutter ich lieber hätte eine die erfolgreich mit den Wölfen spielt oder diese ruhige weiche blasse Frau in dem grünen von einer Goldlitze gesäumten Hauskleid die einmal Lehrerin war bis alle Lehrer in der Partei sein mussten die einmal für einen großen Verlag Romane übersetzte bis fast nichts mehr übersetzt werden durfte die sich ganz auf die Familie die Verwandten die Küche und die Bücher zurückgezogen hat
und doch
das ist was bleibt denke ich immer und es scheint mir oft dass Farida das ähnlich sieht und dass sie daher ihre Kraft nimmt und den Stolz sie hat nichts Eingeschüchtertes an sich obwohl sie doch geschlagen ist und begrenzt auf das alte Haus in Betawiyn und die Häuser der Nachbarschaft nur selten besuchen Tarik und sie noch alte Freunde (sofern diese noch in Bagdad wohnen und nicht in Amman Beirut London Berlin Köln)
einmal kämpfte mein Vater mit Jasmin
in Paris
ich habe es bemerkt aber nicht verstanden ich war erst elf
was soll ich dieses Krankenpflegebuch noch weiter übersetzen fragt Farida wenn es die Hälfte der Medikamente und Pflegemittel überhaupt nicht mehr gibt God bless America
was macht Huda fragt Tarik die lustige Haddawi mit ihrer Super-Mutter dem achtsprachigen Weib mit vier Zungen und sechs Armen wusstest du dass sie vergangenen Monat in Uruk das Skelett eines königlichen Menschenaffen gefunden haben der bei der Rekonstruktion mit Knetmasse genauso aussah wie Saddam
er spürt
den Schatten
der auf mir liegt weil ich von meiner Schwester geträumt habe aber was
weiß ich schon
ich spüle Geschirr mit Farida während Sami in seinem Zimmer genau über uns mit Microsoft dahinfliegt wie
ein Fliege im Glas (die falschen Flugzeuge die verzweifelt von innen gegen die Glasscheibe des Monitors anstürmen)
Tarik will einen Dichterfreund auswärts treffen und verschwindet nach dem Kaffee
wir lesen ich muss nicht fürchten dass Farida plötzlich auf Jasmin zu sprechen kommt zwischen Farida und Jasmin scheint es kaum mehr ein Band zu geben es fällt so selten noch ein Wort über meine große Schwester die noch alles tun konnte wovon mir nur zu träumen bleibt die nun auch noch meine Alpträume für sich reklamiert
nachts
winkt mir der kleine Achmed von gegenüber zu (doch noch dankbar) er sitzt auf seinem Bett wie ein struppiges kleines Gespenst in seinem hellen Schlafanzug nur wenn ich an dem schmalen Bettenhaus vorbeigehe in dem wir unsere Matratzen für draußen aufbewahren kann ich das Dach unserer Nachbarsfamilie einsehen die Betten von Achmed Hind Frau Rikabi und ihres selten anwesenden Mannes und Yusufs Hängematte natürlich der Freund meines Bruders eben taucht er hinter Achmed auf und packt und kitzelt ihn aus Verlegenheit weil er sonst wieder einmal bei meinem Anblick glühend erstarren würde
wir können Moskitonetze über unsere Betten ziehen (sie stammen aus England und Tarik pflegt deshalb zu behaupten dass Tony Blair ihn persönlich beschütze) aber wenn der Wind aus dem Osten kommt ist es nicht nötig und Tarik Sami und ich (Farida schläft nie auf dem Dach und Jasmin tat es auch nie) breiten die Netze dann nicht über die in Kopfhöhe angebrachten Holzstangen
Achmed von gegenüber quiekt auf und Yusuf kichert
wenn man sich küssen würde
und aneinander reiben
etwas von der Energie ginge dann vielleicht verloren die in mir kreist die mich spannt und federleicht macht ich schwebe auf dem Dach in den Fieberkreisen meiner Fantasie wie in unsichtbaren phosphoreszierenden Ringen in verborgen glühenden Farben
unter der Haut
Autohupen Stimmen Musikfetzen das Rauschen der Nacht
am frühen Abend war der Himmel an den Rändern blutrot und purpurn
jetzt sieht man wenige Sterne in einem gedeckten pastellartigen bläulichen Grau ein Schleier eine Decke ich habe keine Kraft mehr
für einen Himmelsflug der Tag fällt mir ein an dem wir Jasmin zum Flughafen gebracht haben ich war sechs es war kurz nach dem Krieg am Abend noch kaufte mir Tarik auf dem Suk ein rotes Fahrrad mein Paris mein leichtes rollendes Leben drei Jahre lang fuhr ich um die Neubausiedlung in der stillen vornehmen Gegend in der wir einmal wohnten
steige auf dem Fahrrad in den Himmel
ich könnte es Achmed schenken wäre es nicht während unseres Umzugs verschwunden Schwester vielleicht siehst du es von oben in den Träumen der Vergangenheit über unserer Stadt wenn dein blutrünstiger König in Träume verfallen ist und die Dau über Bagdad hin schwebt
es heißt
der Kalif al-Mansur habe am Ufer des Tigris eine Nacht verbracht und niemals leichter und unbeschwerter geschlafen so dass er beim Aufwachen die neue große Stadt gründete vor über 1200 Jahren die Hauptstadt der leichten Träume oder
gar keiner Träume vielleicht
MTA Long Island Rail Road Departure East Hampton 11:47 AM
wir treffen uns morgen sage ich
klar sagt Eric um zwei vorm Virgin Megastore Broadway Ecke 45. Straße und wir gehen zusammen zur Greyhound Station wie besprochen
der Zug fährt gleich los du stehst auf der Treppe
im Waggon jetzt schon sagt Eric wir treffen uns morgen auch wenn
auch wenn?
wenn ich jetzt noch eine Stunde mit dir fahre oder etwas länger bis
bis?
Babylon sagt Eric dort wohnt ein Freund von mir er wird mich mit dem Auto zurückbringen ich kann dich einfach noch nicht alleinlassen
auf der Sitzbank nebeneinander in Fahrtrichtung über uns mein blauer Rucksack auf der Gepäckablage der obere Teil seltsam menschlich wie ein eingewickelter Kopf ein Zuhörer aus einem anderen Leben stell dir vor jedes Mal wenn du dich schwer fühlst trägst du einen unsichtbaren Zuhörer oder gar Zuschauer und wenn dir ein Stein vom Herzen fällt entschwebt er nach oben in die Gepäckablage es sind wenig Passagiere zur Mittagszeit es scheint als wäre der Waggon nur für uns da (der Zug die Parkplätze die Ladenzeilen dann wieder Sommerhäuser) plötzlich ist alles leicht geworden klar durchsichtig fast und ohne wirkliche
Unterschiede
als könnten wir ineinanderfließen verschmelzen wie Zellen oder Flammen oder durch die Metallwand des fahrenden Waggons hinausrollen wie auf eine Sommerwiese als gäbe es eigentlich gar keine Geschwindigkeiten (Kräfte Spannungen Vernichtungen)
alles (vieles)
fällt von mir ab weil ich erwartet hatte dass die Last in dem Augenblick deutlich spürbar wird in dem ich allein auf der Bank sitze und Eric ein letztes Mal zuwinke während er doch einen Arm um mich legt und mein Ohr küsst die
Möglichkeiten
sind
Zimmer eines Hauses durch das ich leichthin gehe ich hatte Angst heute Abend mit meiner Mutter zu sprechen aber jetzt nicht mehr erzähle ich
ach Eric ich kann nicht sagen wie wichtig es für mich ist dass Du mitkommst es ist schon so dass ich den Eindruck habe Du würdest nach Los Angeles mitkommen obwohl ich mit Dir gehe es war einmal so dass mein Vater nicht mit mir ging
als meine Mutter ihn verließ
das ist absurd kindisch trotzig ich weiß aber ich hatte es dennoch erwartet und als ich ihn zwei Jahre später anrief (weil ich wusste dass er nicht mehr trank) hatte er es begriffen und sagte ich solle nicht nach Amherst kommen sondern er wolle mich abholen
Eric wir sind gar nichts (nur jung)
fangen wir
die Welt an das
funktioniert nein: es geht auf es wird
einfach sein nach Los Angeles zu gehen und zu sehen ob ich dort weiterstudieren könnte wenn Eric dort studiert endlich woanders als in New England in ewiger Hitze ewigem Smog im brütenden riesigen Stahl-Beton-Glas-Brei der Horizontal City gibt es
jede Menge Geologie sagt Eric Erdbeben am San-Andreas-Graben und auch eine ganze Menge Illusionen
Hollywood
im Film meines Lebens ist Kalifornien das Land meiner amerikanischen Großeltern in Palo Alto das Holz-Steinhaus veraltet modern wie aus einem Film aus den sechziger Jahren es gibt einen Duft nach Apfelkuchen und die Erinnerung an völlig einsame und doch glückliche Abende mit dicken Romanen während meine Frühaufsteher-Großeltern schon lange schliefen eine aufgeregte Ruhe die Gewissheit dass ich bald erwachsen sein und außergewöhnliche Dinge erleben würde für die ich hier noch Kräfte sammeln konnte Eric ich kann behaupten dass ich in etlichen sehr schönen Räumen mit hervorragender Aussicht alleine war
in den Semesterferien könnten wir wenigstens zusammensein und gemeinsam reisen oder jobben
wenn du schon nicht von deiner Elite-Uni lassen möchtest was ich gut verstehe obwohl du vielleicht eine Dichterin bist und eine tolle Songwriterin entscheidend ist doch was dir Spaß macht das meine ich wirklich ernst noch können wir bestimmen sagt Eric so wie du den Kopf hebst bist du wieder Katharine Hepburn (der ich überhaupt nicht ähnele) die klassische New-England-Lady mit fünfundachtzig schwamm sie noch jeden Tag im Long Island Sound auch im Winter
mit fünfundachtzig
bin ich tot sage ich
also berühmt erwidert Eric nur die berühmten Toten haben Geburtstag schreibst du mir ein Lied über Katharine Hepburn und Spencer Tracy könnten wir nicht auch so ein Paar werden so rauflustig verliebt und stark
wir sehen nicht so aus und ich bin überhaupt nicht so mürrisch wie Katharine willst du ein Zigarrenstummel kauender Sportreporter werden
aber natürlich sagt Eric gleich nach meiner Jazzgitarristen-Karriere
glatte Bahnsteige ein Drugstore ein Motorbootverleih die Durchsicht auf ein regelrechtes Sommerschloss mit riesigem Park dann wieder Bäume eng gedrängte Einfamilienhäuser ein jäher Ausblick zum Meer
was ich bin was ich kann
was ich will
die Fragen mit denen ich meine Ferien verbringen muss wie mit unangenehm großen Hunden die man mir gegen meinen Willen für einige Wochen anvertraut hat laufen davon (Hunde aus Rauch)
am MIT vergesse ich das alles wieder es wird einen Stundenplan geben die Klausuren die Vorlesungen Seminare Praktika den Takt frühestens im nächsten Semester könnte ich an die Ostküste gehen
aber von Los Angeles aus betrachtet
in einer halben Woche
wird es vielleicht ganz anders aussehen
ich stelle mir die Orte vor durch die wir fahren werden im Greyhound-Bus sagt Eric drei Tage lang Pittsburgh Columbus Dayton Indianapolis St Louis Kansas City Denver Las Vegas El Monte man glaubt niemals anzukommen wird das sind aber bestimmt die besten Reisen oder nicht
ich rede plötzlich rede
zu viel
oder das was ich reden muss es war das Praktikum in New Hampshire zu Beginn des Sommers bei dem ich mich zum ersten Mal geborgen und frei zugleich gefühlt habe und so als könnte ich in einem wirklichen (wirklich existierenden) Beruf zufrieden sein (wenn ich hin und wieder Gedichte schriebe wenn ich
nachts bei Eric schlafen dürfte)
vier Wochen lang war ich fast jeden Tag mit den Schulkindern zusammen die im Odiorne Point State Park das Seacoast Science Center besuchten und dort Kurse belegten ich half den Kleinsten sich die Hände zu waschen bevor sie in die Aquarien greifen und die Seesterne anfassen durften (lebendiger kühl-rauer Sand) ich kletterte mit den Älteren über die Küstenfelsen auf der Suche nach Schnecken und Krebsen und mit den Größten die etwas von der Geologie des Golfs von Maine lernen sollten untersuchte ich die Stein- und Schleifspuren der letzten Eiszeit wir konstruierten Fische am Computer in einem Simulationsprogramm das die Überlebenschancen unserer Geschöpfe testete (Kabeljaukopf Haifischflossen Delphinschwanz die meisten verendeten schnell) wir ließen uns in die Tiefsee hinab mit einem virtuellen U-Boot und sammelten dann wieder Krebsschalen und Schneckenhäuser draußen in den ruhigeren Buchten entdeckten wir einen schlüsselbeinartigen Knochen den niemand zuordnen konnte ich zeichnete mit den Kindern und stieg
abends allein
mit Blick nach Norden über die taubengrauen Dächer des Besucherzentrums die darum angelegten breiten Wege Rasenflächen den großzügigen sanften Schwung der Küste dahinter einen Hügel empor wie getragen vom Abendlicht es fehlte nicht viel dachte ich es könnte hier an der Grenze zwischen Maine und New Hampshire schon eine
Definition von Glück
geben das wären dann: Kinder Wissenschaft Meer und eben dann genau das noch
was Eric mir gibt mir zu geben verspricht unverhofft und vollkommen ich hörte Emilys Verse in meinem Kopf
rezitiert von einer verhaltenen leisen aber plötzlich leidenschaftlich glühenden Stimme
Wild Nights — Wild Nights!
Were I whith thee
Wild Nights should be
Our luxury!
auf dem Hügel befand sich einmal eine Geschützstellung und über den Parkplatz hinweg sieht man die Anhöhe mit den halbkreisförmig angeordneten Sockeln der 155-Millimeter-Kanonen aus dem Zweiten Weltkrieg (jeder Millimeter ist verzeichnet) an der Rückwand eines aufgelassenen Toilettenhäuschens die obszöne Skizze einer liegenden nackten Frau deren Kopf durch den zurechtgebogenen Schriftzug Your Mother gebildet wird daneben ein sorgfältig gemaltes Verkehrs-Halteschild mit der Unterschrift Stop Bush!
wir müssen
in der Wirklichkeit
einen Weg finden Eric also
Kinder Wissenschaft Meer Wilde Nächte
oder in der Unwirklichkeit so spröde scheu vergeblich großartig wie Emily könnte man auch sein es ist mir sonst fast egal aber heute nicht und vielleicht wochen- und monatelang nicht mehr
weshalb heißt es eigentlich Babylon du
weißt doch alles
fragt Eric nah an meinem Ohr es war nur eine Kneipe auf die jene Mutter des Stadtgründers von ihrem Haus aus blicken musste eine Taverne die ihr so verrucht erschien wie die Stadt in der Bibel
ich gehe den Hügel wieder hinab zur Küste
es ist früher Vormittag als
hätte ich die ganz Nacht da oben gestanden wie die Soldaten der Battery 204 aber auch als wäre ich beim Hinabgehen in
eine andere
frühere
Zeit geglitten und an einen anderen
Ort
wir sind zu zweit hinausgegangen um die Krabben zu wecken sagt Martin er stolpert benommen neben mir her seine Brille beschlägt jede Menge Hunde rasen an uns vorbei so dass ich mich immer nah an den Beinen meines Vater halte der Strand ist schmal heimisch nah er säumt eine Landzunge auf der sich alte Fischerhäuser Restaurants Hotels Souvenirshops Malerateliers reihen ich sehe nackte Füße im Schlick weiche blasse Kinderfüße die nie zu frieren scheinen (sagt Martin) der grüne Plastikeimer in meiner Hand ist schon halb mit Steinen und Muscheln gefüllt die Hunde kommen näher und beißen stoßen streifen mich doch nie weil sie nämlich Martin fürchten es gibt eine Menge Fragen und morgens vor dem Frühstück rede ich besonders viel will besonders viel wissen und erkläre mir oft laut die Dinge selbst ehe Martin einen guten Satz findet werfe ich schon neue große ungeheuerliche schöne Fragen auf wie goldene Meeresungeheuer und feuerspeiende chinesische Drachen in der graublauen Morgenluft es war vielleicht nur die Nähe die größere Hand das gemeinsame Gehen dieses Gefühl einer immer zureichenden
Antwort (aber: was hatte ich gefragt)
Amanda
schläft noch
in Rockport verbrachten wir drei Sommerferien im Haus eines Bekannten
noch
können wir ausgekühlt frisch lachend in Kleidern gerade noch ohne Schuhe und Jacken in Amandas Bett fallen und sie umarmt uns als Seehunde wie sie sagt
mit Eric wird auch das besser was war
er wirft ein neues ein ganz anderes Licht auf andere unabänderliche Teile der Vergangenheit
steig mit mir aus in Babylon schlägt er scherzhaft vor wir könnten morgen früh gemeinsam zu deiner Mutter fahren
nein danke höre ich mich sagen
denn ich war schon mal da
in Babylon ich
erinnere mich
Gedächtnis
Auf den Seiten deiner Bücher
Seerose im Widerstreit
Treiben deine Feuerbilder
In den Brand der Ewigkeit.
Auf dem Nachhauseweg mit meiner alten Ledertasche in der linken Hand (Stethoskop Blutdruckmesser Reflexhammer Verbandszeug Spritzen Notfallmedikamente ess- oder trinkbare Gaben von Patienten manchmal ein Stück Hammelfleisch oder ein ganzes ungerupftes Huhn Dinge die vor wenigen Jahren niemand einem Arzt anzubieten gewagt hätte) mein weißes Hemd zum Feierabend leider schon beträchtlich verschwitzt aus dem Ausschnitt wuchert das Bärenfell meiner Hühnerbrust immerhin imponieren mein grauschwarzer Schnurrbart und der wollige Haarkranz um die im Abendlicht glänzende Schädelplatte
in der Dämmerung mit Abgasen und dem Rauch eines Restaurantgrills vermischt könnten aus meiner Müdigkeit und Erschöpfung Träume aufsteigen Bilder Munas fliegendes Schiff
die Arche
in der sie all diejenigen retten wollte denen hierzulande nicht mehr zu helfen ist ich wollte sie schwebte wirklich über mir so nah dass man nur eine Strickleiter über Bord werfen müsste ich könnte es jeden Tag gebrauchen das Rettungsschiff wohin auch immer es flöge jetzt denke ich mir eine still und langsam in der Abendluft segelnde Dau und das Seilende der Rettungsleiter berührte meine Schulter ich bräuchte nur ein Zeichen zu geben damit man die kritischen Patienten an Bord holte
immerhin konnte ich einigen helfen etwa der Mutter deren Mann die UN-Lebensmittelration für Arrak verkaufte (woraufhin sie ihren schreienden Säugling anstatt mit Milchpulver mit Mehlbrei vollstopfte) und auch dem Mullah mit dem Abszess am rechten Oberschenkel (Ubi pus, ibi evacua.)
ich nähte (ohne Lokalanästhesie) eine lange Kopfschnittwunde über deren Herkunft ich nichts zu wissen brauche und sagte einfach
Stillliegen
zu den drei gebrochenen Rippen eines jungen Mannes
aber das Mädchen mit akuter Leukämie wird in wenigen Monaten tot sein weil es keine Zytostatika für die Armen gibt während der Elfjährige mit geschlossener Tuberkulose überleben könnte hätten seine Eltern auch nur einen schwachen Begriff von der Regelmäßigkeit eines Herzschrittmachers den der seufzende fette Leibwächter (kein Tikriti immerhin) der sich nicht mehr von meinem Praxisstuhl herunterbewegen mochte dringend bräuchte aber auf keinen Fall bekommen wird (allenfalls in einer der Luxuskliniken seines Herrchens)
gegen den Typhus in drei Fällen kann ich etwas tun weil es gerade einmal wieder Chloramphenicol gibt nachdem ich Dutzende von Kindern daran habe sterben sehen wie auch an Brechdurchfällen und an Cholera
Mächtige des Reiches!
sauft Tigris-Wasser bis eure Gedärme zu Schlamm geworden sind
Mächtige der UN!
sauft Öl bis ihr begreift dass ihr nicht den Tyrannen geschwächt sondern Hand in Hand mit ihm die Kinder des von ihm geschundenen Landes ermordet habt
die Arche
müsste zu einer ganzen Flotte gehören Muna die Flotte der unnötig Sterbenden die keinen Anlegeplatz findet die über Washington schweben sollte über Berlin Stockholm Paris
es ist eine Erinnerung an Paris
sagte der alte Oberst Basil
und überreichte mir einen originalverpackten Flakon mit französischem Parfum aus Kuwait vermutlich ein Beutestück aus seinen Glanzjahren in der Armee in denen er eine Villa im Yarmuk-Viertel besaß wo er auch heute noch lebt jedoch mit sechs Familienangehörigen in einer zweizimmrigen Erdgeschosswohnung liegt raucht hustet Blut spuckt
für ihn habe ich noch Morphium aus der stillen Reserve die ich mir mit zwei Kollegen teile und erneuere wenn aus einem der geheimen Kanäle etwas fließt aus denen mitunter auch saubere Infusionsbestecke Schmerzmittel oder ein Karton mit sterilen Handschuhen kommen gegen eine kostenlose Behandlung zumeist oder eine blanke Diagnose das ist überhaupt unsere Spezialität die ohnmächtige Hellsicht denn der
irakische Arzt
ist zum Wahrsager am Körper geworden mein Freund ein menschlicher Röntgenapparat der in das Unabänderliche blickt das man allenfalls in den Privatkliniken Bagdads heilen könnte oder überall sonst
in glücklicheren Ländern
der alte Oberst Basil kennt Leipzig (Geheimdienstausbildung unter Honecker) und Paris (Verhandlungsdelegation zu Jagdbomber-Ankäufen) er weiß aber nicht den Grund der ihn vor sechs Jahren nach Safina brachte in das steinerne schroffe Kriegsschiff des Geheimdienstes eingerammt in den Leib der Stadt
zwei Jahre im roten Trakt
die blutüberströmte Etage Basil besitzt ein Video es steht in einem Regal über seinem Bett und zeigt unter anderem wie ein maskierter Mann ihm die gefesselten Arme nach vorn zieht während ein anderer seinen entblößten Rücken mit einem Kabel zerfetzt es zeigt wie man anderen Gefangenen mit Eisenstangen den Schädel einschlägt und wieder andere von einem hoch gelegenen Fenster in den Tod stürzt nachdem sie auf alle erdenkliche Arten malträtiert wurden das ist
eine Grußbotschaft
der Geheimdienste an das Volk
erhältlich auf sämtlichen größeren Märkten und nur scheinbar unter der Hand denn sie soll verkauft werden und einwirken auf die
tieferen Schichten
die Angst ist aber so alt ihre tiefen und tiefsten Schichten so vollgesogen mit Blut dass fast nur noch die Müdigkeit bleibt und die Apathie es gibt eine zermürbte schläfrige Todesangst die ihrer selbst überdrüssig geworden ist als läge dein Kopf im Maul eines Löwen und beide gähnten der Löwe und du
die Arche für den Irak
ist das Schiff der Folterer
auch so kommt man hinaus endgültig Grüße
aus Paris
sagt Basil dem ich Morphium gebe für seinen halb zerstörten Körper weil ich ohne ihn vermutlich nicht mehr am Leben wäre denn er schickte den Spitzel der mich in einem Sanitätszelt über den
STOLZDERARABER
fluchen hörte angesichts eines zerrissenen Unterleibs
auf ein Himmelfahrtskommando aber das war wohl nicht der Grund der ihn ins Totenschiff brachte sondern
es gab und gibt keinen Grund
das ist die stärkste reinste obszönste Form der Macht Zerstörung Begnadigung Bestrafung Liquidation Folter und Beförderung
ohne Grund
denn dann ist
nichts
zwischen dir und der grell brodelnden Sonne der Macht (allenfalls der dünne Äther der Todesangst)
sie gaben Basil zwei Jahre nachdem sie ihn grundlos entlassen hatten ein Viertel der ihm zustehenden Rente ohne Grund etwa so wie sie ihm das halbe Leben ließen
mit dem Hochzeitsgeschenk für Jasmin
trete ich hinaus auf die abendliche Straße ich war lange nicht mehr hier in der Nähe des alten Diplomatenviertels die Bilder der Hochzeit kehren zurück es ist gerade zwei Wochen her dass meine Älteste ihren blassen wankelmütigen Langzeitverlobten geheiratet hat im großen alten Haus meines verstorbenen Vaters in Wasiriya in dem wir einmal auch ihre Geburt feierten kurz nach unserer Heimkehr nach Paris und alles schien sich zu wiederholen die Wärme die Geräusche das (heute jedoch nur mit allen Mühen organisierte) Festessen die Arrak- und Whiskey-Seligkeit und Dumpfheit die Nähe der Körper die Vertrautheit mit allen Räumen und Winkeln des Hauses
nur wissen spüren wir in allen Knochen durch die Kebabdämpfe und Fischgrilldüfte hindurch dass sich alles verändert und verformt hat auch ohne die Erinnerung an die Verlorenen (mein vielleicht in einer Kaserne exekutierter vielleicht aber auch durch einen nächtlichen Gruß von George Bush senior ums Leben gekommener Neffe
Faridas jüngere Schwester Fatima und ihre gesamte fünfköpfige Familie bei der Racheaktion Saddams gegen die Schiiten denen der amerikanische PRÄSIDENT plötzlich doch nicht mehr helfen wollte nachdem er sie zum Sturz des Tyrannen aufgefordert hatte)
Fatima geht oft unter uns um so freundlich so leicht so schwer vergesslich
keiner von uns ist mehr was er war und wir feiern dagegen an weil wir spüren erwarten glauben dass alles noch schlimmer kommen kann im Land der
geprügelten Hunde
das wir geworden sind (das ist der Unterschied über das Alter hinaus dass wir
innerlich
geprügelte Hunde sind mein Freund bissig trostlos unruhig mit falschem Stolz und echtem Hass) in unserer Rolle als Untertanen durch die Düfte und den Arrak-Schleier hindurch
sehe ich Jasmin und muss mit der lebendigen Nähe und ungeheuerlichen Entfernung zugleich zurechtkommen die mir der Anblick dieser energischen schönen jungen Frau einflößt sie heiratet mit aufrechter Haltung im westlichen Stil sie hat (schon immer wollte ich sagen schon damals als sie in der Schule Fußball spielte und ich am Zaun verzweifelt ihre Hände umklammerte) mühelos den alten islamischen Seelenballast abgestreift (Farida häufte ihr allerdings wenig auf) sie hat nie eine Abaya getragen und kocht fast nie sie ist das geworden was man vor zwanzig Jahren der irakischen Frau versprach an ihr ist alles wahr geworden und
falsch zugleich ich weiß nicht
wie sehr wie weit es ist sechs Jahre her dass wir offen und frei miteinander geredet haben damals in Paris unsere zärtlichen wütenden abstrakten Gespräche vor Munas erschrockenen Augen
jetzt erreiche ich sie nicht mehr und wenn sie mich im Festtrubel umarmt und ich ihren wohlduftenden Körper spüre dessen sehnige Kraft mich irgendwie tröstet und beruhigt als könnte sie ihr helfen
mit ihrem Karriere-Chemiker Kasim hat sie in Paris schon den Kreis betreten in dem keine aufrichtige Begegnung mehr möglich ist sie suchte das Beste (für sich) sie wollte als Chemikerin arbeiten sie wollte ihre eigene Karriere
sie bringt mit Kasim auch dessen uniformierte Freunde ins Haus die an der Tafel sitzen und Witze reißen über die alle Umsitzenden so vorsichtig lachen als kalkulierten sie Schachzüge bei einer Meisterschaft (ein Videoverleiher der Saddam-Reden als Pornos verkaufte und nie einen Protest erntete Bill Clinton und die Zigarre George Bush auf dem Fahrrad in Bagdad)
Jasmin hat eine Ehe geschlossen die so genau das Richtige für sie ist dass sie nie damit zufrieden sein kann
sie warf mir auf der Hochzeit keinen einzigen zweifelnden suchenden fragenden Blick zu als wollte sie mir sagen dass sie dieses Mal ohne den geringsten Schmerz verlorengehe ohne Träne ganz anders als damals
ein Jahr nach dem Krieg
ein halbes Jahr vor dem Krieg
im Sommer 1990 brachten wir sie zum Flughafen
eine Woche zuvor hatte es auch einen Witz gegeben einen falschen Witz unserer Nachbarin Amal über den
UNAUSSPRECHLICHEN
woraufhin sie für drei Tage verschwand und dann im Morgengrauen übersät mit blauen Flecken mit Verbrennungen von Zigarettenstummeln mit gebrochenen Fingern ausgeschlagenen Zähnen blutendem Schoß aus einem Auto vor die Tür ihres Hauses geworfen wurde
neue Schulen neue Kindergärten neue
Frauen für die Miliz
noch schien es Geld zu geben noch war es möglich von Bagdad aus nach Paris zu fliegen
jener Abschied
bei dem die 16-jährige Jasmin glaubte er sei für zwei oder drei Jahre während ich damals schon hoffte er dauere zehn
fuhr mir in die Glieder ich habe mich niemals (auch nicht in den Kriegen) schwerer langsamer ohnmächtiger gefühlt mir war als trüge ich eine eiserne Rüstung die mir den Atem abpresste ich wusste dass wir alle hätten gehen sollen die ganze Familie
aber ich war nicht klar und entschieden genug es gab Anteile die nach Paris wollten mit der ihre Tränen niederkämpfenden und dann noch einmal knapp und fröhlich winkenden Jasmin und es gab Anteile die
hierbleiben wollten
versinken
überleben aushalten im Aushalten gewinnen wollten ich sah (als wäre es ein Grund für das alles und auch der bestmögliche) Faridas müdes und doch so anziehendes Gesicht und hinter ihr gerahmt von Fayencen mit Nachahmungen oder Kopien sumerischer oder assyrischer Keilschrift (du wirst mir das einmal genau erklären Muna) den
SCHLÄCHTER
als blöde Nachahmung Nebukadnezars dem er folgen wollte bis zur Zerstörung Jerusalems
an der Wand erschien eine Schrift die nur ich lesen konnte
es war eine kleine Botschaft der Zukunft für mich für dich Muna nämlich dass ich es nicht noch einmal schaffen würde eine Tochter im Ausland studieren zu lassen
und wir drehten uns um an diesem warmen Abend im Mai nahmen eines der rot-weißen Taxis und stiegen vor unserer Straße aus um noch zu bummeln in dem Schock und Glück über die Abreise Jasmins und ich kaufte verzweifelt und glücklich zwei Kinderfahrräder für das Geld
das ich heute in einem Monat verdiene
elf Jahre ist es her dass wir in der Nachbarschaft des halbtoten Botschaftsviertels den englischen Club besucht haben und Cocktails tranken die Clubs sind bankrott die ehemaligen Luxusboutiquen mit Brettern vernagelt nur an der monströsen Baustelle der Rahman-Moschee herrscht Leben mit ihren anschwellenden Außentürmen die unter ihren Kuppeln in jeder ihrer acht Seitenwände wiederum (shuttleartig bepackt trächtig wie eine Betonspinne) rundkuppelige zweistöckige Embryonalbauten tragen sollten die gewaltigste Moschee im Lande des
GEWALTIGSTEN
erbaut im verrotteten verwaisten einstigen Nobelviertel zur Bebauchpinselung der Ulama ich sehe
durch die Scheibe eines Restaurants in der Jordan-Straße
von links nach rechts zuckende Schrift wild gestikulierende TV-Reporter
die Feuer- und Trümmerwolke die aus den Wolkenkratzern hervorquillt wie blühendes Mark aus dem Stängel einer Blume hinter dem Glas eines Bildschirms auf der Theke eines Restaurants am Nisur-Platz ein Wolkenkratzer ein zweiter brennender Turm ich sehe durch das Fenster wie
in den geöffneten Schädel eines Irren
es ist das World Trade Center beide Türme brennen und ich wende mich ab für eine Sekunde als könnte ich es ausblenden
ich stehe aber schon im Restaurant inmitten der Männer dicht vor der Mattscheibe ich habe nicht bemerkt wie ich hineingekommen bin und werde später oft denken ich hätte die Füße auch gar nicht bewegt aber niemals vergesse ich die zwei Gedanken die sich mühlsteinartig in meinem Kopf gegeneinander drehten zwischen den Restaurantgästen von denen einige wie gelähmt schienen andere mehr als beobachteten sie ein Fußballspiel und manche stumm beglückt oder schon lachend wie im Angesicht eines viel zu großen Geschenks
dass es Krieg geben würde
und dass es in dem Turm so sein musste wie es in der Schrift an der nicht zu zweifeln ist geschrieben steht wie
in einem Höllenfeuer
dessen Brennstoff Steine sind und Menschen
Etwas muss sich in dir
auftrennen
es ist nicht möglich zu überleben wenn du aus einem Stück gemacht sein willst wie eine gläserne Kugel die auf einen Steinboden geschleudert wird es ist nicht möglich
auch wenn ich zunächst so unfassbar ahnungslos blieb und keinen Riss in mir spürte ich hätte den Einschlag in den Südturm schier ohne Verzögerung mitverfolgen können (auf der geschlossenen unzerbrochenen gläsernen Schicht) in Echtzeit ich bin eine Viertelstunde vor neun zurück ins Haus gekommen (in eben der Minute den Sekunden womöglich) ich lasse tagsüber nie den Fernseher laufen ich schalte kein Radio ein ich bin so
befestigt so gleichgültig vertrauensselig
so einverstanden mit der
Welt ohne mich
dass ich vormittags sogar das Telefon stummschalte und so blieb ich während ich Wasser trank eine Dusche nahm an meinem Schreibtisch vorbei ans Fenster trat unerträglich ruhig gelassen unbeeindruckt von dem rasenden Anhämmern der Sehnsucht der verzweifelten Wut einer
zukünftigen
Erinnerung und trinke Kaffee und sehe in den Garten hinaus die ersten Ahornblätter auf dem fahl werdenden Rasen gelbe Drachenhände im September vor 186 Jahren erfand der Geheimrat (im Spätherbst seines Lebens) sich eine
Suleika
und eine kleine dreißigjährige Frau kam ihm entgegen das Zirkuskind das sich aufschwang in die Kuppel der poetischen Manege
nimm einen anderen Namen an um zu lieben um zu leben um dich zu retten um
nicht in Stücke zu springen ich
bin Hatem geworden ein kalter eitler souveräner innig alle Welt umfassender unzerstörbarer Titan
des Überblicks oder einfach nur ein Nichts im letzten Winkel unter der Zimmerdecke in den es mich geschleudert hat als ich von meinem Schreibtisch aufstand erst gegen 16 Uhr um endlich das Telefon einzuschalten und den Anrufbeantworter mit den verzweifelten Sätzen des Ölmannes
aus
der Finsternis
DER FERNSEHAPPARAT
ich bin da es ist
da
ich
(werde es niemals
berühren können ich)
stehe
auf dem gläsernen fliegenden Teppich zweihundert Meter hoch in der Luft über Downtown Manhattan vor dem Oberkörper eines CNN-Reporters der nur auf den Zehenspitzen vielleicht noch mit dem Rücken zum Abgrund (über der South Street oder der Water Street ungeheuerliche Fallschluchten wenn du erst einmal in der Luft bist) auf der äußersten Kante des Teppichs steht sich aber nur um mich sorgt sich unendlich bekümmert mir zuwendet und leicht nach vorn beugt mit schmerzlicher Miene vor den
Türmen im Hintergrund
die verschwinden wieder auftauchen wieder
verschwinden
wir sind plötzlich noch viel höher in den Himmel geraten und sehen die Battery den Financial District die gesamte Lower East Side wie ein düsteres riesiges Schiff das unter Rauchwolken erstickt vielleicht bombardiert von Raketen beschossen von unterirdischen Sprengladungen zerstört die man tonnenweise im Verlauf der vergangenen Monate dort versteckt hat ich
denke nichts
ich stehe auf dem schwankenden gläsernen Teppich vor dem CNN-Reporter als wollte ich ihn hinabwerfen als sich der
Himmel teilt blitzschnell sein wässriges Plasma in ein neues strahlend blaues Quadrat fließen lässt in dem die Türme
wiederauferstehen und nun
und noch immer denke ich nichts
es wird nur Zeit sich
zu spalten mein Bruder etwas von uns muss über den Dingen stehen über dem gläsernen Teppich über dem zerkochten zerrissenen zerstörten Herz es wird jetzt unerbittlich
klar der in der Höhe des 80. Stockwerks aus einem klaffenden Schlitz qualmende Nordturm
BREAKING NEWS
AMERICA UNDER ATTACK
TERRORISTS CRASH HIJACKED AIRLINERS CNN
INTO WORLD TRADE CENTER; PENTAGON LIVE
keine Wolke um daraus
zu fallen
ein auf dem Boden einer steinernen Höhle liegender bärtiger schlanker Mann mit orientalischer Kopfbedeckung die Wange in die Hand des rechten Arms gestützt unter einer Wolldecke locker plaudernd irgendwie ausgestopft mit einer Art unheilbarer Eitelkeit
BREAKING NEWS
SOURCES:»GOOD INDICATIONS «OSAMA CNN
BIN LADEN INVOLVED IN ATTACKS
«WALKING WOUNDED «EVACUATED TO AREA AROU
das Telefon
jetzt weiß ich dass Seymours Anruf genau zu den Bildern gehört die ich sah genau aus dem Rauch und Qualm kam von einer der benommen im Nebel wandernden stolpernden Figuren die mit Asche mit weißem Schaum mit Schnee und schwarzen Federn bedeckt schienen am Boden hinter zerbeulten Autos kauerten
BREAKING NEWS CNN
AMERICA UNDER ATTACK
HUGHES: PRESIDENT SECURE AT
AIR FORCE BASE IN NEBRASKA
10:26 AM ET: SECOND WTC TOWER COLLAP
das Telefon
er war nur etwa 400 Meter entfernt horizontal er war noch eine Minute entfernt vom Zusammenbruch des ersten Turms er hatte Dutzende Male versucht Amanda zu erreichen er stand unversehens in einer ungeheuerlichen Säule wirbelnden Papiers vor der Siegesparade des Terrors durch deren Schneetreiben hindurch die Fassaden der Türme glänzten aus denen Menschen fielen wie Tränen
er sah
nichts
er sah wie sich aus einer Nebelwand über und über mit Staub bedeckte Gestalten schälten und ihm schreiend entgegenrannten
er sagte (drei Tage später) dass er sich unmittelbar vor dem Beben und dem Zusammensturz des Südturms zwischen bereits verbeulten Autos und der wundersamerweise noch unzerstörten Auslage eines Reisebüros (Visit Egypt) plötzlich wie auf einer Insel befunden habe einem fast kreisrunden wie abgeschlossenen Areal auf dem trotz eines markdurchdringenden Wind- oder Pfeifgeräuschs um ihn her vielleicht der unerträglichen Lautstärke und Schrillheit des Lärms wegen eine Art lokaler oder inklusiver Stille sich ausgebreitet habe wozu der von Ascheflocken Papierfetzen zu hellem glitzerndem Flaum verbrannten Dingen (Kunststoffen) wie von Schnee bedeckte Boden passte ebenso die Wölbung oder Wandung um ihn herum es war (für zwei drei Sekunden oder auch fünf) wie in einer hausgroßen Schneekugel der Umkehrung oder Inversion einer Schneekugel vielmehr denn die aufgewirbelten Fetzen und Trümmer schienen wie von einer gläsernen Kuppel abgehalten es
ist der DRITTE WELTKRIEG DIE SCHWEINE schrie ihm ein aus der weißen Wand taumelnder mit Schnee oder Schaum bedeckter gefederter Mensch ins Gesicht es ist die bebende
Erde des
Zusammenbruchs des Südturms den er später immer wieder vor strahlendem Sommerhimmel aus der Perspektive von Millionen Unberührter (hinter gläsernen Schirmen durch deren Emulsion der zuckende Strahl der Braunschen Röhre kaum dringt) sah etwas wie das plötzliche Aufbrechen Aufschäumen der dreißig oberen Stockwerke zu einem graphitfarbenen riesigen Wolkenpilz der blitzschnell heller wird und noch größer die Farbe tosenden Wassers annimmt der wie ein gewaltiger Pudelkopf den Turm krönt seine Wände entlang hinabrast als Rauchlawine die Wände doch alles schon mit sich nimmt niederreißt sofort das NICHTS über sich in den Himmel türmt um dann ganz auf die Straßen niederzustürzen wie (er dachte es dort unten in diesem Augenblick)
ein Meer aus Trümmern Schaum und Stein
und bald schon
nimmt alles eine festgelegte zeremonielle Form an
ein Ritual der Vernichtung für zwei Wolkenkratzer und zwei Flugzeuge
und dreitausend Menschen ich
dachte nicht
an Amanda ich sehe den rauchenden Nordturm und die unversehrte Front des Südturms und wie aus meinem linken Augenwinkel plötzlich den Schemen eines Flugzeugs der sich in das Bild schiebt und allen Erwartungen gemäß die Türme einfach passieren müsste aber direkt jede Entfernung vernichtet jede Erwartung der in die Mitte des Südturms einschlägt so leicht scheinbar wie in das Seidenpapier eines grauen Kastendrachens der augenblicklich Feuer fängt in Gestalt zweier Rauchwolken wie von aufbrechenden filzigen Schalen umgebener sich rasch aufblähender Feuerbälle die im nächsten Augenblick schon Tonnen von Stein und Glas in die Tiefe schleudern Hunderte von Menschen-
teilen ich dachte nicht an
Amanda ich
dachte nicht
ich sah immer wieder den gnadenlos heiteren Himmel das gnadenlos Lebendige der wasserstoffblonden CNN-Sprecherin im grünen Kostüm der feuerfesten Echsen das gnadenlose Anhalten Repetieren Wiedereintreten der Katastrophe die
zu einem unentwirrbaren Büschel einem blutigen qualmenden Knäuel zerfledderte geballte Zeit in der die Türme fallen auferstehen zusammenbrechen niederkrachen bluten aufflammen in einer Wolke verschwinden wieder unversehrt vor dem Himmel glänzen nur noch als Strünke dastehen erneut über Manhattan thronen wieder in die Straßen hinabschäumen
du berührst
es nicht
in deinem Holzhaus in Amherst 150 Meilen nördlich von New York City inmitten deines schon gar nicht mehr vorhandenen Lebens starrst du auf den Bildschirm inmitten deines Wohnzimmers das es schon gar nicht mehr gibt das schon weggeflogen weggebrochen ist wie die Zwillingstürme das du ebenso wenig berühren kannst
wie noch einmal ihre Wange ihr Haar
die grüne Ledercouch der Tisch mit den Zeitschriften die Regale die Bücher und Pflanzen sprenge dein Arbeitszimmer das nur noch als Bild vor deinen Augen flimmert deinen Schreibtisch auf den du eine zitternde Hand legst wie auf ein Kissen aus (eingebildeten)
Elektronen
Martin Lechner: Goethe lieben
weiße Asche in zweihundertfünfzig Bögen ich wünschte es wäre ein
einziger Atemzug von Dir
der alles verweht hätte jetzt denn dann wärst Du
an meiner Seite wieder an meiner Seite
Hafis mein Freund den ich mir aus der Verzweiflung erschaffe in der Aufspaltung meiner Trauer der Trennung meines Gehirns von meinem Herzen ich betrachte das Haus das untere Stockwerk des Hauses als
gesprengt
ich sah mit bleiernem Gehirn das mir schier die Augen aus den Höhlen presste immer wieder
und ich dachte nicht ich sah nur wieder und wieder
und wieder
die Endlosschleife des Untergangs