III. Das Paradies, Juni — September 2004

So zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen Erhalten und Verderben, zwischen Rauben und Bezahlen lebte man immer hin, und dies mag es wohl sein, was den Krieg für das Gemüt eigentlich verderblich macht. Man spielt den Kühnen, Zerstörenden, dann wieder den Sanften, Belebenden; man gewöhnt sich an Phrasen, mitten in dem verzweifeltsten Zustand Hoffnung zu erregen und zu beleben; hierdurch entsteht nun eine Art von Heuchelei, die einen besonderen Charakter hat, und sich von der pfäffischen, höfischen, oder wie sie sonst heißen mögen, ganz eigen unterscheidet.

(Johann Wolfgang Goethe, Kampagne in Frankreich)

Nichts geschieht mehr in meinen Träumen.

Keine Kriege brechen mehr aus.

Keine Paraden werden an Festtagen mehr abgehalten.

Keine Schiffe kommen mehr an,

und keine Roboter geleiten reumütige Derwische ins Paradies.

Nichts geschieht mehr in meinen Träumen.

Die Straße ist leer wie üblich,

und ich muss zusehen, dass ich nachhause komme,

bevor der Regen fällt.

(Fadhil al-Azzawi, Miracle Maker)

Sabrina

Wenn sie

ein Gedicht macht

(erarbeitet)

auf den Traumfeldern der Sprache auf denen die Wörter ganz neu zu behandeln sind zu begrüßen wie Unbekannte jedes und noch das Verbrauchteste und Vertrauteste als Neuankömmling der

zu allem fähig ist und

berührt werden will und lange

gewogen

es ist dieser Zustand

in dem du dich so gezielt (zielend) verlierst es ist fast wie ein absichtlicher Ohnmachtsanfall (oder der Beginn eines solchen) oder das Ablegen der Rüstung des Taucheranzugs dickplattiger metallischer Sprachverpanzerung um wieder empfindlich zu werden verletzlich wie

die erste neue Haut

über einer fürchterlichen Verbrennung

schweig!

und besser: richte mit höchster Empfindlichkeit und äußerster Konzentration den Blick aus dem Zimmer durch das Fenster ohne Glas oder die halb geöffnete Tür wie von einem anderen Planeten aus auf die Erde auf die gewöhnlichsten Dinge das Schränkchen ein blauer Rucksack ein Strauß mit Rosen die jungen Obstbäume die Vögel im Sonnenlicht

Liegst Du bei mir, liegst Du bei mir –

die kleinen biederen sauberen Holzhäuschen von Babylon durch das Zugfenster

Eric winkt noch einmal hinter Glas unter Glas meine Hand auf der staubigen Scheibe des Abteilfensters im Wagen der Long Island Rail Road ich habe

mir sonst nie vorgestellt dass

die arabische Prinzessin die ich als Kind erfand um mich aus meiner Einsamkeit zu erlösen indem ich mich selbst beobachtete mit mir sprach und Gedichte schrieb ich weiß gar nicht weshalb ich gerade jetzt wieder auf sie gekommen bin in den ersten Minuten eines glücklichen Verlassenseins vielleicht weil man ohne Zuschauer/Zuhörer weder an das Glück noch an das Unglück voll und ganz glauben kann

Liegst Du bei mir, dann steht die Zeit –

über ein Gedicht nachdenken kann ein Rausch am hellen Tag sein ich will Eric einen anderen und besseren Song-Text geben vielleicht können wir schon morgen im Greyhound-Bus nach einer neuen Melodie suchen was

will ich

drei Tage lang mir nicht diese Frage stellen müssen in diesem Urlaub könnte es klappen

Babylon (a great place to live and raise a family with convenient

train service to

New York City) gleitet vorbei die moralisch entrüstete Mutter des Stadtgründers hatte vielleicht dieses letzte zweistöckige Holzhaus im Blick was die verkommenen Sitten wohl einmal gewesen sein mögen ich sehe die Saloons der mehr oder (zumeist) weniger realistischen Fernseh-Western vor mir Dreck und verkrusteter Schlamm der beim Hochsteigen auf der Holztreppe von den Reitstiefeln fällt die Spur führt bis zum Zimmer der notorischen Kitty die eine Silberschnalle am Strumpfband ihres schwarzen Rüschenkostüms löst (all jene allein mit ihrer Syphilis im Schlamm begrabenen hübschen Mädchen) bei meinem letzten Besuch

in Babylon

war ich verärgert

«säuerlich «sagte meine Cousine Lotta ich kannte das deutsche Wort nicht oder hatte es vergessen wir fuhren mit der S-Bahn auf die Berliner Museumsinsel zu die Hochstrecke zerschnitt die mächtigen alten Kaiserreich-Gebäude regelrecht man fuhr auf Fensterhöhe hindurch dann ging ich mit Martin und Lotta auf die erdrückende Front des Pergamonmuseums zu die links und rechts von den Seitenwänden der anderen Museumsbauten eingeschränkt wurde und dieses Zugemauert-Sein oder drohende Eingeschlossen-Werden von grauen Steinwänden erinnerte mich an Böcklins Toteninsel (die stehende weiß verhüllte Gestalt auf dem Nachen ist so entsetzlich weil sie steht und dir die Frage aufzwingt ob alle Toten so vollkommen verhüllt und heroisch gefasst auf die Insel fahren müssen die kaum Platz für einige Dutzend von ihnen zu bieten scheint)

Hitler

sagte mein Vater

kaufte 1933 das Bild und hängte es in seinem Haus in Berchtesgaden auf

hätte ich besser nichts gesagt dachte ich dann hätte mir niemand ein Hakenkreuz auf den Fels der Toteninsel gesprüht und ich sah nicht dass Martin seine Bemerkung bedauerte

«echt «bedauerte

erklärte mir Lotta meine verständnisvolle blonde herzliche sinnliche oft so» aufgekratzte «deutsche Cousine als wir an der Garderobe des Pergamonmuseums standen es war nicht so arg wie sie glaubte schließlich bin ich es gewohnt dass mein Vater dem Deutschtum immer auf den deutschesten Deutschgrund gehen muss und so war es auch jetzt bald wieder denn anstatt sich in den Anblick des großartigen Altars des Markttors von Milet und der Löwen und Drachen auf den blauen Kacheln der wiedererrichteten babylonischen Prozessionsstraße zu vertiefen blätterte und las er in einer Broschüre die von der Orientexpedition zu Kaiser Wilhelms Zeiten berichtete (dass ausgerechnet die Deutschen die große Rolle Babylons wiederentdeckten und die Fundamente und Ruinen der Stadt in achtzehnjährigen Grabungsarbeiten freigelegt hatten faszinierte ihn erwartungsgemäß)

durch ein Fenster in einer Flurwand der zweiten Etage des Museums konnte ich ihn von oben herab in den Ausstellungsräumen beobachten (die Besucher promenierten auf einem langen Gang oder in einer Folge von hohen schmalen ineinander übergehenden Korridoren) er näherte sich noch einmal dem Ischtar-Tor und folgte dann der Prozessionsstraße bis zu einer Vitrine und Lotta kam langsam von rechts auf ihn zu

sie blieb bei ihm stehen und ich dachte plötzlich

dass sie ebenso gut seine Tochter sein könnte wie ich dass sie

ich sein könnte

und ich verspürte zugleich eine Bedrückung und die Ahnung einer großen Erleichterung in Museen kann mal leicht solche

extraterrestrischen Gefühle

haben es ist die leichte Begehbarkeit von so vielen Epochen und Kulturräumen

dann steht die Zeit

still vor unserem Raum / vor unserem Zimmer –

in einer Außentasche meines Rucksacks finde ich mein Reise-Notizbuch und schreibe und gleite ab in die Erinnerung an mein eigenes hastiges Babylon mit Eric an diesem Vormittag es ist gut es aufzuschieben für einen Tag eine Nacht mit genügend (also beliebig viel) Zeit


wild nights

should be

our luxury

in Los Angeles werden wir die Wohnung eines Freundes von Erics Bruder ganz für uns alleine haben ich kann aber auch zu meinen Großeltern

fliehen

wenn ich möchte ich sollte sie ohnehin in Palo Alto besuchen ich habe Eric von Cynthias Apfelkuchen vorgeschwärmt und möchte auch dass er das Zimmer sieht in dem ich so viele Ferienwochen mit meinen Büchern verbracht habe in einer vergangenen Einsamkeit die mir jedoch genau in dem Moment kostbar und seltsam beschützenswert erscheint in dem ich sie verliere

dabei ist es viel zu früh schon alles mit Eric

auszukurieren (ist es das: die Vergangenheit heilen

mit einem Menschen

in der Gegenwart)

du kannst dich doch gar nicht so sehr beklagen

Prinzessin

die Jahre die du allein im Bett schliefst allenfalls gequält von einem imaginären König und einer Schwester die dich nicht sehen konnte sind bald vorüber niemand scheint viel darüber nachzudenken aber es ist doch so dass man (als Einzelkind) und als jemand der später dann Partner zu finden versteht die einsamsten Nächte in seinen ersten zwanzig Lebensjahren verbringen muss

weshalb frage ich nicht Martin ob er meine Reise nach Kalifornien unterstützt weshalb habe ich bislang noch nicht einmal angerufen

er würde es einfach nur gutheißen schließlich wollte er auch dass ich in Kalifornien (oder gar in Berlin) studiere

meine Mutter wird mir mehr Widerstand bieten sie kann mir zeigen dass ich mich tatsächlich

entscheiden muss und mir die Tür öffnen hinter der sich gar nichts befindet ich komme nicht weiter

mit dem Gedicht

also vertausche ich das Notizbuch mit dem CD-Player und träume senke die Lider

das Auge ist

Erinnerung

und höre bis der Zug endlich Manhattan erreicht


time is just memory mixed with desire

(singt Tom Waits würde sie das hören)

die arabische Prinzessin im steinernen Herzen von Babylon die große Einfahrt in die Stadt der Türme

hier

zeigte mir Martin einmal das rote Backsteinhaus mit dem schwarzen Akkordeon der Feuerwehrleitern davor in dem sie noch die ersten sieben Monate der Schwangerschaft verbrachten wir stiegen sogar die Treppen hinauf bis zum dritten Stock es gab immer noch keinen Fahrstuhl und ich glaubte fast die Ermüdung Amandas zu spüren die mich hier hochschleppte jedoch war sonst alles renoviert und kaum wiederzuerkennen

bevor Amanda und Seymour die Wohnung in Midtown bezogen bin ich nur zweimal in New York City gewesen und in den letzten vier Jahren habe ich mich bloß daran gewöhnt öfter hier zu sein ohne dass ich mich je heimisch gefühlt oder die Stadt sonderlich gemocht hätte ich lernte aber mich ihr anzupassen wie jetzt eben auch auf dem belebten unterirdischen Bahnsteig der Penn Station oder beim Hinaustreten in den Irrgarten von Straßenschluchten Reklametafel-Verhauen gelben Taxis und eiligen Passanten dessen dröhnende Wirklichkeit mir den kurzen Adrenalinstoß versetzt den es braucht damit ich mich so rasch und gezielt bewege dass mich jeder für eine routinierte Städterin oder Reisende hält

nur als mich Lotta vor zwei Jahren hier besuchte

war ich unverhofft stolz auf Manhattan ich ging mit ihr die Wege zu Fuß die ich sonst auch am liebsten gehe von der Penn Station aus zu Barnes & Noble dann durch die 34. Straße auf das Empire State Building zu (vor dessen Eingang man sich stellen und den Kopf ins Genick kippen lassen sollte um raketenähnlich in drei gewaltigen Stufen und auf sieben Fenster-Straßen zugleich in den Himmel zu fahren Lotta wurde es tatsächlich schwindelig) wir saßen im Bryant Park unter einem Sonnenschirm tranken Milchkaffee und mussten einmal nicht wie es mit Martin unweigerlich der Fall gewesen wäre den Büchertempel der New York Public Library besuchen Lotta zog mich auch viel lieber durch die Boutiquen der Fashion Mile die Pracht-Läden der Fifth Avenue durch nahezu sämtliche Stockwerke von Macy’s

das Paradies!

rief sie (nur mit halber Ironie) ich stelle mir vor wie sie (vielleicht etwas blasser ein wenig durchscheinend oder an der Grenze zu einem überblendungsartigen Transparent-Werden) mit ihren Einkaufstüten lachend durch eine nicht enden wollende Mall schlendert unermüdlich Wochen und Monate und Jahre lang ohne Schlaf ohne Gefahr nichts als seltsames ätherisches himmelblaues Eis verzehrend und ihren Durst an eigenartigen klinischen Softdrinks stillend zuverlässig bedient von

Engeln

von Verkäufern unglaublich adretten fantastisch höflichen jungen Frauen und Männern die herrliche Schuhe Röcke Pullover Schmuckstücke präsentieren ohne je aufdringlich zu werden und wenn du eine versehentliche Bewegung machst die dir ein leichtes Aufprallen oder einen kleinen Stoß gegen ihre Körper zumuten würde dann spürst du nichts als die Nachgiebigkeit eines Vorhangs oder Daunenkissens

nur deine Mutter

könnte dich erreichen mit einem speziellen Klingelton

du kommst nach Manhattan? was hast du mir da auf die Mailbox gesprochen? du bist schon da? du willst verreisen? morgen Nachmittag schon? hör zu ich werde nicht da sein ich bin geschäftlich unterwegs und übernachte in East Hampton das ist praktischer aber ich fahre morgen früh direkt ins Büro wir sehen uns dort so gegen neun wenn du das schaffst dann reden wir geh mit Seymour essen sei nett zu ihm du bist schließlich erwachsen bye

mit dem Anruf erwachst du als wärst du in einem

Sturz

gegen das rahmenlose himmelshohe glasharte Bild der Little Brazil Street geprallt ONE WAY NO STANDING ANY TIME GET DREAMS MILK CHOCOLATE YOUR WORLD GET ORGANIZED MOVIN’ OUT CUT YOUR ein Gewirr von Flächen Masten Verblendungen Autoblech Streifen Fenstern wie Schweißglut dazwischen spritzendes Sonnenlicht die Flucht kann nur in die Höhe führen an den oberen stillen Rand des Canyons unter dem wolkenlosen Himmel

von der Küche aus sieht man ein Hochhaus mit einer dunkel verspiegelten Frontfassade und einer von zehn Stockwerke hohen Werbetafeln verkleideten Seitenwand (HSBC — SAMSUNG — COCA-COLA) hinabstoßen auf Miniaturtaxis Spielzeugbusse Insektenmenschen Zebrastreifen Baustellenauswürfe während der Blick vom Living Room auf eine Gruppe von kompakten düsteren Türmen mit auffallenden gestuften Zwischendächern führt in den Himmel explodierte metallverkleidete Burgen das Empire State Building siehst du schön vom Bett aus King Kong winkt dir jeden Morgen zu

was soll ich

Seymour

sagen der kaum dass ich einen Tee gekocht habe plötzlich vor mir steht und interessiert meinen blauen Rucksack betrachtet den ich gegen einen Küchenschrank gelehnt habe er müsse nur einige Unterlagen holen und hätte nicht viel Zeit ob ich plane für länger zu verreisen

morgen schon? nach Kalifornien? sehr schön erklärt er gibst du mir auch eine Tasse Tee er setzt sich zu mir an den Tisch mit Blick auf einen fünf Meter hohen schwarzhaarigen Schoßhund (die Hongkong-Shanghai-Bank) sein hellblondes sonnengebleichtes Haar und die gebräunte sommersprossige Haut seines Gesichts und seiner kräftigen Unterarme die aus dem akkurat umgeschlagenen blau gestreiften Hemd ragen sagen sehr deutlich dass er ein wunderbares Segelwochenende hinter sich hat nur wird

meine Mutter

heute Nacht nicht bei ihm schlafen

ich weiß nicht ob er es schon weiß also sage ich rasch dass ich jetzt nur kurz da sei um den Rucksack abzustellen das wäre praktisch weil ich Eric (der Junge aus East Hampton dessen Fahrrad Amanda auf dem Gewissen hat) morgen Nachmittag am nahe gelegenen Virgin Megastore treffen möchte und so könne ich ungehindert einige Einkäufe machen bevor ich zu einer Freundin auf die Upper East Side fahre um dort zu übernachten

Amanda sagte du würdest heute hier schlafen –

ich bin erwachsen

das habe ich nicht vergessen deshalb werde ich jetzt so tun als wäre es mir nur um die Planung fürs Abendessen gegangen

tut mir leid sage ich und tatsächlich erscheint er mir jetzt wo ich erfolgreich abgewehrt habe in eines seiner speziellen Restaurants ausgeführt zu werden etwas bedauernswert ich bewundere ihn für die innere Ruhe und Gelassenheit mit der er alles aufnimmt niemals werde ich so entspannt sein können wie er vielleicht ist es die jahrzehntelange Übung im Geschäftsleben die ihm hilft seine Nerven so gut zu kontrollieren dass er mit all den Launen und scharfen Wendungen und plötzlich ausfallenden Nächten meiner Mutter zurechtkommt (hat er Mrs Donally bestochen dass sie heimlich Fotos von Leslie schießt der sich durch die Hagebuttenbüsche seines Sommerhauses drückt was Iris natürlich niemals tun würde und was uns dann auf den eigenartigen und überhaupt nicht verständlichen Umstand bringen könnte dass wir diese unscheinbare und sensationelle Haushälterin beide sehr mögen) sollen wir etwa darüber reden was von ihrer kurzen Ehe noch übriggeblieben ist ich kann die Lebenslust und Gier die Disziplin und Nervenstärke dieser über fünfzigjährigen Menschen nur hilflos anstarren sie kommen mir vor wie Riesen mit der Haut von Elefanten ausgestattet mit einer unerklärlichen Großartigkeit Großspurigkeit vielmehr so als wäre alle Welt für sie gemacht ich

möchte einfach nur gehen

draußen scheint die Sonne in die Straßenschluchten und in die Parks ich kann meine Mutter nicht verstehen die ihre Ehe mit Seymour eines untersetzten weniger attraktiven und nur mäßig witzigen Drehbuchschreibers wegen riskiert (oder ist das vorbei und Seymour bleibt deshalb so ruhig) was soll ich ihm sagen ich kann ihn doch nicht trösten das wäre lächerlich im Gegensatz zu Julia die meinen Vater» interessant «findet sind die älteren Männer für mich wie eine andere Säugetierart (größer und bedrohlich) mit der ich möglichst wenig zu schaffen haben möchte gerade auch wenn sie so väterlich tun aber Seymour hat von seinen Zwillingen her noch Übung und es gelingt ihm nicht selten

mich in lange Gespräche und Diskussionen zu verwickeln

(überlegt er jetzt wie er es dieses Mal anstellen kann obgleich er doch vorgab keine Zeit zu haben?)

vorwiegend indem er mich auf mein Studium anspricht als wüsste ich schon etwas nach einem einzigen Jahr am MIT über

die Erde

aus der er sein Lebtag lang

Öl gesaugt hat obgleich er aussieht als hätte er sie immer nur umsegelt jemand muss sich ja (behauptet er) um die Blutbahnen dieser grandiosen Häusermasse vor unserem Fenster (GET REAL) kümmern die Erdkruste mit Bohrern durchbrechen die sich heutzutage polypenartig ausgreifend durch die Gesteinsschichten fressen um den schwarzen Nektar zu saugen Martin erzählte mir dass Seymours Familie vor der Hitler-Armee aus Rotterdam habe fliehen müssen das Herz der Stadt wäre zerbombt worden und er glaube ein Mensch wie Seymour könne nur über ein Bild von Organisation und Macht zu seinen

Wurzeln zurückfinden

(Rotterdam als Industriezentrum der Panorama-Blick auf das mit Schornsteinen gespickte System flacher Inseln zwischen denen die Riesenschiffe wie Spielzeuge schwimmen Dutzende mächtiger weißer Tanks in parallelen Reihen geordnet verbunden durch ein laokoonisches Geflecht genau kontrollierter Pipelines entlang der 35 Kilometer langen Ausfahrt des Massvlakte Olie Terminals das jedes Jahr vierzig Millionen Tonnen Rohöl umschlägt)

was sind meine Wurzeln wie komme ich jetzt darauf wo ich mit meinem supererfolgreichen entspannten Stiefvater grünen Tee trinke

wenn du älter wirst

erklärt er ohne dass ich jetzt wüsste weshalb ich wäre nur zu gerne schon wieder draußen im Bryant Park oder im Central Park

dann fällt es dir leichter die Abstraktion wirklich ernst zu nehmen als tatsächlich wirksame und absolut gültige Abkürzung von Wirklichkeit

paper barrel

so nennen sie die Rechte zu Käufen von Öl die sie auf ihren Notebook-Monitoren in irgendeiner Flughafen-Lounge um die halbe Welt schießen

meine Papier-Wurzel

löst sich auf im Gespräch mit diesem Wirklichkeitsmenschen obwohl ich mich doch an die Erde klammere mit Hilfe der Differentialgleichungen und Computersimulationen des MIT ich kann niemals so real werden wie Seymour fürchte ich (wünsche ich) er spricht oft schon alles aus was ich ihm nur vorwerfen könnte und sagt selbst er sei ein

old fashioned man

ein Mann des alten Raubbau-Systems des bloßen Jagens Aussaugens Abfackelns der unwiederbringlichen Erdvorräte siech am Morbus Prometheus gezeichnet von der Feuerkrankheit eingesperrt in die Macho-Welt von Ölpumpen Förderplattformen Riesentankern und ihren überaus männerwirklichen

arabischen Verbindungen

special relationships

seit Franklin D. Roosevelt 1945 bei einer kleinen Vergnügungsfahrt durch den Suezkanal seinem auf dem Deck des Kreuzers USS Quincy zeltenden Gast Ibn Saud ein Flugzeug und einen Rollstuhl schenkte

Wasserstoffmotoren Solarzellen Geothermie

sagt Seymour (oft) das denkst du wird es sein und vielleicht hast du recht in dreißig oder vierzig Jahren

was soll ich ihm schon entgegenhalten ich muss mir immer wieder einschärfen dass diese Dinge diese politischen und historischen Verwicklungen wirklich (Abstraktion als Abkürzung) mit mir zu tun haben wohingegen er so verwachsen scheint mit dem Koloss unterhalb des Kolosses dass wohl seine Träume noch durch feine Pipelines strömen und winzige Turbinen in seinem Kopf antreiben mit deren Hilfe er drei Jahre über die ihm zugemessene Zeit hinaus leben können wird ich kann mich nur an das halten

was kommt

die Zukunft ist mein Korridor

ein kahler schwarzer unendlich langer Gang eigentlich dessen Grauen uns nur vom warmen Schein dieser und jener vermeintlich nahe liegenden Insel die wir sicher zu erreichen gedenken verschleiert wird also sinke ich zurück in die Gegenwart und versuche nicht nur Trotz und Abwehr zu sein sondern einfach nur

frei

zu atmen


I’m nobody! Who are you?

Are you nobody, too?

dann kann ich dir nur viel Glück wünschen du tust gut daran etwas Ungewöhnliches zu versuchen wenn man in deinem Alter nicht das ein oder andere ausprobiert wird man niemals zufrieden sein

sagt Seymour

als ich aufbreche und noch rasch meine Teetasse auf die Spüle stelle es ist mir peinlich

dass ich plötzlich so viel über Eric über meine Reisepläne und über meine Großeltern in Kalifornien erzählt habe er berührt nur leicht und aufmunternd meinen rechten Oberarm als wir uns verabschieden

ohne den Rucksack

stehe ich einen Augenblick

auf dem Grund der Little Brazil Street

wie betäubt

vor mir ein zehn Meter hohes aufgeklapptes Mobiltelefon und der riesige schwarze Schoßhund dem ich von der Küche aus in die Augen sah ist

aufgegangen

es gibt keine Freundin Mary mit einer geräumigen Studentenbude auf der Upper East Side bei der ich heute übernachten könnte

in der heranhastenden Menge (losgelassen von einer umspringenden Ampel)

möchte ich fast zurückgehen hochfahren in den 23. Stock und Seymour eingestehen dass ich ihn nur abwimmeln wollte

drehe mich jedoch entgegen der ursprünglich von mir eingeschlagenen Richtung der dunkle Gang der Zukunft ist voller gesichtsloser Menschen ich habe zwei oder drei Telefonnummern von College-Bekanntschaften bis zur Verabredung mit Eric sind es nur achtzehn Stunden zudem herrscht

bestes Sommerwetter

Liegst Du bei mir

Liegst Du bei mir, dann steht die Zeit

blind vor unserem Raum.

Ihr Auge ist Erinnerung

an unseren letzten Traum.

Öffnet sie das schwere Lid,

sieht sie uns schon nicht mehr.

Die Zukunft ist der Korridor

für meinen Weg zu Dir.

Liegst Du bei mir einst jeden Tag,

dann flute Zeit heran,

Vergangenheit wird Gegenwart,

ich frage nicht mehr: Wann?

Martin

Zähle beruhige dich nein

ordne deine Tage durch Nachzählen streiche

drei Jahre im Kalender Tag für Tag es sind

1001 Tage nach Sabrinas Tod

durch das Notizbuch in ihrem blauen Rucksack erfuhr ich zum ersten Mal von ihrer imaginären arabischen Prinzessin Luisa dagegen kannte diese Kindheits-Fantasie sie hatte mit ihr ganz nebenbei darüber gesprochen an einem Grillabend als sie sich über Literatur und die Märchen aus Tausendundeiner Nacht unterhielten die Sabrina auf eine in fantastischer Symbiose mit ihr lebenden Schwester gebracht hatten

solche eingebildeten Lebenspartner

seien gerade für Einzelkinder nichts Ungewöhnliches und auch

nicht weiter bedenklich

beruhigte mich Luisa als wäre es noch von Bedeutung

heute wäre sie zweiundzwanzig Jahre und sieben Wochen alt und wenn ich einen Blick auf die New York Times auf meinem Schreibtisch werfe

Mr. Bush and his political advisers embraced the legacy of Ronald Reagan … Mr. Bush heralded the late president as a» gallant leader in the cause of freedom «and lionized him in an interview

könnte ich denken dass es entschieden gesünder ist Präsident der Vereinigten Staaten zu werden (und mit 93 Jahren in Bel Air, Kalifornien, zu sterben) als mit 19 dem JOIN-THE-ARMY-Ruf irgendeines Werbers vor einem Supermarkt zu erliegen und dann bei den

Zweiundzwanzigjährigen

in der fast täglich veröffentlichten und immer mehr einer Sportereignis-Tabelle ähnelnden Spalte von üblicherweise vier bis fünf im Irak gefallenen amerikanischen Soldaten zu stehen

Bush lobte Reagan in der Normandie

wo er sich zu den Gedenkfeierlichkeiten anlässlich des gestrigen 60. Jahrestages der Landung der Alliierten aufhielt zum ersten Mal nahm auch ein deutscher Bundeskanzler daran teil Schröder also umarmte seinen Bruder Chirac und auf dem Soldatenfriedhof von Colleville reichte PRÄSIDENT Bush den (alten) EUROPÄERN demonstrativ die Hand zum Zeichen des weiterhin unverbrüchlichen Bündnisses für die Freiheit im Gedenken an jene aufopferungsvolle große militärische Operation die Amerika jederzeit für seine Freunde wieder unternehmen würde ohne dabei wie in der Presse vielfach hervorgehoben wurde

den Irak ausdrücklich zu erwähnen

wie willst du je aus solchen gnadenlos ineinandergreifenden historischen Zahnrädern herauskommen die dich immer wieder in jenen Zustand von Hilflosigkeit und Apathie versetzen mit dem du nun diese Todesanzeigen mit so vielen knapp Zwanzigjährigen betrachtest

den ganzen Krieg

jene 21 Tage vielmehr die man fahrlässiger und optimistischer Weise als eigentliches Kriegsgeschehen bezeichnete

verbrachte ich in Berlin

am Sterbebett meiner Mutter

es war mir nicht gleichgültig was da auf den Monitoren in den Krankenzimmern oder dem einer zynischen Höllenkneipe (einem Feldlazarett) gleichenden Raucher-Aufenthaltsraum der Patienten geschah an dem ich oft vorbeigehen musste

wenn ich abends in meinem Hotel ankam schaltete ich zwischen den deutschen Sendern und CNN hin und her oft bis zwei oder drei Uhr mich wachhaltend mich betäubend wie in jenem Apartment in der Amsterdam Avenue damit ich aus purer Übermüdung schließlich in einen fiebrigen grell von Erinnerungen an die Fernsehbilder durchleuchteten Schlaf fand (ich kann mir die Hölle ohne Bildschirme schon gar nicht mehr vorstellen) ich sah die blassen deutschen Nachrichtensprecher die den Geschehnissen mit einer Art Leichenbestatter-Pietät zu begegnen suchten während die CNN-Leute wie stets genau für dieses Ereignis geboren zu sein schienen dem sie mit der konzentrierten Atemlosigkeit eines Tennisprofis die Bälle zurückschlugen um dann ihre gehetzten Bilder über dem BIZBAR zu servieren

STRIKE

ONIRAQ

PENTAGON.»SHOCK AND AWE«

OF OPERATION PUT ON HOLD

NETWORKING FIRM LINKSYS FOR $ 50 °CNN

am Anfang waren immer die gleichen Kameraeinstellungen zu sehen (eine fast leer geräumte Straße und eine smaragdgrüne Nachtaufnahme von Regierungsgebäuden am Tigris) starre Totalen vom Dach oder von hoch gelegenen Fenstern eines Hotels in Bagdad heraus in dem die meisten von der irakischen Seite berichtenden Journalisten und Kamerateams untergebracht waren bis man dann endlich die spektakulären Treffer auf das Verteidigungsministerium bieten konnte eine monströse kegelstumpfförmige Burg deren Mauerkrone unter den Raketenangriffen und Bombeneinschlägen krachend und knallend in den orangeroten Himmel spritzte in dem drei oder vier gleißende und dann schwarz rauchende Sonnen unterzugehen schienen und obwohl meine Schwester und ich uns bemühten die Nachrichten von ihr fernzuhalten fand die Erregung des Krieges zu meiner Mutter durch und sie wähnte sich erneut im Feuersturm in Hamburg in einer aktualisierten Version vielmehr ich sollte Lotta und Sabrina in Sicherheit bringen und meine Schwester ermahnen die stets zu unvorsichtig sei man müsse an etwas

Schönes denken

im Sturm

das sei das Wichtigste dieses Festhalten erklärte sie und lächelte unsicher denke an Weihnachten Martin an dein schönstes Weihnachten an die Gitarre und das Buch … jenes Buch … Brehms Tierleben! (kleine Ausgabe) das du immer wolltest

nimm den Kopf zwischen die Knie schütze dich mit den Händen denke an

was haben die Iraker unter dem Bombenhagel gedacht und was dachten die in dieser Welle von Mensch und Material über den Irak herfallenden Soldaten 160 000 so genannte Willige aus 36 Nationen während der

OPERATION IRAQI FREEDOM

im Sand in der Luft am Tag in der Nacht ein ungeheurer Hammer der pausenlos niederschlägt der keinen Schlaf und keine Ruhe benötigt das war die Idee der großen Wagenlenker und dann in drei Tagen nach Bagdad dennoch sollte alles

smart

verlaufen elegant und modern ein hyperpräziser High-Tech-Feldzug die Wucht des titanischen Dampfhammers gesteuert von feinsten Regelkreisen technokratisches Opium für die ungeduldigen mürrischen Greise in Washington die hemmungslos den Rest der unwilligen demokratischen Welt beschimpften schnell rein schnell raus nach der Art der alten Säcke und der jungen Wilden die sich blutverschmierte Haifischgebisse auf die Pilotenhelme malten

und: Ja, ich will verfickte Iraker töten! in die Kameras schrien

feindliche Divisionen aus der Luft zerhackend bevor man am Boden ihre Überbleibsel beiseiteräumte alles mit der Leichtigkeit von Joystick- oder Mauszeiger-Bewegungen

Stadtviertel aufschlitzend Häuser Autos Bäume Leichenteile durch die Luft schleudernd jedoch immer

präzise

kalkuliert koordiniert kommuniziert

Krieg als Fortsetzung des Computerspiels mit verheerenden Mitteln ein blitzartiges Zerfleischen der Angriffs- und Verteidigungsorgane des Gegners durchdacht von intellektuell wirkenden und auch tatsächlich promovierten jungenhaften Generälen digitalen Technikern des Todes die in Qatar in einer Wüsten-Zeltstadt ihr Central Command unterhielten Dutzende kurzgeschorener Männer in Tarnuniformen vor ihren Laptops eine Art militärisches Internetcafé bildend das

Joint Operations Center

in dem alles mit Licht- und Funkgeschwindigkeit zusammenschießt auf einem zwei Zimmertüren großen Gottesaugen-Bildschirm verwandeln sich die Daten von Spionagesatelliten ferngesteuerten fliegenden Kameras hochauflösenden Radarschirmen und CIA-Recherchen in rosa gelb blau und orange leuchtende Symbole auf dem grün und braun gehaltenen Untergrund des Irak überall und zu jeder Zeit Sicht (die Trifokalbrille des Verteidigungsministers rutscht auf dem Nasenrücken und das

Antlitz des PRÄSIDENTEN

verschwimmt zu einer Art Mickymaus-Maske mit grauer Haube) mit allen lebenden und toten (Instrument-) Augen selbst in der tiefsten Nacht ist EUER Land für uns

grün

wie ein riesiges trübes vermoostes Aquarium durch das wir in jeder beliebigen Höhe schwimmen um es an jeder beliebigen Stelle in Brand zu setzen aber natürlich ist es kein Schwimmen sondern der

Flug der Eulen des Mars

unsichtbar (fast)

bald einmal werden wir EUCH nur noch Stealth-Krieger schicken Avatare zweifach promovierter alter Männer die euch von ihren Krankenhausbetten in Washington oder Los Angeles mit zittrigen Touchpad-Mikro-Bewegungen ihrer versteiften Finger aus der vermeintlichen leeren Luft heraus zu ebener Erde oder in jedem Stock jedes (für UNS durchsichtigen) Gebäudes vollkommen lautlos abschlachten

natürlich nur die SCHURKEN! und

noch präziser dann als

bei jenem aufwändigsten MORD(ENTHAUPTUNGS)ANSCHLAG der Geschichte mit dem WIR nach langen Geheimdienstrecherchen diese

OPERATION

eröffneten mit jenen zwei Tarnkappenbombern und drei Dutzend Marschflugkörpern die genau anstelle der PRÄSIDENTENFAMILIE in einem unterbunkerten Nest nur ein Dutzend Zivilisten in einem nicht weiter befestigten Gebäude trafen

so ist der Krieg

sagt der General

sagt der Major sagt der Colonel sagt dieser und jener in die Kameras der Zukunft schauende Soldat mit klarem Blick und gefasster Stimme im sanften Licht der historischen Salon-Dokumentation aber auch auf irgendeinem Hausdach in Nadschaf wo man den Private XY verkohlte Körperteile in einen Plastiksack werfen sieht und gleichfalls trotzig erklären hört dass Krieg eben keine saubere und hygienische Sache sei anscheinend kommen sie damit zurecht (wenigstens so lange bis man sie zu den posttraumatischen Psychiatern an der Heimatfront zurückschickt) aber

sie vergessen gerne das besondere Charakteristikum der aktuellen West-Nahost-Kriege nämlich das unsaubere Opferverhältnis von eins zu hundert oder eins zu fünfhundert als Vorausetzung der gewissen hygienischen-medialen Distanz die sie wohl überhaupt erst ermöglicht überall sehen wir so viel Mühe so viel Geld und Technik für das halbe Denken und übervolle Handeln

der Einäugigen

im rechten Auge

des Apache-Hubschrauber-Piloten steckt

eine elektronische Simulation seiner feindlichen Umwelt das

MONOKEL

ersetzt beim Angriff in der Nacht die verräterisch leuchtenden Bordmonitore und Displays alles Notwendige spiegelt sich auf der kreisrunden uhrglasgroßen Scheibe in jahrelangem Training kann man die schizoide Zweiäugigkeit erlernen nämlich mit einem Auge die nah liegende Wirklichkeit der Kabine und mit dem anderen die leuchtenden Tabellen und Grafiken der Flugparameter zu sehen die über eine von den Infrarotkameras in Grün-Grau-Tönen wiedergegebene bewegte Bodenaufnahme huschen unter den dröhnenden Rotoren des Apache-Schwarms zeigen sich niedergeduckte

Objekte

in Moosgrün Jadegrün Schilfgrün plötzlich gesprenkelt von madenähnlichen weißlichen Schemen (je heller desto wärmer)

COMES LEFT!

ruft der Bordschütze links die grelle Explosion des Antriebsfeuers der Rakete (Hellfire) und wie simultan schon der Aufschlag und Treffer am Boden der Pilot hat sich rechtzeitig abgewendet um nicht geblendet zu werden die Hitze des Abschusses durchglüht die Kabine

auf der Erde

endet die Distanz wird

alles wirklich unter den fünfzig Meter hoch fliegenden schwarzen Hubschraubern zerreißen Palmstämme Lastwagen Panzer die Körper einiger Hundert Soldaten einer Saddam-Elitedivision und auch die Pflanzungen der Geräteschuppen der alte marineblaue VW und sein Besitzer ein vierzigjähriger Gärtner der alle zwei Wochen von Bagdad aus hierher fuhr um den Garten am Haus seiner Eltern zu pflegen in das er dieses Mal ausnahmsweise nicht seine drei Kinder mitgenommen hat weil ihm die Fahrt auf der offenen Straße zu gefährlich erschien die Distanzen verschwinden verschwimmen

in den lehm- und ockerfarbenen orangefarbenen bald wie rot glühenden dann braunen und fast schwarzen himmelhoch heranpeitschenden Fronten der Sandstürme in denen die Sicht auf eine Armlänge beschränkt wird in denen es sich wie in einem heulenden Riesenofen stirbt aber am nächsten Tag muss man

durch das Visier der Panzer

wieder klar sehen was man tötet das spritzende Blut die jähen Löcher in den Körpern die abgerissenen Arme Beine Köpfe

aus der Nähe

kann man die eifrig und massenhaft kapitulierenden irakischen Soldaten nicht erkennen die einem die Vorgesetzten zuhause immer wieder versprachen und erst recht nicht die über die Befreiung jubelnde Bevölkerung sondern man wird mit Kalaschnikows Sturmgewehren Panzerfäusten alten Schrotflinten von allen Seiten her beschossen von Uniformierten und Zivilisten von Hausdächern Brücken Türmen herab von überkommenen russischen T55-Panzern die der um einige technische Generationen überlegene Abrams mit einer Spezialmunition abschießt wie Bleienten

in deren Mägen die Besatzung regelrecht zerstückelt wird

in der Nähe ist es

grauenhaftes menschliches Hackfleisch ist es ein

brutales chaotisches brachiales Sich-Durchschießen durch eine äußerst feindselige zwar vorgestrig aber reichhaltig bewaffnete Umgebung die auf Pickups Motorrädern und sogar Fahrrädern Wahnwitzige heranschickt hasserfüllte Landesverteidiger pflichtschuldige Soldaten vom Geheimdienst gepresste Familienväter jugendliche Fedajin deren Angehörige einen Schuhkarton voll Dinare erhielten aus der Nähe betrachtet gibt es auch im Süden und in den schiitisch dominierten Städten und Ortschaften kein Willkommen sondern allenfalls abwartende Gleichgültigkeit stummes Zähneknirschen eine Passivität Lethargie verbissene Wut durch die man sich hindurchbombt — fräst — schießt

aber was weiß ich schon man betrachtet alles von oben was wusste ich damals (vor über einem Jahr) in Berlin

am Krankenbett meiner Mutter starrte ich auf die Illustrierte in meiner Hand auf diese asphaltgrauen feinst detaillierten Satellitenaufnahmen als schwebte ich gerade 3000 Meter hoch über dem zehntausendfach von Hausdächern parzellierten Bagdad durch das sich verkrampft wie eine Darmschlinge ein teerschwarzer Fluss wand kleine rote gelb gerandete irreguläre Sterne prangten überall die Hauptangriffsziele wie es hieß beziehungsweise (und wie selbstverständlich identisch damit) die durch Luftangriffe bereits zerstörten oder schwer beschädigten Gebäude

heute

von Boston aus

sehe ich mich selbst als eine solche Miniatur ich spüre dann fast nur noch einen

Satellitenschmerz

wenn ich mich auf den Fluren des Krankhauses sehe oder während der letzten verworrenen Gespräche mit meiner Mutter die mich einmal für den Zehnjährigen hielt der ich gewesen bin und dann wieder für einen Altersgenossen dessen Namen sie vergessen hatte einen Schulkameraden oder Nachbarn eine ungeheure

Entfernung

das war im Grunde meine einzige Rettung

über dieses weiß-graue Linoleum eines Berliner Krankenhausflurs gehen und auf nichts mehr achten als wäre es eine schmale Brücke aus Sternenstaub im Weltraum die beim übernächsten Atemzug mitsamt dem Universum verschwinden würde

ohne Kommentar

bevor ich nachts zu lesen und zu weinen versuchte und schließlich in den beginnenden Krieg im Irak tauchte um mein Bewusstsein mit fluoreszierendem Schrecken zu verwunden so dass ich einschlafen konnte ging ich ein oder zwei Stunden lang durch das eisige Berlin das ich immer noch gut kannte das sich an mich aber nicht im Geringsten zu erinnern schien (weshalb auch) ich hatte außer meiner Schwester und ihrer Familie denen ich nicht lästig fallen wollte niemanden mehr den ich hätte anrufen können und angesichts all dieser Dinge der Menschen vielmehr die mir endgültig entglitten waren und entglitten spürte ich manchmal eine seltsame kühle und freudlose

Erleichterung

eine weitgehende Verantwortungslosigkeit für meinen Zustand

etwas wie eine gleichgültige Geburt

in einem Bistro das ich betrat um mich auf dem Weg zum Hotel aufzuwärmen traf ich eine große aschblonde Frau in den Vierzigern mit einem Leberfleck auf der Oberlippe die mir bekannt vorkam es war eine der Krankenschwestern die ich bei meiner Mutter gesehen hatte sie wusste sehr viel über mich den» Herrn Professor «auch dass ich geschieden war und eine Tochter verloren hatte (aber nicht wie) man muss sich vorstellen

dass ich seit Wochen in keinem sonderlich guten Zustand war also

konnte ich mir ausmalen dass wir nach einer längeren Unterhaltung hastig und schweigend

wie Leute die ein Geschäft abgeschlossen haben und es dann auch zu Ende bringen wollen nebeneinander hergingen in der Winternacht auf dem knirschenden Splitt der Bürgersteige versuchsweise auch einige Schritte lang untergehakt wobei ich (vielleicht) ihre kühle große langfingrige Hand hielt (mit Erregung und Schrecken als wäre sie bereits eines ihrer Geschlechtsorgane) es könnte sein

dass mich das Aufblitzen von Triumph oder war es einfach nur ihr mädchenhafter Stolz auf einen besonderen Fang noch abwesender und nervöser machte als bei den drei oder vier kurzen Abenteuern in meinem eher frauenarmen Leben es könnte aber auch sein dass mich

das Fremde die Wärme die verstörend wirklichen Details (der großzügige Hauseingang eines alten Berliner Mietshauses der Schachbrettfußboden ein enger Fahrstuhl mit manuell zu bedienenden hölzernen Klapptüren herumliegende blau-weiß gestreifte medizinische Taschenbücher und Hydrokulturpflanzen mit runden künstlichen Steinchen und feinen durchsichtigen Prüfröhrchen wie ich sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte) in einen regelrechten

Vergangenheitsrausch

versetzten als wäre das hier ein Fehltritt

in mein eigenes früheres Leben im Grunde handelt es sich nur um eine lebhafte

Erinnerung

denn ich bin eigentlich zu solchen Handlungen nicht mehr fähig die von einer falschen herbeigezwungenen Wärme eingeleitet werden unter der eine bloß mechanische Leichtigkeit steckt nichts Anderes als dass man jetzt einfach so agieren kann die Nacktheit

als Tatsache fast als etwas

Kriminelles oder Krimihaftes herbeiführen für Sekunden für Minuten

womöglich

eines einfachen tierischen Glücks

die Erkenntnis

dass man (auch) einfach so ist sich in einer Frau als einfaches glückliches Sekundentier erkennen (Stallwärme Milchfluss fruchtbarer Dung rote Spalten warmer Heuhaufen) oder wäre es

jene von mir selten erlebte absinthartige Mixtur aus Bitterkeit und kalter Erregung bloßer Pfahl im Fleische bis zur Aufreibung kleinerer Wunden ein

Sich-müde-Ringen

eigentlich dem ein schon fast komisches gegenseitiges Unverständnis und Aneinander-Vorbeireden folgt bei dem man aufsteht und sich wieder zu Bett begibt und die behaarten hellrosa Brustwarzen den herabhängenden Hintern (die baumelnden Hoden) des Anderen sieht so etwas

geschah mir in einem früheren Leben die große Frau mit dem Leberfleck auf der Oberlippe

besuchte mich eben nur dort und einige Male

sah ich sie noch im Krankenhaus und ich saß mit einem schlechten Kindergewissen neben meiner Mutter als hätte ich eine Fensterscheibe eingeworfen oder eine teure Vase zertrümmert wenn ich

mich selbst verachtete oder wenigstens verspottete

dann konnte ich an meinen letzten Besuch in Deutschland mit Sabrina denken ohne mich vor Schmerz zusammenzukrümmen

wir waren nur zwei Tage in Frankfurt geblieben dann nach Berlin geflogen wo Luisa und ich ein Hotelzimmer nahmen während sie bei ihrer Cousine Lotta wohnte mit der sie dann einige Tage später zur Europa-Tour aufbrechen wollte ich war zum ersten Mal mit Luisa in Deutschland und deshalb nervös immer bemüht es beiden Frauen recht zu machen und dankbar wenn Luisa was sie häufig tat sich von mir trennte sich bei Sabrina unterhakte und schwesternhaft mit ihr verbündete

sie ist wunderbar sie ist so genau und bescheiden ich denke sie könnte eine Dichterin werden

sagte Luisa

weshalb studiert sie dann am MIT fragte ich zurück und bekam zur Antwort dass ich es aufgeben sollte irgendeine Art Kontrolle über meine Tochter auszuüben du musst

loslassen

wie oft habe ich das gehört mir selbst gesagt und mich doch auch in den meisten Fällen daran gehalten die im Nachhinein nur leichte Übungen für dieses absolute schwarze Loslassen waren aus dem ich nicht mehr herauskomme ich sehe sie am Deutschherren-Ufer in Frankfurt auf dem leeren Sockel ICH stehen und lachen (lasse los) ich ging mit ihr in Berlin in eine Kino-Spätvorstellung wie zu meinen eigenen Studentenzeiten und sie lehnte einmal (kurz) müde den Kopf an meine Schulter (der Film ist verschwunden es kommt mir vor als hätten wir einem grauen lautlosen Wasserfall auf der Leinwand zugesehen) vor dem Eingang zum Pergamonmuseum machte ich den Fehler ihr zu erzählen dass Hitler eine Version von Böcklins Toteninsel erworben hatte ich wollte eigentlich auch noch mit ihr nach Weimar fahren und dort auch das Konzentrationslager Buchenwald besichtigen aber ich ließ dann los es war überhaupt nicht nötig sie weiter und weiter zu erziehen heute

träume ich von der schwarzen Gestalt

in Afghanistan

und man könnte sagen dass ich sie mittlerweile verhüllt habe aber immer noch nicht loslassen kann also sie nur verhüllt habe damit es mir erlaubt ist mich

schweigend an ihre Seite zu setzen

ich ließ meine Mutter los im Berliner Winter es war ein Aufatmen ihrerseits oder man konnte sich das wenigstens sagen alle Dinge Gegenstände Fenster Mauern schienen einen Atemzug lang durchlässig so dass der Vogel der Seele sie mühelos zerteilte

ihr letzter Satz war dass

es nun genug sei und dass ich

auf sie

aufpassen solle aber ich weiß nicht wen sie meinte ich dachte vielleicht meine Schwester aber ihre Sorge könnte auch Sabrina gegolten haben oder Lotta nach der Beerdigung blieb ich noch einige Tage ohne genau zu wissen weshalb

ich versuchte wohl

mich zu verabschieden oder vielmehr die richtige Weise des Abschieds zu finden (von meiner Mutter von meiner Schwester die ich gewiss nicht so bald wiedersehen würde) von Deutschland wohl auch das mir auf eine ruppige und selbstgerechte Weise friedfertig erschien wann stimmt man einem Land zu wenn man bleibt wenn man dahin zurückfährt ich fand noch während ich in Berlin blieb heraus dass ich einen Zugang zu Lotta suchte die ich seit der Gedenkfeier in New York nicht mehr gesehen hatte

am vorletzten Tag meines Aufenthaltes

nachdem alles geregelt war (wie man behaupten kann wenn es um nichts mehr geht)

sprachen wir ein einziges Mal über Sabrina nachdem wir über meine Mutter geredet hatten die ihre amerikanische Enkelin sehr ins Herz geschlossen und mit einfühlsamen und verlässlich eintreffenden Geschenken bedacht hatte bis zuletzt

Lotta meinte mit einem etwas gereizten Unterton dass es eigentlich doch möglich gewesen wäre öfter nach Deutschland zu kommen

es gelang mir nicht ihr Verhältnis zu Sabrina genauer zu verstehen ich wollte etwas über ihre gemeinsame Europa-Reise erfahren und bekam nur zu hören

dass Sabrina zu Beginn» extrem vorsichtig «gewesen sei und später dann

lockerer

wenn ich von meinem Arbeitszimmer das im ersten Stock eines Backsteinhauses nahe am Campus liegt hinausschaue sehe ich jeden Morgen Dutzende von Studenten im Alter meiner blonden deutschen Nichte vorbeigehen im Unterricht (diese 16 Stunden die ich an der Bostoner Tufts University vertretungsweise übernommen habe um Luisa näher zu sein und um mich ein weiteres Jahr nicht entscheiden zu müssen) rücken sie mir kaum näher

ich habe gelernt

ihnen diese Distanz zu lassen das heißt zu versuchen jedem mit der gleichen Freundlichkeit so nahe zu kommen dass ihm ein eigener Raum bleibt er aber das Interesse des Lehrers an seinem Fortkommen spürt es ist gleichsam ein beharrliches Auf-der-Schwelle-Stehenbleiben

zumindest war es das früher einmal jetzt aber sitze ich nur

draußen

auf einer Bank im Park und hoffe dass sie mich sehen und dass ihnen das genügt

Maryann Davenport (22)

Michael Berenger (24)

Jonathan Mailer (22)

Stuart springt aus dem Humvee den er bis nah an die umkämpfte Euphrat-Brücke vor Nasiriyah gefahren hat in einem Pulk anderer Humvees und Lastwagen die schneller vorankamen als die Panzer eine schwarze Rauchsäule steigt in die Höhe (rechts etwa fünf Uhr) aus dem Nichts mit einem Donnerschlag und einer Druckwelle die für einen Augenblick die Zähne in zerspringendes Porzellan zu verwandeln scheint und die Körperhaare in gesträubte gläserne Borsten die Schrapnelle der Mörsergranaten haben einen Vorderreifen zerfetzt aber sonst anscheinend nichts die weiteren Einschläge erfolgen so nah und sind so laut dass die Ohren nicht mehr aufhören zu klingeln das hässliche wütende Geräusch des Gewehrfeuers scheint unwirklich gedämpft als hätte man es wie den Ton eines Radios leiser gedreht und einzelne Kugeln pfeifen scheinbar harmlos durch die Luft wie in einem Zeichentrickfilm und plötzlich ist es ganz still als warteten alle (Freund Feind) auf das Eingreifen einer dritten Partei oder Macht

ein athletischer Zwanzigjähriger

in einer der vorderen Reihen zumeist

sehr aufmerksam ja beinahe schon zu konzentriert zu angespannt

als ginge es um viel mehr als um Werthers Leiden eine Novelle von Kleist oder Aphorismen von Schopenhauer er hält sich vollkommen aufrecht anscheinend steht er unter einer ständigen inneren Anspannung die ihn fast vibrieren lässt er ist zu ernst zu verbissen um originell zu sein

wenn man Granateinschläge in unmittelbarer Nähe überlebt hat soll sich eine nahezu überirdische Heiterkeit einstellen die sekunden- oder minutenlange gefährliche Illusion göttergleicher Unverletzlichkeit

wenn die in dein Arschloch geflogen wäre! ruft Jonathan direkt aus einer flachen Sandkuhle heraus in die er sich gepresst hat er ist der Zweite von rechts auf jenem Mannschaftsraum-Foto des Zuges auf dem er ein großes Kampfmesser schwingt während Stuart selbst (Erster von links) sein Sturmgewehr auf die Füße von Michael richtet der sich das grüne T-Shirt bis über die Brustwarzen emporgezogen hat und sich mit obszön von unten her kommendem Blick an den Penis fasst genau wie jetzt im Sand vor Nasiriyah wo er ihn im Liegen aus der Uniform zerrt um auf die Seite zu urinieren keiner will sich einnässen wie eine Memme mitten im Gefecht die Aufputschmittel das Adrenalin der direkt aus den aufgerissenen Tüten gelöffelte Nescafé die Angst die Übermüdung des seit 30 Stunden schlaflos im Einsatz vorangetriebenen Körpers verwandeln

alles

in einen hyperrealen dreidimensionalen Film in dem man jedes Steinchen jeden Lichtreflex auf dem Metall der Waffen der Helme der Fahrzeuge jeden Schweißtropfen der Kameraden jedes Härchen auf der eigenen um den Gewehrgriff gebogenen rechten Hand am Abzug unter einer Lupe zu sehen glaubt wobei der Projektor dieser irren Wirklichkeit hin und wieder anhält das Zelluloid zu verbrennen scheint (nein es ist alles schon digital hochaufgelöst in Milliarden Pixel vom sandigen Grund bis zum jaulenden schier ockerfarbenen Himmel) dann plötzlich zu rasch wieder anspringt flimmert in grellen Farben explodiert

Artilleriefeuer der eigenen Truppen im Rücken und Jonathan der aus welchem dämlichen Grund auch immer sich hoch aufrichtet steht und dabei versucht eine Granate in den Unterlauf seines Gewehrs zu schieben

als drehten sie jäh den Ton ab

vielleicht weil ein dürrer Hund mit zerfetztem rechten Vorderlauf panisch auf die Brücke zuläuft die sich in eine gelbschwarze Sandraupe verwandelt dahinter die von Rauchwolken verfinsterte und verhüllte Stadt hauptsächlich Lehmziegelhäuser dicht zusammengeschoben scheinbar ohne trennende Straßen oder Plätze nichts als ferne staubige trostlos im Sand brütende Ansiedlungen und Dörfer sah man bislang

vom Irak

ein Land bevölkert scheinbar nur von im Hinterhalt liegenden Schützen gekrümmten schwarz vermummten alten Frauen wahnsinnigen oder komplett furchtlosen Bauern die ihre Schafe und Ziegen mitten durch die Lastwagen- und Panzerkolonnen treiben

was denkst du

wird sich bessern wenn du zu den Marines gehst

fragt der Herr Professor eines Tages in einem Seminarraum den alle Studenten außer Stuart gerade verlassen haben er hält sich aufrecht wie immer trägt ein Poloshirt das seine muskulösen Arme zur Geltung bringt hat aber die Hände in einer grundschülerhaften Wäscheklammerhaltung um die Kante des Schreibpults gelegt weshalb diskutiere ich mit ihm aber es wird keine richtige Diskussion noch nicht einmal eine Beratung ich bin nur neugierig und verlegen weil er mir eröffnet hat dass er zur Armee gehen würde statt einfach zu verschwinden was erwartet er von mir

sein regelmäßiges junges Gesicht unter den dichten schwarzen Haaren ist blass und wirkt etwas gedunsen sonst wäre es hübsch zu nennen so lange jedenfalls bis man diesen Zug von Verbitterung oder Entrüstung die Anzeichen von Unerfüllt-Sein (vielleicht nur das) entdeckt das er jetzt wohl hinter sich zu lassen versucht

ich beruhige mich nie ich bin immer allein auch wenn ich eine Freundin habe auch wenn ich Sport treibe es genügt gar nichts um ruhig zu werden und dann wieder regt mich nichts genügend auf wenn ich das möchte nie geht es um etwas wo nicht immer ein schrecklich deprimierender Rest verbleibt Langeweile oder Einsamkeit Sie würden sagen Ennui aber ich bin nicht blasiert es ist nur

dieses lächerliche Leben und das immer so weiter

verstehen Sie?

man hätte (ich hätte) weiter ausholen müssen

an diesem Punkt es fiel mir nur gerade kein passender Schriftsteller oder Philosoph ein den ich hätte zitieren können um nicht zu privat zu werden die Antwort

auf das lächerliche Dasein

hat er womöglich vor Nasiriyah gefunden ein Kompaktwerden der Dinge in Euphorie und Todesgefahr und Angst gleich wird er aufstehen und die zwanzig Meter zum nächsten Humvee nach vorn laufen für einen Augenblick kommt ihm der steinige Sandboden wie jener Strand auf Cape Cod vor an dem sie vor zwei Monaten fast in der gleichen Anordnung lagen (Jonathan links Michael rechts) mit Bermudashorts und jeder Menge Dosenbier Sonnenbrillen die glänzenden tränenförmigen Mini-Kopfhöher ihrer MP3-Player in den Ohren

ein winziges Tier eine Art Sandfloh oder eine kleine senffarbene Spinne vielleicht bemüht sich den rieselnden Abhang der Kuhle zu erklimmen in die er atmet

diese Idioten wir sollten –

sagt Michael der zu den Kerlen gehört für die das Töten das Töten-Dürfen und Töten-Müssen den großen Kick ausmacht den ausgesprochenen Hauptgrund seiner Zugehörigkeit zu den Marines

was sagst du wir sollten was du siehst

in das rote Loch in Michaels Hals du springst auf aber es ist eine Art rosa Sonne im Weg die zerreißt und unerträglich hell wird

friendly

fire

wird es einmal heißen

Stuart Weingart (24)

Muna

Wir (Sami und ich)

werden nach Wasiriya zurückkehren müssen spätestens am Ende dieses Semesters und wer weiß für wie lange

erst waren es die Bomben in der Luft die uns zusammentrieben jetzt sind es die Wölfe auf der Straße die Menschen ausrauben entführen niederschießen die dir ein Kopftuch aufzwingen und dich Hure nennen nachdem sie dich vergewaltigt haben noch zwei oder drei Wochen vielleicht werde ich zur Universität fahren können bevor man mich wieder

verbirgt

im Stammhaus unserer Familie

in dem alles begonnen hat mit Jasmins Hochzeit mit ihrem feigen Bräutigam Kasim und dem Major ich wollte nicht mehr unter dem Bett liegen und erdrückt werden sondern

obenauf

mit Dir

Geliebter aber ich versank ich jammerte presste mir die Fäuste auf die Ohren verbiss mich in meinen Fingerknöcheln krümmte mich vor Wut Angst Schmerz es gab kein Hinauffliegen mehr keine Fantasie eines Sich-in-die-Lüfte-Erhebens die stolze Dau des Königs wäre so schnell zerschossen und in Stücke gerissen worden in diesem wahnsinnigen Himmel über Bagdad unter dem wir leben mussten schwarz vom angezündeten Öl rot vom Wüstensand heftiger Stürme grell silbrig blitzend am hellen blauen Morgen ein heulender und krachender Deckel unter dem wir schmorten eine drückende Grabplatte Nächte in düsterem Violett erstickt an Teerfarbe durch die sich feurige Risse zogen bis in unsere verkrampften Eingeweide

wir hatten es uns nicht vorstellen können

damals (vor mehr als eineinhalb Jahren) als wir uns auf den Dächern der alten Häuser in der Sonne gegenübersaßen

und auch nicht als wir uns in der Schule voneinander verabschiedeten über ein Drittel der Klasse war schon gar nicht mehr erschienen von etlichen hieß es sie seien mit ihren Eltern und Geschwistern in den Norden oder gleich nach Syrien oder Jordanien geflohen ich konnte Eren nur noch schreiben und Huda umarmte mich ein letztes Mal heftig traurig und wütend es war einfach so dass wir überhaupt nichts tun konnten außer uns

in die Freiheit bomben zu lassen

es wird gut ausgehen flüsterte mir Huda zu deine Schwester

ist ja auch zurückgekommen

was für ein Trost

ein schwarzer zerrupfter Vogel zitternd und stumm

es war im Zuge einer dieser großartigen Amnestien unseres PRÄSIDENTEN gewesen (seiner letzten wohl) er entließ Mörder Betrüger Diebe und vollkommen Unschuldige in Bausch und Bogen

Der Vater des Volkes

Der Vater des Volkes

tritt zur Tür herein.

Er schenkt dir einen neuen Kühlschrank.

Er zerschneidet die Handgelenke deiner Mutter.

Er bringt deinen neuen Fernseher

und Strom,

den er an den Kopf deines Bruders schließt.

Heute ist Feiertag.

Man wirft Spezialitäten in heißes Fett.

Singe für ihn!

Tarik zeigte mir vor einigen Tagen erst dieses Gedicht er und Onkel Munir waren losgegangen um Jasmin zu holen das Gefängnis war schon fast leer nur einige Angehörige und verwahrloste Gefangene irrten noch umher auf dem Boden einer Zelle schließlich fanden sie

Jasmin wie

zertreten

sie schwieg in ihrem kleinen Zimmer neben dem meiner Eltern in Wasiriya sie wurde von zwei Fachärzten besucht (Freunde meines Vaters) sie schwieg meine Mutter reinigte ihre Wunden ihre Füße waren fast durchbohrt die Arme und Hüften verbrannt sie schwieg und blieb in sich versunken obwohl sie klaglos alle Medikamente nahm die mein Vater für sie auftreiben konnte manchmal

setzte ich mich neben sie auf den Fußboden auf dem sie kauerte sie schien es gern zu mögen wenn ich so nah saß dass ich sie gerade nicht berührte meine stolze Schwester verkrümmt und abgemagert sie streichelte einmal mein Gesicht auf eine ungeschickte kindliche Art bald brachte ich es nicht mehr fertig sie anzusprechen und sie erschrecken zu sehen es war besser ebenfalls zu schweigen und schweigend kam es mir mitunter so vor als hörten wir die gleiche Stimme oder die gleiche Musik oder als wäre es auch schon gut

so

in einem lichten Zimmer auf einem sauberen Teppich in einem stillen Winkel

zu sitzen und mit dem Oberkörper schrecklich kindliche Wiegebewegungen auszuführen für lange Stunden ich fragte mich ob sie fassungslos ihre eigene Vergangenheit sah sich selbst als stolzen Falken als gefeierte Braut als Wissenschaftlerin im Labor als von ihrem farblosen Ehemann gelangweilte Frau die sich im verrückten Überschwang einen gefährlichen Liebhaber aus der Armee nimmt

jede Explosion jede heranheulende Rakete jeder Einschlag der die Mauern des Viertels erbeben ließ brachte uns dem Tag näher an dem wir uns rächen konnten der Major würde bald nichts weiter sein als ein gewöhnlicher Zivilist

meinte Sami eine Kalaschnikow koste 20 oder 30 Dollar in Saddam-City und er würde bald eine kaufen lasst uns

in Frieden

sagte (wie ich fest glaube) meine Schwester

ohne ein Wort es genügt

verschont zu sein und das Leben schmerzlos

verstreichen zu lassen

nichts ist wunderbarer als die Blume

die im Feuer überlebt

langsam konnte Jasmin sich vielleicht erholen sich wieder aufrichten auch wenn uns ihr Schweigen quälte mit der Vorstellung unaussprechlicher Torturen

aber dann schrie sie plötzlich es war in der siebten Bombennacht ihr amerikanischer

SHOCK-AND-AWE-Therapeut

hatte sich etwas Besonderes einfallen lassen schwere Detonationen und unberechenbare Pausen dazwischen durch die geöffneten und mit Decken verhängten Fenster heulte der Sandsturm und um drei Uhr morgens gab es einen harten scharf umgrenzten überwirklichen Knall eine infame grelle Gewalt die so nah und so unabwendbar so gemein so maßlos und durchdringend war dass man nur noch vor Empörung zittern konnte und da endlich schrie Jasmin auf und seither sprach sie wieder allerdings nur

Französisch

sie erkannte uns nun alle und nannte Farida Maman und mich MaSoeur sie kannte auch die Tanten und Cousinen wieder nur die Männer (einschließlich Samis) hatten keinen Namen mehr

an einem der Bombentage tröstete Jasmin unsere siebenjährige Nichte Nuha die sich an sie klammerte als sie gerade am Wohnzimmer vorbeiging fast alle Anwesenden erschraken ohne genau zu wissen weshalb und als Jasmin sie nur

MaPetite

nannte und in die Arme schloss wie es jeder andere Erwachsene auch getan hätte fiel mir ein dass sie selbst ihre ersten Bomben als Siebenjährige gehört hatte während des Krieges gegen die Perser und dass auch ich sieben Jahre alt gewesen bin als die ersten amerikanischen Bomben in Bagdad einschlugen

heutzutage genau kalkuliert über Satelliten ferngesteuert mit intelligenten Triebwerken hatte Sami verkündet zu Beginn des Angriffs war er aufgekratzt und auf eine schon fast irre Weise fröhlich so als würde er das ganze riesige Computerspiel in dem wir uns befanden nur genießen seit er mich vor Nabil so angeherrscht hat (was willst du immer mit dem da) fällt mir sein Schnurrbartflaum auf ich verliere Stück für Stück meinen lieben Kinderfreund an meinen Mann werdenden Bruder

nach einer Woche Krieg aber

ging es ihm wie uns anderen in der Großfamilie meines Vaters die sich immer müder immer ausgelaugter zum Essen und Fernsehen im Wohnzimmer von Onkel Munir traf der das Elektrogeschäft leitet wir aßen dort in zwei Schichten wenn wir zu viele wurden und lagerten auf der großen Couchgarnitur immer häufiger fiel der Strom aus und der Generator versorgte dann nur noch den Kernbereich des Hauses der große Bildschirm funktionierte aber stets und so trafen sich davor die Frauen Kinder und auch die Männer da fast keiner mehr zur Arbeit ging Onkel Munir und Tante Jamila residierten auf ihren Ohrensesseln Onkel Fuad und Tante Fatima saßen auf einer Couch neben meiner Mutter die kinderlose Tante Aischa die mit ihrem Mann Achmed die Buchhaltung machte konnte sich immerhin noch beschäftigen und stand oft nur mit knackenden Fingergelenken in der Eingangstür während Munirs jüngster Sohn Abdullah seine Frau Nawal und ihre drei Kinder auf den Teppichen lagen neben ihren Töchtern Miral und Sara die in meinem Alter sind und deren jüngeren Brüdern Raschid und Machmud

es schien uns

als könnte uns so (in dieser Versammlung) nichts zustoßen als schützten uns das gemeinsame Essen und Kochen das Gedränge in den engen Badezimmern die Witze die Streitereien die Vermengung von Gerüchen und Sorgen vor einem Schicksal wie dem der wenige Straßen entfernten Familie (womöglich jener harte wütende Knall der Jasmin zum Schreien brachte) deren Haus von einer Rakete zerschlagen wurde nur der Vater hatte überlebt ein noch junger Mann er zeigte immer wieder fassungslos auf die rauchenden Trümmer in seinem Rücken die seine Frau und seine drei Töchter begraben hatten kannst du begraben sagen wenn

in einer Sekunde

alles zerstampft wird von einem Blitz wir sahen

blutende und schreiende Patienten in einem Krankenhaus das wir in zehn Minuten zu Fuß erreichen konnten der Fernseher war wie ein Periskop für den Schrecken unmittelbar vor unserer Haustür im Meer des Krieges Kinder mit abgerissenen Beinen bei Al-Dschasira verkohlte Soldaten wie aus Lava und Asche geformt in einem Jeep sitzend Feuer und Blut flackernde Aufnahmen der BBC die sich stabilisierten während das Staatsfernsehen immer fadenscheiniger und wahnsinniger wurde der PRÄSIDENT als altersschwache fahle Kopie seiner selbst vor einem blauen Vorhang forderte uns auf mit bloßen Händen zu kämpfen patriotische Tanzgruppen und Chöre freuten sich auf den Tag an dem die Köpfe von Bush und Blair über den Boden rollen würden dazwischen hob ein Chirurg in einer Klinik bei Hilla (noch vor Kurzem waren wir dort gewesen hatte ich an der Seite meiner Mutter vor den Ruinen von Babylon geschlafen) sein Skalpell und schrie in die Kamera dass es nach vierzig Operationen stumpf sei wie ein Brotmesser

die Mütter

griffen ein sofern sie noch die Kraft hatten und holten die Kleinen aus unserem Beduinenlager vorm Fernseher heraus von dem wir uns nicht reißen konnten das irre Auge auf die irrsinnige Welt in der wir zuhause sein mussten der Märchenerzähler von Bagdad war Al-Sahhaf der

INFORMATIONSMINISTER

Baghdad Bob der in olivgrüner Uniform mit schwarzem Barett vor einer völlig weißen wirklichkeitsentleerten Weltkarte saß und fürchterliche Verluste der Aggressoren verkündete das baldige Verenden der amerikanischen Riesenschlange in der Wüste die unglaublichen Siege unserer Truppen noch wenn ein Panzer über ihn rollt wird er erklären alles sei in Ordnung er sei schließlich die letzte irakische Tellermine knurrte Onkel Munir in dessen schweren alten Händen ich nie zuvor ein Gebetskettchen gesehen hatte

halbe Tage lang sahen wir auf Videos alte Hollywoodfilme ägyptische Schnulzen und endlose Zeichentrickserien von Disney mit den Kindern um sie zu beruhigen Märchen um Märchen bis einem jede Nachricht gleichgültig geworden war und man glaubte die Bomben krachten nur in den Lautsprechern unserer Apparate

meine Mutter

sah nie Fernsehen sie las sie kümmerte sich um Jasmin sie kochte und wusch ohne stärkere Gefühlsregungen zu zeigen sie blätterte im Koran und ich setzte mich manchmal einfach neben sie auf das Bett in dem schmalen Zimmer mit dem sie und Tarik hier vorliebnehmen mussten wir werden das hier durchstehen sagte sie stets wenn sie spürte dass ich einen Trost erwartete

mit Märchen mit Computerspielen (Sami und seine Cousins sobald der Strom wieder einsetzte) mit Jasmins stundenlangen Wiege-Bewegungen gegen die ich oft anschreien wollte dagegen anschreien dass man sich an ihre stumpfe trancehaft verlorene Art gewöhnte an den Verlust ihrer hochmütigen funkelnden Persönlichkeit

sie haben es nicht auf uns abgesehen nicht auf die Zivilisten sonst wären wir alle schon längst tot beruhigt euch wartet ab

sagte mein Vater immer wieder sie haben es nicht auf uns abgesehen wir werden das hier durchstehen wir wiegten uns mit geschlossenen Augen stundenlang im Dunkeln wir krallten uns am Flimmern der Bildschirme fest während die Hauswände bebten sie hatten es nicht auf uns abgesehen wir stehen das durch die doppelte Kuckucksuhr meine Eltern meine großartigen unverletzlichen Eltern die draußen auf den Straßen offenbar durchsichtig wurden oder durchlässig für Granatsplitter und Gewehrkugeln denn Farida ging einkaufen (solange es noch und sobald es wieder etwas gab) und Tarik arbeitete fast jeden Tag in der nah gelegenen Praxis eines Kollegen sie gingen zwischen brennenden Ölgräben MG-Nestern und Stacheldrahtwällen der Soldaten und Fedajin hindurch als seien diese nur aufgeblasene wichtigtuerische Spielzeugfiguren (was waren sie mehr niemand konnte es fassen wie schnell dieser ganze ungeheuerliche Apparat zerfiel der jahrzehntelang wie eine Bleiplatte auf uns gelegen und das Blut aus unserem Körper gepresst hatte)

nach drei Wochen

waren wir so fahrig und verrückt wie das Staatsfernsehen in den Wiederholungsschleifen der Bombennächte die immergleichen Geschichten meiner Cousinen Miral und Sara mit denen ich ein Zimmer teilte drückten mich nieder die Sendeausfälle betrafen unser Gehirn ich redete manchmal ohne es zu bemerken wir kramten das Fitness-Video eines amerikanischen Super-Modells aus das in Manhattan aufgenommen worden war einige Sequenzen spielten vor einem roten Wassertank auf dem Dach und man sah all die Hochhäuser in ihrer maßlosen Staffelung und dazwischen immer wieder die beiden noch unversehrten Türme des World Trade Centers wir drei knapp zwanzigjährige Frauen versuchten in dem engen Zimmer dessen Tür wir verrammelten wenigstens einige der platzsparenderen Übungen nachzumachen um nicht vollkommen steif und ungelenk

zu Tode gebombt zu werden aber (sie hatten es nicht auf uns abgesehen) es geschah

uns nichts wir hörten nur

von Verletzten von Bekannten die jemanden verloren hatten der Verlust dachte ich

wenn ich von Detonationen erschüttert die Hände auf die Ohren gepresst zwischen meinen Cousinen lag

war nur etwas an das man sich wieder gewöhnen musste ich dachte man kannte es ja schon

so nämlich war man zur Welt gekommen ich las schon lange nicht mehr im Koran (weil ich nach meinem Vater komme das ist alles) aber ich dachte oft dass es dort hieß

wir seien ja auch schon tot gewesen

vor unserer Geburt

und ich erinnerte mich nicht an irgendeine Form von Qual oder Schmerz ich brauchte nicht mehr zur Schule zu gehen nicht zu lernen nicht über die Universität nachzudenken nicht über London nicht über Dich den ich verloren hatte ohne ihn je zu berühren

der letzte Anruf

bevor das Telefonnetz in unserem Stadtteil zusammenbrach kam dann vollkommen unerwartet von Dir Du hattest Tarik versprochen nach unserem Haus zu sehen Du riefst von Freunden aus an bei denen der Apparat noch funktionierte alles wäre in Ordnung an unserem verriegelten alten Haus in Betawiyn nur

Abu Yusuf

der Familienvater und Gärtner von nebenan der die Orangen- und Ginkobäume auf das Dach gepflanzt hatte und hin und wieder den strampelnden stämmigen kleinen Achmed unter den Arm geklemmt und so getan hatte als wolle er ihm den Hintern versohlen

sei tot

im Garten ihres Hauses bei Al-Mussayyib den er regelmäßig gepflegt hatte war er von seinen Eltern gefunden worden halb verkohlt neben seinem zerschmetterten blauen VW ein Schwarm von Hubschraubern habe in der Nacht Soldaten unserer Armee angegriffen die in einem nah gelegenen Palmenhain lagerten

sie haben es nicht auf uns abgesehen hier im Kollateral-Land ich konnte zwei Nächte nicht schlafen die Gedanken an Achmed und Hind schmerzten als hätte ich zwischen Dornenranken nächtigen wollen wir

sitzen auf den niedrigen warmen Steinmauern in der Sonne auf dem Dach und können uns

nichts vorstellen

Abdullah (mein ältester Cousin der Vater von Nuha) war Soldat er musste eine Tigris-Brücke verteidigen und Nawal gab ihm eine Plastiktüte mit Zivilkleidung die er rechtzeitig anziehen sollte man hatte sich auch einmal nicht vorstellen können dass so etwas im Irak möglich sein würde dass die Generäle Majore Kommandeure und so fort einfach verschwinden beziehungsweise nachhause gehen würden

anstelle der kleinen verborgen unter einem Dachvorsprung lauernden Satellitenschüssel brachte Onkel Fuad plötzlich eine große nagelneue auf dem Dach an die er nur hatte lagern dürfen um sie an ausgewiesene Partei-Obere zu verkaufen wir erblickten sogleich

die schicke schwarze Sicherheitsberaterin in einem nelkenroten Kostüm (auf BBC) daneben Mr Bush und einen Tastendruck später einen zwölfjährigen Bagdader Jungen mit Kopfverband der ihn verfluchte er lag unter einem halbtonnenförmigen Zelt mit verbranntem Oberkörper anstelle seiner Arme gab es nur zwei weiß umwickelte Stümpfe er rief wenn ihm die Ärzte keine neuen Hände gäben würde er sich umbringen

Mr Bush brauchte sich so jemanden (solche Dinge) gar nicht vorzustellen all diese Toten und Verstümmelten über die hinweg ER uns befreite jeder in unserer Familie hasste Saddam Onkel Munirs ältester Sohn Khalid starb unter nie geklärten Umständen in einer Kaserne Faridas jüngere Schwester Fatima kam 1991 mitsamt ihren drei Kindern ums Leben als man ihren Mann jagte der angeblich beim Schiitenaufstand beteiligt gewesen war und mit einem Panzer auf ihr Haus schoss

nur in den Nächten in denen wir fast wahnsinnig wurden bei dem Gedanken dass man Jasmin folterte

hatte ich genügend Hass um mir einen solchen Krieg zu wünschen

als wir hörten dass die Amerikaner schon am Flughafen seien kam Onkel Fuad bleich ins Wohnzimmer und erklärte er habe vor einer Stunde Saddam persönlich gesehen direkt vor der Abu-Hanifa-Moschee in Uniform mit Pistolengurt und einer Gebetskette aus Bernstein um den Hals umringt von Leibwächtern und jubelnden Anhängern

das war nicht Saddam das war Al-Sahhaf der sich als Gorilla verkleidet hat und es war keine Pistole sondern eine Banane

erklärte mein Vater und ab diesem Zeitpunkt

schöpfte ich wieder Zuversicht denn seit der Verschleppung Jasmins hatte ich keinen dieser Witze mehr von ihm gehört und ich begann

mir vorzustellen

dass sich wirklich alles ändern könnte

noch am selben Abend stürzten sie die Saddam-Statue auf dem Paradiesplatz wir sahen es auf drei Fernsehsendern wieder und wieder fast schon wie die Flugzeuge die ins World Trade Center krachten der 9. April als Antwort auf den 9. September nur war der Sturz vom Sockel

so seltsam banal so mechanisch und langsam es waren auch nur wenige Menschen dort und man sah den weiten von einer Säulenkolonnade eingefassten Platz nie in einer Gesamtansicht und die Szene selbst nicht aus größerem Abstand so dass man das Gefühl eines inszenierten Tumults nicht loswurde ich bin so oft dort vorbeigegangen wenn ich mit den Eltern zur Abu Nuwas oder zur Karrada spazierte sie bewarfen die dunkle Statue im erzenen Nadelstreifenanzug die so großspurig die Rechte erhob mit Steinen und Schuhen und hatten ihr ein dickes Hanfseil um den Hals gelegt und wohl erfolglos daran gezerrt um anschließend den hohen gekachelten Sockel mit Hämmern oder Pickeln zu bearbeiten was ihm kaum mehr als eine Art Platzwunde zugefügt hatte (soweit also der irakische Anteil

sagte Tarik)

aber die hohlen Beine zerrissen in Kniehöhe nachdem IHM die amerikanischen Soldaten eine US-Flagge über das Gesicht und eine Stahlkette um den Hals gelegt hatten an der sie mit einem Panzer zogen ein kleiner Junge prügelte mit seinen Schuhen auf den abgetrennten Kopf ein den einige unserer Landsleute an der Kette durch die Straßen schleiften

es war seltsam dass keiner von uns sich so recht über den Sturz freute auch wenn wir ihn als gutes Zeichen nahmen die meisten hatten ein klammes Gefühl hilflos dabeizustehen oder vielmehr davor zu sitzen vielleicht hing es damit zusammen dass wir wussten dass

ER

noch lebte und am Vormittag noch ganz in der Nähe durch Bagdad spaziert war ich glaube dass Sami und ich uns noch am meisten gefreut hatten allein schon Jasmins wegen und vielleicht weil in unserem Haus in Betawiyn kaum ein Tag vergangen war an dem Tarik nicht auf Saddam geschimpft hatte seit er davon ausgehen konnte dass wir uns keinesfalls in der Schule oder bei Nachbarn verplappern würden während man im Stammhaus der Familie die Radiogeräte Fernseher Antennen und neuerdings auch Personalcomputer verkaufte sich stets äußerst vorsichtig hatte verhalten müssen Onkel Munir (der älteste Bruder) sei ein wahrer

Drahtseil-Artist

hatte Tarik erklärt und nun war das Seil um Saddams Hals geschlungen in der Nacht zum 10. April träumte ich dass ich

selbst von einem Sockel fallen würde

direkt auf meinen unbeweglich starren rechten Arm aber dann

gab es plötzlich ein Tanzfest mit jungen amerikanischen Soldaten auf dem Eren Huda und ich kurze Röcke trugen und Rock’n’Roll tanzten wie in einem Elvis-Presley-Film ich wollte nicht aufhören

mir Dinge vorzustellen die ähnlich unfassbar waren wie das futurische Babylon das ich in meiner Fantasie nicht mehr hatte errichten können seit der Krieg so nah gekommen war

es geschahen aber genügend wirkliche gute und böse Dinge die ich in den Angstwehen der Bombardierungen nicht für möglich gehalten hatte schon allein während der neun Monate in denen der PRÄSIDENT gejagt wurde und verschwunden blieb während dieser eigenartigen Abwesenheits-Schwangerschaft nach deren Ablauf er sich selbst als Feigling und Maulwurf neu gebar

so

habe ich meinen Vater nach der Verschleppung Jasmins zum zweiten Mal in meinem Leben fassungslos gesehen als er berichtete wie Plünderer im Al-Kindi-Hospital die Bettgestelle und Matratzen unter schwer verletzten und sterbenden Kriegsopfern weggezogen hatten

so kam der Tag

an dem ich an der Seite meiner Mutter das Haus verlassen durfte und durch die von Trümmern und Glassplittern übersäten Straßen ging wo ich die Autos sah die eine hemmungslose Gewalt aufs Dach geschleudert hatte und den ersten Bombenkrater direkt neben einem halb zerfetzten Restaurant (ER sollte hier eingekehrt sein) und

so

tauchte ein tatsächlicher amerikanischer Panzer auf an dessen Außenseiten tarnfarbene Rucksäcke geschnallt waren und ein offener Geländewagen umringt von Kindern die nach Süßigkeiten schnappten es war ein schwarzer Soldat dabei und einer der asiatisch aussah und der Fahrer des Geländewagens erinnerte mich an eine meiner

Erfindungen

mit der ich auf dem Paradiesplatz zur Elvis-Presley-Musik getanzt hatte ein verschwitzter hübscher Junge sommersprossig mit rötlichem Haar unter dem verrutschten Helm

und so erschien

Mr Bush

auf einem Flugzeugträger vor der kalifornischen Küste auf den er sich im Pilotenkostüm von einem Jagdflieger hatte absetzen lassen (stellte mein Vater einige Tage und Zeitungsausgaben später fest solche Dinge lassen ihm keine Ruhe) unter dem riesigen Banner

MISSION ACCOMPLISHED

so betrat ich wieder unsere Schule Anfang Mai und erlebte immerhin noch dass die zerschlagenen Pulte die von den Wänden gerissenen Tafeln die eingeworfenen Fensterscheiben von der UNESCO und einer englischen Hilfsorganisation ersetzt wurden bei brütender Hitze

lernte ich meine letzten Lektionen

erstens waren Schuluniformen nicht mehr vorgeschrieben zweitens wurden morgens keine Saddam-Hymnen mehr gesungen drittens fehlte der Baath-Mann mit den Röntgenaugen mitsamt dem Direktor viertens fiel

DAS FREUNDLICHE GESPRÄCH

der künftigen Schulabgänger mit der PARTEI (Partei) aus und fünftens wurde Herr Basim der neue (provisorische) Direktor und nicht etwa Onkel Machmud wie wir es gehofft hatten und auch nicht Frau Jadallah die allerdings mehr und mehr Englisch unterrichtete und von Tag zu Tag aufrechter ging und bald schon unangenehm wurde als schriebe sie sich Postkarten mit Tony Blair persönlich dessen angstverzerrtes Gesicht

(gemeinsam mit dem von Georg Bush) hinter vier Reihen sauber aufgeklebter Plakate für längst verklungene Folklorekonzerte verschwand gemeinsam mit dem säbelschwingenden Saddam von dem man aber nicht sicher sein konnte ob er nicht bald schon mit seiner Klinge die dünn über ihn geschmierte Klebstoffschicht und das Plakatpapier durchtrennen würde um als Fedajin gegen die Amerikaner und Engländer zu reiten

der Strom fiel weiterhin aus für viele Stunden blieben die Wasserhähne trocken an den zerschabten avocadogrünen Wänden standen neue Farbeimer aber niemand öffnete ihre Deckel wir waren nur noch zwölf Schülerinnen in der Abschlussklasse die meisten entledigten sich ihrer Kopftücher sobald sie im Schulgebäude waren aber vier behielten die Abayas an wofür Huda sie angespuckt hätte aber selbst für ihre Spucke und Wut ist der Weg bis in den Libanon zu weit sie

fehlt mir mehr als Eren ich war

zum ersten Mal wütend auf ihre Mutter Schiruk die wie immer alles (die Flucht vor Beginn des Krieges) bestens organisiert hatte und wie die anderen Direktoren des Nationalmuseums alle nicht rechtzeitig in den Depots versteckten Schätze der Obhut einiger hilfloser kleiner Angestellter und somit den Plünderern überließ

ich legte meine Prüfung ab (Chemie: Kohlenhydrate und Zucker kein Öl) das alte Mosaik im Innenhof das die Themse und Big Ben zeigt glänzte frisch als ich das Schulgebäude endgültig verließ an der übermalten und mit zwei neuen Schaukästen versehenen Wand des Kinos zeigte sich immer wieder der durchdringende Fleck der schon früher das linke Auge Saddams zerfressen hatte der blinde vielmehr

Erblinden machende

Fleck für welche Krankheit steht er

man kann manches nicht glauben obwohl es für die Zukunft feststeht oder hoch wahrscheinlich ist man glaubt es nicht einmal wenn es geschieht und einem unmittelbar vor Augen steht das war so bei diesem ganzen Krieg oder auch einfach nur an dem Tag an dem ich die Schule abschloss

sie hätten dich niemals studieren lassen sie hätten die ganze Familie immer mehr schikaniert und gequält nachdem das mit Jasmin passiert war

erklärte Onkel Munir der Balance-Künstler mit seiner mächtigen Nase dem geduldigen Lächeln und den fast schwarzen Augen er besiegt sogar meinen Vater hin und wieder im Schach im Juni öffnete er plötzlich eine Holzklappe im Garten und brachte eine kleine Kiste mit fünfzehn fabrikneuen Thuraya-Satelliten-Telefonen zum Vorschein jedes einmal bis zu einem Todesurteil wert und jetzt ganz gewiss ein Monatseinkommen nachdem die meisten Telefonschaltstellen zerstört worden waren besuchten sich die Leute häufig und schrieben sich Briefe auch wenn diese mit unberechenbaren Fristen ankamen ich erhielt lange verzweifelte hilflose Briefe von Hind in deren Umschlägen jedes Mal ein eng beschriebenes Blatt von Dir steckte

niemals hätte ich geglaubt einmal am Firdaus-Platz (nun Platz der Befreiung) vorbeizufahren und nur noch die Unterschenkel des Präsidenten auf dem Sockel zu sehen aus denen Stahldrähte ragten wie zerfetzte Sehnen man

sieht die zerbombten Paläste und die zerschossene Geheimdienstzentrale wie einen Film in dem man erstaunlicherweise (noch immer) lebt und in dem sich plötzlich mitten auf einem Markt in Bagdad ein Selbstmord-Attentäter in die Luft sprengt

wir müssen uns dem Licht zuwenden wir müssen das ruhige und vollkommene Meer sehen durch die Schatten der Gewalt

schriebst Du mir kurz nach meinem Schulabschluss

ich werde nicht nach London gehen ich darf hier studieren wir sehen uns schon bald wieder in Betawiyn schrieb ich zurück erleichtert froh ohne es zeigen zu dürfen denn die Schmiergelder für Jasmins Wärter und Folterer haben mehr als die Hälfte unseres Vermögens verschlungen

jene von Schüssen regelrecht zersiebte Villa in Mossul war das würdige Mausoleum für die Saddam-Söhne Udai und Kussei (ein mit einer Kalaschnikow unter einem Bett liegender jugendlicher Enkel wurde ebenfalls erschossen wer schreibt sein irres Leben)

hoffentlich hat ER einen Fernseher in dem Loch in dem ER sich versteckt hoffentlich sieht ER das sagte Tante Nawal als hätte sie einige Monate weit in die Zukunft schauen können bis zur Nacht des 13. Dezember in der ER auf dem Bildschirm wieder erschien als

Rattenmensch mit verwildertem Bart alt schwach feige geduckt ans Licht gezerrt von kräftigen Armen und Händen in blauen Plastikhandschuhen die seinen Kiefer aufdrückten und mit einer Stablampe den Rachen des Untieres ausleuchteten in dem die Leichen Hunderttausender verwesten

es ist Nebukadnezar sagte mein Vater aber nur er und ich kannten die biblische Prophezeiung verwildert und in Unterwäsche erschien ER in den amerikanischen und britischen Boulevardzeitungen die schnell zu uns fanden dieser widerwärtige Schrecken seit ich denken kann und doch spürte ich

was? nicht Mitleid nicht Bedauern eher eine

bohrende Verlegenheit

eine widerliche peinliche an dir klebende

Präsenz

es hört nicht auf und es ist nicht gut wie es aufhört schriebst Du (Geliebter) in einem der schönen Briefe der zwei Wochen benötigte für fünfzehn Kilometer die Strecke die ich früher so leicht und einfach mit Huda auf dem Oberdeck des Busses fuhr

jetzt

packe ich vielleicht schon ein letztes Mal meine Tasche für die Universität Professor Fahmi wollte uns heute etwas sehr Wichtiges mitteilen hieß es und im Allgemeinen ist das eine schlechte Ankündigung

zu Semesterende werden wir sowieso wieder nach Wasiriya ziehen Tarik ließ keinen Zweifel daran und der seltsame Haushalt den wir drei monatelang hier führten (die ersten vier Wochentage in Betawiyn Tarik wegen der Praxis Sami wegen der Schule und ich wegen der kürzeren Fahrstrecke zur Universität) wird aufgelöst werden ich

hatte Tage in denen ich es genoss für die beiden Männer zu kochen sie mit frischem Tee zu versorgen und ihnen Einkaufslisten in die Hand zu drücken in Wasiriya werde ich nur wieder den älteren Frauen zur Hand gehen dürfen dort kochen vor allem Tante Nawal und Mutter die mit Jasmin die ganze Zeit in dem großen Haus geblieben ist (mit Ausnahme jenes verrückten Ausflugs)

Du bist nicht aufs Dach gekommen (Geliebter)

aber wir sehen uns bald

nach dieser Fahrt mit dem Kleinbus der jetzt gleich an der nächsten Straßenkreuzung halten wird fast

hätte ich meine Tasche vergessen

Tarik

Ali Baba was here

das hätten sie noch an die Wände schmieren müssen

seit mehr als einem Jahr verständigen sich der irakische Zivilist und der US-Soldat mit dem Ali-Baba-Ruf über die Attacken von Plünderern obwohl der ehrwürdige Ali weder ein Räuber war (allenfalls ein Berauber von Räubern) noch als Figur ursprünglich in unserer arabischen Märchensammlung enthalten gewesen sein soll aber nehmen wir es als tröstliches Symptom interkultureller Verbundenheit auch wenn mir das nicht viel nützt

angesichts meiner verwüsteten Praxis

hilft es noch am besten wenn ich mir sage dass ich sie ja ohnehin in dieser Woche noch habe auflösen wollen und dass die Ali Babas die hier meinen alten PC samt japanischem Nadeldrucker die Portokasse den Großteil meiner Medikamentenvorräte sämtliche irgendwie wertvoll erscheinenden oder auch nur glänzenden Instrumente und sogar einen Arztkittel und einen zerbeulten Akten-Rollwagen mitgehen ließen

die Dinge nur beschleunigt haben um es mir leichter zu machen und doch kann man nichts gegen das Gefühl einer Verletzung oder gar Vergewaltigung unternehmen auch wenn es nur Gewalt gegen Sachen war sinkt man morgens um halb neun auf seinen alten Praxisstuhl und starrt auf den von herausgerissenen Ordnern und ausgekippten Schubladeninhalten und den zerbrochenen Schubladen selbst vermüllten Boden und sagt sich

dies ist dein Land und

DU HAST ES SO GEWOLLT

als sie deine älteste Tochter aus ihrem scheinbar so komfortablen Leben entführten um sie in das verrottete hasserfüllte finstere Innere des Landes zu schleppen den Orkus einer fleischfressenden unterirdischen Welt der ganze

Auswurf von Gewalt

den wir jetzt tagtäglich sehen scheint mir so nur wie ein Sichtbarwerden ein vulkanisches Durchbrechen des unterirdischen Hasses dessen Lava seit drei Jahrzehnten unter der Kruste brodelte aber so leicht ist es nicht im Moment scheint alles doch um so viel schlimmer geworden zu sein als es war es ist nur leicht zu sehen (schreibt dem PRÄSIDENTEN einen weiteren sinnlosen Brief) dass jedes Land innerlich verrottet das seine Gefängnisse zu Kerkern und seine Wärter zu Folterknechten macht die

orangefarbenen Overalls von Guantánamo

jener

mit Elektroschockkabeln verdrahtete Kapuzenmann auf der Kiste die

nackten Menschenpyramiden

von Abu-Ghraib

werden sich ins Mark der so genannten freien Welt graben wie das Emblem der brennenden Türme und es hilft nicht viel die berechtigte Feststellung zu treffen dass es sich dabei nur um Vorhöfe (Nachhöfe vielmehr) der Höllen handelte die das Folterkeller-System Saddams dargestellt hat mit seinen Routineprozeduren bestialischer Morde und kaum mehr ermittelbaren Zehntausenden von Opfern aber

ich sah solche Kerker und ich forsche nach

als ich nach diesen irren Wochen in denen mein Leben nur noch aus Depression Wut Selbstvorwürfen und sich verbietenden Suizidgedanken bestand

meine Tochter abholen konnte ein wimmerndes Bündel auf dem blanken Betonfußboden einer für ein Dutzend Frauen verwendeten Zelle habe ich mir zwei Dinge geschworen

nämlich

dabei zu helfen die Opfer des (Ancien) Regimes zu zählen und

über die Bomben zu jubeln

die es beseitigen würden

mit dem Letzteren hörte ich auf als Jasmin nachts während der Fliegerangriffe zu schreien begann und ich ging dazu über die Zähne zusammenzubeißen und die Leute auf die Zukunft zu vertrösten die so viele nicht mehr hatten ich halte fest und ermittle denn wir fanden in einer Villa in Mansur die hastig zu einem Scheiterhaufen getürmten Akten mit den Quälungs- und Vernichtungsbelegen der Verschwundenen die Blut-Waschzettel des Terrors (all das müsste dir bekannt vorkommen mein Freund) die wir nun sortieren katalogisieren in Computern erfassen vor dem arroganten Zugreifen-Wollen der Amerikaner bewahren und nach zwei Attacken auf unsere Wächter in ein neues verstecktes Dokumentationszentrum bringen mussten ich schreibe gutachterliche Vermutungen zu den Todesursachen ich helfe zu zählen und zu beweisen

wer wagt es die Frage zu beantworten

ob der Sturz des PRÄSIDENTEN zehn- oder hunderttausend Menschenleben wert war George W. wurde offenbar die Antwort zuteil er scheint sogar noch Reserven zu haben jedoch werden auch wir die Frage eines Tages beantworten müssen und diejenigen die nach uns kommen

könnten uns widersprechen (in ihrer famosen Unverletzlichkeit in dieser unserer Gegenwart)

Ali ruft an

er arbeitet gleichfalls als ärztlicher Gutachter wobei seine Organisation sich bemüht die so genannten menschlichen Kosten von Krieg und Besatzung zu ermitteln ich halte auch das für unabdingbar ich bin dafür dass man sich

an ALLES erinnert

gerade hier in diesem Land wir werden auch ewig an den

PLASTIKTRUTHAHN

denken mit dem der PRÄSIDENT im vergangenen November mitten in Bagdad Erntedankfest spielte ich wollte er hätte sich anschließend in eine unserer provisorischen Kühlhallen verirrt in denen wir die Leichen wie hingeworfene blutig geangelte Fische zwischen Eisbrocken lagern mussten

wie praktisch

meint Ali als ich ihm am Telefon live aus meiner zertrümmerten Praxis berichte er will am frühen Abend vorbeikommen um mit mir eine Flasche schottischen Whisky die ihm gerade ein Patient schenkte auf seinen Namensvetter Baba zu trinken seit Jasmins Verhaftung habe ich keinen Alkohol mehr angerührt es kommt mir immer noch so vor als müsste ich

nüchtern wahnsinnig werden (wie all diese frommen Typen von denen es neuerdings bei uns wimmelt) wenn ich

nicht mehr mit meiner Arzttasche in der Hand durch meine Heimatstadt gehen kann weil ich damit rechnen muss ein vermeintlich lukratives Entführungsopfer abzugeben

dieser Abschied von meiner Praxis (sagt Ali) sei ja doch ein

Einschnitt

und vielleicht musste er mir das sagen um mir den Sachverhalt noch klarer zu machen es ist als würdest du alles deutlich vor dir sehen aber dann käme jemand und risse eine durchsichtige Folie nach der anderen vor deinen Augen weg ohne dass sich das Bild der Zerstörung ändern würde fehlt jetzt immer eine

schützende Haut mehr

es sind zu viele Körper die ich mit unzureichenden Mitteln zu reparieren versuchte ich bin einfach zu alt um mich noch weiter rückhaltlos und folgenlos belasten zu können gebt mir einen fetten dankbaren

PLASTIKPATIENTEN

und bringt mich im Fernsehen zwischen diesen Trümmern hier

eine der letzten transparenten Schichten die mich vom Chaos und der vollständigen inneren Niederlage trennen ist die

Aktivität

denn ich habe niemals einfach nur zugesehen sondern versucht zu heilen wenn es auch oft den Anschein hatte ich würde die Beteiligten gerade so weit wiederherstellen dass sie sich in die nächste Schlacht stürzen konnten jetzt

werde ich ganz nach Wasiriya ziehen und dort drei Tage als der halbe Arzt der ich gerade noch sein möchte drei Mal in der Woche die Praxis eines ebenfalls alternden und ausgelaugten Kollegen führen so dass mir daneben Zeit bleibt weiter

zu zählen

und mich endlich mehr um meine Familie zu kümmern die ich kaum noch anzusehen wage weil sie mich für ein arbeitssüchtiges Gespenst hält (dabei fliehe ich nur) in einem verbogenen Rahmen zu meinen Füßen steckt das nur noch von Glasscherben wie von einem aufgesperrten Löwenrachen (durchsichtiges Tier) gehaltene Farbfoto aus dem Jahr 1990 das Farida und mich hinter unseren drei der Größe nach geordneten Kindern zeigt wobei der lachende fünfjährige Sami (als Mann) vor mir postiert wurde Muna seltsam düster wirkt und Jasmin in einem heute kaum vorstellbaren europäisch anmutenden Sommerkostüm mit dem heute ebenfalls nicht mehr vorstellbaren strahlenden Anschein von Unverletzlichkeit ihre Mutter schon überragt die mir als Anfangs-Vierzigerin genau wie jetzt auszusehen scheint (da ich sie hartnäckig so abgespeichert habe in meinem romantischen Bilder-Diwan selbst wenn ich neben ihr liege ändert das nicht viel) während der schwarzhaarige Schnurrbartträger zu ihrer Rechten mir

unbekannt oder entfallen ist ich erinnere mich tatsächlich nicht

für dieses Foto Modell gestanden zu haben obwohl wir in einem regelrechten Studio gewesen sein müssen bestimmt wollten wir damals vor Jasmins Abreise nach Paris eine unzerstörbare Erinnerung ein Seifenblasen-Monument erstellen das noch bis zu unseren Enkeln durch die Zeit schweben könnte wenn es keine Nadel träfe keine Flamme kein glühendes Eisen

weshalb erinnere ich mich nicht? stopften sie mich aus oder trieben sie einen Doppelgänger auf wie den engagierten selbstlosen Typen den sie in Tikrit in ein Erdloch steckten während ER noch auf die günstige Gelegenheit wartet es uns allen heimzuzahlen (ich kenne mindestens ein halbes Dutzend Patienten die das glauben)

vielleicht hätte mein Familien-Doppelgänger (der Alter-Tarik) besser den Kontakt zu meinem einzigen Sohn gehalten der mir zu wirr zu versponnen zu labil zu sein scheint während der letzten Diktatur-Jahre habe ich mich darauf verlassen dass er in der Schule oder Nachbarschaft keine einzige falsche Bemerkung macht und nun erklärt er mir plötzlich dass in den Massengräbern im Süden die man jetzt vor laufenden Kameras öffnet nicht die von Saddam Ermordeten lägen sondern die heimlich verscharrten Opfer der ersten amerikanischen Invasion

wenn er auf der Mattscheibe sieht wie ein Sportplatz bei Falludscha in ein Massengrab verwandelt werden muss kann man sich die Anfälligkeit für solche Gedanken erklären ich werde jetzt viel mehr mit ihm reden ich kann ihn nicht einfach dem Internet und seinen zweifelhaften Freunden überlassen

noch habe ich weder ihm noch Muna gesagt dass wir in dieser Woche schon zurück nach Wasiriya gehen werden

aus Sicherheitsgründen und

endgültig wollte ich fast zu mir sagen das scheinbar Endgültige verdankt sich dem Anblick meiner zerfetzten Ordner herausgerissenen Schubladen ausgeleerten Medikamentenschachteln

sieben Jahre lang habe ich hier praktiziert eine zu kurze Zeit um wirklich sentimental zu werden vor vierzehn Tagen schon habe ich das Schild mit der Nachricht angebracht dass ich die Praxis schließen werde (auf der Innenseite der mit drei Schlössern gesicherten Tür Ali Baba las offenbar durch das Holz hindurch die Spiegelschrift) aber noch heute kommen den ganzen Morgen über und auch am Nachmittag unverbesserliche Patienten und so

sortiere ich die am Boden liegenden Dokumente behandle noch ein paar Wehwehchen schicke die ernsthaften Fälle zu Kollegen lasse mich beschimpfen beweinen und beschenken und kann dann endlich meinen großen Bruder Munir anrufen um ihm zu sagen dass Muna Sami und ich schon morgen oder übermorgen wieder ins Stammeszelt zurückkehren werden

es demütigt und rührt mich

wie sehr er sich freut mich wieder unter seine Fittiche zu bekommen fast fehlte es noch dass sie mich erneut Moschel rufen denn wie damals im Sechstagekrieg boomt das Familiengeschäft anstelle der Radios die mich nach Paris zum Studium schickten haben wir jetzt die Mobiltelefone PC Drucker Scanner Router und so fort die unsere Kamele und Frauen fett machen nur mit dem Unterschied dass dieser Krieg wohl noch sechs Jahre über sein offizielles Ende hinaus andauern wird und dass ich

das gelehrte Nesthäkchen

wieder bei meinem Stamm unterkriechen muss es war genau das was wir aufstrebende Intellektuelle und Akademiker einmal verachteten die Verberberung der modern sein sollenden Gesellschaft und nun geschieht es wieder und wir können nicht umhin uns in die letzten sicheren Netze fallen zu lassen immerhin

treffen heutzutage E-Mails aus aller Welt ein und Hussein der wilde Pariser Maler aus dem ein nicht sehr glücklicher Galerist in Nantes geworden ist bestürmt mich mit Fragen zu unserem weißen blutgesprenkelten Fleck auf der Landkarte über den das Exil seine entsetzten Satelliten und unbemannten Sonden schickt zum Thema Moschel auf das er von alleine kam weil er sich gerne an seine aufwändigen Karikaturen des geplagten Tarik erinnert über dessen Kopf die israelischen Mini-Jagdbomber schwirrten hat er nun noch die Geschichte von Dajans 87-jähriger Witwe beigesteuert die sich seit Jahrzehnten schon aufopfernd um Palästinenser in Israel und in den besetzten Gebieten kümmere

die Guten leben doch länger oder: sich um etwas (die ANDEREN) zu kümmern bringt Langlebigkeit

denke ich gerade und könnte mir vorstellen diesen Spruch als Vademekum an genau die Stelle zu hängen an der das wundersam entmaterialisierte Präsidentenporträt ein helles Rechteck über dem aufgesprengten und von Fußtritten verbeulten Metallschrank hinterließ Sami hätte mit seiner kalligrafischen Fertigkeit den Sinnspruch gestalten können seit Monaten sah ich ihn keinen Schriftzug mehr malen oder ist es seit Achmeds Tod den er miterleben musste ich

habe drei Kriege mit heiler Haut überlebt aber

meine Kinder wurden gebrannt

jetzt werde ich zurückgehen näher an sie heran auch wenn mich dabei die Großfamilie mit ihren Umarmungen und Verwicklungen erstickt an nichts derartig Tribales (mein Stamm hat über 10 000 Mitglieder) dachten wir damals als frischgebackene smarte Jungärzte mit weißen Hemden und Sonnenbrillen vor unseren Fischgrill-Rosten im Club vergiss es

atmen Sie durch machen Sie sich frei Herr Doktor draußen stinken die seit einem Jahr nicht mehr reparierten Abwasserkanäle (schreibt einen blauen Brief an die große amerikanische Firma die eine Milliarde dafür kassiert hat hier bis heute nichts zu tun) wir haben Cholera- und Typhus-Infektionen wie zu den fröhlichsten Embargo-Zeiten aber der neue strahlend weiße Giftmüllverbrennungsofen aus Cambridge, Massachusetts, bläst hinter der Klinik von Zafaraniya seinen Qualm beruhigend wie Marihuana über die Häuser wie ich vorige Woche bei einem Kollegenbesuch zur Kenntnis nehmen konnte

Laila zu entlassen war das Schlimmste denn die Patienten kommen ja alle wieder in der ewig sich gleichenden Form der geschundenen Masse die von einem göttlichen Kittel unsterblich gemacht werden will (gib es zu dass du etliche von ihnen vermissen wirst gerade die Langjährigen die kein Geld mehr hatten und dir Geschenke brachten) als Laila sich vorgestern verabschiedete bot sie noch einmal an auch nach Wasiriya zur Arbeit zu kommen aber ihr dreimal die Woche den Weg durch die Raschid-Straße oder die Khulafa zuzumuten wäre nahezu verbrecherisch wo sind wir hingeraten mein Gott schicke uns etwas herunter wie

den BRIEF den sie mir zum Abschied überreichte ein veritables

Himmelswunder

Sechsundvierzigjährig blass und ausdrucksvoll mit immer noch hoher fester Brust und beschwörenden kajal-umrandeten Augen allein durch die flachrückige Nase (man könnte sie brechen und mit ein paar Spänen vom Beckenknochen aufpolieren und — voilà! wer außer Ali kommt sofort auf einen so patenten Einfall) an den Schönheitswettbewerben ihrer Jugend gehindert so

hätte sie mich zum Abschied beinahe umarmt was aber natürlich ungeheuerlich gewesen wäre und deshalb schwenkte sie einfach versehentlich aus als ich vor dem Karteischrank stand und boxte mit einer Brust gegen meinen Oberarm und schenkte mir

den großartigen BRIEF VON HÖCHSTER STELLE und einen Haremsblick

auf den ich stumm antwortete jedoch nur halb aufrichtig insofern die Verhaltung der Verhaltung möglich ist denn mein Gegenblick besagte wohl allein dass ich immer nur zu müde gewesen sei

während ich hätte sagen müssen: zu müde und nach wie vor zu sehr in meine eigene Frau verliebt als dass ich hätte beginnen können mich mit der Rangfolge der drei anderen zulässigen Eheweiber zu beschäftigen wenn man mich fragte

was für mich der unheimlichste Augenblick des Krieges gewesen sei dann würde ich nicht zögern zu sagen jener Nachmittag im vergangenen April als mich mein schreckensbleicher naiver Bruder Fuad im Haus der Familie empfing um mir mitzuteilen dass

Farida Jasmin mitgenommen hatte um mit ihr

zu Fuß nach Kerbela zu pilgern (drei Tage lang über 100 Kilometer)

augenblicklich nahm ich ein Taxi und steckte fast ebenso augenblicklich in einer Demonstration von Muqtada-as-Sadr-Anhängern fest den der amerikanische Ersatzkönig hierzulande gerade für vogelfrei erklärt hatte so dass sie den Muharram mit Tänzen und dem Winken von selbstgebastelten Sprengstoff-Attrappen feierten (einige davon echt) und Lobpreisungen der USA von sich gaben

wir patrouillierten entlang des Pilgerzugs der sich am Rand der Ausfallstraßen gebildet hatte Kolonnen von Fahnenschwenkern singende Frömmler-Rudel Enthusiastische auf Krücken Barfüßige mit weißen Büßerhemden verzückt tanzende Frauen in Abayas an denen Pickups Humvees Kieslaster Panzer und die üblichen verbeulten staubigen Kamele des kleinen Mannes ohne nennenswerten Abstand vorbeidonnerten

nach zwei Stunden schließlich musste ich dem Taxifahrer meinen letzten Dinar geben und sah mich gezwungen mitzupilgern in der Abendsonne

kurz vor einem Rastplatz zeigten sich einzelne Soldaten der wieder im Aufbau befindlichen irakischen Armee und verteilten Wasserflaschen ich geriet unter eine Mannschaft von Hobby-Flagellanten in schwarzen Kutten mit grünen Stirnbändern die sich rhythmisch die Schulterblätter traktierten mich aber dankenswerterweise verschonten vor Zeltplanen und Jahrmarktsständen drängten sich Dutzende um Brot oder Devotionalien zu erhaschen einige nicht kenntlich verkleidete Wächter mit Kalaschnikows standen umher dann mischten sich auch amerikanische Soldaten unters Volk in voller Kampfmontur mit nach unten gerichteten Gewehren und nach oben hin wackelnden langen Antennen am Tornister und endlich

vor einer Pilger-Feldküche an der die Anwohner der Sitte gemäß kostenlos Reis und Eintopf an die Wandernden ausgaben

traf ich meine schöne magere in eine Abaya gesteckte Tochter die mich ängstlich aber sehr freudig ansah seltsam gelöst auch erschrocken und befreit ich wusste es nicht zu deuten und

Farida

stand hinter ihr mit zwei Blechtellern in der Hand ebenfalls in Schwarz und ebenfalls so

inspiriert

und staubig beseelt oder gelöst es waren wohl mir unzugängliche Nebenwirkungen ihrer Passions-Sportart was

hatte ich sagen wollen? ich reihte mich neben ihr in die Schlange ein erschöpft dankbar wütend was noch und was hatte ich doch gleich sagen wollen

ach ja: bist Du wahnsinnig geworden was fällt Dir ein unsere kranke geschundene Tochter hierher zu bringen und zu einem dreitägigen Fußmarsch zu zwingen hast Du die Fernsehbilder von den Attentaten im März vergessen willst Du in Kerbela ins Paradies vorstoßen oder Dich dort auspeitschen oder Dir mit einem Fleischermesser oder Krummsäbel die Kopfschwarte aufhacken während daneben die Kinder und Passionstouristen ihr Eis lecken

4000 Engel weinten Tag und Nacht an Husseins Grab über seinem abgetrennten Kopf über seinem Blut das aus 34 Schwert- und 33 Pfeilwunden strömte hättest Du

sagen können aber Du siehst mich nur an und

wir stehen wieder am Fluss wie vor dem Krieg ich hasse diese Wundenseligkeit dieses unnötige Blut (überall im Land fehlen Konserven) diesen Märtyrer-Kult ich bin Arzt ich sehe allenfalls die Engelstränen ein grauer feiner Regen durch den die Pilger strömen und die Panzer rollen in dem die Feuer unter den Eintopfkesseln flackern und in dem Dein Gesicht verschwimmt als könnte es tatsächlich auf immer von mir weggerissen werden

nur hier

können wir geheilt werden hast Du gesagt ich hatte es nicht vergessen es ist Dein Land und vielleicht hast Du recht mit allem auch mit Kerbela und auch damit dass man den Schmerz womöglich besser alleine ertragen kann ich sagte also nur dass ich

hoffen würde dass wir uns in vier oder fünf Tagen zuhause wiedersähen

dann ging ich zu Fuß nach Wasiriya gegen Mitternacht erschien mir am Straßenrand ein US-Panzer groß wie ein Haus man soll in so einem Ungeheuer gar nicht bemerken ob man einen Baum oder ein Auto plattfährt die Stahlwände dröhnten so dicht an mir vorbei dass ich eine halbe Stunde später noch nicht gleichmäßig atmen konnte und also

fast diesen schönen Tag nicht erlebt hätte an dem meine Praxis in Trümmern zu meinen Füßen liegt und ich zu Ali sagen kann

wir müssen die Amerikaner hinauswerfen aber kontrolliert

eine ganz ausgezeichnete Idee mein Lieber! ja diese Amerikaner sind schon lästig wir sollten stattdessen die Perser hereinholen oder die Russen oder — entschuldige bitte dieses Vieh hier macht mich ganz zappelig — nur die bösen Amerikaner hinauswerfen die ihre Folterbildchen nachhause schicken und bei ihren nächtlichen Razzien ganze Familien auslöschen und an ihrer Stelle nehmen wir nur noch Good Guys etwa freundliche schwarze Jazz-Sänger oder ausschließlich Indianer und weibliche Demokraten und ein paar Grizzlybären wir sollten dann auch viel mehr von ihnen hier haben so kann man es eben auch sehen denn alles hat zwei Seiten es ist ganz so wie

bei diesem Tier hier es

hat Stielaugen mit denen es zwei unterschiedliche Bilder in einen einzigen Kopf hineinglupscht das ist ein dialektisches Wesen es kann sogar die Synthese indem es die Augen so zusammenstellt dass sich die Bilder überlappen ein hegelianischer Kopf also voll glühender Schuppenwarzen ein richtiger Sufi — wo waren wir stehengeblieben? raus mit Uncle Sam aber ich sehe du bist weniger verworren als ich

sagt Ali und dreht sich mit seiner seltsam ruckenden Last (sie ahmen Blätter im Wind nach) auf dem Bürostuhl den Laila sich vor vielen Jahren bei dem Möbelhändler um die Ecke erwählte und dessen mit rotem Kunstleder bezogene Sitzfläche diagonal aufgeschlitzt wurde was meinem offensichtlich überarbeiteten und von Thesen und Antithesen gebeutelten Freund gerade auffällt da ihm eine seltsame Hand oder Greifklaue seines Schoßtieres zwischen die Beine fasst wobei zwei Finger wie ein Daumen auf der Fläche bleiben und sich drei um die Kante schließen was sehr überlegt aussieht an irgendetwas erinnern mich diese heftigen Farben der Schuppenhaut

du siehst nicht gut aus (sage ich vorwurfsvoller als es herauskommen sollte)

danke gleichfalls

erwidert er mit einer Art erschöpfter Fröhlichkeit das hier ist wirklich eine Sauerei aber wie ich am Telefon schon sagte sieh es einfach von der praktischen Seite diese Kerle machen es dir leichter den Laden dichtzumachen und nach Wasiriya zu gehen du musst nur die Augen einmal in zwei Richtungen drehen wie mein Erdlöwe hier schon siehst du das Schimmern des Vorteils im Glotzauge der Zerstörung also was quält dich noch mein Freund außer der Tatsache dass ich dieses Tier anstelle des versprochenen Whiskeys mitgebracht habe

es war nämlich so (fährt er fort) dass ich gerade mit dem Feuerwasser zu dir aufbrechen wollte als ein dankbarer Ex-Patient mit einem ganzen 200-Liter-Fass zur Tür hereinkam natürlich nicht mit kostbarem Single-Malt gefüllt sondern mit diesem in unserem Land ach so raren Stoff für die Blechkamele von dem wir plötzlich so wenig haben dass sich die Leute gegenseitig nach stundenlangem Anstehen mit den hohlen Kanistern erschlagen und den wir bald eins zu eins Liter für Liter gegen Whiskey tauschen müssen so dass ich meinen Stromgenerator umrüsten muss und dann vier Stunden am Tag

mit bestem Brennstoff im Generator operiere Mister President! (wie es ein unbekannt bleiben wollender irakischer Poet formulierte): Wir brauchen Strom in unseren Häusern und nicht im Arsch! und wir bräuchten sauberes Wasser und zwar ohne Boarding

dieses Tier hier

Ali packt den Wanst seines Riesenchamäleons und zieht ihn über Knie und Oberschenkel wieder näher zur eigenen Körpermitte heran dieses Tier hat es besser es kommt mit wenig Wasser aus wenn es länger in der Wüstensonne brutzeln will rotzt es einfach Salz aus der Nase das hat selbst die US-Army ihren Leuten noch nicht beibringen können also was stört dich noch außer der Tatsache dass ich den Whiskey vergessen habe und du mir jetzt einen alten Teebeutel oder Tampon von Laila herauswühlen musst als guter Gastgeber dieses Trümmerhaufens hier der du bist

mich störe nichts das sei gar kein Begriff mehr

kann ich da nur sagen

mich schlügen die Dinge einfach nieder vor allem die Aggression und Brutalität allerorten die Plünderer hätten mich erschreckt und diese Massen von Kriminellen dreißig Jahre lang hassten wir Saddam und kaum säße er im Gefängnis zerfleischten wir uns selbst statt die Dinge in die Hand zu nehmen und das Land aufzubauen ich könne diese fürchterlichen Kämpfer-Gestalten nicht mehr sehen die unser Leben verpesteten weder die US-Soldaten auf ihren hohen Panzerrössern oder zur Erde in ihren verkabelten High-Tech-Kampfanzügen noch die Wachleute vor jedem Geschäfts- und Bürogebäude die ihre Kalaschnikows wie Regenschirme trügen noch die mit ihren Kopftüchern vermummten Widerstandskämpfer in denen ein alter Baathist ein junger Dummkopf oder ein traumatisierter Mensch stecken könne dessen Familie ausradiert worden sei die schwarzen Mudschaheddin gingen mir auf die Nerven mit ihren Wollmützen über dem Gesicht ebenso wie diese Mahdi-Leute mit ihren grünen Stirnbändern auf denen statt frommer Sprüche stehen müsse:

Die schlimmste Krankheit

ist die Idee,

die mich hervorgebracht hat.

was soll man dazu sagen meint Ali schließlich bin ich Arzt (wie du und dieser CIA-Agent den sie jetzt zum Ministerpräsidenten gemacht haben) gegen dieses Virus werden wir wohl nie ankommen mit unseren Pillchen oder Skalpellchen suchst du deshalb nach anderen Mitteln glaubst du deshalb an diesen BRIEF sieh mal es will seine Schleuderzunge auswerfen da spalten sich zwei Lappen an der Spitze die die Beute umfassen und happs — und so wie es diesen tollen BRIEF verschlingen will so will es auch all die blutgierigen Kämpfer fressen von denen ein jeder glaubt der Gegner sei mit nichts als Schaumstoff gefüllt dieses Tier ist rot am Kopf weiß am Bauch schwarz am Ringelschwanz drei grüne Sterne leuchten auf ihm und dazwischen noch die Schrift Allahu Akbar aber die werden wir wegwischen und neu anbringen müssen denn es soll die Handschrift des Todeskandidaten-Präsidenten aus dem Erdloch sein da schau es hat schon eine neue Idee und zeigt die Sonne von Samasch über zwei blauen Streifen die für aufschlitzbare Venen nein für Euphrat und Tigris stehen und der Schwanz wird rot weiß grün wie Kurdistan und will sich davonmachen mit Kirkuk unter dem Arm beziehungsweise im Ringelschwanzgriff Kirkuk das nachweislich von 70 Prozent Kurden 70 Prozent Turkmenen 70 Prozent Arabern und 70 Prozent Anderen neben einigen Chaldäern und Assyrern bewohnt ist die allesamt einen bescheidenen Anteil von 110 Prozent des Ölmeeres fordern auf dem die Stadt schwimmt Chamäleons können aber ihren Schwanz nicht abwerfen es sind einfach keine Eidechsen — was sagst du?

dass ich ihn verstünde sage ich dass seine Ausführungen ja amüsant und richtig seien dass sie mir aber nicht dabei helfen würden die Frage zu beantworten wie ich auf den BRIEF reagieren solle und mir scheine das eine der wichtigsten Fragen überhaupt zu sein die sich derzeit für uns stellten

um etwas zu klären

verkündet Ali mit seinem heftig züngelnden und ruckenden Flaggentier

sollten wir diesen Pfefferminztee zunächst mit genügend Ethanol anreichern (du hast doch hier irgendwo in diesem Haufen sicher noch ein Fläschchen Unvergällten schließlich kann Ali Baba selten lesen) vielleicht wird mein Freund dann ruhiger und dann sollten wir auch an Jabir denken wusstest du dass er in Amman lebt seit sie ihn durch das Fenster seines Arbeitszimmers angeschossen haben nebenbei bemerkt aus einem einzigen Grund nämlich dafür dass er ein Dichter und Schreiber ist und in Sadr-City lebte ich meine er hatte noch nicht einmal damit begonnen die in seinem Kopf verborgenen Werke zu Papier zu bringen es war ein preemptive strike dieser glühenden Anti-Amerikaner einfach nur aufgrund seiner hypothetischen Funktion als Schriftsteller und so kannst du voraussehen dass sie auch uns bald attackieren werden nur weil wir Ärzte sind und die Unverschämtheit besitzen sie und ihre Gegner wieder zusammenzuflicken

was wolltest du mit Jabir

seine Theorie vom Riesen anwenden das wollte ich mein Freund sagte Ali und hält seinem Schoßtier das Teeglas mit Pfefferminz-Ethanol unter die Nasenlöcher jedoch wendet es rasch den gestreiften schuppigen Kopf ab und dies meint Ali zeige einerseits dass es nur schlecht riechen könne (und übrigens auch verdammt schlecht hören und zuhören) aber andererseits ein richtig vornehmer Bagdadi sei belesen und elegant seine Lieblingslektüre käme aus dem 9. Jahrhundert und wäre etwa Das Buch der Feinheit und der vollendeten Bildung Eigenheit oder Das Buch des kunstvoll gestickten Gewandes oder der Eleganz und der Elegants Werke deren Einfluss man ja auch heute noch überall auf den hiesigen Straßen studieren könne ich denke man hat immer diese Hochkultur und dann kommen die Mongolen und wenn die Mongolen kommen dann freuen sich die Schiiten aber wo war ich stehengeblieben

beim Riesen oder Leviathan

der natürlich zersprungen ist zerborsten in Stücke gebombt es bleibt also das bunt schillernde hoch verletzliche Innere des Staates übrig das keinen Panzer mehr hat also ein Chamäleon ohne Schutz erklärt Ali und tätschelt vorsichtig den Rücken des Tieres ein Chamäleon mit Schneckenhaut das hat es schwer wo soll es unterkriechen es gäbe zunächst nichts zu dem man sich einfach opportun verhalten könne denn die Amerikaner zerstören nur und die anderen warten ab

also (frage ich)

also lässt es sich einfach vom Baum fallen sagt Ali es ist dafür berühmt es kann seine Lungen zu Airbags aufblähen so dass es nicht so hart aufschlägt und kaum liegt es am Boden –

stellt es sich tot

richtig: Thanatose mein Freund es tarnt sich als toter Baumstamm und wartet erst einmal ab

bis der Hunger kommt oder ihm ein Humvee über den Schwanz fährt (sage ich) vielleicht ist das doch alles zu theoretisch

keineswegs ist es das widerspricht Ali denn wenn der Leviathan zerkracht dann zerfällt er in lauter Zwergriesen oder Riesenzwerge und wenn da einer bei unserem scheintoten Tier nahe vorbeikommt kriecht es blitzschnell zu ihm hin also heim in seine Familie in seinen Stamm in seine Moschee in seine Miliz zu seinem Prediger zu seiner alten Baath-Zelle

nur bleibt die Tatsache dass all die kleinen Riesen untereinander Krieg führen und eben deshalb bleibt uns gar nichts anderes übrig als wieder einen neuen Leviathan zu errichten der den Krieg beendet und deshalb muss ich den BRIEF ernst nehmen und kann nicht nur hoffen dass alles sich von alleine wieder einrenkt das hier (jetzt nehme auch ich einen feurigen Ethanol-Pfefferminz-Schluck und weise mit einer wahnsinnig optimistischen Geste über den Trümmerhaufen meiner Praxis hin) muss von uns selbst neu aufgebaut werden wir haben auch den Turm von Babylon gebaut und

die Perser sollen ihn dieses Mal nicht einstürzen und in seinen Kellern soll es keine Folterkammern geben ich weiß sagt Ali aber ich weiß nicht was ich dabei tun soll meine Haut färbt sich rot und weiß und grün und blau ich sehe keinen Riesen dem ich guten Gewissens in den Arsch kriechen könnte ich sehe nur die Irren und die Toten und die Großmäuler die sich in der Green Zone verstecken während es immer mehr Irre und Tote gibt

es hilft nichts sage ich es hilft nichts immer nur recht zu haben und ich starre meinen ältesten und besten Freund an und die aufgeschlitzte Sitzfläche des Bürostuhls und ich sage Saddam ist weg und schließlich ist das auch etwas

ja — die einzige Massenvernichtungswaffe die sie gefunden haben und die wir noch hatten

die Amerikaner werden gehen

wie ihr Timberland-Stiefel-Konsul der hier alles in Ordnung gebracht hat und sich diesen Monat noch verabschieden will ich wollte sie brächten noch 200 000 Mann herüber und blieben noch zehn Jahre oder sie machten sich sofort allesamt aus dem Staub so sind wir Chamäleons eben seufzt Ali was soll man nur machen wenn man sich nicht entscheiden kann weißt du dass es sehr arabische Tiere sind? sie brauchen mehrere Weibchen und wenn zu viele von ihnen auf einem Platz sind dann stressen sie sich durch Revierkämpfe zu Tode

es sind Tiere wir sind Menschen

ganz wie man es sieht meint Ali und hebt sein Glas ich werde nach England gehen zu meiner Frau und den Kindern ich werde auf dem Piccadilly Circus gegen Tony protestieren und ihm schöne Typhus-Geschichten aus Basra erzählen und ich werde das Chamäleon zu der Anästhesistin zurückbringen der es gehört weißt du übrigens weshalb die Menschen sterblich sind? Gott machte sie unsterblich und er hieß das Chamäleon die Nachricht zu überbringen aber es verbummelte und verspätete sich so sehr dass es von einem Vogel überholt wurde mit der Botschaft des Todes aber nun noch einmal zu dir mein Freund mit deiner Botschaft es ist ja immerhin der

BRIEF DES KALIFEN

gekommen und deswegen bleibt mir nicht anderes übrig als dir unrecht zu geben sage ich entschlossen es sind diese Freudlosigkeit dieser Tod-Ernst diese fürchterliche Last und zugleich die niederschmetternde Bedeutungslosigkeit all unserer möglichen Handlungen die uns quälen die

uns wütend machen uns

medizinischen Alkohol mit Pfefferminztee trinken lassen (die beliebteste Droge im Irak ist aber weiterhin das teure Valium) die uns

einen alten Freund

auf den wir zwei Stunden vergeblich und immer ängstlicher gewartet haben während die Dämmerung in der Sommerhitze hereinbricht einfach

erfinden lassen

Muna

Samira kam heute Morgen nicht

auch ihr Vater der sie sonst immer zur Straße brachte und mit den Händen in den Hosentaschen verlegen grinsend wartete bis sie in unseren Kleinbus gestiegen war erschien nicht und wir können uns ausmalen weshalb uns das morgendliche Signal des einsamen Muts fehlt denn Samira war immer die Erste die wieder aus dem engen Bus kletterte weil sie an der philologischen Fakultät studierte

studiert! Präsenz!

was denke ich

ihr Institut liegt inmitten einer von Kämpfen verwüsteten Gegend Samira ist unsere

Frau auf dem Mond

jeden Werktagmorgen geht sie würdig und ruhig mit Kopftuch heller Jacke und rockähnlichen weiten Hosen auf eine Autobahnbrücke zu die unmittelbar über einer Baumkrone endet wie ein Stück abgerissener Pappe der Parcours führt durch ein Trümmerfeld von der Größe zweier Fußballplätze an Müll- und Steinhaufen vorbei über verbogene Blechteile und von Unkraut überwachsenen Schutt zu Boden geschleuderte zerbrochene Pfeiler Mauerwerk und Dachziegel die kaum Platz lassen für einen schmalen Pfad durch vage nachgrünende Hecken zu einem schwarzen Bombenkrater neben dem die zerschossene Fassade eines sonst wundersam heil gebliebenen Gebäudes aufleuchtet ihr Institut das an eine Forschungsstation auf einem Planeten ohne Atmosphäre erinnert der hoffnungslos den Meteoriteneinschlägen preisgegeben ist müssen wir

in Samiras Fall

eine neue Märtyrerin begrüßen oder

wieder einmal erfahren dass eine Familie ins Exil ging weil sie unseren blutigen Himmelskörper nicht mehr aushielt egal wir werden Samiras Platz im Kleinbus rasch neu vergeben müssen sechs Familien zahlen teuer für den halbwegs sicheren täglichen Transport ihrer Töchter zur Universität wir haben zwei junge Fahrer die sich gut benehmen aber heute fehlt leider Ali der Bessere und Ruhigere

er ist wohl auch derjenige der das nagelneue Mobiltelefon bedienen kann denn kurz bevor wir aussteigen müssen drückt der nervöse Naji auf einen Knopf woraufhin es sofort klingelt und Samira am anderen Ende der Funkstrecke mitteilt dass sie ihn schon x-mal versuchte zu erreichen und heute Morgen schon früher habe fahren müssen er sie aber wie gewöhnlich abholen solle

ein guter Anfang für einen heißen Sommertag könnte man sagen

vor dem Haupteingang der Universität Studenten und Studentinnen rasch und zielstrebig nebeneinander her und durcheinander gehend

das Gedränge erschien mir einmal aufregender und vielversprechender als alles andere und in einer freien Stunde allein oder mit einer Kommilitonin auf einer Bank auf dem Campusrasen zu sitzen zu schwätzen oder in den Büchern zu blättern kam mir nach dem Krieg so unwahrscheinlich vor als flöge ich jeden Werktag in ein anderes Land angesichts der aus dem Boden um die Universität schießenden Internet- und Telefonläden den neu gestifteten Computern den immer häufiger in den Taschen und Jacken der Studierenden klingelnden und stolz ans Tageslicht beförderten Mobiltelefonen könnte man sich auch schon fast international fühlen obgleich sich immer mehr Frauen (wie ich selbst) mit Kopftüchern und alles verhüllender Kleidung schützen

als SuSchi

mit der Sehnsucht nach dem künftigen Babylon

fühle ich mich unwohl vor den Plakaten und Aufrufen der schiitischen Studentenorganisationen deren Einfluss immer größer wird ich wollte

als Irakerin

studieren nicht als Gläubige dieser oder jener Sorte (auch wenn ich einen verhinderten Hauza-Studenten liebe) ich wollte mithelfen die Erinnerung an Babylon von der ihr aufgezwungenen baathistischen Schlacke zu befreien bei vielen Lehrbüchern reicht es

wenn Sie einfach die letzten zwanzig Seiten herausreißen

hatte Professor Fahmi empfohlen auf den wir heute gespannt warten müssen er hatte uns auch gezeigt wie man Saddam auf eine ganz exquisite Weise hatte lächerlich machen können (indem man in Magisterarbeiten oder sogar Promotionen lange und unmotivierte Auszüge aus seinen hohlen Reden unter Zitate international gerühmter Gelehrter und wissenschaftlicher Autoritäten mischte) und dass es immer wieder auch hervorragende und von allem ideologischen Ballast verschonte Lehrwerke gegeben habe die wir auch jetzt noch gut verwenden könnten so etwa das Standardwerk über wissenschaftliche Methoden in der Geschichtsforschung und Archäologie das uns dabei helfe

den Irak neu auszugraben

also die Verblendungen abzunehmen die Fälschungen zu widerlegen die Verkitschungen zu beseitigen die Baathismus und Mesopotanismus der Vergangenheit zugefügt hätten die Archäologie und Frühgeschichte könnten sich endlich davon abwenden Tikrit zu untertunneln auf der Suche nach der gewaltigen unterirdischen Pyramide in der Saddams Ur-Ur-Ur-Großvater direkt neben dem verborgenen Imam ruhe und sie würden nun endlich

international konkurrenzfähig und international vernetzt in den Dialog mit der Welt treten auf dem aktuellen Stand der Forschung und dazu gehöre auch

den schändlichen respektlosen desinteressierten Umgang der Besatzungstruppen mit den archäologischen Schätzen unseres Landes anzuprangern die Vandalismus und Plünderei duldeten und auch selbst begangen hätten

die Vergangenheit

rief Professor Fahmi

sei eben kein erstorbener versiegelter Ort sondern Schauplatz einer ständigen Auseinandersetzung Angriffsfläche von Zerstörungs- und Verschüttungsaktionen nicht nur das heutige Babylon müsse beschützt werden vor Grabräubern und achtlos durch Mauern brechenden Panzern

sondern auch die antike Stadt in die

immer wieder Horden aus der Zukunft einfielen um den Turm den Tempel die Bürgerhäuser mit falschen Farben zu bepinseln oder als Werbeflächen zu missbrauchen als Theaterkulissen für absurde und peinliche Inszenierungen zu nutzen und nicht nur die Bauwerke sondern auch die lebendigen wehrlos dem futurischen Griff ausgesetzten Bewohner der Vergangenheit bedürften unseres wachen selbstkritischen Schutzes

verkündete

energisch lächelnd elektrisierend jeden Einzelnen von uns anstachelnd und einladend durch Fleiß und angespannte Intelligenz auf sein bestes Niveau zu kommen Professor Fahmi der

vor dreißig Minuten

eigentlich seine Vorlesung hätte beginnen oder die angekündigte besondere Mitteilung hätte machen sollen ein schmächtiger in weiten hellen zerknautschten Anzügen steckender Mann mit randloser Brille kleinem Schnurrbart und auf der linken Seite gescheiteltem dichten grauen Haar der zunächst etwas linkisch ja fast komisch wirkt Chaplin-artig und vierzig nein siebzig Jahre verspätet nicht nur eine halbe Stunde

sobald er zu sprechen beginnt in ziseliertem sonoren Hocharabisch oder gepflegtem altmodisch klingenden Agatha-Christie-Englisch (er könnte in einem ihrer Krimis auftauchen eine geheimnisvolle orientalische Gelehrtenfigur ein Doppel- oder Dreifach-Agent) lässt er das bloß Äußerliche vollkommen vergessen hebt er uns fort von dem chaotischen lärmenden gefährlich überhitzten Moloch der Stadt sogar die Schüsse die immer mal wieder herüberhallen wie jetzt und uns zusammenzucken lassen

wirken in seiner Gegenwart nur

lästig

wir sind gerade noch achtzehn Studierende in dem halbdunklen Seminarraum zwölf Männer und sechs Frauen ein neuer Ventilator läuft an der Decke mit einem unangenehmen Beigeräusch als würde man immer wieder mit dem Daumen einen Stapel Papier an der Kante auffächern zu Studienbeginn waren wir vierunddreißig selten erfahren wir was der

Abgang

bedeutet ich bemühe mich zwischen der Parfum ausschwitzenden nervösen Fatima und der mageren schwarz verhüllten anscheinend von allem ungerührten Ikbal nicht zu oft zur Tür hin zu schauen neben der Akram in seinen Jeans und dem auberginenfarbenen Hemd sitzt liebte ich nicht Dich so hoffnungslos und so tief verbunden mit meinem eingesperrten traumverlorenen sehnsüchtigen Leben dann würde ich mich öfter und freimütiger mit Akram unterhalten er ist der beste Student der lässigste und selbstsicherste stell dir das Glück vor ein Akademikerpaar mit demselben Fach zu sein zusammen zu studieren zu promovieren und weiter sage ich zu Huda mit der ich nur noch in Fantasie-Verbindung stehe ach ihr zwei Eierköpfe in London oder Paris sagt sie spöttisch und zack! wärst du so unglaublich schwanger oder er erwiese sich als Feigling wie dein sauberer Schwager Kasim der sich nicht mehr bei euch blicken lässt noch nicht einmal nachdem Jasmin freikam

der Assistent von Professor Fahmi

betritt plötzlich den Raum sieht gequält zu dem scharrenden Ventilator empor hält sich an einem Stapel Papier fest wo er doch sonst recht selbstherrlich auftritt geht er nun herum wie ein Werbezettelverteiler und drückt jedem den Schein für dieses Semester in die Hand es

sei leider nicht möglich dass Professor Fahmi persönlich komme es sei auch nicht möglich dass er seine Vorlesungen noch zu Ende bringe darüber hinaus dürfe wolle und werde er nichts erzählen

Professor Fahmi sei bereits

im Ausland

wir brauchten drei Stunden um jemanden auf dem Campus zu finden der uns unter vorgehaltener Hand erklärte dass Fahmi zwei Todesdrohungen erhalten habe von schiitischen Milizen oder von Al-Qaida-Leuten vielleicht treffe auch beides zu

bald wird es das letzte Mal sein

dass ich über den Campus gehe ich spüre es ich muss schon lange mit Tarik streiten nach jedem Attentat und jeder bekannt werdenden Entführung will er mich wieder nach Wasiriya verfrachten ich gehe noch einmal in die Bibliothek der man fünf neue Computer gespendet hat aber bislang noch keinen der sie vernetzen kann und

sitze schon wieder mit den drei anderen jungen Frauen im Bus der rasch in den Strom der in dieser Gegend sehr gut ausgebauten Straßen stößt aber zu nervös beschleunigt zu heftig bremst sobald eine Ampel auf Rot springt oder sich ein Hindernis anzudeuten scheint zwei amerikanische Hubschrauber knattern über der Dachkante eines Bürogebäudes hervor keine mächtigen Apache sondern kleinere wendigere aber auch nach irgendeinem Indianerstamm benannte Sami wüsste wie sie heißen er hat vielleicht sogar das Cockpit eines solchen in seinem Flight Simulator mit dem er fast nur noch spielt um (gemeinsam mit seinem Cousin am Wochenende in Wasiriya) verschiedenartige Flugzeugmodelle in das World Trade Center krachen zu lassen sie fliegen über das Inselchen mit der Freiheitsstatue hinweg direkt auf die Spitze Manhattans zu es endet immer mit einem Verhau aus Linien und flaschengrünen scherbenartigen Flächen und einer

Fehlermeldung

manchmal wartest du darauf dass über den Straßen Bagdads auch so eine Fehlermeldung erscheint und du einen Knopf drücken könntest um alles (was alles bis wohin) rückgängig machen zu können was

bringt deinen kleinen Bruder dazu die endlich verfügbaren Zugänge zum Internet zu nutzen um sich ruhmvolle Al-Qaida-Attacken auf amerikanische Soldaten Geländewagen und Panzer anzuschauen (sieht er sich auch diese Enthauptungen an) er geht nicht mehr regelmäßig zur Schule (vermute ich) Tarik verliert ihn aus den Augen er hat Freunde mit denen man sich keinesfalls unterhalten möchte und ich sage nichts wenn er zu ihnen geht statt

auf mich aufzupassen (mich zu beschützen zu nerven)

es war nur eine Fahrt wie diese hier

im Juli vergangenen Jahres in sengender Hitze durch eine Nebenstraße in Ischbilya Sami und Yusuf waren mit einem Onkel von Yusuf mitgekommen um ihm zu helfen einige Möbelstücke auf seinem Pickup zu transportieren und der kleine Achmed war hinzugesprungen und hatte sich auf den Schoß seines älteren Bruders gedrängt er

war seltsamerweise der Erste gewesen der richtig reagiert hatte als Schüsse aufpeitschten einige vermummte Gestalten über die Straßen huschten und gleich darauf amerikanische Soldaten in voller Kampfmontur erschienen das weiße

Spinnennetz

das mit einem Knall auf der Scheibe des Pickups in alle Richtungen schoss

begann zu bluten

und nur weil Achmed drängte verzweifelt nach dem Türhebel suchte und von Yusufs Schoß zu kommen versuchte begriff Sami dass tatsächlich eine Kugel den Onkel mitten in die Stirn getroffen hatte und sie ließen sich alle drei aus der aufgestoßenen Beifahrertür zu Boden fallen und lagen still im Schutz des Wagens dessen Motor mit einem heftigen Ruck abgewürgt worden war

sich nicht zu bewegen

war gewiss das Beste Sami hatte Angst die Schüsse würden den Tank treffen und den Pickup in Brand setzen aber noch mehr fürchteten sie durch die geringste Regung jemanden zu provozieren sie lagen wie festgenagelt als hechelten keuchten direkt über ihnen riesige Bluthunde aus Stahl um beim geringsten Anlass zuzuschnappen nach

zwanzig oder dreißig Minuten die sie wie wahnsinnige Schläfer platt auf der Straße verbrachten während das Blut des Onkels auf den Boden des Wagens tropfte mit dem schrecklichen Geräusch eines defekten Wasserhahns bis es von einem in der Nähe angeschalteten Radio mit Popmusik übertönt wurde es war als begänne jemand gelangweilt Geschirr zu spülen nachdem eine Zeitlang keine Schüsse mehr gefallen waren

Come on boys get out of here!

sagte endlich eine Stimme über ihnen eine junge Stimme die vielleicht sogar gutmütig klang sie rappelten sich vorsichtig auf

The small guy too — oh, shit!

Achmed rührte sich einfach nicht mehr er lag so still und in sich eingerollt auf dem Asphalt wie ein kleines gestorbenes Tier

erklärte Sami nach zwei Tagen in denen er willenlos im Hof und in seinem Zimmer gesessen hatte sprachlos wie Jasmin so lange Zeit als wartete er darauf dass ihn noch hier die ihm zugeteilte Kugel treffen würde weshalb ausgerechnet Achmed weshalb der Onkel

die Frau auf dem Mond

kehrt durch die Trümmerlandschaft zu uns zurück sie hat einige Lehrbücher in der Beuge ihres linken Arms und geht so selbstverständlich und gemessen das Ende ihres Schuttwegs vor der halb zerstörten Autobahnbrücke dass man selbst unverhofft ruhig wird und fast nicht anders kann als Hoffnung zu schöpfen Samira studiert mehrere Sprachen sie hat ein Gehirn wie ein Computer oder ein Schachgroßmeister und ihr fester breiter Körper scheint der dafür notwendige stabile Rahmen der es vor jeder Erschütterung bewahrt

mach die Musik leiser willst du uns umbringen

sagt sie zu Naji dem Fahrer der mit seiner schwarzen Hose und dem weißen Hemd heute besonders professionell aussieht aber um so schlechter fährt besonders jenseits der Hauptstraßen in dem Viertel in dem unsere beiden Medizinstudentinnen abgesetzt werden müssen unmittelbar hinter einer gepflegten Häuserzeile mit Gärten und Garagen gerät man auf breite schlaglochreiche Pisten auf denen verkohlte Autowracks liegen dort fahren die Leute so planlos wie in einer Baugrube umher

langsam ruhiger langsam tritt auf die Bremse vorsichtig lächle du Idiot stopp das hier ist keine Entführung das ist eine Kontrolle stopp gut so lächeln lass deine Hände ruhig auf dem Steuerrad

durch die staubverschleierte Scheibe des Fensters sehe ich wie durch einen Nebel in der Julihitze eine Stacheldrahtwalze die graugrüne Blende eines Panzerwagens dann Uniformjacken und Patronengurte immer näher kommend bis sie fast an das Glas stoßen

Samiras ruhige feste Stimme aber hat den fahrigen Naji perfekt ferngesteuert er hielt ohne Ruck an

Students! Only women! Baghdad-University! These are our books!

in der Stille eines rätselhaften Wartens (denn wir müssen nichts weiter herzeigen werden nicht herausgebeten und nicht durchsucht) halten wir nur starr unsere Hefte und Bücher in die Höhe und denken an die Geschichten von Todesfällen bei solchen Kontrollen von denen wir alle zur Genüge gehört haben es gab Aufnahmen im Fernsehen man hatte die Leichen einer ganzen Familie gesehen die erst Stunden später aus einem von Kugeln durchsiebten Wagen geborgen werden konnten ich erinnere mich schrecklich genau

langsam

vorsichtig

zweiter Gang jetzt was

bist du für ein Blödmann reiß dich zusammen jetzt nach links pass auf das Taxi ruhig ruhiger jetzt gut

gemacht

die Frau vom Mond lehnt sich zurück Schweiß perlt über ihr festes dezent geschminktes Gesicht sie hat uns alle gerettet (oder es übertrieben wer weiß das schon) ich bedanke mich wenigstens und lege eine Hand kurz auf den kräftigen Unterarm dessen Zittern mich ebenso sehr erschreckt wie eine Minute zuvor noch der Blick in die abgeschabte Mündung des Laufs einer Maschinenpistole der gegen das Autofenster schlug

Achmed sitzt mir gegenüber in der Sonne auf dem Dach der Rikabis

er zeigt seine dicken Ärmchen er schwärmt von Fußballspielern er legt seinen Wuschelkopf auf die Oberschenkel seiner großen Schwester nur vier Monate hat er den Tod seines Vaters überlebt die Familie des stillen Gärtners (Frau Rikabi und Achmeds Großvater) musste beide Leichen identifizieren die

Ginko- und Orangenbäumchen auf dem Dach sind weiterhin gepflegt denn Hind erinnert sich an jede Handbewegung ihres Vaters in dem kleinen Gärtchen auf dem Haus den Ginko muss ich schneiden sonst wird er dreißig Meter hoch sagt sie ich weiß gar nicht wie ich immer die Kraft aufbrachte ihre traurigen Briefe zu beantworten (mein Vater war so sanft meine Mutter ist so allein ich vermisse Achmed so ich kann es nicht ertragen wie mein Bruder Yusuf jeden Tag wütender wird wie sieht das Paradies für Mädchen aus) aber vielleicht half es mir auch und schließlich gab es in jedem Umschlag auch eine Nachricht von Dir

am Nachmittag liegen die beiden alten Häuser unheimlich still in der Hitze weiße Backsteine im Glutofen der Stadt ich bin als Vorletzte aus dem Bus gestiegen meine Knie zittern noch immer früher stellte ich mir jene zwei babylonischen Löwen an meinen Seiten vor die mich beschützten aber heute hätte ich vor ihnen Angst wenn ich Tarik von der Straßenkontrolle erzähle (und ich muss das tun) wird er mich nach Wasiriya zurückschicken da er es ja schon ständig erwägt und mir schon angekündigt hat dass ich allenfalls noch bis zum Semesterende in Betawiyn bleiben könne ohne Professor Fahmi hat es ja auch keinen Sinn mehr aber

was dann

Sami hat keine Nachricht hinterlassen Tarik kommt oft spät in der Nacht

vom Haus der Rikabis her hört man nichts es ist ja ohnehin still geworden in eines der Zimmer zog eine missmutige ältere Schwester des toten Gärtners als Aufpasserin wodurch es möglich wurde dass Du bliebst und Dein Onkel weiterhin den Rikabis die dringend benötigte Miete zahlt

das gedrückte Schweigen der beiden Häuser es ist als wäre es vom Lärm der Stadt ausgespart als wäre eine unsichtbare Dämmung oder Isolierung um uns herum geschlossen ich wasche mich langsam wie einen Säugling

die Orangenbäumchen tragen Früchte auf dem Dach

immer noch kann ich meine Hände nicht ruhig lassen nur ihr Seifenduft beruhigt mich ein wenig ich weiß dass man mich bald wieder verbergen und

schützen

wird

aber stell Dir vor Du flögest einmal (ohne Segel ohne Flügel) in diese Nachmittagsluft hinein

ein kurzes Stück nur mehr Kraft mehr Fantasie brauchst du gar nicht

und im Sprung erinnert sich etwas in Deinem Körper an den Garten der seit eintausendvierhundert Jahren mitten in Bagdad liegt an einem Tigris-Ufer das nur die Liebenden betreten dürfen die Wiesen leuchten unter Dir wie ganze Felder von ausgeschütteten Smaragden die Bäume blühen weiß und rosa Mandeln und Granatäpfel Orangen und Feigen die Blüten ungeahnter unerkannter Früchte empfangen dämpfen umschließen Deinen Fall Du siehst riechst spürst Blumen

Krokusse Narzissen Veilchen Rosen Lilien und Hyazinth-Anemonen Tulpen Jasmin

der Mohn

meiner kleinen Nächte

die blütenzarte Glätte die verborgenen

Spiegel

meines Körpers die sich öffnen es gibt keinen Tag mehr jenseits dieses Gartens glaub mir

für heute

Geliebter! deshalb bist Du geflogen und deshalb sprichst Du nicht und betest heute nur noch auf meinen Lippen was geschehen ist und was kommen wird hat der Blütenduft betäubt die Zeit ruht in der Narkose unserer großen

Sekunde

Du fällst in

Blüten und Licht in ein Meer davon und

niemals

warst Du so sehr am Leben dies ist Dein wachester Augenblick und Dein Leben davor und Dein Leben danach bleiben für immer ein Schlaf

einmal

musste es so kommen einmal mussten alle gegangen sein und die alten Häuser für uns leer stehen als käme niemand mehr heim Dein Herz jagt vor Angst aber nicht der Löwe des Kriegs schlägt es sondern die Gepardin ich

bin der Falke der Adler

das Lamm unter dem Löwen das sich nicht fürchtet sie

zerbrachen meine Schwester aber jetzt

bin Ich da

im Brand in den Flammen auf dem Gipfel dieses Nachmittags der Garten ist ein Turm über dem Krieg eine blühende Säule ein grün wirbelnder Wasserfall nur wenn Du springst wenn Du fliegst und wenn Du fällst kannst Du darin spazieren gehen und kommst Du

nieder zur Erde

Die Waage

Schwebt Wasser in der Hitze

der flirrenden Luft?

Sind die Flügel des Raben vor deinen Augen

die Nacht?

Liest die Vergangenheit die Wünsche

von den Lippen der Zukunft?

Steigt oder sinkt der Ball

auf der Waage der Fotografie?

Indizien oder Beweise?

Ertrinke am Durst.

Darbe in der Fülle.

Schließ deine Augen und sieh!

Martin

Auch das Abgenutzte und Schäbige der Flugzeuge die im inländischen Verkehr eingesetzt werden kann zur Nostalgie des Wahl-Amerikaners beitragen ich falle (erstaunlicherweise glücklicherweise) immer wieder für Minuten oder Viertelstunden sogar in eine Art emotionalen Trott in dem mir alles wie vor zehn Jahren zu sein scheint auf meinem Flug von New York City nach Boston als würde ich am Logan Airport in meinen längst gestohlenen alten Ford steigen und nach Amherst fahren können zurück in ein mir heute so unbeschädigt vorkommendes Leben dass es ohnehin bald zerplatzen müsste wie eine überreife Weinbeere oder eine zu prall aufgeblasene Disney-Figur

dass du das Haus in Amherst verkauft hast

sagte Seymour

hat mich wirklich beeindruckt

es wartet also nichts (keine weiteren Gegenstände oder Immobilien) auf mich als die enge Wohnung beim Campus von Tufts und ich hätte doch nicht

gequält und verzückt die halbe Nacht

von Amanda träumen müssen es ist aber so (wie Seymour gestern nicht umhin konnte zu bemerken) dass ich auch um Amanda trauern muss dass ich durch das

Verpanzerungsgefühl

sie sei bei einer Katastrophe ums Leben gekommen die sich bereits etliche Jahre vor Sabrinas Tod ereignet habe

hindurch muss zu dem ganzen Ausmaß des

simultanen doppelten Verlusts

ich hätte vielleicht nicht mit Seymour zu Abend essen sollen obwohl mein Transatlantikflug von Frankfurt nach New York City ging mit zwei Stunden Aufenthalt wäre ich gleich nach Boston weitergekommen aber ich hatte es doch auch gewollt ich wechsle jeden Monat eine E-Mail mit Seymour und brauche mich meines Bedürfnisses ihn zu treffen nicht zu schämen auch wenn Amanda in seinem Leben (reziprokes emotionales Koordinatensystem) wohl später verunglückte als meine Tochter

Seymour (schwarzes kurzärmeliges Hemd graue Hose gut rasiert und gepflegt aber blässer dünner als früher vielleicht auch wieder gesünder) holte mich an der Penn Station ab wir wechselten einige Floskeln und gingen hinaus der dröhnende Sommerabend im Garment District überfiel uns die Vertikalen der Sixth Avenue schienen im ersten Augenblick wie gerade fallende Mikadostäbe vom Lot abzuweichen und sich zu kreuzen unheimlich und doch vertraut war mir das fast als kehrte Gulliver ins Land der Riesen zurück

WAIT

FOR

WALK

SIGNAL

mein schlechtes Gewissen wurde betäubt durch das gemeinsame rasche Vorangehen es konnte nur Luisa sein vor der ich mich schämte wo hatte ich einmal etwas gelesen was damit zusammenhing bei Walter Benjamin fiel mir ein es war eine Meditation über die toten Frauen der Geschichte deren Reize und Schönheit wir niemals erfahren haben und erfahren werden war ich nicht deshalb oder auf ähnlichem Wege auf mein Projekt Goethe lieben gekommen

an Bord eines veralteten Flugzeugs irgendwo über Connecticut kann ich mir auch die Einsamkeit die Angst und schließlich die

(unangebrachte) Wut auf Luisa

eingestehen die mich vergangene Nacht Amanda wieder begehren ließen selbst jetzt noch mit offenen Augen durch das Bordfenster in die stahlblaue Luft starrend kann ich kurze erregende Zwischenbilder erzeugen es ist eine Art hastigen erotischen Rückblätterns in meinem Leben dieses Mal aber zu den (wenigen) Frauen vor Amanda zu einigen

daguerreotypisierten Miniaturen

meiner ehemaligen körperlichen Leidenschaft

wie geht es dir WIRKLICH fragte mich Seymour gestern vor Macy’s

THE WORLD’S LARGEST STORE

und fast hätte ich ihm von meiner dummen Berliner Affäre im Frühjahr 2003 erzählt diese animalische glücklose Ausflucht mit der Krankenschwester die mir Luisa zunächst leichthin verziehen zu haben schien (aber wie hätte sie es denn so rasch bewältigen können) der Jetlag wirkte fast wie ein Rausch diese absurd erscheinende Müdigkeit am frühen Abend der reine Alkohol verdrehter Zeit stieg mir zu Kopf und machte mich immer offener und leutseliger anlehnungsbedürftig infolge eines interkontinentalen Schwindelgefühls (im Grunde mein Zustand seit dreißig Jahren) ich wollte mich trotz Seymours Angebot nicht ausruhen sondern gleich auf die Ortszeit umstellen wir konnten uns frei bewegen weil ich meinen Koffer in einem Schließfach an der Penn Station untergebracht hatte und nur einen Daypack mit dem Nötigsten für eine Übernachtung trug

die Anlage ist viel schöner heutzutage aber sonst ist es wie in den Siebzigern

meinte Seymour als wir uns an einen grün lackierten Metalltisch im Bryant Park setzten fast hätte ich widersprochen weil ich in meinem Zustand (es war etwa ein Uhr morgens und die Julisonne schien noch kräftig durch die Baumblätter über uns und auf die Front der Public Library) annahm die Siebziger seien jene Zeit gewesen in der Seymour und ich uns so oft hier gesehen hatten

eine prekäre Wirtschaftslage und der Krieg fuhr Seymour fort damals gab es hier vor allem Drogendealer und Junkies jetzt haben wir jeden Mittag einen großen Lunch von sauberen Touristen und sauberen Geschäftsleuten nur der Krieg wird allmählich so dreckig wie der in Vietnam ich muss dir (aber mehr noch Luisa) Abbitte leisten weil mich die Drohungen mit den irakischen Massenvernichtungswaffen und Al-Qaida-Verbindungen doch beeindruckt hatten es ist furchtbar und was mich besonders wahnsinnig macht ist dass uns nun die gleichen Leute die vor 9/11 die Gefahr eines großen Terroranschlags heruntergespielt haben mit der gleichen Chuzpe versichern sie hätten die Entwicklung im Irak im Griff was sagst du

dasselbe (sagte ich) ziemlich erstaunt über die Entwicklung meines

Leidensgenossen

es ist eine große Scheiße fuhr er fort

THE BIG SHIT

und das war nun wirklich genug um von unseren Gartenstühlen aus emporzuschweben bis auf die Haupttreppe vor den weißen Säulen der Public Library wo wir dann wie weiland Dean Martin und Frank Sinatra unser

MESOPOTAMISCHES KRIEGSDUETT

vortrugen


in oratorischer Manier (völlig reimlos aber nicht disharmonisch)

SEYMOUR alles in Ordnung? nichts ist in Ordnung!

MARTIN der Zivilverwalter macht sich zwei Tage vor seinem offiziellen Abgang aus dem Staub

SEYMOUR (hastige Übergabe des gesamten Landes als heißes Eisen in die ausgestreckten nackten Hände der Einheimischen)

MARTIN so musste er nicht befürchten zu den Opfern von 2000 Anschlägen in seinem Abschiedsmonat zu gehören

SEYMOUR was ist schon geschehen?

MARTIN die stärkste Armee der Welt erobert in drei Wochen die Hauptstadt eines Dritte-Welt-Landes vertreibt den blutigen Diktator seine Geheimdienste die Armee Partei und Polizei und wartet auf den Applaus der nicht kommt

SEYMOUR stattdessen zerbricht das Land in die Stücke

MARTIN die die Experten schon vorher kannten

SEYMOUR die meisten Bewohner fühlen sich nicht befreit

MARTIN sondern überfallen und besetzt

SEYMOUR ein Guerilla-Krieg bricht aus

MARTIN auf den man weder gefasst noch vorbereitet ist

SEYMOUR der von der hiesigen Regierung so lange ignoriert und verharmlost wird

MARTIN bis das vergossene Blut und das Versagen der zivilen und militärischen Besetzer zum Himmel (der internationalen Presse) schreit

SEYMOUR aber jetzt gehört der Porzellanladen wirklich UNS und WIR stehen mittendrin

MARTIN mit einem wütenden Kampfhund einem Care-Paket und einer Blindenbinde am Arm

SEYMOUR stolpert nicht über die leeren Benzinkanister!

MARTIN do no bodycounts!

SEYMOUR aber jede Schwundstufe eures Nicht-Denkens kostet Zehntausende das Leben

MARTIN (sehr hegelianisch ausgedrückt mein Lieber)

SEYMOUR aber nur so in etwa — denn hier übergeben wir

MARTIN an die Statistiker Historiker und Richter der Zukunft

SEYMOUR mögen sie es besser wissen als wir

MARTIN die wir zusahen

SEYMOUR und MARTIN Amen!

bist du eingeschlafen? was träumst du? Seymour wirkte belustigt und schien unser Duett gleich nach dem Schlussakkord wieder vergessen zu haben

deshalb musste ich mich gewissermaßen kneifen und sagen: ich war leider nicht so entschieden gegen den Krieg wie Luisa

wie geht es ihr?

seit vier Wochen (gab ich gegen einen größeren Widerstand zu) hatte ich kein Wort mehr von ihr gehört und jetzt wusste ich nicht –

Seymour sah mich auffordernd an und so erklärte ich mit einem Mal dass das was ich nicht wisse die richtige Entscheidung darüber sei ob man nach einem wiederholten Wahlsieg von Bush das Land verlassen solle

ganz Bagdad wird aufatmen wenn du das tust und Rumsfeld wird dir einen Zettel auf den Koffer kleben» Old Europe goes home!«Seymour hob seinen Pappbecher mit Kaffee (während des Kriegsduetts hatten wir uns beide einen solchen besorgt) und fuhr mit einem deutschen Satz fort: Schuster wo ist deine Leisten? dahinten oder etwa nicht? (auf die Public Library deutend) deine Studenten sitzen auf den Treppenstufen und warten auf Erklärungen du kannst mich als Gastredner einladen der erklärt dass die Ölindustrie keinen Wert darauf legt Gefangene zu foltern

Stuart Weingart sollte dort sitzen dachte ich im schon diffusen und wie staubigen Sommerabendlicht konnte meine Jetlag-geschädigte Fantasie ihn aber nicht mehr heraufbeschwören ich hatte mich mit dem Duett verausgabt und alles blieb wie es war nur ich selbst drohte in mir einzusinken als löste etwas meine Muskeln auf und plötzlich fiel mir ein dass sich unter dem schwarzen Hemd das Seymour trug große OP-Narben befinden mussten dennoch trank er normalen Kaffee

die Aussage des Waffenexperten der nach einjähriger Untersuchung im Irak festgestellt habe man sei darauf hereingefallen dass das Saddam-Regime so getan hätte als besitze es Massenvernichtungswaffen fasziniere ihn noch immer und noch mehr dieser Paul Bremer III der sich nun nach einem Jahr verabschiedet habe anscheinend ohne den geringsten Kratzer an seinem missionarischen Selbstbewusstsein zu nehmen als God’s own man gewiss um in Ruhe ein Buch zu schreiben so wie es ja allgemein üblich geworden wäre bei den hohen Funktionsträgern sogar bei dem militärischen Oberbefehlshaber der kaum habe der Krieg begonnen in Rente gegangen sei um in seinen Memoiren weiterzukämpfen

du redest wie Luisa (und hättest doch tatsächlich mit mir singen können) konnte ich mir nicht verkneifen festzustellen

mag sein — aber was denkst du

das Sich-zurückziehen-Können das ist das was ich mit TURM meine sagte ich (wie eingemauert in meine Reisemüdigkeit) sie fungieren als Staatsorgane und ziehen sich dann als Bürger hinter die Mauern zurück der Staat oder Goyas Riese das ist der Titan der in der Geschichte agiert er lebt davon oder dadurch dass er seinen Bürgern glaubhaft macht er sei die stärkste Gewalt der größte der für sie verfügbaren Türme und er versorge sie mit allem ohne dass ihnen viel dabei geschieht

aber dann dürfte er doch keinen Krieg führen

keinen verheerenden Krieg für uns — unter normalen Umständen — aber unter unseren Umständen musste man oder mussten WIR einen Krieg führen damit alle Welt wieder glaubt dass wir der hegemoniale Turm sind und nie wieder so verletzt werden können wie wir verletzt wurden — einige von uns — wir –

danke (sagte Seymour) aber deine Theorie gefällt mir nicht

weil es eine Theorie ist und für dich im Grunde etwas Frivoles

nein (er trank seinen Kaffee mit sehr kleinen Schlucken als schadete er ihm dann weniger) das ist es nicht was mich stört mir gefällt nicht dass diese Theorie rein formal ist ohne Inhalt bei deinem Modell kann ich nicht unterscheiden ob ich in einer Demokratie lebe oder in einer Diktatur

eben darüber mache ich mir ja Gedanken –

wenn wir uns nach außen hin wie Barbaren benehmen (meinst du) wie sollen dann die Anderen glauben dass unser innenpolitisches Modell das Zivilisierteste ist?

so ähnlich sagte ich mit Blick auf die im Abendlicht schimmernden Säulen der Public Library auf das große Billardtuch der Wiese davor und die allmählich ruhiger und gelassener durch den Park gehenden Leute seltsamerweise war es mir unangenehm dass Seymour die Dinge nun ähnlich sah wie ich vielleicht glaubte ich ihm das nicht wirklich oder ich verdächtigte ihn übertriebener Höflichkeit da ich noch wenigstens zwei Stunden wach bleiben wollte brachen wir auf zu einem Restaurant in der 52. Straße das er vorschlug ich sprach (zu meiner eigenen Überraschung recht ausführlich) von meinen Recherchen in Berlin während der letzten vier Wochen und auch darüber dass ich zwar Goethes Frauen aufgegeben hätte nicht aber das Goethe-Thema selbst das mir wieder sehr aktuell erschiene im Hinblick auf das Verhältnis von Literatur und Krieg und von Fortschritt und Barbarei

Goethe war Araber ich erinnere mich sagte Seymour er wurde vom Fortschritt überrollt

er hat auch angegriffen oder besser er fuhr beim Angriff mit ich erzählte von der preußisch-österreichischen Kampagne gegen das republikanische Frankreich an der Goethe teilgenommen habe als eine Art embedded poet in einer Chaise sitzend oder zu Pferd ein manchmal gut abgepolsterter manchmal aber auch gefährdeter und ausgesetzter Beobachter von Zeltfesten gemütlichen dann aber doch blutigen Beschießungen Salonkonversationen und jähen Gemetzeln bis hin zum Rückzug in Dreck und Elend unter der Geißel verheerender Seuchen er habe sich mit physikalischen Lehrbüchern und seiner Farbenlehre abgelenkt für ihn sei die Republik des Geistes und der Dichtung das Wirkliche gewesen vielleicht fühlte er sich als Abgesandter einer zivilisierteren Zukunft die immer noch nicht eingetreten sei

also Goethe sind wir

wenn ich das richtig verstanden habe meinte Seymour auf der Avenue of the Americans vor dem Hintergrund der Rockefeller Plaza

bezüglich der Chaise und der abgehobenen Betrachtungen gab ich ihm recht

eingebettete Nachrichten-Konsumenten die mit ihren Farbtäfelchen spielen während die Soldaten verrecken

die Iraker hauptsächlich warf ich ein

Seymour blieb einen Augenblick stehen als müsse er sich darauf besinnen dass er mit mir einer Meinung sein wollte (jäh beim Blick über seine Schulter in den Hintergrund der Rücksturz in den Winter: der riesige Weihnachtsbaum in den Channel Gardens darum gruppiert weiße Draht-Engel in Giraffengröße mit Draht-Posaunen Sabrinas sechs- oder siebenjährige Hand in die meine fliegend weil sie sich vor ihnen fürchtete sie seien nämlich wie heilige Skelette) so dass die Menge auf uns auflief und wir weiter voran mussten zwei alte Gäule die ihre Chaise zogen mager jedoch nicht aus Futtermangel denn Seymour hatte bestimmt seine Million(en) gemacht und diese Neuentwicklung die aus dem lautstarken strahlenden sportiven aber doch wohl zu massigen Mittfünfziger mit Herzproblemen einen schlankeren und ziemlich nachdenklichen Sechzigjährigen mit gut gewarteten Bypässen herausschälte war ja zu begrüßen — angenehm — erleichternd — was magst du ihn so er hat dir deine Frau weggenommen! wollte etwas in mir ausrufen aber es war nur ein Schatten aus einem anderen Leben der sich aus dem

Rückblick

ergab oder aus einer Art Eingeholt-Werden denn tatsächlich schien sich alles zu wiederholen der Vietnamkrieg (zumindest in einigen wichtigen Aspekten) eine Beziehungskrise (dieses Mal wenigstens ohne Kind) ich hatte ein Jetlag in meinem Leben würde ich nur wieder trinken dann könnte ich vielleicht mit Genuss in diese Spirale hineinfallen –

Lusia hat gewiss ihre eigene Meinung zu Bush und zu Mrs Rice meinte Seymour

sie nennt sie Dr Jekyll und Mr Hyde

Mr Hyde als das demokratische Böse ich sehe schon sie legt es auf die Bewusstseinsspaltung an Seymour war halb amüsiert ich denke Bush kann wirklich abschalten er weiß nicht was er anrichtet oder er schafft es irgendwie das nicht wissen zu wollen das unterscheidet ihn von Napoleon der das zynisch in Kauf genommen und damit geprahlt hat

vielleicht erreicht er noch ähnliche Dimensionen was die Zahl der Kriegsopfer anlangt die Grande Armée bestand aus 600 000 Mann und davon kehrten 100 000 aus Russland zurück in drei oder vier Jahren –

nein keineswegs sagte Seymour erschrocken so lange werden wir dort nicht sein

weshalb aber (fragte er bald darauf als wir im Restaurant seiner Wahl saßen einer angenehm kühlen Höhle ausstaffiert mit roten Lederpolstern Damasttischdecken Silbermessern und Kristallgläsern) halten wir so still? weshalb gibt es keine Demonstrationen keine Studentenproteste im großen Stil keine wütenden Artikel-Serien dass du (er sah mich etwas mitleidig an) als Deutscher (ein Jetlag-Volk) eine Art

Beißhemmung

hast (der Holocaust der Zweite Weltkrieg die Befreiung vom Faschismus) kann ich verstehen aber was habe ich weshalb fühle ich mich nur deprimiert und gelähmt

weil deine Eltern aus Rotterdam gerade noch rechtzeitig in die USA fliehen konnten hätte ich hier einwenden sollen aber ich sagte wir seien deprimiert weil wir nichts tun könnten und erzählte ihm dann dass ich überlegte nach Tel Aviv zu gehen da ich ein Angebot für eine Gastprofessur erhalten hatte

ohne Luisa? und nur wenn Bush noch einmal die Wahlen gewinnt? oder weil die Israelis die wahren Kriegsgegner sind? was soll denn das? Seymour schüttelte den Kopf und setzte mir das Stethoskop auf die Brust: ich denke du willst alles durcheinanderbringen um bessere Gründe dafür zu haben dass du so durcheinander bist

blöder Ölbohrer! dachte ich um ihm dann unnötigerweise zu versichern dass es ebenso ein anderes Israel gäbe wie ein anderes Amerika ich bestellte ein alkoholfreies Bier (im Kristallglas) und versuchte mich zu entspannen weil ich selbst in meiner Jetlag-Eintrübung bemerken musste dass Seymour der einzige Mensch war mit dem ich noch ausführliche politische Dispute hatte und das sogar gerne (während ich mich meinen Studenten gegenüber innerlich wand und sehr gefiltert und kontrolliert sprach) und dass er auch der Einzige war mit dem ich über Luisa redete auch wenn ich ihm kaum etwas sagte Tel Aviv um meine Verwirrung noch zu steigern natürlich war es das während ich geglaubt hatte ich ginge damit näher an den Konflikt heran um klarer sehen zu können

wir denken oder

werden zu denken angehalten

dass (das Bier erschien und ich versuchte den Schaum in meinem übermüdeten Kopf wegzublasen) wir ohnehin nichts mehr ändern können wir haben paralysiert dem Angriff zugesehen weil wir was auch immer wir glaubten oder nicht glaubten dachten dass wir ihn ohnehin nicht würden verhindern können und weil wir für das massenmörderische Saddam-Regime keinen Finger rühren wollten und jetzt denken wir wiederum (oder werden wiederum zu denken angehalten) dass es

ohnehin keine Wahl mehr gibt ergänzte Seymour der sich Mineralwasser und ein Glas Rotwein (gesund fürs Herz?) bestellt hatte weil wir nun einmal dort sind und dafür Sorge tragen müssen dass der Bürgerkrieg nicht ausbricht und das Land den Übergang zur Demokratie schafft

wobei wir von den Irakern erwarten dass sie mit kaum etwas anderem vor Augen als Krieg Okkupation Gewalt und Chaos sich vor den Wahllokalen als Zielscheibe anstellen

es ist nicht leicht sagte Seymour so eine Transformation ist ein gewaltiger Prozess aber es kann jetzt im Grunde nur besser werden jeder weiß dass es sich ändern muss die Iraker wissen es und wir wissen es wir wissen auch dass sich unsere Politik verbessern muss SIE werden mehr Soldaten schicken müssen es werden bessere Leute das Sagen haben (dieser Petraeus zum Beispiel) es wird mehr und mehr die Wahrheit geschrieben werden es ist eben Politik und es ist furchtbar aber es gibt keine Alternative oder siehst du eine

zu besseren Leuten und dem Schreiben der Wahrheit hatte ich noch nie eine Alternative gesehen seltsamerweise aß ich dann mit gutem Appetit in Amerika bin ich nicht allein dachte ich in Erinnerung an meine einsamen Forschungswochen in Berlin die ich nur durch Besuche bei meiner (Rest-)Familie aufzulockern verstanden hatte (ich hatte ein Dutzend Mal der Versuchung widerstanden die Krankenschwester anzurufen) und als Seymour erneut auf Luisa kam als spürte er die wild cat mit seinen alten Ölmann-Instinkten unter der abwehrenden Oberfläche heraus

sagte ich dass Luisa ja zunächst auch nicht so einfach zurück nach Spanien habe gehen wollen da es sich bis zum unerwarteten Regierungswechsel um ein Land der so genannten Koalition der Willigen handelte und dass für sie das Attentat in Madrid im vergangenen März besonders schmerzlich gewesen sei

11 M wie 9/11

weshalb formen wir diese Brandzeichen der Geschichte es sind

Siegel

vermutete Seymour damit wollen wir den Umschlag verschließen nicht: etwas vergessen aber: etwas fassbar machen und abschließen

Luisa hatte mit großer Erregung die Debatte über die von der konservativen Regierung insinuierte ETA-Urheberschaft des Attentats verfolgt die Francisten sagte sie (als wäre keine Zeit vergangen) die den Krieg im Irak gewollt hatten mochten nun die Konsequenzen eines Al-Qaida-Anschlages nicht tragen

als 9/11-11 M-Paar (eine Freundin Luisas und ihr Mann waren auf den Gleisen vor dem Bahnhof Atocha ums Leben gekommen) überbrückten wir den April noch mit gemeinsamer Trauer und Pietät

dann aber kam Luisa besonnen und klar auf die Wahrheit oder Wahrhaftigkeit in unserer Beziehung indem –

was: indem? hatte Seymour am gestrigen Abend gefragt nachdem ich doch wieder unversehens die Schlafzimmertür geöffnet hatte es war eben vier Uhr morgens in meiner Noch-Berliner Eigenzeit und so erzählte ich was ich doch die ganze Zeit hatte erzählen wollen nämlich dass Luisa schon drei Monate vor 11 M ein zwar unschlüssiges aber doch andauerndes Verhältnis zu einem Kollegen in Amherst eingegangen sei einem mir durchaus bekannten Historiker

was heißt unschlüssig

wollte Seymour mit überraschender Schärfe wissen

es (das Verhältnis) basiere (wohl) vor allem darauf dass ich mich nicht (mehr) deutlich (genug) für sie (Luisa) entschließen könne (zumindest ihrer Meinung nach)

und deshalb gehst du einen Monat lang nach Berlin wo dir natürlich nichts klar geworden ist du würdest (sagte Seymour sehr ruhig und so entschieden dass es durch die Sperrwälle meiner weidwunden Männerseele drang) dich sehr täuschen wenn du glaubst das sei dann eine Wiederholung

Luisa ist nicht Amanda

so einfach ist das (Öl ist in der Erde vergraben — das war der gleiche Tonfall gewesen) aber zu banal wollte ich einwenden als er auch schon deutlicher wurde und (wohl zu Recht) feststellte dass Amanda zuerst vom akademischen Leben und dann von mir und dann (teilweise — sollten wir nicht Lesley eine Postkarte schicken) von ihm weggelaufen sei während Luisa weder von mir noch vom akademischen Leben genug habe

er selbst lebe jetzt alleine

sagte Seymour und das würde sich wohl nicht mehr ändern er habe die Wohnung in der Little Brazil Street behalten und auch das Haus auf Long Island und nach einem regelrechten Streit mit seinem Analytiker der natürlich das zutiefst Regressive dieses Halten- und Behaltenwollens zum Vorschein brachte wäre er auf einen einfachen und effizienten Gedanken gekommen und habe während einer längeren Geschäftsreise sowohl das Haus als auch die Wohnung von einem Innenarchitekten komplett neu gestalten lassen ohne mehr als Umrisse seines eigenen Geschmacks zur Vorgabe zu machen

deshalb verfügte seine Wohnung jetzt über ein völlig neu eingerichtetes Gästezimmer und man stieß auf nichts (sogleich Sichtbares) mehr das auf Amanda und Sabrina hinwies ich sah zum ersten Mal aus dem Fenster in der Küche aus dem Sabrina an ihrem letzten Tag gesehen haben musste

ein Sturz hinab an blinkenden spiegelnden flackernden Reklameflächen vorbei die sich schwindelerregend perspektivisch verjüngten an Lichttürmen ohne Grund

Fragment

Ach, die Flamme, die ich werde,

ist ein Flügel nur zu Dir.

Ich bin lieber Luft als Erde.

Im Feuerbild erscheinst Du mir.

an diese Verse in Sabrinas schwungvoller runder Handschrift dachte ich als ich mitten in der Nacht erwachte weil es nach meiner inneren europäischen Uhr bereits Vormittag war ich hatte schon im Schlaf das Gedicht aufsagen wollen aber immer irgendeinen Fehler gemacht so dass ich jetzt aufstand um im schwarzen Notizbuch nachzuschauen

Seymour saß auf seiner (neutralen) Ledercouch im Wohnzimmer vor einem großen Fernsehschirm eine Tasse Tee in der Hand wir trugen beide ein T-Shirt und eine gestreifte Shorts und mussten lachen was ist schon originell an unserem Geschlecht ich nahm den gleichen Kräutertee und wir sahen wie zwei Jungen die sich nachts zu einem Streich verabredet haben einen Gespensterfilm

aus Afghanistan

das es immer noch gab in dem noch immer unübersichtliche zähe Kämpfe stattfanden in dem deutsche und amerikanische Soldaten fielen es schien ein nicht enden wollender grausiger Zirkus von Attentaten Gefechten und politischen Manövern zu sein in dem sich internationale Armeen und Hilfsorganisationen Diplomaten Stammesfürsten Banditen und Terroristen hoffnungslos auf dem Rücken der Bevölkerung verkeilt hatten

auf dem Bildschirm

sahen wir einen fast achtzigjährigen Mann und ein kleines Mädchen seine Enkelin wie es hieß sie wohnten in nichts als Stein und Staub sie hatten keine Wasserleitung in ihrem hoch gelegenen Dorf und das ganze (restliche) Leben des altes Mannes bestand darin dreimal am Tag dreihundert Meter hinabzusteigen und wieder hinauf beladen mit zwei Wasserkanistern und das Mädchen trug zwei zusammengebundene Plastikflaschen der Mann

nahm Opium kaute es irgendwie

um das alles nicht zu spüren sagte er Opium und meine Enkelin die mich immer begleitet das siebenjährige Kind sie sind das Glück das ich brauche um nichts zu spüren

aufsteigen

hinabsteigen

aufsteigen dein schwitzender

aus den Opiumnebeln lächelnder Großvater mit der Hakennase dem verrunzelten gegerbten Gesicht unter dem grauen Turban ausweglos endlos im Staub in der Hitze im Schweiß des Aufstiegs des Abstiegs und ich

dachte nur (eifersüchtig verrückt) sie

sind wenigstens zusammen

dann schämte ich mich für einen solchen Gedanken in Seymours Midtown-Wohnung im unermesslichen Reichtum des

TURMS

nur sehr entfernt und gedämpft drang der nächtliche Verkehrslärm herauf wie die Lebenszeichen einer versunkenen Stadt nach dem Afghanistan-Film kam ein Bericht über Naturreservate in Florida und wir gingen ohne mehr als zwei Sätze zu wechseln wieder zu Bett

zum Frühstück nahmen wir beide nur einen Toast und schwarzen Kaffee irgendetwas Wichtiges und sehr Tröstliches schien Seymour mir am Vorabend über Luisa gesagt zu haben aber ich kam nicht darauf was und wollte ihn am Morgen auch nicht danach fragen wir saßen uns frisch geduscht und rasiert gegenüber und wurden uns unaufhaltsam fremd bis Seymour auf Berlin zu sprechen kam wo er schon lange nicht mehr gewesen sei falls Bush die Wahlen gewinne könnten wir beide dort ins Exil gehen das sei doch eine verblüffende Wendung der Geschichte

das Unfassbare (sagte ich mit einem jähen Schweißausbruch aber ich musste es sagen) ist die Fähigkeit dieser politischen Figuren ganz persönlich die Verantwortung für den Tod von Zehntausenden oder Hunderttausenden zu tragen niemand wird das je von ihnen nehmen noch nicht einmal die grauenvolle Amnesie der Geschichte auf die sie vielleicht hoffen

sie fassen es eben nicht meinte Seymour achselzuckend das ist ihr ganzes Geheimnis

ein opakes Geheimnis die Mitleidlosigkeit eines Granitfelsens ich komme nicht an diese wahnsinnig machende Unerbittlichkeit diese Glaubensstärke diesen Befreiungseifer oder was immer es ist heran liegt das nur an unserer angeekelten romantischen Sichtweise sollten wir besser den Naturforscherblick Goethes lernen auf den eitlen kleinwüchsigen massenmörderischen Kaiser den er für eine unvermeidliche Katastrophe hielt und hinnahm wie ein Muslim den göttlichen Willen aber natürlich haben wir diesen Blick schon längst wie sollten wir sonst hier leben (denke doch nur an die Theorie des Turms die du selbst aufgebracht hast)

was hatte mir Seymour über Luisa gesagt? ich wäre noch vor unserem Abschied darauf zurückgekommen wenn er mich nicht an den blauen Rucksack erinnert hätte mit den Dingen die Sabrina für ihre Kalifornienreise gepackt hatte das schwarze Notizbuch mit den Gedichten und Tagebucheintragungen (die mir so vieles leichter und so vieles schwerer gemacht haben) besaß ich ja schon lange Seymour hatte nur wissen wollen ob er den Rucksack weiter behalten dürfe er öffne ihn nicht und nehme nichts heraus seit wir ihn einmal durchsucht hatten stünde er immer in einem Einbaukleiderschrank der für Sabrina reserviert gewesen war manchmal sei es dann für ihn als wäre sie einfach

noch nicht zurückgekehrt

bis heute

wissen wir nicht wie Sabrina ihre letzte Nacht in New York City verbrachte jene Freundin (Mary) die auf der Upper East Side wohnen sollte haben wir nie ausfindig machen können sie hatte nicht einmal mehr Eric angerufen es gibt nur den Abschied von Seymour am 10.9. und den Anruf am nächsten Morgen die Nachricht für Julia bei der sie das Büro ihrer Mutter oder sogar schon Amanda selbst vor Augen hatte was ich manchmal hoffe und dann wieder nicht wozu sollte es gut gewesen sein dass sie sich hätten sehen können in diesen Augenblicken (es tröstete mich)

einmal dachte ich es wäre mir unmöglich je wieder zu fliegen

aber auch das hätte nichts bedeutet ich lande in Boston und denke wie jedes Mal dass die Attentäter die das World Trade Center zerstörten am Morgen des 11.9. hier eincheckten in dieser

vollkommen alltäglichen

Kulisse

dergleichen für die Wirklichkeit zu nehmen wir gezwungen sein werden bis ans Ende unserer Tage

schon bald wird jener Bericht der Untersuchungskommission erscheinen für dessen Zustandekommen sich auch Seymour in einer Bürgerinitiative stark gemacht hat es wird darin stehen dass das Unvorstellbare unvorstellbar war aber mit mehr Sorgfalt und mehr Glück fast hätte verhindert werden können da man die Terroristen schon lange kannte und die zahlreichen Hinweise nur hätte richtig interpretieren müssen

vor einem Jahr (im Monat des Kriegsausbruchs) setzte sich das Puzzle zu einem konkreten Bild zusammen der Urheber der Vernichtungsidee war in den Zeitungen erschienen ein wahnsinniger Kopf das Gehirn AL-MUCH ein untersetzter fast fetter Mann mit kantiger Stirn mittellangen schwarzen zerrauften Haaren aus dem Bett gezerrt von Geheimpolizisten in einem konspirativen Haus in Pakistan den dicken Hals wie eingeschraubt in den haarigen Sockel der aus einem weit ausgeschnittenen weißen Unterhemd hervorsehenden Schulter- und Brustpartie

von der CIA in ein Hotel California verbracht ein Ort in einem Land in dem sie foltern (lassen) können

also gestand AL-MUCH dass in seinem Kopf schon seit vielen Jahren das Feuer ausbrach schon seit sein Neffe mit seiner Hilfe im Februar 1993 in einem Lieferwagen 600 Kilogramm Nitroglycerin in der Tiefgarage des World Trade Center zündete

er sah

Flugzeuge die über Amerika

explodierten

ein grandioses Feuerwerk

an der Westküste der Ostküste über dem Pazifik Dutzende schlugen in Gebäude ein wurden gleichzeitig in der Luft gezündet hoch über dem Meer oder als Brandbomben über den Städten

was erklärt das (was wird mir dadurch klar werden)

zu seiner Rechtfertigung sagte er

das Gleiche was die anderen Täter und Planer sagten die man unmittelbar nach dem Zusammensturz der Türme vor die Kameras holte

dass Israel Gräueltaten beginge und Amerika Israel unterstütze und auch die arabischen Regime die vorgäben Israel zu hassen aber doch mit ihrem Öl wieder Amerika versorgten das Israel unterstütze

gerade genügend zurechtgebogene

Argumente für den ewigen Kreislauf von Hass und Gewalt für das einzige

Perpetuum mobile

das je funktioniert hat technische Argumente für einen Techniker der in den USA sein Ingenieurstudium abgeschlossen hatte (Mechanical Engineering in Greensboro)

am Gepäckband

stolperte ich fast über ein Klappschild wie man es am Boden vor Kiosken oder Restaurants in ruhigen Straßen sieht man hatte fünf Passfotos vergrößert und mit blauem Filzstift Namen Alter und Dienstrang dahinter geschrieben

OUR HEROES

sind die gestern im Irak Gefallenen an denen der mächtige banale achtlose Betrieb des Flughafens vorbeiläuft ich falle schon auf weil ich vor dem Schild stehenbleibe womöglich halten sie mich für einen Patrioten der einen unangenehmen Auftritt inszeniert also gehe ich rasch weiter von Deutschland aus erschienen die USA eindeutig als kriegsführender Staat es war das dort vorherrschende Attribut der Nation während diese fünf Toten hier untergehen wie Ereignisse einer Ballsportart die entschieden weniger wichtig zu sein scheint als Baseball das hatte ich Seymour vergessen zu sagen (oder er mir) dieses Untergehen das Marginale und Entfernte des Kriegs war und ist seine unabdingbare Voraussetzung die brutale mathematische Relation von UNSEREN Toten zu UNSERER Bevölkerungszahl insgesamt unter dem die Bedrohung für die eigene Familie noch weiter eindämmenden Umstand dass es eine Pflichtarmee ist die hier zum Einsatz kommt unter den bislang über tausend Gefallenen der US-Army sollen mittlerweile zwanzig oder dreißig weibliche Soldaten sein in einem ihnen unverständlichen feindseligen Land dessen Sprache man nicht spricht dessen Kultur man nicht versteht dessen Hass und Verzweiflung man durch sein Unverständnis nur noch weiter provoziert

Goethes Frauen

ich stelle mir vor ich müsste ihnen ein solches weibliches Schicksal erklären die Fahrt in einer moosfarben gefleckten Uniform in einem Humvee auf einer Wüstenpiste bei fünfundvierzig Grad Celsius in der Nähe von Tikrit du bist sechsundzwanzig Jahre alt hast zwei Kinder in Philadelphia denen du gestern über eine sichere Verbindung eine E-Mail und ein Digitalfoto schicken durftest am Straßenrand siehst du ein schwarzes Bündel ein Schaf nein ein toter Hund der eine Sekunde später explodiert

Bettine hätte es vielleicht am wenigsten gewundert denke ich

in ihrer Überspanntheit

und mit einem Mal fällt mit Seymours Botschaft ein oder wird mir klar denn sie war ja nicht ausgesprochen ich musste erst den Blick von Bettine oder Friederike auf den Boston Logan International Airport zu richten versuchen einen Flughafen den man ohne motorisiertes Fahrzeug gar nicht mehr erreichen kann weil nur noch mehrspurige Straßenschleifen in sein Inneres und zu den Terminals führen

sei froh dass sie am Leben ist

mehr brauchte mir sein Blick doch gar nicht zu bedeuten ich habe mich umsonst bemüht allein eine Lösung zu finden ob ich bleiben oder nach Berlin oder Tel Aviv gehen soll das muss ich gar nicht für mich ausmachen wenn Luisa mir noch eine Chance gibt

um langsamer und sehender (andächtiger) anzukommen nehme ich die Fähre zur Rowes Wharf mit der ich zum letzten Mal im Sommer 2000 gemeinsam mit Sabrina gefahren bin als wir zusammen zurückkehrten ich von meinen Studien in Frankfurt und Weimar sie von ihrer Europareise

durch das von Tropfen besprühte und von Reflexen übersprühte Glas der Fährkabine verwischt und übersteigert sich der Anblick der Waterfront so dass das wochenlang an die europäischen Eng- und Kleinmaße adaptierte Auge sich auf die Steinriffe Manhattans zuzubewegen wähnt

weißt du ich kann hier schon leben sagt Sabrina von der italienischen Sonne gebräunt draußen an der Reling ihren schwer bepackten Rucksack mit den Knien gegen die weißen Metallstäbe pressend

weshalb nicht denke ich ergeben und optimistisch zugleich sie würde hier studieren und sich auch am MIT behaupten die Reise mir ihrer Cousine hatte ihr mehr Selbstbewusstsein und Unternehmungsgeist verliehen sie wird es schaffen ich sehe über das Wasser und versuche möglichst viel von der Zuversicht und kühlen Vitalität des Financial District in mich aufzunehmen von der Business-Energie und Dynamik der Stadt (der Bürgermeister und der größte Gangster können schon mal leibliche Brüder sein) Boston ist überschaubar es hat eine gediegene Modernität nichts Überwältigendes

Sabrina erzählte und ich hätte zuhören sollen

der ruhige Wasserspiegel der Hafeneinfahrt fließt zinnfarben träge und gelassen zum Torbogen an der Rowes Wharf hinter der einzelne hohe Gebäude emporragen eng gestellt und vage zusammenhängend

wie Burgtürme oder eher noch wie die Felsen der

Toteninsel

es ist für einen Augenblick

eine so zwingende visuelle Überblendung der Hafeneinfahrt mit Böcklins Gemälde dass ich um meinen Verstand fürchte ich hätte nicht von Hitler und Berchtesgaden erzählen sollen es verdarb ihr die Faszination an dem Bild Sabrina vergisst nichts sie sucht und archiviert Details

der kleine golden gewandete Mohr und sein schwarzer Tanzbär auf einer Plakette in einer hölzernen Standuhr im Frankfurter Goethe-Haus

oder jene

winged skulls die geflügelten Totenschädel die man in den Scheitelpunkt der Grabsteine auf dem hiesigen Friedhof Copp’s Hill einmeißelte als Goethe nach Frankreich fuhr (Sabrina erinnerte sich in Boston nicht mehr an die Skelett-Engel in den Channel Gardens)

vor einer Backsteinmauer eine völlig weiße Statue Franz von Assisis mit einem weißen Spatz auf der Schulter

jenes Gebilde wie aus einem großen zerfetzten Papiertaschentuch geformt eine Haube über dem verschwommenen gelblichen Gesichtsoval die älteste Puppe Amerikas (des weißen Nordamerikas) unter einer Vitrine in Deerfield

das nächste Mal

verspreche ich

wenn wir ausgeschlafen sind

werden wir gemeinsam den ganzen Freedom Trail entlanggehen der Linie folgend die vom Boston Common bis nach Charlestown führt schwarzes und rotes Blut gemischt zur paradoxen Hahnenkammfarbe der Freiheit ein zertretenes schmales Band das über die Bürgersteige und Straßen um die Häuserecken und durch die Parks läuft alles schon so lange her wie jenes 1770 von den Engländern an UNS begangene MASSAKER (5 Tote) vor dem Old State House

wenn du über die Brücke fährst sage ich (wieder und wieder) kommst du nachhause

es sollte ja nur den Weg ins akademische Leben weisen nach Cambridge worüber kann ich denn sonst reden was kenne ich denn sonst weshalb

hat sie mich nicht angerufen

an ihrem letzten Tag

fahre in einem Waggon der Red Line nach Cambridge über die Longfellow-Brücke und du tauchst unvermutet ins Licht du siehst die Hochhäuser der Back Bay und des South End der Charles River wird zu einer uferlosen Front wenn du die Augen zunächst schließt und dann im richtigen Moment öffnest weshalb kam Sabrina auf die Idee sich auf die Bank mir gegenüber zu setzen es fehlte (für zwei oder drei Sekunden vielleicht) jede irdische Nahumgebung die Gleise waren so geneigt dass es nur noch Wasser- und Himmelsbläue gab die Köpfe und Oberkörper der Passagiere auf Sabrinas Seite schienen vor einem Blue Screen zu schweben wie biblische Figuren auf einem Gemälde von Raffael oder Michelangelo ganz so als

kämen sie

nicht mehr zurück

Muna

Es ist jetzt endlich heiß genug in der Hitze am späten Nachmittag noch drückt der weißlich fahle Himmel einen Knebel aus stickiger Luft auf die Stadt fast wie das mit einem alten Leintuch überspannte Kissen über das Miral die Teigfladen ausbreitet ich hebe den Deckel des Ofens und sehe durch einen Kreis von in den Boden gestanzten Löchern die blauen Gasflammen schlagen stürze hinein in einen Zylinder aus dunkel bebender Luft ich fürchte mich nicht will ich manchmal laut ausrufen es geschieht euch gar nichts dort eure Körper beherrschen das Spiel lasst euch nur fallen und seht euch vor denn

jetzt hat die Eisenwandung die nötige Temperatur und wir können beginnen wir drei Cousinen in unseren leichten weiten Hauskleidern es beruhigt mich und tröstet mich ja auch

aus dem siebten nein sagen wir dem vierten Himmel jenem der kurzen oder vielleicht nur machtvoll eingebildeten Wonnen

wieder in die Familie

zurückzufallen

mit Sara und Miral spielte ich schon immer (seit Jahrtausenden im Schatten des Turms) und auch jetzt wo wir alle drei Anfang zwanzig sind kann es zu einem fröhlichen und ausgelassenen Miteinander kommen als verkleideten wir noch unsere Puppen oder hüpften nacheinander in die Quadrate von Himmel und Hölle aber sonst ist nichts mehr wie damals als wir den älteren Frauen nur zuschauen durften die Hefeteigkugeln auf dem mehlbestäubten Tablett vor Saras Platz am Gartentisch bilden eine glatte weibliche Landschaft wunderbar aber langweilig auf einem schneebedeckten Mond glatt schwellend unberührt eintönig perfekt man weiß nicht ob man sie unter Vitrinen versiegeln möchte oder seine Zähne in sie schlagen will stell dir eine königliche Liebe vor einfach und majestätisch kostbar und blendend (hinter deinen geschlossenen Lidern Saphire Rubine Himmelsplitter leuchtende Spiralen unter deiner Haut) alles ohne den geringsten käuflichen

Schmuck

dieses Mal sah ich

den Major

nicht zwischen herabhängenden Goldkettchen

aber es war wiederum auf einem Suk dem kleinen Lebensmittelmarkt ganz in der Nähe im relativ sicheren Wasiriya durfte ich in den vergangenen Wochen dreimal alleine einkaufen und beim dritten Mal stand er plötzlich vor mir in Jeans und einem grün-weiß karierten Hemd so ungewohnt dass ich vergaß

laut aufzuschreien

wenn du

die Wahrheit wissen möchtest mein Täubchen dann

hörst du jetzt einfach zu und bleibst still ich blieb weil ich mich vor Schreck ohnehin nicht hätte rühren können es war vor einem Stand mit Heilkräutern getrockneten Käfern und leeren Schildkrötenpanzern zwischen herabbaumelnder Schlangenhaut der Major redete mir drängend ins Ohr und packte dabei meinen rechten Oberarm als sei er mein Vater der mir eine Standpauke halten musste immer ergreift und packt mich etwas

du bist

der ganze Mensch ist die Frauen in diesem Land sind wir denn immer

nichts als eine Handvoll glatter wehrloser zu allem formbarer Teig ich versuchte mich aufzurichten ich wollte dass er meine Veränderung spürte dass er begriff dass ich mich nicht fürchtete um Hilfe zu rufen

der Teig wird jetzt vom Tablett genommen und von Saras geübten Händen zuerst zu einem Pfannkuchen gepresst dann über eine Faust gespannt und mit leicht schlingernden Bewegungen der sich aufspreizenden Finger zu einer dünnen Scheibe ausgeschleudert

deine Schwester

sagte der Major in seinem zivilen Karohemd wann hatte er die Armee verlassen (im Krieg oder hatte ihn der amerikanische Ersatzkönig gefeuert) trüge ich eine Schlangenhaut dann schlüge ich meine Giftzähne in sein Bein

hatte von mir nie etwas zu befürchten ich liebte sie und wenn ihr euch fragt wie es dazu gekommen ist dass

sie verschwand

dann fragt euch mit wem sie ihr sauberer Mann bekanntgemacht hat er hat es sich gut überlegt dieser Kasim er selbst hätte nichts gegen mich ausrichten können wegen seiner Frau aber er wusste jemanden zu finden der

sich zu rächen verstand wenn man

ihn zurückstieß

ist das klar genug ausgedrückt (mein Täubchen) ich wollte nur

dass ihr das wisst auf Wiedersehen

im Feuerofen der Hölle der Teigfladen wandert von Saras zur Mirals Händen Miral breitet ihn über das Kissen aus ich nehme den Blechdeckel hoch und sie presst den Fladen fest gegen die heiße innere Wand des Tonnenofens bis er überall Blasen wirft und sie ihn von der Wand reißt wie festgeklebte Haut um ihn dann rasch auf das von mir bereitgehaltene Tablett zu schleudern und ich staple das Brot in einer großen Schale aus Blech

Jasmins Narben an den Füßen am Rücken an der Hüfte werden langsam weiß

sie spricht manchmal wieder Arabisch

seit Kerbela

wenn sie selbst nichts sagt wenn sie selbst Kasim schützt oder ihn nicht verdächtigt oder einfach nie wieder seinen Namen aussprechen möchte was soll was muss ich dann tun mit dieser möglichen Wahrheit oder möglichen Verleumdung welche Gefahr verbindet sich damit wenn es stimmt was der Major sagte und Kasim also einen Geheimdienstmitarbeiter auf meine Schwester angesetzt hat damit sie seine Avancen abwehre und er sich stellvertretend für meinen Schwager an meiner Schwester und dem sonst unangreifbaren Major räche ich traue

es Kasim zu

mittlerweile

nachdem wir über ein Jahr schon im Krieg leben und seither nur noch die Scheidungspapiere von ihm gesehen haben

wie er uns damals so verstört und schockiert in unserem alten Haus in Betawiyn aufsuchte mein sauberer Schwager ich

will nicht

verantwortlich sein für noch mehr Hass und noch mehr Tod einmal muss Schluss sein einmal müssen wir lernen über den Gärten von Babylon zu schweben uns aufzuschwingen die Kranken Beladenen Gefolterten aufzunehmen an Bord unserer Luftschiffe hinabzusehen und beieinander zu liegen ohne Angst lerne

schweigen

von deiner gefolterten Schwester von deinem unter Schock stehenden Bruder damals (nach Achmeds Tod vor endlos lang erscheinenden zehn Monaten) schwieg selbst er

zwei Tage lang

zitternd und schutzbedürftig er zeichnete sogar wieder um sich zu beruhigen fertigte er Kalligrafen an die Gott priesen beinahe wäre er zurückverwandelt worden in meinen lieben Kinderfreund der zu mir aufsah sich an mich hängte mit mir Pferde stahl der sofort dabei gewesen und aufgesprungen wäre eines Nachts durch das Fenster auf den Rücken eines blinkenden und blechern wiehernden

elektrischen Pferdes zum Beispiel um

mit mir zu den Sternen zu galoppieren anstatt nur blöde elektronische Flugzeugüberfälle auf ein grob stilisiertes pappkartonhaftes tarnfarbenes New York City zu unternehmen

jetzt trifft mich nur noch seine Ignoranz oder Verachtung was sieht man mir an frage ich mich zwischen Miral und Sara eine Teigkugel nach der anderen landet platt an der glühenden Ofenwand und dann übersät mit Brandblasen auf einem Tablett der Mensch (wo las ich das) ist eines der wenigen Dinge das sich ohne äußeres Anzeichen vollkommen verändern kann nur Gott

den größten Spieler

kann man nicht täuschen wozu auch wann hat er je

ein Liebespaar getötet er tötete nur

den Heiligen Dhu’n-Nun aus Liebe und schrieb dies seiner Leiche auf die Stirn

solche Dinge standen in dem schrecklichen ersten Brief den ich nach dem Umzug nach Wasiriya von Dir erhielt

wir tragen das Brot

an den Tisch der Familie ich bin stolz auf unsere Arbeit ich bin wie meine Cousinen und wie sie hülle ich mich in weite lange Kleider um rechtzeitig schon alle daran gewöhnt zu haben es verwundert oder kümmert niemanden am wenigsten die Männer die offenbar kein Problem damit haben dass der gesamte weibliche Irak sich mehr und mehr in Tücher schlagen muss

Samis Misstrauen

an jenem Abend (dem vorletzten) in Betawiyn er versuchte mir etwas zu entreißen in mich zu dringen mit einer schockierenden und schmerzlichen Anmaßung und ab da

seit jenem Augen-

blick

ist mein Bruder ein Mann ein Feind

meiner Liebe ich spiegele seine stummen Angriffe zurück kalt und klar

weshalb

fürchte ich mich so sehr

das Wahrscheinlichste ist doch immer dass einem nichts geschieht gäbe es sonst diese Kriege und Morde und Anschläge und Hochzeiten wenn sie nicht alle immer

davonzukommen hofften ich verteile das frische Brot

auf Teller an den Enden der auf dem Boden gedeckten Tafel wir haben uns schon daran gewöhnt wieder hier zu sein Miral hat ihr Lehramts-Studium schon vor vier Monaten ausgesetzt Sami muss die Abiturklasse wiederholen da er fast nicht in der Schule war Sara verlor ihre Arbeit bei einer staatlichen Druckerei und arbeitet nun in einem der Elektrogeschäfte von Onkel Munir dem es jeden Tag bessergeht seit man Mobiltelefone Kameras PC und Drucker an jeden verkaufen darf sogar meine Mutter ist neben der Pflege Jasmins und ihren Koch- und Haushaltsarbeiten ins Familiengeschäft eingestiegen und übersetzt Gebrauchsanweisungen aus dem Französischen und Englischen für die allerneuesten Geräte man muss nur

warten können

sollte man denken die Jungen und die Unschuldigen können es sich leisten

sofern

sie beschützt werden ich esse mit wenig Appetit und warte ängstlich auf seltsame Gelüste das große bewegte Bild der Familie an der Tafel verschwimmt vor meinen Augen zu einem bunt bedruckten Schleier durch den ich nicht sehen kann bis auf den Grund ihrer Seelen ins Mark ihrer Knochen die Spiegel ihrer Herzen das spiegelnde Herz versteckt sich am besten

seht was

ihr sehen wollt ich

bewahre meine Ruhe indem ich darin verschließe was ich vor mir selbst verbergen möchte die Erinnerung ist der Spiegel der suchenden Gegenwart verstecke sie als

erfundene Vergangenheit

den Major auf dem Suk

bräuchte es nie gegeben zu haben solange

nur ich ihn sah

in der Spiegelkammer meines Herzens liegst Du zwischen den Blütenblättern lächelnd auf dem Rücken atemlos schon wieder schwer atmend vielmehr weil Du Dich bereits in einem neuen Lauf befändest so jedenfalls stelle ich mir das vor ganz bestimmt würdest du ja das mögliche

Geschehene

das wir uns einmal so sehnlichst wünschten in eine (geltende) Ordnung bringen wollen statt das Geltende in die Ordnung unserer Liebe wie es sich eigentlich gehörte denn was machte es ihm schon aus wir also müssten Du müsstest hättest Du noch eine Mutter dann würde sie meine Mutter besuchen meine Eltern heirateten früh (in einer Zeit in der mein Großvater fast reich war und man fast leicht noch im Ausland studieren konnte) aber ich

wäre so seltsam ruhig gewesen in diesem Moment als hätte mich mein eigener ruhender

Ischtar-Körper

seine Schwellungen sein Duft

um jede Furcht gebracht heirate mich für

noch eine Stunde (Geliebter!)

ganz wie es in Deinem und im (unberechenbaren) Glauben meiner Mutter doch möglich ist mut’a die Ehe für eine Stunde oder 99 Jahre

als

Genuss

denn ich wüsste klar zu sagen was uns meine Eltern geantwortet haben würden hätten wir sie gefragt

wartet studiert

zu Ende auch wenn man sieht

dass nichts aufhört alles ist wie dieser Krieg aus dem der amerikanische Ersatzkönig im dunkelblauen Anzug blendend weißen Hemd mit roter Krawatte und wüstenfarbenen Springerstiefeln davongeflogen ist nachdem er uns (überfallartig) im Fernsehen erklärte die Verhältnisse hätten sich außerordentlich gebessert

das Land gehört endlich uns oder

den Wölfen

die uns in die Häuser treiben man sah am Bildschirm einen Mann der einem anderen auf der Raschid-Straße eine Kugel in die Schläfe schoss einfach so zwischen zwei langsam voranruckelnden Autoschlangen um vier Uhr nachmittags der alte rote Mercedes am rechten Bildrand gehörte Onkel Fuad in solchen Fällen

steigt man nicht aus

man duckt sich besser nieder mit bebenden Gliedern


Fürchte die Schande und vergiss nicht, dass ein Rebhuhn kein Falke ist.

es war so schwer auf den ersten Brief zu antworten den Du nach unserem letzten Treffen in Betawiyn schriebst in dem es ebenso wenig um Liebe ging wie in den vorherigen die jedoch Trost und Zuversicht ausstrahlten

eine tödliche Zurückweisung

schien Dich verwundet zu haben (wo Dich doch nichts anderes hatte empfangen sollen als die Umarmung der Morgenluft der Wolken der taufeuchten Blüten der weichen klaren Wellen eines Sees) der Falke zog Dir das Gedärm aus dem Leib und würgte an Deinen Federn so schien es oder als wäre ich das Monster-Rebhuhn aus einem noch abzudrehenden japanischen Horrorfilm es jagte nicht nur dein Herz sondern gleich noch Deinen Verstand zum Fenster hinaus Du wolltest ihn ja auch gar nicht mehr verwenden sondern ganz andere und höhere Zustände erreichen

in diesem verstörenden Brief

Zustände in denen Dir jede Rose

wie ein Galgen

erscheine in denen das Weinen wie Atmen sei denn Gott habe es gerne wenn seine Diener weinten man müsse Hind und der trauernden Witwe Rikabi das Beispiel Fudails vor Augen führen der in dreißig Jahren nur einmal lächelte nämlich als sein Sohn starb denn


der Tod seiner Kinder war wie eine Süßigkeit für ihn

Armut statt Reichtum Hunger statt Sättigung Niederes statt Hohes Demütigung statt Ehre Bescheidenheit statt Stolz Trauer statt Freude Tod statt Leben

willst Du das wirklich ist es das was ich Dir gegeben habe ist alles falsch gewesen was meine Haut Dir sagen wollte hatte sie so einen schlechten Übersetzer waren meine Hände skelettiert meine Augen leere Höhlen saß mein Haar auf einem blanken Knochen hatte ich keine Lippen mehr kein Fleisch bilde ich mir Pfirsiche ein anstelle kahler Rippen du schriebst vom

Kindertod in einer Art von

verrücktem panischen Weglaufen (schrieb ich erregt zurück) hör zu für eine Frau

ist Gott ein Kind

meine Mutter las mir manchmal Verse der Sufis vor in meiner (wie Du sagst) ungläubigen Familie wurde auch noch vor Kurzem über Deinen geliebten al-Halladsch geredet den großen Schmetterling der in der Kerzenflamme verbrennen wollte und der getanzt haben soll auf seinem Weg durch Bagdad zum Galgen hin

jetzt fängt dieser Irrsinn wieder an rief Tarik als die ersten Bomben vor Moscheen explodierten Sunniten gegen Schiiten und umgekehrt als hätte es den Irak nie gegeben verdammt noch mal vor tausend Jahren schrieb der Kollege ar-Razi in sein Lehrbuch dass jegliche Religion dem Menschen schade allein schon in medizinischer Hinsicht und übrigens: niemand bestrafte ihn dafür

aber sie töteten al-Halladsch erwiderte Farida weil sie es nicht ertrugen dass er behauptete Gott sei Liebe

al-Halladsch! er war auch der Meinung statt nach Mekka zu fahren genüge die Reise zur Decke des Wohnzimmers und du gingst zu den Irren nach Kerbela und sie hätten dich töten können!

niemand hat uns ein Haar gekrümmt sie gaben uns Wasser sie kochten für uns an den Straßen sie räumten ihre Gästezimmer frei sagte Farida und unterließ es ihren Mann darauf hinzuweisen dass ihre Pilgerfahrt mehr für Jasmin getan hatte als seine Fachkollegen bei ihren hastigen Besuchen vermocht hatten

wenn Gott also Liebe ist (schrieb ich) dann verstehe ich den Wunsch in der Flamme zu verbrennen auf gar keinen Fall denn Liebe ist nicht Feuer diese Sehnsucht der Schmetterlinge der Schmetterlingsmännchen vielmehr nach dem Tod wird hierzulande noch zum Regierungsprogramm das wollte doch auch schon der von euch allen gehasste Saddam dass ihr euch für ihn ins Verderben stürzt von der

vernünftigen zwölfjährigen Hind

erfuhr ich in klaren Worten dass Frau Rikabi Dich hatte aus dem Haus weisen müssen weil Yusuf (verrückt eifersüchtig verdrehten Kopfes wann hat er je schon etwas Vernünftiges getan) Dir vorwarf an der Universität für die Amerikaner zu arbeiten es ist ungeheuerlich was mit uns geschehen konnte in dieser kurzen Zeit des Krieges die Mauern in der Abendsonne auf denen wir scherzend und schwätzend beieinandersaßen sind mit Blut besudelt ich schrieb

mit aller Kraft und Mühe gegen Deine Verfinsterung an ich ging so weit Dir zu erklären dass Du meinen Vater nicht unterschätzen solltest seine Modernität seine Stärke und Konsequenz nur weil man sie zu einer ungewollten Ehe gezwungen hat trug Laila den Tod in der Seele und nie würde Tarik so etwas tun hörst Du in unserer Geschichte gibt es keinen tragisch dazwischenkommenden Ehemann und sinkt kein irre Gewordener der toten Geliebten aufs Grab wir brauchen nur etwas Geduld und Gott ist mit den Geduldigen wie Du besser wissen solltest als ich

vielleicht hat Dich das am meisten überzeugt denn in Deinem nächsten Brief dessen von ihr beschriebenen Umschlag Hind Dir in einem größeren Umschlag schickte warst Du

wieder zur Vernunft gekommen

Du schriebst dass Du Dich besonnen hättest dass Du sehr durcheinander warst dass Du Dich für die Zitate der Sufis schämtest derer Du nicht würdig seist dass Du Dein Studium wieder voranbrächtest und nicht wüsstest was Yusuf veranlasst habe Dich zu verleugnen und dass es Dir vor allem um Hind leid tue die jetzt nicht mehr mit Dir auf einfachem Wege reden könne sie schriebe aber an Deine neue Adresse Du hättest ein Zimmer gar nicht weit vom Haus der Rikabis entfernt gefunden aber Du wolltest noch näher zu mir heranziehen möglichst nach Wasiriya und so

ging ich wieder über der Erde

ein so winziges Stück dass es keiner merkte mit lautlosen

Feuerwerken in meinem spiegelnden Herzen

mein Vater

kommt zu spät zum gemeinsamen Essen er erhält einen Teller von Farida und setzt sich damit hinaus in den Innenhof vom Wohnzimmer her lärmt der große Fernseher Mücken schwirren durch die immer noch drückende Luft ich habe Tarik einen Pfefferminztee gekocht und bin an dem grünen Metalltisch unter dem Feigenbaum erst stehen- und dann sitzengeblieben trinke gleichfalls Tee und versuche mir vorzustellen wie es wäre wenn ich ihm

etwas ganz Furchtbares

sagen müsste

aber ich glaube es nicht und zudem ist das Leben nichts Furchtbares ich kann nicht anders als zuversichtlich sein und das Beste annehmen in zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren denke ich studiert mein Sohn in diesem neu erwachenden Land und er wird nichts von unseren Niederlagen wissen

liest du in deinen Büchern Muna wie weit bist du mit der Keilschrift du weißt die Menschheit muss allmählich vorankommen

er sieht jetzt älter aus als er ist ich denke fast jeder würde ihn für Anfang sechzig halten erschöpft und mager sitzt er vor mir mit seiner hohen kahlen Stirn den völlig weiß gewordenen Haaren die sie einrahmen auch sein Schnurrbart ist schon fast ganz weiß weil ihn jeder in der Familie verehrt traut sich keiner zu fragen wie müde er ist außer mir vielleicht

Yabba du solltest zu dir selbst gehen als Arzt meine ich

wieso

weil ich herausgefunden habe dass ihr sterblich seid ihr Ärzte

er lacht und bittet mich um einen weiteren Tee

viel mehr reden wir selten mit wem rede ich eigentlich früher unterhielt ich mich lange mit Sami und mit meiner Mutter und eigentlich habe ich damit aufgehört (oder haben sie damit aufgehört) als ich fünfzehn wurde seither spricht ja auch Gott nicht mehr mit mir der fraglose starke Kinderglaube verschwand einfach und übrig blieb irgendetwas zwischen Faridas Gläubigkeits-Anfällen und dem poetischen Atheismus meines Vaters der behauptet das Schrecklichste (sofern man glaube) sei ja dass dann zuträfe was im Koran stehe nämlich dass Gottes Antlitz überall sei wohin man sich auch wende

Jasmin sieht mich hin und wieder an als

sei sie völlig geheilt und würde nun endlich so mit mir reden wie ich es seit meinen Kindertagen von ihr wünsche als sie so lange in Paris lebte aber sie schweigt dann nur auf eine noch schmerzlichere Art nur mit Eren und Huda ja eigentlich nur mit dieser aufsässigen spottlustigen und scheinbar oberflächlichen Huda habe ich in den letzten Jahren über alles geredet

jetzt bräuchte ich sie so sehr

nachts

wenn ich zwischen meinen Cousinen liege mit denen ich viel spreche aber auf eine seltsam vorsichtige und befangene Art vielleicht weil wir uns schon seit unseren Kindertagen kennen es lässt sich nicht gut ändern es ist als könnte man (wie mit Sami) nicht zusammen erwachsen werden dabei ist Miral mit ihrem

versperrten

Lehrerinnen-Studium in der gleichen Lage wie ich und eine interessante junge Frau geworden ich weiß auch von Selim dem jungen verheirateten dreifachen Vater in der Nachbarschaft dessen Blicke sie quälen wie etwas das man

genüsslich in sich hineinbohrt

würde Huda sagen und kichern alles ist so ernst so verschlossen wir wälzen uns in den stickigen Sommernächten auf den Betten manchmal wird es mir bleischwer im Herzen und im Kopf die riesige Bleifaust in meinem Bauch aber manchmal kann ich mich erheben durchsichtig werden und fliegen wie in meinen Mädchenträumen ich sage mir dass Du vielleicht schon nach Wasiriya gezogen bist wenn der Muezzin ruft habe ich oft das Gefühl noch keine Stunde geschlafen zu haben es fallen

keine Bomben mehr aber doch immer wieder Schüsse in dieser oder jenen Nacht meine stillen geduldigen Cousinen und ich träumen drehen werfen uns schweißnass herum wir springen immer wieder in den gleichen Quadraten wirf das Steinchen springe mache keinen Fehler

wahid

ithnan

thalatha

arbaa

so versuchen wir immer die Gleichen zu bleiben

in der Familie

aber

alles ändert sich das ganze Land stülpt sich um hüpfe schneller auf einem Bein

am Morgen ist

schon wieder eine Woche vergangen und nur scheinbar hat sich nichts verändert wir schlafen weiter während wir arbeiten oder uns mit Nichtstun quälen bis zum Mittagessen erneut

backen wir

erneut schlagen die blauen Gasflammen durch den Rost erneut zieht Sara den Teig über ihren gespreizten Fingern aus erneut

gibt es einen Brief in einem Umschlag beschrieben von Hind ich trage ihn zwei Stunden lang wie eine zärtliche Hand auf meiner Brust dann öffne ich ihn und die Schlange

beißt in mein Herz


… um es kurz zu machen: Mein Onkel hat lange mit mir gesprochen. Mein Gewissen ebenfalls. Deine Familie ist größtenteils sunnitisch. Aber wie Du weißt, will ich den Onkel bitten, mich zu unterstützen, ein Glaubenslehrer der Schia zu werden. Er wird mir hoffentlich auch dabei helfen, wenn ich mir treu bleibe. Deshalb sollten wir uns nicht mehr sehen. Ich wünsche Dir alles Gute auf Deinem Weg.

Vertraue in Gott den Allmächtigen, lobe und preise Ihn, in dessen Händen Alles liegt!

Dein

Nabil

Tarik

Du denkst

ICH kann es nicht sein der den BRIEF DES KALIFEN in der Innentasche eines leichten hellgrauen Jacketts trägt (das Gewicht dieses ungeheuerlichen Schreibens risse mich auch augenblicklich in den Staub) wie denn käme ICH hinaus aus den Schrecken Verwerfungen alltäglichen Demütigungen und Beschießungen der ROTEN ZONE des Blutes des Feuers jenes recht beträchtlichen Teils unseres Landes in dem die Waffen der Koalitionstruppen entsichert zu tragen sind vom Hafen Sindbads also durch das Marschland der Schilfhütten und der wilden Frauen über die Lager der Moschee-Besetzer von Nadschaf die Zelte der Flagellanten von Kerbela die Ruinen und Massengräber Babylons das Häusermeer des Bagdads der gewöhnlichen Sterblichen und ungewöhnlich Sterbenden bis hinauf in den Norden über dessen Berge sie die Ölfässer in die Türkei rollen kurzum allüberall in unserem Chamäleonen-Land in dem ein jeder ROT sieht ganz egal ob er grün oder schwarz denkt oder vielmehr zu denken versucht bevor er nach seiner Kalaschnikow greift und beginnt zu

argumentieren

mir jedoch gelingt es gelassen zu bleiben und Paradiese jenseits der Wut zu entdecken und ich sage

Ali mein Freund dein Tier hat Ruhe verdient ich nehme es mit in die

GREEN ZONE

auch wenn es gar nicht ICH sein kann (oder ich sein will) der da auf einem perlgrau bezogenen Limousinensitz dahinschwebt dein Tier Ali reist gut verborgen in meinem Kopf mitten hinein in das leuchtende von Stacheldrahtverhauen Panzersperren Betonstelen Wachtürmen MG-Nestern gegürtete Smaragdherz des Landes

hinüber

auf der wiederhergestellten Brücke des 14. Juli (imaginäre Luftballons mit den geblähten Gesichtszügen von Qasim dem Vertreiber der Engländer steigen hinauf bis in die Strahlemann-Sphäre von Tony Blair dessen Moskitonetze wenig vor seinen Bomben schützten) auf der wir an den sichersten Ort Bagdads gelangen in die

INTERNATIONAL ZONE

gleich am Eingang dürfen wir lesen

WAIT OR

YOU WILL BE SHOT!

solche Aussichten ermuntern mich stets und während die Limousine bremst stockt ihr Motor leise aufwinselt und erstirbt und alle auf den grauen Sitzen ergeben vor sich hin nicken die wie ich

oder jener mich Darstellende vielmehr

verborgene Chamäleons in den Köpfen tragen und vielleicht ebenso wenig mit dem wirklichen Durchkommen gerechnet haben obgleich sie allesamt einen Brief des Kalifen in ihren grauen Anzügen bewahren (von acht Anzügen ist nur einer dunkelblau und den trägt der Fahrer) kann ich mir einige wahnsinnige Augenblicke lang vorstellen über die Stacheldrahtwälle der Brücke über die Wüsten des Glacis über die Gebirge der Außenmauern die Fluchten der Vorhöfe durch das Labyrinth der Vorpaläste über die Treppen die zu den Treppen führen zwischen den Säulen die nur die Sockel der Säulen sind bis zu den Vorhallen der Vorhallen und der Halle der Hallen selbst vorzustoßen in das undenkbare Innere des Palastes bis vor die

riesige goldene Puppe

des KALIFEN selbst die (in meinem verrückten Kopf) plötzlich aufspringt wie eine Knospe so dass sich ein unfassbarer Blick auf den HERRSCHER auftäte würfe ich mich nicht in den Staub mit zusammengepressten Lidern aber ich höre

Stimmen ich kann nicht umhin diese Stimmen zu vernehmen die immer lauter und deutlicher werden bis ich sie endlich verstehen muss

im Inneren der Puppe (heißt es) sei nichts weiter als ein

gewöhnlicher Amerikaner

also springe ich auf greife in meine Jackettasche ziehe die Briefrolle heraus mit der kilometerlangen

KLAGE DES VOLKES

auf ägyptischem Papyrus

die ich stumm verlese während wir am

CHECKPOINT 11

zwischen den Barrieren aussteigen und grimmige amerikanische Wachsoldaten mit übellaunigen Spürhunden alles beschnuppern was wir so dabeihaben an erster Stelle natürlich unsere Geschlechtsteile und dann den BRIEF unsere Akkreditierung als

Delegierte der Irakischen Nationalkonferenz

eingeladen von der wohl nur schwer vorübergehenden Übergangsregierung IGC (Iraqi Governing Council) oder iIGC (interim Iraqi Governing Council) nebst der hoch provisorischen CPA (Coalition Provisional Authority — Children-Playing-Adults-Behörde — Can’t-Produce-Anything-Körperschaft)

daneben legen wir auch unsere faltbaren Kalaschnikows einige Mini-Handgranaten die Akkus unserer Mobiltelefone die von Bestechungsgeldern prall gefüllten Börsen den Stachel in unserem Hintern und die in schwarz-rot-grün glänzendes Bonbonpapier eingewickelten Hoden für die sich die Hunde so sehr interessierten auf den Tisch aber nicht

das Chamäleon in unserem Kopf das nicht weiß ob wir tatsächlich hier sein wollen oder sollen oder nicht Ali du siehst mich (oder eine schlechte Idee von mir) als einen von sieben älteren grauen Herren nach einem unschön aber fachkundig durchgeführten Abtastvorgang am hyperbolischen Aufschwung eines der baumstammdicken Hängebrückenkabel stehen und durch einen übermannshohen Zaun hinabschauen auf den

morgengrauen Tigris

in dem wir vor so vielen Jahren wie kleine muntere Frösche sprangen noch heute habe ich den Geruch des Wassers von damals in der Nase als wäre ich nie zu dem mürrischen Schabbut geworden der tief unter der Oberfläche in seinem trüben Untertanen-Leben in ständig wachsender Furcht vor dem Angelhaken immer näher am sumpfigen Grund dahintrudelte ändert

es sich jetzt?

wo wir oben auf der Brücke stehen mit im Morgenwind flatternden Krawatten nach der Leibesvisitation unserer Schuppenpanzer

einige Imame (sagt man) hätten Fatwas erlassen gegen den Verzehr von Tigris-Fischen da sie zu viele Leichen angefressen hätten beenden wir also unser Schlamm-Leben fühlen wir uns

delegiert

sehen wir vertrauensvoll hinüber zum Karkh-Ufer zu dieser großen grünen Beule der Macht die der Fluss mit einer kühnen Darmschlingenwindung formt auch wenn er nach Abwässern stinkt ist die Luft um sieben Uhr morgens hier oben noch frisch

ein weiterer Wachturm ragt vor uns auf als wir langsam weiterfahren zwei Soldaten schauen gemeinsam mit den Läufen ihrer Maschinenpistolen verschlafen auf uns herab ich überlege ob ich hier schon aussteigen und meine Papyrus-Rollen-Rede für den unbekannten Amerikaner verlesen soll also noch bevor ich einen Fuß auf die von einem Kranz viertel- bis halbzerbombter Ministerien eingefasste grüne Beule oder Hernie setze halten wir diesen Gedanken fest die Erektion der Macht als Nabelbruch des Volkes Ali du warst der beste Operateur den ich in den letzten Jahren gesehen habe (dein Wappentier in meinem Kopf schafft es nicht sich rote/weiße Streifen und weiße Sternchen auf blauem Grund zuzulegen)

also bleibt mir gar nichts übrig als mich vor einer der zahllosen Sperren die unser Land vor uns

schützen

auf die Kühlerhaube der Limousine der Delegierten zu springen und auszubrechen in die

Declaration of Tarik!

die ich dem Amerikaner in der Puppe des Kalifen stellvertretend für sein ganzes Volk verlesen muss das aus irgendeinem Grund 1000 Tote leichter verkraftet als wir 100 000 Märtyrer (seit ER in der Todeszelle sitzt sind wir empfindlich geworden) was wollte ich sagen ach ja:

Amerikaner!

Ihr habt die Waffen, deretwegen ihr uns angegriffen habt, nicht gefunden.

Ihr brachtet die Terroristen, vor denen ihr euer Volk schützen wolltet,

scharenweise in unser Land.

Ihr stürzt uns in Gewalt und Chaos

durch eure so arrogante wie stümperhafte Besatzungspolitik.

Ihr –

an dieser Stelle gibt die Limousine der Delegierten leider Vollgas so dass wir besser denken wir hätten gar nicht erst auf der Kühlerhaube gestanden alles (die siebzehn Paragrafen mit jeweils drei bis vier Unterparagrafen) was ich noch verkünden wollte werden wir jetzt auf der Nationalkonferenz vorbringen müssen wozu sind wir schließlich hier der Fluss ist überquert links von uns liegen die neueren Paläste zu denen wir einmal hasserfüllt hinüberstarrten in deren Swimmingpools die GIs bei Al-Dschasira in unsere Wohnzimmer plantschten (Teile des irakischen Volkes erhofften sich auch den Anblick nackter junger Negerinnen und wurden bitter enttäuscht) rechts das

Coalition Headquarter und der große alte Palast dessen Kern noch aus kolonialer englischer Wertarbeit besteht während die riesigen Seitenflügel vom EX in Auftrag gegeben wurden dessen fünfzehn Meter hohen behelmten Köpfe sich darauf erhoben und nun etwas entfernt auf dem Gesicht liegen oder im Schlamm zu ebener Erde stecken umzäunt von Stacheldraht weil die Hinweisschilder No pissing on the heads! wohl nicht recht beachtet wurden

wir (Lehrer Imame Anwälte Menschenrechtler Vorstadtpolitiker Ölschmuggler die rechtzeitig die Front gewechselt haben Ex-Kommunisten mit Gebetskettchen und Ärzte die schon laut Saddams Tote und noch leise Bushs Opfer zählen) fahren auf den Platz des 14. Juli zu mit seinen auf dem Podest kletternden Erzsoldaten vor fünfzehn Jahren vielleicht umrundete ich zum letzten Mal am Steuer eines Wagens dieses Denkmal aber zu Fuß waren wir öfter hier in der Gegend allein schon aus Neugierde und heroischem Masochismus um die unsäglichen Monumente zu bestaunen die sich in der Umgebung des Qadisiya-Expressways im Laufe der Zeit anstapelten zum ewigen Schreck der Perser jener immer noch unbekannte Soldat etwa dessen Riesenleib durch den Gasangriff einer fliegenden Untertasse aufgelöst wurde so dass uns nur noch sein Blut übrigblieb auf immer in einem haushohen Betonwürfel zirkulierend oder jene abgehackten vier Hände des Sieges unter deren sich kreuzenden Säbelklingen aus echtem deutschen Stahl jeder Koalitionstruppen-Soldat für den Wish-you-were-really-here-in-Baghdad-Schnappschuss gestanden haben muss

manche

sollten auch den Löwen vom Tigris ausprobiert haben jenes sechzig Meter hohe Raubtier (angefertigt von einem internationalen Konsortium) in dessen schwarzen Marmor-Titan-Kopf man zu allen hohen Festtagen Gruppen von bis zu zwanzig lebenden Feinden warf deren Zermalmung und Zersetzung vom staunenden Publikum durch das gläserne Fell hindurch in den gleichfalls transparenten künstlichen Organen des Wundertieres beobachtet werden konnten wie

komme ich nur auf so etwas

vielleicht weil mir mein Delegierten-Nachbar zur Linken zumurmelte dass man die menschenfressenden Schoßtiere des EX in den Zoo gebracht habe der ja ebenfalls noch in der grünen Zone liegt innerhalb der

BUBBLE

wie die tarnfarbenen Jungs da draußen sagen vor der getönten Scheibe unserer Limousine (Ali ich bin ein Chamäleon mit Sonnenbrille mit hart glänzendem undurchdringlichen Blick eine am ganzen Körper spiegelnde Echse welche die Kollaborations-Vorwürfe die sie sich macht

als Chaos-Anklage

zurückwirft auf ihre Landsleute oder sich selbst damit brät falls auch die Innenseite der Echsenhaut spiegelt)

es gibt wirklich viele Bäume hier mehr wohl als in ganz Rot-Bagdad und das passt irgendwie zu den Irrealien der Machtzone Humvees und Panzerwagen rasen vorüber dann seltsam verkrüppelt und käferhaft wirkende Vehikel mit kreisenden Geschütztürmen die uns fast von der Straße werfen so jäh wechseln sie sogar hier die Spuren wir können das Schild beinahe anfassen auf dem steht dass wir 100 Meter Abstand! halten sollen die knatternden schwarzen Hubschrauber die den Himmel der roten Zone punktieren verdichten sich wie über einem Wespennest und wir bestaunen eine Gruppe von Joggern vor einem alten Wandmosaik mit dem betenden EX über dessen Kopf jemand eine irakische Flagge gemalt hat und über dessen Unterleib er oder ein anderer die kanonische Feststellung pinselte: Iraq good — US good — Saddam Donkey!

Wachsoldaten mit weißem Helm und weißen Handschuhen stehen vor einem rätselhaften massiven Betongebilde und das erinnert uns daran dass sich hier in der Nähe der

Führerbunker

befinden muss (erbaut von zwanzig Deutschen hundertfünfundzwanzig Fillipinos und zahllosen unbekannten Mesopotamiern die schon beim Turmbau zu Babel eingesetzt wurden) die amerikanischen Bomben schlugen in den Pseudo-Palast der als Schildkrötenpanzer darüber gebaut war ein aber sie konnten der sieben Meter dicken Betondecke des Bunkers nichts anhaben so dass wir uns fragen weshalb man den EX nicht dort im unterirdischen Monument der Esser Schutzraumtechnik GmbH (München) gefunden hat in einem der Marmorbäder mit goldenen Wasserhähnen auf alles scheißend

sondern in seinem Tikriter Erdloch

bis uns die Antwort auf die 114 000 000-Dollar-Frage von selbst einfiel nämlich dass ein Bunker ja eigentlich nur Sinn macht wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht dass der Gegner unterliegen und die Gefahr wieder abziehen kann aber daran

scheinen die Amerikaner im Moment wohl überhaupt nicht zu denken

Ali mein Freund du siehst mich hier (absolut nervös und schwitzend man kennt mich so gar nicht und sollte deshalb wohl allmählich an meiner Realität zweifeln) auf einen weiteren Checkpoint zufahren vorbei an einem Gemüsestand und einem Rudel lokaler Einkäufer (Aborigines) die mich überhaupt erst auf die Idee bringen dass zahlreiche Landsleute seit über einem Jahr in der KUGEL leben werden sie als Tierart gehalten oder übt man verschiedene Methoden der Völkerverständigung an ihnen bevor man zum Feldversuch in der roten Zone übergeht

im grünen Herzen der Macht

im Schädelraum des BefreierBesatzers der einen verflucht törichten Kopf auf unser Land gelegt hat (denn er hört schlecht denkt wenig und glaubt sein Holz sei Diamant) möchte ich gar nicht sein aber ich muss doch zwischen Camp Dragon FOB Blackhawk Camp Horror (nein: Honor) FOB Trojan House (nein: Horse)

aus der Odysseischen Limousine heraus in das Hirn des Besatzers springen und fortfahren mit meiner Declaration of Tarik:

Dear Sirs! Ladies and Gents!

Liebe Amerikaner!

Ihr ruft die Demokratie aus und nehmt uns die Stimme.

Ihr müsst von Ayatollahs zum Abhalten von Wahlen gezwungen werden.

Ihr –

aber im Grunde genommen sage ich schon wieder einmal gar nichts sondern werde erneut abgetastet wie eine Schneiderpuppe (dieses Mal stehen sie auf Achselhöhlen) und dann befinde ich mich auch schon mit einem Plastikschild an einer blutroten Leine um den Hals unter Hunderten mir unbekannter Leute auf dem Platz vor dem wuchtigen Konferenzzentrum (CC) das der EX errichten ließ wie ein in der Erde schon halb versunkenes langes Stahlfass in dem von möglichst vielen Rednern aus möglichst vielen Ländern bei möglichst vielen Ansprachen möglichst wenig gesagt werden sollte nichts als Glas und Staub und Aluminium es

kommen immer mehr

1300 Delegierte sind zur Nationalkonferenz geladen auf der eine 100-köpfige Kommission bestimmt werden soll deren Aufgabe darin bestehen wird die Organisation der Wahlen für das nächste Jahr zu übernehmen und die aus den Pokerspieler-Ärmeln der Zivilverwaltung geschüttelte 25-köpfige Regierung zu kontrollieren (was auch immer das heißen mag) welche einen schönen Platz (SITZ) in jenem monströsen stalinistisch anmutenden Hochhausblock des ehemaligen Industrieministeriums gefunden hat unserem schwankenden Standpunkt direkt gegenüber

Ali ich bin nicht hier ich führe nur dein Chamäleon spazieren ein leichter Wind lässt die Krawatten die Keffiyehs Gothras und auch die Abayas wehen (wir arbeiten an einer Frauenquote von 25 Prozent wozu Farida nur einfiel dass sie im heutigen Irak 58 Prozent betrage) eigentlich könnte ich dein Tier auch frei herumlaufen lassen hier herrscht (für mich wenigstens) eine surreale Grundstimmung rotweißgrünschwarze Kamele mit Koranexemplaren im Maul und gewaltige Plastiktruthähne mit Sternchen gondeln durch die Lüfte begleitet von Double-George-Kampfhubschraubern und jenen patriotischen Riesen-Wüstenspinnen die bei Falludscha ganze GI-Kompanien gefressen haben wie man weiß ich meine

wir stehen hier wie Öl- oder Sand- oder Waffenhändler vor einem Konferenzzentrum in Dubai oder Riad in der gnadenlos aufsteigenden Augustsonne und warten darauf dass einige Mörsergranaten durch das Panzerglas der BUBBLE schlagen und es geschieht nichts dank der EXORBITANTEN Sicherheitsmaßnahmen (alle tasten unablässig alle anderen ab) ich fühle mich einfach nur falsch oder so unrepräsentativ wie es die zahllosen wutentbrannten Kritiker der Konferenz sagen schreiben senden

während eine ruckartige Bewegung um einige wie erleuchtete (ausgeleuchtete) Figuren her entsteht die man vom Fernsehen her zu erkennen wähnt und das Hineinströmen in die halb versunkene Riesentonne beginnt

bin ich unpassend und unpässlich es ist

als müsste man bei einer Beerdigung fortwährend lachen dabei ist es eine

Geburt

die wir hier betreiben die blutige stümperhafte Zangen- und Saugglockengeburt der auf uns gekommenen und nun aus uns herauskommen müssenden Demokratie vor uns der Brutkasten (nebst den üblichen Vandalen die uns da herausreißen wollen) denn es ist klar dass dieses Frühchen nicht allein von der Brust seiner ausgehungerten jahrelang vergewaltigten mit Blutergüssen übersäten und gewaltsüchtigen Mutter leben können wird der die amerikanischen

Starchirurgen

noch den rechten Arm (falls wir Armee und Polizei einmal so nennen wollten was wir ungern tun) amputierten damit sie ihnen kein Messer zwischen die Rippen stößt der sie darüber hinaus das halbe Gehirn zu entnehmen versuchten (Baathisten Islamisten Pan-Arabisten Kommunisten) und nebenbei noch den Bauch aufschlitzten (Technik des konkurrierenden Kaiserschnitts bei der eine Partei das Kind aus dem Bauch zerrt während die andere sich bemüht es aus dem Schoß zu reißen) ach Ali ich

sollte hier nicht sein wenn ich den Gefühlen folge die in mir aufkommen angesichts der vor TV-Kameras und Pressefotografen posierenden Exil-Landsleute die nach dreißig Jahren Paris London Washington nun ganz genau wissen dass man ein Kind per Fernsteuerung durchs linke Ohr zur Welt bringt

aber es nützt nichts es ist sonnenklar (bei Samasch) dass das Exil zurückkehren muss auch wenn uns die Nasen nicht passen die beim großen

HORSE RACE wie unsere amerikanischen Freunde und Gönner es nennen

als Erste über die Ziellinie gehen (Trickbetrüger CIA-Agenten machtsüchtige Stammesfürsten die sich eigentlich einen Teufel um das ganze Land scheren)

es werden andere zurückkehren und zurückkehren müssen vor allem die Tausende von Ärzten Ingenieuren Lehrern Wissenschaftlern die wir über so lange Zeit hin verloren haben und ebenso kommt es nicht so sehr auf diese ersten und ganz gewiss verunstalteten Wahlen an sondern auf die nächsten und die übernächsten (etc)

so

wie es nicht mehr auf die Toten ankommt es ist wie in der schiitischen Gelehrtenwelt in der sie keine Stimme mehr haben

wir müssen mit den Lebenden sprechen Ali

vor mir

taucht plötzlich zwischen einer Gruppe von Stammesführern und einer kurdischen Abordnung unser gemeinsamer Freund Samir auf der vom Gesundheitsministerium in eine Praxis in Neu-Bagdad herabstieg und

noch bevor die Klingel ertönt die uns in den größten Versammlungssaal ruft und noch bevor der frischgebackene Präsident von einem großen Tag spricht und der (vorübergehende) Premierminister von einem ersten Schritt zur Öffnung der Horizonte des Dialogs (Drei-Schleier-Satz) muss ich dem (wie ich) ungewohnt geschäftsmäßig und erregt wirkenden schnurrbärtigen Kollegen Samir von jenem Abend vor vier Wochen berichten an dem ich in den Trümmern meiner Praxis saß und wartete an dem ich medizinischen Alkohol trank bis ich das Chamäleon sah und Alis Phantom für die wirkliche Gestalt meines Freundes hielt in dessen Operationssaal vier Milizmänner eindrangen einer davon mit einer Streifschusswunde am Oberschenkel deren sofortige Behandlung sie verlangten aber Ali hatte einen schwer verletzten Jungen auf den Tisch bekommen (kurz bevor er zu mir aufbrechen wollte) und als sie ihn bedrängten und drohten ihn zu zwingen beging er den Fehler zu sagen er kümmere sich zuerst um diejenigen die nicht auf andere schießen würden

im Konferenzsaal den ich gemeinsam mit Samir betrete warten die leeren Plätze auf uns lange Reihen von malvenfarben bespannten Klappstühlen vor schmalen Pultflächen auf denen kleine Plastikflaschen mit Mineralwasser angeordnet sind alle mit demselben blauen Deckel und demselben blauen Etikett batterieartig fließbandartig wie auf einer Montagestraße in einer Autofabrik es ist eine vollkommene Demokratie der Leere solange sich nur kein Mensch dort niederlässt es ist

ein Bild des Todes

und wir nehmen (so scheint es mir) nur Platz um

ihm zu widersprechen mit unserer lästigen Verschiedenheit auch wenn ich beim Niedersitzen nur an Ali denken muss


Auch ich werde sterben, und werde nicht auch ich wie Enkidu sein? —

Trübsal ist eingekehrt in meinen Leib.

Ich begann den Tod zu fürchten, und so laufe ich in der Steppe umher.

Bis vor Uta-napischti, den Sohn Ubar-Tutus,

werde ich, am Wege mich haltend, eilig gehen! —

Zu den Durchgängen der Berge gelangte ich eines Nachts.

Löwen sah ich. Da geriet ich in Angst.

Gilgamesch erschlug die Löwen

trotz oder wegen seiner Angst wir haben kaum begonnen uns zu streiten

1300 Iraker

nicht-repräsentativ wie Al-Dschasira wie der Oberste Rat der Islamischen Schriftgelehrten wie die rechte Hälfte meines Gehirns finden

ebenso wenig (nein: doch etwas mehr) repräsentativ wie der wild hetzende Muqtada as-Sadr der die Definitionsmacht über die Schiiten an sich zu reißen versucht mit seinen Revolvermännern vor Wochen schon die Imam-Ali-Moschee in Nadschaf besetzt hat und nun

die gerade anspringende Konferenz sprengt

weil die erneut aufflackernden Gefechte von denen die Medien berichten den Verdacht unter den Delegierten schüren der anwesende Ministerpräsident wolle gemeinsam mit den Amerikanern alle Löwen erschlagen

Dutzende schreien

Dutzende verlassen den Saal

man macht eine Pause stellt Fernseher auf versucht durch ihre flackernden Okulare bis nach Nadschaf zu sehen was kann man tun man muss sich erregen und diskutieren man wird eine Vermittlungsdelegation zusammenstellen oder alle Rebellen dort niederkartätschen (solche Gedanken fahren dir wie ein Blitz ins Hirn wenn eben solche armseligen abgerissenen Löwen deinen besten Freund ermordet haben) ich

verlasse ebenfalls den Saal ich

muss atmen ich brauche mehr

Grün in der grünen Zone und eine Kugel in der Kugel sei es nur für einige Minuten um mein Adrenalin abzubauen ich bin ein alternder Mann und ich fürchte mich (auch davor wie so viele andere zu werden) ich bin Arzt und ich habe einen Eid geschworenWer einen Menschen tötet, tötet alle Menschen. wer aber einen Mensch heilt der heilt allenfalls noch sich selbst das ist die Asymmetrie des Hippokrates mit der wir leben müssen

ein paar (bewachte) Büsche dazwischen ein Gartenweg ein paar Bäume es wird mir schon leichter ums Herz man muss nur genügend

grünes Blut durch die Adern pumpen

beruhige dich oder

diesen Organismus hier der du zu sein vorgibt ich habe meinen eigenen Ali-Schrein in mir er wollte nur noch zu seiner Familie nach London wo gerade al-Sistani in einer Herzklinik liegt der Ayatollah wird zurückkehren und den Streit um den Schrein schlichten müssen er hat die wirkliche Autorität bei den gläubigen Schiiten und wir müssen vermutlich lernen mit den Religiösen zusammenzuarbeiten die Moschee von Ali Ibn Abi Talib mit ihrer goldenen Kuppel und der goldenen Fassade haftet lange im Gedächtnis aber viel mehr noch das schier unendliche Grau der Myriaden von kleinen Grabkuppeln und Grabsteinen auf dem Friedhof auf dem vier oder fünf Millionen Tote liegen sollen

hinter den Gräbern dort schimmert das

Meer von Nadschaf

eine spiegelnde flimmernde mit dem Himmel wie flüssiges strömendes vibrierendes Glas verschmelzende Wüstenebene die

alle Konturen löst

denn der Toten werden mehr sein als der Lebenden

wie viele Tote sind wohl seit Gilgameschs Tagen in die Erde des Irak gelegt worden

verschwommen

setze ich mich auf eine Bank in der grünen Zone es ist ein Jahr nach dem Krieg und doch nur ein Jahr in einem Krieg und plötzlich bemerke ich dass

der Amerikaner

zu dem ich die ganz Zeit sprechen wollte jener in der Goldpuppe des Kalifen verborgene Mensch direkt neben mir auf der Bank sitzt so dass ich endlich fortfahren kann mit meiner Deklaration und also ausrufen kann dass infolge ihrer Überheblichkeit ihrer Verachtung unserer Kultur ihrer mangelnden Planung und erschreckenden Gleichgültigkeit der Friede den sie angerichtet haben noch schlimmer ist als der Krieg vor dem wir uns fürchteten

aber als ich den Blick wende

sehe ich nur eine junge Frau ein Mädchen fast noch sehr schlank zierlich es trägt flache Lederschuhe Jeans eine glatt gebügelte braune Bluse es hat streng gescheiteltes dunkles Haar und kluge beinahe schwarze Augen kurz fährt sie sich mit einer Hand über die Stirn und mir fällt auf dass ihr Daumennagel von einer senkrechten Linie in der Mitte gezeichnet ist

wir haben hier alles falsch gemacht nicht wahr (sie sagt das unerwartet heftig mit einer Stimme die zu einer älteren oder reiferen Frau gehört)

wer sind Sie? was machen Sie hier?

übersetzen ich bin Dolmetscherin

Ihr Arabisch ist sehr gut sage ich eigenartig gelähmt und obwohl sie noch kaum etwas gesagt hat vielleicht ist es noch das Nachflimmern der Erinnerung an die spiegelnde Wüste die mich so friedlich oder nachgiebig stimmt oder

es ist einfach nur dieses offene junge Gesicht das mich an meine Kinder erinnert an Jasmin bevor ich sie nach Paris schickte und an Muna die nicht mehr studieren kann und missmutig zuhause Brot bäckt es ist

ein seltsames weiches Zerfließen der Grenzen das

uns befreien könnte (denke ich oder denkt

etwas in mir)

haben wir es falsch gemacht? fragt das Mädchen beharrlich und sanft

ja — vieles

dann müssen wir es anders machen man kann alles anders und besser machen als zuvor

nicht unbedingt alles sage ich (immerhin) noch es geht mir anscheinend darum gewisse Grenzlinien zu halten gewisse Trennwände (dünne Membranen wenigstens) bestehen zu lassen in diesem Verflimmern und Ineinanderfließen der Dinge und der Ideen über die Dinge gewiss kann man alles so optimistisch betrachten wie dieses Mädchen es ist eine Frage des Standpunktes

wo war etwas

und wo war es nicht

der Ort von dem aus man die Geschichte erzählt (Green Zone) könnte entscheidend sein für ihren Verlauf

was denken Sie fragt die junge Frau

wir

sage ich endlich (weil sie mich so gespannt ansieht)

WIR müssen es besser machen

Muna

Sami kam nicht nachhause in dieser Nacht er hat sich nicht entschuldigt keine Nachricht hinterlassen meine Mutter war schreckensbleich und blieb auf bis nach Mitternacht während Tarik und Onkel Fuad ihr einzureden versuchten dass so etwas bei einem Neunzehnjährigen schon einmal vorkommen könne aber es hörte sich unaufrichtig an

falsch wie dieser fürchterliche Brief der mein Herz frisst ich traue nicht einmal der Schrift obwohl Du sehr erregt gewesen sein musst als Du versuchtest mich mit diesen zehn Zeilen in den Abgrund zu stoßen vorgestern bist Du ein Sufi gestern willst Du wieder einmal schiitischer Mullah werden heute Morgen

traf mich der Ruf des Muezzin

mitten in einem Traum in dem es so finster war und still dass ich glauben musste ich läge aufgebahrt in einem Mausoleum und hochschreckend gab es für mich nur einen einzigen Grund ins Leben zurückzukehren nämlich

meinen Bruder zu retten

im Dunkeln

suchte ich

hastig panisch

mein Schwert aber man sah nicht das Geringste die Zeit drängte es schien noch finsterer zu werden das große Schwert musste ganz in der Nähe stehen oder liegen es war ungeheuer scharf ich musste zugleich schnell und vorsichtig in der Finsternis tasten immer auf den Kontakt mit der Breitseite dem Griff oder Knauf hoffen anstatt mit der Klinge die augenblicklich ins Fleisch schneiden würde jetzt drang durch die Mauern des Grabes auch schon der Lärm eines Kampfes mein Bruder

sah aus wie Du das

wusste ich dachte ich in der Nacht dieses Traums aus dem mich der Muezzin riss um mich in die Finsternis unserer Familiensorgen zu stoßen ich hätte gleich aufstehen sollen um nachzusehen ob Sami doch noch heimgekommen wäre aber die Müdigkeit war zu groß oder war es eine Böswilligkeit von mir wollte ich ihn gar nicht suchen oder mich wenigstens bei der Suche nicht beeilen

die Wut

musste aber doch Dich treffen Dein kurzer eiskalter Brief ist so arrogant wie die Mullahs die an den am Boden knienden Betern einer Moschee erhobenen Turban-Kopfes vorüberschreiten (aber einmal sah ich einen gewöhnlichen alten Mann der mit einer empörten Armbewegung einen Mullah verscheuchte der zwischen ihm und der Wand hindurchschreiten wollte) auf wen soll ich noch wütend sein wo lehnt mein Schwert ich sollte

Kasim töten natürlich ich möchte

schreien vor Wut und Ohnmacht und ich möchte schlafen bis ans Ende aller Dunkelheit entführter? Bruder gefolterte Schwester mörderischer Schwager FEIGER

Geliebter ich

glaube es nicht das Schwert

gehört

Semiramis

die Babylon nicht erbaute aber der es zugeschrieben wurde die größten Königinnen

hat es nie gegeben

Schwester es heißt dass die Königin sich für ihren (häufigen) nächtlichen Bedarf einen Mann aus dem Heer nahm und ihn am nächsten Morgen köpfen ließ dann war sie wie Udai (sagte Huda einmal) wie Saddams perverser Sohn der sein verdientes Schicksal gefunden hat

läge doch Huda neben mir statt Miral und wäre Eren an Saras Stelle mit solchen Schwestern ertrüge ich noch mehr Nächte in einem engen Zimmer aber auch das ist vermutlich eine Illusion der

Griff des Schwerts fühlt sich erstaunlich rund und gefällig an er vibriert es

sind ja zwei Griffe und

wieder sitze ich auf dem Sattel eines der roten Kinderfahrräder die Tarik uns kaufte als Jasmin nach Paris davonflog die Hände auf den Lenkergriffen sehe ich über meine Schulter zurück dich meinen Bruder wie eine kleine bunte lachende Spiegelung Sami ach

was soll ich noch mit Babylon was täte Semiramis raste sie mit einem Sprengstoffgürtel in einen amerikanischen Checkpoint ich brauche keinen Krieg ich hatte doch gerade begonnen zu verstehen aber wenn der Professor der mir hätte beibringen sollen wie man die Tafeln des Hammurapi liest aus meinem Land vertrieben wird dann habe ich keine Chance ich

stehe auf und es

wird nicht hell

das Gesicht meiner Mutter ist bleich als sähe man es in der Kunstnacht eines Theaters als wäre es mit Kalk geschminkt oder mit Kreide ich zähle alle Freunde Samis auf die ich kenne jeder versucht einen davon telefonisch zu erreichen meine Cousins versprechen Sami zu suchen aufzuspüren nachhause zu bringen

gegen zehn Uhr als das Telefon klingelt ist außer mir und Sara und den ältesten Frauen und kleinen Kindern niemand mehr im Haus und so nehme ich den Hörer ab was für ein Glück denn es ist Hind die gerade mich sprechen will

es wird nicht hell an diesem Tag ist das Licht nur wie eine dünne Farbe auf die Welt gepinselt und blättert schon ab die Dunkelheit brodelt empor überall und unaufhaltsam ein Rauch aus den Atomen was soll ich tun Semiramis saß am Frisiertisch als der Aufstand in Babylon ausbrach sie schlug ihn nieder und kehrte zum Frisiertisch zurück zwischen meiner Finsternis und der düsteren Welt jenseits des Haustors steht allein

meine Schwester

halb abgewandt schräg als

müsste sie sich im nächsten Moment vor Schlägen wegducken dabei ist sie wieder schön geworden in den letzten Monaten gespenstisch in den dunklen hoch geschlossenen langärmeligen Hauskleidern die sie schweigend trägt sie kann mich nicht direkt ansehen gewiss ist sie beunruhigt weil sie am Morgen die Erregung über Samis Verschwinden gespürt hat und die Verzweiflung unserer Mutter die sonst niemals um diese Zeit schon das Haus verlassen haben würde

du musst ihnen selbst die Sache mit Kasim und dem Major erzählen du musst entscheiden hätte ich ihr noch gestern ins Gesicht sagen wollen und auf keinen Fall gesagt jetzt treibt mich eine panische Macht hinaus es ist wie in einem fürchterlichen Unwetter oder einfach

wie in dem Krieg in dem wir uns befinden und

die Dämme sind zerbrochen die Mauern liegen auf der Erde die Nacht flutet immer weiter in den Tag

Jasmin

hör zu ich gehe nach Betawiyn Hind hat mich von dort angerufen etwas ist dort passiert verstehst du

Schwester?

ihr Lächeln ist so

entfernt und abwesend so entsetzlich unbeeindruckt dass mich das pure Grauen darüber schon auf die Straße hinausstößt

entweder ist Sami oder Dir oder Yusuf etwas Schlimmes zugestoßen Hind wollte nicht mehr sagen brachte nicht mehr heraus aber so wie sie es sagte war klar

dass alles schon geschehen ist ich gehe darauf zu ich habe keinen einzigen Dinar eingesteckt nur den Schlüssel zu unserem alten Haus ein Kopftuch das Sara gehört binde ich im letzten Moment um es ist auffallend hellblau helltaubenblau mein Täubchen verstehst du dein sauberer Schwager ich wollte dass ihr wisst

jene Taube der vor Jahren der kurdische Junge am Rand des Saadun-Parks die Federn aus der Brust riss war ein Zeichen aus der Zukunft die uns rupfen würde

das ausgesetzte Kind

Semiramis

wurde von Tauben gefüttert und verwandelte sich am Ende ihres erfolgreichen wilden stolzen erfundenen Lebens selbst in eine Taube was heißt das was heißt das schon ich gehe zu Fuß durch Bagdad in Amerika gibt es keine Tauben nur eine Art Eichhörnchen stattdessen wer hat mir das erzählt vielleicht war es mein Bruder oder es war Professor Fahmi der Babylon im Stich gelassen hat der nach Beirut ging

um sich frisieren zu lassen

die Angst die jeden hier würgt überwindet man durch ein einfaches

Hinausgehen

ohne Schwert als

Taube

in dieser Nacht erschrecken sie vielleicht vor mir vielleicht verwechseln sie mich mit einem Falken und denken ich hätte einen Dynamitgürtel um den Bauch weil ich die Regeln missachte und keinen Abstand mehr halte zwischen mir und der Stadt ich habe meine alten Schulturnschuhe angezogen wenn ich gehe wenn ich zu Fuß nach Betawiyn komme dann

prüfe ich mein Herz prüfe ich die Stadt prüfe ich

den Krieg inwieweit er den Frieden in sich trägt den man uns versprochen hat weshalb gehe ich allein weshalb habe ich Jasmin gesagt wohin ich gehe

stell dir ein Mädchen in New York City vor das eines Vormittags im September

das World Trade Center betritt stell dir vor

sie dächte (durch Zufall bloß) an eine Schwester in einem anderen Land einer anderen Zeit einem unvorstellbaren Krieg ein Satellitenblick von oben herab auf eine große Straßenkreuzung in Bagdad ein scharfer genau gesteuerter und berechneter Kamera-Schuss 33°20΄49.56˝ Nord und 44°22΄58.85˝ Ost im

Life Simulator Sami warum spielst du nicht dieses Spiel

zuhause am Computer der dir so lange Zeit doch die Welt da draußen ersetzt und verbessert hat bevor du auf die Türme losflogst stell dir (würde er sagen) eine gleichaltrige Schwester vor mit Hamstergesicht und grüner Uniform die irakische Männer an einer um den Hals gebundenen Hundeleine über einen Gefängnisflur zerrt sie anweist sich nackt zu einer Pyramide zu stapeln eine Schwester die mit einer Zigarette im Mundwinkel ein imaginäres Gewehr auf ihre entblößten Penisse richtet

verschwinde

aus dir selbst

sie schwitzt es ist schon heiß an diesem Septembervormittag sie hastet über die breite Straße ohne Ampel und Zebrastreifen über eine dreiecksförmige Insel hinweg auf der sich ein fahnenschwenkender Soldat auf einer Art Schlammsäule aus grauen Menschenleibern erhebt die selbst wiederum auf einem Panzer aufgebaut ist

Stacheldrahtwälle

WARNING!

COALITION CHECKPOINT!

halte dich fern von allen Kontrollstellen allen Militärfahrzeugen allen Polizeiwachen und Polizeiwagen aber sie geht so dicht an den amerikanischen Soldaten mit Stahlhelmen und Kampfuniformen vorbei dass diese hätten reagieren müssen wenn nicht ein zuvor angehaltenes weißes Auto aus dem vier große Männer steigen ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen würde

hinter dem Maidan-Platz können wieder Autos fahren sie geht quer über ein von zerbrochenen Glasflaschen und Autowracks verschandeltes Areal

dann auf dem Mittelstreifen einer rechts völlig leeren links dagegen bald von staubigen zerbeulten nervös ruckelnden Wagen verstopften breiten Straße

die Raschid-Straße du kennst sie doch

die alten dreistöckigen Häuser waren für uns einmal nur der freundliche Eingang zur Altstadt Huda wir kamen von der Karkh-Seite her gingen vom Fischmarkt aus über die Schuhada-Brücke zu den alten Suks von der Mitte der Brücke aus hat man den besten Blick wenn man das Gejohle und Gehupe vergisst heute wagte es keine mehr dort zu stehen eines Freitagabends begleitete uns Schiruk über die Brücke bis vors Bagdad-Museum wo wir den Musikern im Freien zuhörten einmal führte mich mein Vater durch die Mutanabbi-Straße um mir die Buchläden den Ottomanischen Palast das legendäre Café Schabander an der Ecke zu zeigen damals verkauften die Professoren ihre Bücher auf am Boden ausgebreiteten Decken heute gibt es dort Teile für Stromgeneratoren aller Art mich treffen

Blicke

die mich früher einmal (gestern noch) zu Tode geängstigt hätten hinter den Jalousien und Gittern der geschlossenen Läden den Brettern der verbarrikadierten Geschäfte scheint sich manchmal etwas

Schlangenhaftes

zu bewegen es gab Dutzende Vergewaltigungen in den letzten Monaten jede Frau weiß dass die Wölfe überall lauern vielleicht schon in den Hohlräumen dieses zerbombten einstmals modernen Gebäudes gehe nicht schneller gehe ruhig atme erreiche die nächste Ecke biege ab dort stand einmal der Poet al-Rasafi leutselig und entspannt in seinem legeren Anzug auf einem hohen weißen Podest wie ein väterlicher Bürgermeister in der Mitte eines turbulenten kleinen Platzes nun ist das Podest grau und beschmiert schwarze halb gefüllte Mülltüten liegen herum ein Kranz aus Stacheldraht umgibt das gesamte Denkmal die Häuser der Peripherie wirken angebrannt selbst der Himmel durch den erneut schwarze Kampfhubschrauber donnern ist von Rauch verschleiert und ich weiß nicht ob tatsächlich oder nur

vor meiner Seele

einmal hast Du mir vom

schwarzen Licht

erzählt in dem die Dinge (langsam vielleicht wie jetzt) unsichtbar werden

der Platz die bärtigen Männer so schemen- und schattenhaft wie die Vergangenheit in der ich mit Huda über den Kupfer- und Kleidermarkt zu den Ständen der Goldschmiede ging um die Hände des Majors zu entdecken die eine Goldkette um den Hals meiner Schwester legten

Ischtar muss

hinabfahren niemand sieht mich in

der Dunkelheit in der ich mich befinde das schwarze Licht löst alles auf wie eine Säure in der Luft durch die ich gehe und gehe so weit wie ich noch niemals zuvor in Bagdad alleine gegangen bin immer mehr verschwindende Dinge (sie verschwinden weil sie mich nichts mehr angehen) ich erreiche den sich auflösenden mächtigen Zuckerwürfel der Zentralbank mit seinen Bewacher-Schatten und MG-Posten eine Mauer aus vier Meter hohen Betonblöcken ist noch nicht durchlässig genug und ihr rot aufgestempeltes

ROAD CLOSED

zwingt mir einen Umweg in Richtung Goldmarkt auf in einer Gasse zwischen alten Häusern erscheinen drei Frauen vor mir eine Rothaarige mit einem schmutzigen rothaarigen Kind auf dem Arm und zwei mit schwarzen Kopftüchern und ausdrucksvoll geschminkten Gesichtern die gutmeinend auf mich einreden mich warnen aber es sind nur

Schattenworte kaum sichtbare

Dinge ich vergesse das Hören weil Blutbäche

in meinen Ohren rauschen und das schwarze Licht die Bilder von Dir und Achmed und Hind und Sami in mir mit einer solchen Kraft aufscheinen lässt dass auch der protzige Erz-Mensch auf seinem Dreifachpodest vor dem Säulenhalbrund der Handelskammer verblasst

bald

wird hier überhaupt niemand mehr auf Säulen stehen der kein Dichter war und kein guter oder wenigstens für die Allgemeinheit wertvoller Mensch so weit kann ich mit schwarzem Licht in den schwarzen Tunnel der Zukunft sehen

meine Turnschuhe scheinen enger geworden sie drücken an den Seiten

etwas in mir (befremdend erschreckend ich will es nicht klar sehen müssen) begrüßt diesen Marsch es will und verlangt ihn erst jetzt wird mir klar weshalb meine Mutter plötzlich mit Jasmin nach Kerbela ging sie musste einfach die Tür aufstoßen und ins Freie treten ihr könnt mich (einzelne schutzlose) Frau anhalten und töten aber um mich anzuhalten

müsst ihr mich auch töten ich

gehe

und vor mir erhebt sich endlich das alte Zentrum für Telekommunikation ein graues Hochhaus in das sie ein Loch geschossen haben man sieht in großer Höhe zwischen Stützpfeilern die wie Lampiondrähte nach außen gezogen sind Menschen umhergehen was gibt es jetzt noch da zu plündern oder räumen sie etwa auf

breite Straßen große Plätze

hier marschierten wir etliche Male mit der gesamten Schule und mussten Lieder für Saddam singen Transparente hochhalten und Losungen skandieren die von den Fronten der Hochhaus-Hotels widerhallten (Gott segne seine Arschbacken sang Huda) die Steintafel mit dem zehn Meter hohen Präsidentenporträt ist erhalten geblieben doch hat jemand mit schwarzer Farbe die Augen- und Nasenregion überpinselt hier sieht er nicht mehr was im Irak geschieht und im Fernsehen flucht und schimpft er ohne Ton wird man ihn hängen oder nicht es ist mir egal irgendjemand hat vorgeschlagen ihn am Firdaus-Platz in einen Glaskasten zu setzen und lebenslänglich mit davor gelagerten Tomaten zu bewerfen das wäre doch gut er soll einfach in einer Zelle verrotten (sagt mein Vater) damit wir endlich wieder Kultur beweisen können was würde er sagen

wenn Jasmin nicht überlebt hätte

würde Tarik mich jetzt sehen wäre er entsetzt ich weiß es ist ja nur

nichts anderes mehr möglich es gibt keinen

Simulator

mehr es gibt keinen anderen Ort von dem aus ich mir mein Leben vorstellen könnte als diesen hier in

meiner Haut

am Tahrir-Platz wechselt ein amerikanischer Panzer unvermittelt die Spur er jagt die rot-weißen Taxis und andere Autos vor sich her wie ein riesiger mythischer Eber ein Rudel Jagdhunde ein kleinerer und schnellerer Panzerwagen überholt ihn und schubst einige Zivilfahrzeuge zur Seite verbeult sie krachend die Fahrer drehen eifrig ab aber hinter den Amerikanern bedrängen und behupen sie sich schon wieder selbst wer eine Sekunde zögert ist verloren und wird abgehängt was

kümmert es mich

das Monument der Befreiung

jene dreißig Meter lange weiße Tafel die wie die Schneide einer gewaltigen Guillotine in die seitlichen Stützmauern gerammt ist

wurde noch nicht mit Farbe bepinselt oder besprüht die dunklen Relief-Figuren darauf (jener athletische Soldat der das Gitter sprengt und die mit erhobenen Armen Jubelnden) wirken noch schattenhafter und verkohlter wie eingebrannt in den weißen Stein

erneut jagen Humvees und Panzerfahrzeuge im Kreisverkehr herum und dieses Mal machen alle Autofahrer rechtzeitig Platz als hätten sie etwas gelernt obwohl es doch andere Fahrer sind

schließe die Augen

öffne sie

lass dich nicht aufhalten im schwarzen Licht sind die Konturen der Befreier

nur Negative

mit fließenden zerfließenden Rändern auf einem Wagen dreht sich eine schräg geneigte Metallplatte dahinter ein Gewehrschütze mit Stahlhelm dann ein Soldat

direkt vor ihr er scheint etwas sagen zu wollen

löst sich dann aber auf im Gegenlicht oder verwandelt sich in einen Baum hinter dem eine Gruppe von Jungen mit Spielzeugpistolen und Plastiksäbeln hervorspringt Achmed könnte bei ihnen sein er würde genauso springen und mit Waffen prahlen wer erzählte die Geschichte der Jungen denen amerikanische Soldaten Schaufeln in die Hand drückten damit sie sich am Anlegen eines Fußballfeldes beteiligten die aber schon nach wenigen Minuten Arbeit in Tränen ausbrachen weil sie glaubten sie sollten ihre eigenen Gräber ausheben Achmed dein strubbeliger Kopf deine dicken Ärmchen du sitzt auf der Mauer vor den Ginkobäumchen auf der anderen Seite

liegt die

GREEN ZONE

früher igelten sich dort die Paläste des Terrors ein heute findest du die Betonmauern Stacheldrahtwälle Panzersperren der Demokratie all das Versprochene kommt erst wenn die Kriege im Paradies vorüber sein werden (Tarik erzählte ihr von diesem geheimen Buch des Dichters ohne Papier)

wenn jeder

die Tigris-Seite wechseln kann wie er will

das

ist ihr alter Schulweg hier ging sie so oft neben Tarik und Sami und ihrer Schwester bis zu dem alten Haus dessen Türschloss aufgebrochen ist wo ist Hind vielleicht sollte sie doch besser erst nach nebenan gehen und

Schemen

massige Schatten schwarz glitzernde harte Augen das hier ist das war doch die

Küche deiner Mutter aber jetzt

es ist schon klar es ist schon dabei zu geschehen was geschehen musste es sind drei Männer steinerne Wölfe sie haben hier gewartet oder sie sind zurückgekommen um die Schränke zu leeren die Stühle umzuwerfen die Matratzen aufzuschlitzen

wenn du denkst

du bist nicht hier (unter den Schatten) oder dass es unvermeidlich ist die

Nacht

deiner Schwester zu betreten (rede mit mir, Jasmin, dein blaugraues Gesicht) dann musst du vielleicht kaum etwas spüren leg deine goldene Krone ab nimm die Ringe von den Ohren löse die Perlenkette um deinen Hals und die Spangen vor deiner Brust ich schicke

meine Löwen zu Hind sie ist erst zwölf sie soll beschützt werden bis zum gewaltigen

Einbruch

des tatsächlichen und ewigen Friedens erzählte ich Dir (Schwester) von den Frauen die man in den Massengräbern von Ur gefunden hat menschliche Grabbeigaben der König nimmt seinen Harem mit auf

die andere Seite

dabei sind wir in dem Haus in dem ich so lange gelebt habe die engen Räume die Stille meiner nachdenklichen freundlichen Familie wird zertrampelt und verwüstet das

Haus in dem wir leben wollen

müssen wir selbst wieder errichten (nicht die Amerikaner) sie sind ohnehin gar nicht da weil wir uns ja an ihnen vorbei morden

ebenso wenig wie die Stein-Menschen die sich im schwarzen Licht auflösen der König Schahriyar war ein Massenmörder er hätte Semiramis heiraten sollen dann gehörte

UNS

der nächste Tag schließ die Augen

in der Tiefe ihres Körpers will sie selbst zu einem Schatten werden den nichts mehr berührt was an der Oberfläche geschieht ist nichts als äußerstes (äußerliches) Unglück aber mit einem Mal steht

Yusuf

neben ihr er richtet ein Gewehr auf die Männer er schreit so aufgeregt so wütend so voller Angst wie sie noch nie einen Menschen hat schreien hören und die anderen sprechen nicht widersprechen nicht sondern

gehen (unwillig und quälend langsam Schatten von Steinen an einer Hauswand die man zu genau beobachtet und die eben aus diesem Grund nur so langsam weichen)

Yusufs Gestammel ist kaum zu verstehen wie soll sie

in diesem Zustand

herausfinden was er meint Sami (versteht sie endlich) lebt und ist nicht entführt worden sondern hat sich versteckt — versteh doch es ist doch allein deine Schuld weshalb bist du so

verkommen

diese Briefe

die Sami schrieb sie begreift nicht sie rafft ihre Kleider über der Brust zusammen sie findet das Kopftuch nicht sie taumelt hinter Yusuf her in den Raum in dem einmal ihre Eltern schliefen weshalb dort welcher Brief sie versteht es erst später als sie das Haus schon wieder verlassen hat und auf das zusammengeknüllte Papier in ihrer Hand starrt es mühsam glättet um fremde Worte in ihrer eignen Handschrift darauf zu finden es sind sehr gut sehr talentiert (seine erstaunliche Kunstfertigkeit) gefälschte Zeilen

diese Briefe die Sami schrieb

ein Brief wie aus ihrer Hand an Nabil

Triff dich ein letztes Mal mit mir, Liebling! Das Haus meiner Eltern steht leer!

ist überzeugender gefälscht als der Brief in dem Nabil ihr seine Liebe aufkündigte

dieses Grab vor dem Bett ihrer Eltern wie herabgefallen von einem irren mörderischen Planeten niemand kann so etwas erfinden wie kommst Du in dieses Haus vielleicht ist alles anders und Du musst nur als toter Körper überall dahin wandern wo Du einmal geliebt wurdest

aber dieses Kissen aus geronnenem Blut unter Deiner Brust und der fürchterliche Geruch

du musst

nachhause gehen und es ihnen sagen und

du musst

verstehen und

du darfst kein

Wort sagen es ist lebensgefährlich du allein bist Schuld Muna verstehst du dass du und nicht dein Bruder Schuld bist er hier (noch nicht einmal vor seiner Leiche spricht er Nabils Namen aus) er hier sollte doch nur verwarnt werden

was kann sie davon noch verstehen und behalten als sie das Haus verlässt den gefälschten Brief in der Hand in die Mittagshitze taumelt hat das schwarze Licht die Dinge schon so weit unsichtbar und unspürbar gemacht dass sie beim heftigen Stoß gegen eine Mauerecke keinen Schmerz empfindet alles gleitet zurück entzieht und entfernt sich weiter das Stadtviertel ist diffus und farblos alle Geräusche die es hervorbringt wie erstickt es scheint fast lautlos zu pulsieren alles gleicht einer riesigen Ultraschall-Aufnahme durch die sie sich mit undeutlichen schmerzenden Gliedern bewegt den Tod ihres Geliebten in der Brust wie eine brennende Kugel das hier

ist nur

der grauenhafte Embryo der Gegenwart im Bauch der Zukunft sie stoßen ihre Nadeln hinein sie zerstückeln ihn weil sie das Kind hassen das womöglich nicht hundertprozentig das ihre ist in einer Art

Flackern

kehren die Farben und Gerüche des heißen Septembermittags wieder zurück sie ist

auf einem kleinen Platz angelangt einige rote Doppeldeckerbusse mit weißen Dächern stehen zwischen Palmenreihen dahinter öffnet sich ein Markt mit Gemüse Blechwaren und Kleidern sie versteht erst nicht weshalb sie an diese Oberfläche gezogen werden weshalb sie hier auftauchen soll aus ihrer monochromen halb tauben Verzweiflung und das Purpur von Auberginen das Grün und Rot von Gurken und Tomaten die knallfrohen Farben eines silbrig grundierten Mickymaus-Ballons wahrnehmen muss bis sie erkennt

dass tatsächlich ihre Schwester Jasmin dort bei den Obstkarren steht und auf sie deutet und dass daneben ihre Mutter auftaucht in einer schwarzen Abaya beide offensichtlich froh und erleichtert sie versteht zunächst gar nicht weshalb aber dann fühlt auch sie Erleichterung und Trost es liegt daran dass

Jasmin vorausgeht dass sie ein hellgrünes Kleid und ein gleichfarbenes Kopftuch trägt und so bestimmt und gefasst wirkt wie sie es zuletzt vor zwei oder drei Jahren sein konnte kein Zweifel sie hat Farida hierher geführt sie hat alles begriffen was ihr gesagt wurde und ist wieder zu sich gekommen vor dieser

blendend grellen Feuerwand

die sie verschlingt verbrennt auflöst in einen Schatten verwandelt durch ein unvorstellbar gewalttätiges Licht eine Brand-Lawine ein zerberstender Komet auf der Straße nur

hört man nichts

das Ohr ist

zerstört

aber nach einer gewissen (düsteren wie

konnte es so schnell wieder dunkel werden) Zeit hat sie so etwas wie

eine Erinnerung an einen infernalischen Knall eine Minute zuvor von dem jetzt ein anschwellendes Pfeifen übrig ist noch

hast du einen Mund um zu schreien du kannst

die Augen öffnen zur

Aussicht

auf eine Vulkanlandschaft voll Asche Staub Rauch flach züngelndem Feuer überall

Fetzen graue Trümmer scharfkantige aufgebogene zerrissene Objekte die an etwas erinnern sollten das Pfeifen wird lauter noch lauter schmerzhaft eine zerplatzte leuchtend rote Wassermelone vielleicht ein brennender Strohkorb in dem jemand glühende Kohlen transportieren wollte eine sich zäh und glänzend wie Quecksilber ausbreitende Lache auf die sich eigenartig langsam ein Kamm aus kleinen blauen Flammen setzt über die Anhöhe eines plumpen Schuhs hinweg in dem ein abgerissener Fuß steckt vor dir liegt ein Mensch ohne Kopf und die brennenden Gliedmaßen auf der halb zerfetzten Plastikplane gehören nicht zu ihm ein

Autoreifen ein roter winziger toter Vogel bizarre Fantasieobjekte bedeckt von einer flaumig-grauen Aschehaut Teile von Menschen und Maschinen wie von einem sadistischen Maler arrangiert

das Pfeifen

du hörst jetzt dennoch auch Rufe und Schreie du denkst dass du dich irrst

eben noch sahst du

deinen Geliebten und du glaubst (obwohl du weißt dass es nicht stimmen kann) dass er sich jetzt hier unter all diesen Toten und wimmernden Verletzten befinden müsse du siehst den nackten vollkommen haarlosen Brustkorb einer großen Puppe eine Art gelber Flaum schwebt vorbei du

kannst die Arme bewegen du spürst deine Finger die Beine

sind

beweglich

es ist wie bei einer Trockenübung für einen (noch unbekannten) Schwimmstil wie bist du überhaupt auf den Boden gekommen und was

hast du vergessen was vergisst du nur ständig

direkt neben deiner linken Wange befindet sich ein weiterer Schuh du wagst es dich an den Händen Ellbogen Knien aufzustützen das Pfeifen es lässt nicht nach es schwillt erneut an so

dass du eine Zeitlang kein menschliches Geräusch hörst bis du eine Welle aus Übelkeit Schwindelgefühl und seltsamerweise Scham überwunden hast und nun auf den Knien Händen mit ausgestreckten Armen nach vorn schaust ein Bein heranziehst wie zum Start für einen Lauf

um was

du dich alles kümmern musst! deine Hand (nach dem Aufstehen was hast du vergessen) spürt deinen unverletzten Bauch geradeaus durch die Trümmer die Ascheschichten den zerfetzten Marktkarren dort war

etwas

sie

kamen doch auf dich zu in deinem Rücken

sind Menschen viele Menschen jetzt die noch näher kommen hilfsbereite Menschen die du fühlst Jasmin und Farida müssten dort

du fühlst diese Menschen wie einen großen Mantel der dir über die Schultern gelegt wird etwas Tröstliches Weites Ruhiges du wirst jetzt

geradeaus gehen

in diese Richtung du

hebst jetzt den Kopf und siehst jetzt die

zweite Explosion

Wiederkehr

Zerschlage mich, mein Körper flieht

in einen Spiegel, mein Gesicht

tanzt auf der Welle,

fließt in Scherben.

Ich atme nicht.

Leicht gehe ich, leicht kehr ich wieder,

leicht füge ich mich,

Kreis um Kreis

im Glas des tiefsten aller Meere,

des Sees, auf dem ein jedes Bild

erneut erscheint

und bleibt.

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