DIOGENES CLUB

Das Frühstück, das Mrs. Hudson und Ms. Lomax zubereitet hatten, war besser als das im Fairmount Hotel und sogar reichhaltiger als das von Elsa Watson.

Holmes bat Helen, die Nichte von Mrs. Hudson, die die Teller und Tassen auf dem Tisch auftrug, sich einen Moment zu ihm zu setzen. Verlegen nahm das sechzehnjährige Mädchen am Frühstückstisch Platz.

»Sie kommen vom Land und sind harte Arbeit gewöhnt«, stellte der Detektiv fest. »Aber Sie sind glücklich bei Ihrer Tante, in der Großstadt.«

»Tante Jane hat Ihnen von mir erzählt?«, fragte das Mädchen.

»Wir hatten noch nicht die Gelegenheit zu einem längeren Gespräch. Leider«, heuchelte Holmes. »Ich schließe von der gesunden Gesichtsfarbe und den kräftigen Händen auf Ihren Hintergrund. Und die Tatsache, dass Ihnen die Tante große Freiheiten gewährt, was Ihren Umgang mit jungen Männern betrifft, lässt ahnen, dass Sie nicht unglücklich sein können, Miss Lomax.«

Das junge Mädchen war errötet und Holmes erlöste sie aus der unangenehmen Situation, indem er sie bat, eine Droschke für ihn zu bestellen, für halb zehn. Erleichtert eilte Helen Lomax die Stiegen hinunter in das Erdgeschoss.


Diogenes Club

Pall Mall, London

Mycroft Holmes, der 68-jährige Bruder des Detektivs, ein untersetzter Mann von beachtlicher Statur, empfing Sherlock im Stranger's Room, dem einzigen Platz im Gebäude des Diogenes Clubs, an dem Gespräche erlaubt waren.

»Ich gehöre zwar zu den Gründern des Clubs, doch selbst mir würde der unmittelbare Ausschluss drohen, sobald ich das wichtigste unserer Gesetz breche«, erklärte Mycroft Holmes.

»Sobald du in den Clubräumlichkeiten sprichst.«

»So ist es, Bruder. Ein Paradies für Männer. Man ist in Gesellschaft und muss nicht reden. Du bist in letzter Zeit fülliger geworden, Sherlock.«

Sherlock Holmes hatte sich erhoben. »Da du mir nichts Wesentliches mitzuteilen hast, wirst du verstehen, wenn ich mich entferne und dir die Möglichkeit gebe, in deinem Club weiter zu schweigen. Ein Verhalten, das ich dir angesichts dessen, was du vorzubringen hast, nur empfehlen kann.«

»Du entschuldigst, Sherlock. Ich dachte mir, gepflegte Scherze seien unter Brüdern möglich. Ich komme also zur Sache. Zu einer brisanten Sache, in der sich ein Clubmitglied an mich gewandt hat, mit der Bitte, dich zu beauftragen …«

»Ich nehme keine Aufträge mehr an", unterbrach Sherlock Holmes.

»Mit der Bitte, dich höflichst zu ersuchen …«

»Und dieses Clubmitglied«, sagte Holmes, »lauscht inzwischen an der halb geöffneten Tür zum Nebenraum.«

»Tritt ein, Bruce, der geniale Detektiv will es anders, als wir es uns gedacht haben«, sagte Mycroft Holmes.

Ein schlanker Mann mit dunklem Haar und einem beinahe verwegenen Schnurrbart betrat den Stranger's Room des Diogenes Clubs.

»Das ist mein Clubkollege Joseph Bruce Ismay, der Inhaber der White Star Line

Als Sherlock Holmes dem Mann die Hand schüttelte, bemerkte er, dass diese eiskalt und feucht war. Bruce Ismay stand unter psychischem Druck, was auch der starre Blick seiner eisgrauen Augen verriet.

»White Star Line. Das ist doch die Schifffahrtslinie, der die Titanic gehörte«, sagte der Detektiv.

»So ist es«, bestätigte Mycroft Holmes und zündete sich seine Bruyère-Pfeife an. Bald hüllte der aromatische Geruch des Royal Navy Flakes die Männer ein.

Der Cream-Sherry, den ein Butler des Clubs servierte, brachte in das bleiche Gesicht des etwa fünfzigjährigen Bruce Ismay die Farbe zurück.

»Ja. Die Titanic war der große Stolz von J. P. Morgan und mir.«

»John Pierpont Morgan ist der amerikanische Teilhaber Ihrer Firma, wenn ich mich nicht irre«, wandte Sherlock Holmes ein.

»Sein Sohn, John P. Morgan junior, ist Eigentümer der International Mercantile Marine, der Mutterfirma von White Star«, präzisierte Bruce Ismay. »Sein Vater starb ein Jahr nach dem Untergang der Titanic, im März 1913.«

Mycroft Holmes fuhr fort: »Um zum Kern der Sache zu kommen; die Gerüchte und Anschuldigungen gegen Bruce und seinen amerikanischen Freund sind seit dem Unglück nicht verstummt und haben durch die Sensationsartikel der Pall Mall Gazette neuen Auftrieb erhalten. Die verrückten Journalisten werfen Bruce und dem verstorbenen Pierpont Morgan vor, das Schiff versenkt zu haben, um für ihre Firma eine gigantische Versicherungssumme zu kassieren.«

Joseph Bruce Ismay ergriff mit zitternder Hand sein Sherry-Glas und trank es auf einen Zug leer. Dann sagte er: »Es ist mir aus geschäftlichen und privaten Gründen außerordentlich wichtig, von diesen Anschuldigungen reingewaschen zu werden. Deshalb, Mr. Holmes, habe ich mich mit der Bitte an Ihren Bruder gewandt, den Kontakt zu Ihnen herzustellen. Ihr Name hat Gewicht in weiten Teilen der Welt. Und wenn Sie nach eingehender Untersuchung zu dem Schluss kommen, dass es sich bei den Verdächtigungen um gemeine Lügen handelt, dann …«

Der Mann konnte nicht weitersprechen. Er zitterte am ganzen Körper.

»Sie sagten, dass Ihnen eine Klärung der Umstände aus geschäftlichen und privaten Gründen wichtig sei, Mr. Ismay«, sagte der Detektiv. »Ich frage Sie nun, welcher Art die privaten Gründe sind?«

»Ich weiß nicht, ob ich in der Lage bin, diese darzulegen«, antwortete der Mann, »aber ich will es versuchen.«

Mycroft Holmes unterbrach seinen Freund: »Ich werde Sherlock davon berichten. Bruce nahm selbst an der verhängnisvollen ersten Fahrt der Titanic teil. Er wurde gegen seinen Willen in ein Rettungsboot geworfen und überlebte.«

»Während ringsum Menschen um ihr Leben kämpften und viele diesen Kampf verloren«, ergänzte der Mann beinahe unhörbar.

»Bruce Ismay, der während der Fahrt nach New York an Bord der RMS Carpathia von einem Arzt mit Opium beruhigt werden musste, ist seither ein geschlagener Mann, obwohl er in peinlichen Untersuchungen vor amerikanischen und britischen Behörden seine Unschuld nachweisen konnte.«

»Mit Ausnahme der Schuld, überlebt zu haben, während Hunderte andere im Eiswasser umkamen«, wandte der Mann ein. »Ich höre die Schreie der Ertrinkenden, sobald ich mich zum Schlafen lege. Ohne Betäubung finde ich keine Ruhe mehr.«

»Und nun die neuerlichen, unerhörten Anschuldigungen der Journalisten«, ergänzte Mycroft Holmes.

»Einer von ihnen musste sein Leben lassen. Der Mann wurde erschossen«, stellte Sherlock Holmes fest.

»Was die Sache nur noch schwieriger macht«, sagte Bruce Ismay. »Man verdächtigt mich, auch daran Schuld zu tragen. Ich bitte Sie, Mr. Holmes, um alles in der Welt, befreien Sie mich von den Anschuldigungen. Ich werde Sie sehr gut bezahlen.«

»Ich werde alles unternehmen, Licht in das Dunkel zu bringen. Ich muss Sie aber warnen, Mr. Ismay. Sollte ich unehrenhaftes Verhalten auf Ihrer Seite oder auf der Seite Ihrer amerikanischen Geschäftspartner entdecken, werde ich meine Erkenntnisse keinesfalls verschweigen und sie den Behörden übermitteln.«

»Das ist ganz in meinem Sinn, Mr. Holmes«, bekräftigte der Reeder. »Damit Sie sehen, wie ernst es mir ist, werde ich Ihnen eine bedeutende Anzahlung zukommen lassen.«

»Gut. Das erleichtert die Ermittlungen«, sagte Holmes und fügte hinzu: »Als Erstes werde ich die Artikel über den angeblichen Versicherungsschwindel lesen. Sie können mir doch die Zeitungsausschnitte zur Verfügung stellen, Mr. Ismay?«

»Sehr ungern. Dieses elende Geschmiere ist wie Leichengift. Es breitet sich immer weiter aus und macht das Leben zur Hölle.«

»Ich muss darauf bestehen.«

»Ich werde Ihnen die Artikel noch heute zukommen lassen, Mr. Holmes. Es ist mir bewusst, dass ich nicht wehleidig sein darf, wenn ich je aus diesem dunklen Tal herauskommen will.«

»Eine letzte Frage für heute«, wandte sich Holmes erneut an sein Gegenüber. »Wo hielt sich Ihr amerikanischer Geschäftspartner auf, als das Schiff sank?«

»J. P. wollte auch an der Jungfernfahrt teilnehmen, aber er erkrankte. Ich war schon an Bord, als ich die Nachricht erhielt, dass er verhindert war.«

Das verschnürte Paket, das ein Kutscher am späten Nachmittag bei Mrs. Hudson abgab, blieb den ganzen Abend über und auch am nächsten Vormittag unberührt.

Holmes hatte sich mit seiner Stradivari in das Schlafzimmer zurückgezogen, wo er sich in Phantasiekompositionen verlor.


Alamac Hotel

Atlantic City, New Jersey

Vereinigte Staaten von Amerika

Der Tote bot selbst für den erfahrenen Arzt Jerry Brookman einen so makabren Anblick, dass er erst durchatmen musste, bevor er ihn untersuchte. Der Mann war im Stehen gestorben, angelehnt an einen Wäscheschrank von etwa derselben Höhe wie er. Sein Kopf, den er gegen die Ablagefläche des Möbelstücks gelehnt hatte, war die Stütze, die den Rest des Körpers aufrecht hielt. Er trug ein weites, langes Nachthemd und stand mit nackten Füßen auf dem Teppich.

Zunächst schloss der Doktor die vor Überraschung oder Entsetzen weit geöffneten Augen des Mannes. Sie waren von einem schmutzig-milchigen Grau wie der Atlantik, der an diesem Mittwoch, von kalten Winden aufgewühlt, gegen den Strand tobte, dann zog er den bereits steif gewordenen Körper nach vorne, bis sich die Verankerung zwischen dem Genick des Mannes und dem Schrank löste und der Tote auf den Boden fiel.

Mit einer Schere öffnete der Arzt das Nachthemd des kräftig wirkenden Mannes, den er auf Mitte fünfzig schätzte. Der Körper wies keine Spuren einer Gewalteinwirkung auf. Womöglich handelte es sich um Selbstmord oder die Überdosierung eines Medikaments, denn auf dem Wäscheschrank standen eine braune Flasche mit Paraldehyd, einem sehr wirkungsvollen Schlafmittel, und ein Likörglas.

Doch es gab keinen Abschiedsbrief und das Fläschchen war randvoll, als ob ihm noch nichts entnommen worden sei. Das Glas schien unbenutzt. Der Mann musste an Herzstillstand verstorben sein, entschied Dr. Brookham und hielt diese Diagnose, die letztlich auf jeden Todesfall zutraf, im Protokoll fest.

Seltsam erschien ihm der Umstand, dass auf den nackten Zehen des Mannes ein blühender Zweig lag, doch er konnte sich damit nicht länger aufhalten. Weitere unangenehme Aufgaben warteten auf ihn an diesem unfreundlich kalten Morgen.


Baker Street 221b, London

Pünktlich um acht Uhr brachten Mrs. Hudson und ihre Nichte das Frühstück in Sherlock Holmes' Wohnung im ersten Stockwerk, mit einem soeben eingetroffenen Brief. Holmes riss ungeduldig das an ihn adressierte Kuvert auf und brummte befriedigt, als er einen Scheck darin fand. Die Summe, die ihm Joseph Bruce Ismay übermittelt hatte, war beträchtlich.

Anschließend zündete er seine schwarze Tonpfeife an und blies dichte Rauchschwaden in den Wohnraum. Nunmehr erst öffnete er das Paket mit den Zeitungsausschnitten der Pall Mall Gazette, die mit dem Abdruck von Morgan Robertsons Roman Hoffnungslos – oder das Wrack der Titan begonnen hatte. Evans und Conolly wiesen darauf hin, dass der amerikanische Autor den Text bereits im Jahr 1898, also vierzehn Jahre vor dem Untergang der Titanic, veröffentlicht hatte.

Je tiefer Holmes in die Lektüre eintauchte, desto faszinierter war er. Die Parallelen waren frappierend. Beide Schiffe sanken etwa an der gleichen Stelle, nachdem sie mit Eisbergen kollidiert waren. Sowohl die Titan als auch die Titanic galten als unsinkbar und hatten aus diesem Grund nicht genügend Rettungsboote an Bord. Die Schiffe waren gleich groß und bestanden aus demselben Material, aus Stahl. Und beide Schiffe sanken im Monat April.

Holmes bewunderte auch das literarische Talent des Mannes, der eine menschlich berührende, spannende Geschichte entworfen und sie eindrucksvoll zu Papier gebracht hatte.

Als der gigantische Dampfer Titan mit voller Kraft gegen den Eisberg fuhr, hielt der Held, der von seinen Gegenspielern mit einer starken Droge geschwächt worden war, die kleine Tochter seiner Geliebten in den Händen. Myra war schlafwandelnd auf dem Schiff unterwegs gewesen, auf der Suche nach Sicherheit vor der unbewusst gefühlten nahenden Gefahr, von der sonst keiner wusste.

Holmes las in den Zeitungsausschnitten.

Rowland erwachte allmählich aus seiner Betäubung und stammelte die Worte: »Myras Tochter. Sie schläft.«

Er zog das nur in ein Nachthemd gekleidete Mädchen zu sich heran und hüllte den kalten, kleinen Körper in seinen Mantel. Das Kind schrie erschrocken auf, als es erwachte.

Da rief der Beobachtungsposten: »Eis. Eis voraus. Direkt vor dem Bug.«

Der Offizier rannte mittschiffs, der Kapitän betätigte den Fernschreiber zum Maschinenraum.

Innerhalb von fünf Sekunden begann sich der Bug der Titan zu heben und vor ihnen, zu beiden Seiten, tauchte aus dem Nebel ein Eisfeld auf, das, von der Meeresoberfläche ansteigend, allmählich eine Höhe von hundert Fuß erreichte.

Die Musik im Theatersaal verstummte. In der babylonischen Wirrnis von Rufen und Schreien und dem ohrenbetäubenden Knirschen, das Stahl erzeugt, der auf Eis entlangschrammt, hörte Rowland die verzweifelte Stimme einer Frau, die nach ihrer Tochter schrie.

75.000 Tonnen Masse, die mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Fuß in der Sekunde durch den Nebel glitten, waren gegen den Eisberg gekracht. Wäre das Schiff gegen eine senkrechte Wand geprallt, hätten Stahlplatten und -streben dem plötzlichen Druck nachgegeben, indem sie sich verformten, und die Energie des Zusammenstoßes aufgefangen. Die Passagiere wären kräftig durcheinandergewirbelt worden, der Bug des Schiffes wäre eingedrückt worden, wobei das eine oder andere Mitglied der Besatzung ums Leben gekommen wäre. Die Titan hätte die Reise aus eigener Kraft, mit reduzierter Geschwindigkeit, fortsetzen können, wäre mit Versicherungsgeld repariert worden und hätte mit ihrer Unverwüstlichkeit werben können.

So lief die Titan jedoch auf den ebenen Teil des Eisbergs auf, in den sie wie ein Eisbrecher hineinschnitt. Ihr enormes Gewicht, das auf der Steuerbordseite lastete, hievte das riesige Schiff weit aus dem Meer heraus, immer höher, bis die Schiffsschrauben am Heck halb frei lagen. Dann wurde es von der Strömung unter dem Bug erfasst, gedreht und stürzte schließlich auf die Backbordseite.

In der senkrechten Lage brachen die Bolzen von zwölf Öfen und drei Dreifach-Maschinen. Gigantische Massen von Eisen und Stahl stürzten durch ein Gewirr aus Gittern, Leitern und Schotten nach unten und schlugen Löcher in die Flanken des Schiffes. Die Maschinen und die Heizräume füllten sich mit beißendem Dampf, der den hunderten Männern, die dort arbeiteten, einen schnellen, aber qualvollen Tod brachte.

Im Brüllen des entweichenden Dampfes, dem bienengleichen Summen tausender Stimmen von Menschen in Todesangst und dem Pfeifen der durch hunderte offene Luken entweichenden Luft bewegte sich die Titan langsam rückwärts und tauchte zurück in das Meer, in dem sie nun in starker Schräglage trieb. Ein sterbendes, brüllendes Monster, das eine tödliche Wunde erhalten hatte.2

Holmes war so sehr in die Lektüre des ihm übermittelten Materials versunken, dass er das Abendessen vergessen hätte, hätten ihn nicht Mrs. Hudson und ihre Nichte bei der Arbeit unterbrochen.

»Sie sehen doch, Mrs. Hudson, dass kein Platz für ein Gedeck vorhanden ist. Ich werde mich am morgigen Frühstück schadlos halten.«

Doch die Hausfrau gab sich nicht geschlagen. »Ich sehe sehr wohl, dass der gesamte Speisetisch von Zeitungen okkupiert ist, daher laden Helen und ich Sie zu einem kleinen Mahl in unsere Wohnung ein. Sie müssen nur eine kurze Pause machen.«

Widerwillig folgte Holmes den beiden Damen ins Erdgeschoss und war überrascht, wie gemütlich und zweckmäßig das Esszimmer von Mrs. Hudson eingerichtet war. Der Tisch war festlich gedeckt, mit Stoffservietten und brennenden Kerzen. Helen Lomax servierte Bouillon mit Ei.

»Die Baker Street hat sich sehr zum Nachteil verändert, seit Sie nicht mehr hier sind, Mr. Holmes«, plauderte Mrs. Hudson drauflos. »Und jetzt ist man seines Lebens nicht mehr sicher, seitdem die Deutschen begonnen haben, Krieg gegen uns zu führen. Ich habe keine Ahnung, wohin dies führen soll.«

»Sie sagen es, Mrs. Hudson. Eine schwierige Lage«, stimmte ihr Holmes zu, um die aufgeregte Frau zu besänftigen.

»Tante Jane ärgert sich in letzter Zeit über jeden und alles«, erklärte die Nichte.

Als die alte Frau protestieren wollte, meinte Holmes: »Ärger hält die Menschen jung. Nicht wahr, Mrs. Hudson? Bei mir ist dies zumindest der Fall.

Und natürlich die köstliche Hühnersuppe. Sie bringt mich wieder in Schwung.«

»Aber nicht, dass Sie wieder die ganze Nacht durcharbeiten, Mr. Holmes! Das hat Ihnen noch nie gutgetan. Und jetzt sind Sie ohne Begleiter. Erzählen Sie mir, wie es Doktor Watson geht. Wann haben Sie ihn das letzte Mal getroffen?«


Obwohl er von dem gefüllten Huhn und dem Apfelkuchen mit Sahne angetan war, war Holmes froh, nach eineinhalb Stunden wieder in seine Wohnung und zu seiner Arbeit, zurückkehren zu können. Erneut setzte er seine Pfeife in Brand. Nun konnte er sich den Artikeln zuwenden, die der ermordete Journalist Stanley R. Evans und sein Kollege Robert M. Conolly verfasst hatten.

Die beiden behaupteten darin, dass Bruce Ismay und J. P. Morgan in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren. Das Interesse an Luxusreisen von und nach Amerika war nicht so groß, wie sie es sich erhofft hatten. Zudem war das Schwesterschiff der Titanic, die Olympic, im September 1911 in der Nähe von Southampton mit der HMS Hawke kollidiert. Die britische Navy versicherte damals, keine Schuld an dem Zusammenstoß zu haben. Somit hatten die White Star Lines die enormen Kosten für die Beschädigung zweier Schiffe allein zu tragen.

Zur selben Zeit war die Titanic fast vollständig fertiggestellt. Eine Reparatur der Olympic zu der Zeit hätte den Stapellauf verzögert. Nach Aussage der Journalisten entschlossen sich nun Ismay und Morgan, ganz einfach die Namensschilder der fast identischen Schiffe zu tauschen. Die unversehrte Titanic trug daraufhin den Namen Olympic und die beschädigte Olympic wurde als Titanic auf Jungfernfahrt geschickt mit der Absicht, sie gegen einen Eisberg fahren und sinken zu lassen und die Versicherungssumme zu kassieren. Ein doppelter Gewinn für die White Star Line.

»Eine gewaltige Anschuldigung«, überlegte der Detektiv laut. »Immerhin kamen bei der Kollision der Titanic mit dem Eisberg 1.635 Menschen ums Leben. Ismay und Morgan wären Massenmörder, hätten sie das in Kauf genommen. Und immerhin war Ismay selbst an Bord des Schiffes gewesen. Das Verhalten von J. P. Morgan andererseits war mehr als merkwürdig.«

Nach den Aussagen von Evans und Conolly war Mr. Morgan nicht wirklich krank, sondern verbrachte die entscheidenden Tage im Haus seiner Geliebten.

Jedenfalls hatten, so behaupteten die Journalisten, Ismay und Morgan vorgesorgt. Sie ließen die Titanic von einer ganzen Reihe von Schiffen ihrer Flotte begleiten, um die Passagiere nach dem Zusammenstoß mit einem Eisberg an Bord nehmen und retten zu können. Aber das Schiff war gegen ihre Erwartungen so schwer beschädigt worden, dass es viel schneller als geplant sank und seine Passagiere mit in die Tiefe riss.

Es wurde bereits hell, als Holmes den letzten Zeitungsausschnitt beiseite legte. Er hatte eine Idee, wie er an den Fall herangehen würde. Zuallererst würde er den Journalisten Conolly in der Redaktion der Pall Mall Gazette in der Fleet Street aufsuchen.

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