FRAUEN UND KINDER ZUERST

»Frauen und Kinder zuerst«, sagte Mrs. Farland im Rauchsalon des Schiffes. »Jedes Mal, wenn ich diese Worte höre, glaube ich den Verstand zu verlieren. Frauen und Kinder zuerst. Man stieß mich in eines der Rettungsboote. Ich musste zusehen, wie mein Mann und mein Enkel weggedrängt wurden. Peter, schrie ich, Peter ist doch ein Kind. Wo ist Peter? Peter wurde mit seinen dreizehn Jahren als zu alt empfunden und durfte nicht im Rettungsboot bleiben, obwohl es nur halb voll war. Ein hässliches Durcheinander, die Hölle. Ich habe noch den unangenehmen Körpergeruch jener Frau in Erinnerung, die mich schlug, als ich wieder an Bord der Titanic zu meinem Mann, zu Peter, zurückwollte.«

»Auch ich wollte nicht gerettet werden«, meldete sich Joseph Bruce Ismay zu Wort. »Ich wollte mit dem Schiff untergehen. Mit meinem Schiff. Ein Matrose warf mich wie ein Gepäckstück in weitem Bogen in das Rettungsboot, dass ich vor Schmerz aufschrie …«

»Ich bitte Sie, verschonen Sie mich mit Mitleid heischenden Reden«, unterbrach ihn Mrs. Farland. »Einer der Hauptgründe, warum die Katastrophe derartige Ausmaße annahm, lag in der Tatsache, dass die Titanic nicht genügend Rettungsboote mit sich führte.«

»Das stimmt«, bestätigte Mr. Ismay. »Darf ich Ihnen aber den Grund dafür in aller Ruhe, aus meiner Sicht, darstellen?«

Mrs. Farland nickte stumm.

»Die Erbauer der drei Schiffe, der Titanic, der Olympic und der Britannic, beschritten natürlich mit dem Entwurf dieser größten Schiffe der Welt Neuland. Es waren aber nicht die ersten Passagierdampfer, die sie bauten. Harland & Wolff war eine erfahrene Werft. Jemand anderen hätte ich auch nicht damit beauftragt. Und diese Männer versicherten mir, dass es nichts auf der ganzen Welt geben könnte, das diesen Giganten aus Stahl gefährden könnte. Kein Sturm, kein Leck. Das Schiff sei absolut unsinkbar. Die Titanic, behaupteten sie, sei ihr eigenes Rettungsboot. Nun, ich glaubte den Aussagen der Ingenieure und beging den fatalen Fehler, nicht 64 Rettungsboote auf dem obersten Deck platzieren zu lassen, sondern nur 20. Ich wollte den Passagieren, die unser Schiff benutzten, beweisen, wie sicher es sei. Und ich wollte die Sicht der Passagiere vom Promenadendeck auf das Meer nicht durch zu viele Boote beeinträchtigen.«

»Sie Narr, Sie verdammter Narr«, beschimpfte ihn Mrs. Farland.

»Ja, Sie haben recht. Im Nachhinein teile ich Ihre harte Meinung. Ich kann zu meiner Verteidigung nur wiederholen, dass ich sicher war, das Schiff sei unverwundbar.«

»Wie haben Sie den Abend des 14. April 1912 erlebt, Mr. Ismay?«, fragte der Detektiv.

»Ja, das würde mich auch interessieren«, sagte Mrs. Farland.

»Wie jeder andere Passagier. Ich aß zu Abend mit meinen Mitarbeitern Mr. Fry, William Harrison und Ernest Freeman, und ich besprach mich mit Kapitän Smith. Die Fahrt verlief ungestört. Smith hatte, weil in diesem Jahr von ungewöhnlich großen Eisfeldern die Rede war, eine Route gewählt, die noch weiter südlich verlief, als dies üblich war. Das Meer war völlig unbewegt an diesem Abend, der Himmel sternenklar. Der Mond schien nicht. Es war Neumond.«

»Unser Bruder war ein erfahrener Seemann. Es ist auszuschließen, dass er das Unglück verursachte«, meldete sich Reginald Smith erstmals zu Wort.

Sein Bruder ergänzte: »Edward war seit 1880 bei der White Star Line, immer wieder auf Kurs nach New York. Sommer wie Winter. Kapitän wurde er 1887. Er arbeitete für die Navy im Burenkrieg.«

»Kein Zweifel, meine Herren«, sagte Bruce Ismay, »Edward John Smith war der erfahrenste Kapitän der White Star Line. Und genau das war der Grund, warum ich ihm das Kommando übertrug. Er ist in meinen Augen nicht schuld an der Katastrophe.«

»Wer dann? Wer ist schuld daran?«, fragte Mrs. Farland aufgebracht.

»Es gibt Verkettungen von unglücklichen Ereignissen, die letztlich zu schrecklichen Resultaten führen, ohne dass einzelne Menschen daran schuld sind.«

»Das sehe ich in diesem Fall nicht so«, sagte Sherlock Holmes und schloss eine Frage an: »Gab es Warnungen vor dem Eis, Mr. Ismay?«

Die Augen des Reedereibesitzers hatten einen traurigen Ausdruck angenommen, sein Schnurrbart hing kraftlos nach unten, als er zu erzählen begann: »Ja, die gab es. Andere Schiffe warnten vor einem Eisfeld, die Wassertemperatur war von plus sechs Grad auf Minusgrade gesunken. Kein Grund für Bedenken meinerseits, damals. Der Kapitän war erfahren, das Schiff ein Gigant. Und dann kam alles ganz, ganz anders. Auf der Titanic war es ruhig geworden an diesem schrecklichen Tag. Die letzten Passagiere bereiteten sich auf die Nachtruhe vor und auch ich hatte mich in meine Suite zurückgezogen. Das Schiff pflügte durch das Wasser.«

»Mit einer unverminderten Geschwindigkeit von 22 Knoten. Ohne Suchscheinwerfer und Ferngläser an Bord, wie die Journalisten der Gazette berichteten, als sie noch am Leben waren«, sagte Holmes.

»Ja, ja, all das ist richtig. Man darf aber nicht mit dem Wissen, das man heute, nach der schrecklichen Katastrophe, besitzt, an die Sache herangehen.«

»Erzählen Sie weiter, Mr. Ismay.«

»Es war kaum etwas zu spüren, als die Titanic mit dem Eis kollidierte, obwohl die Verwundung tödlich war. Zehn Fuß über dem Kiel, 290 Fuß lang. Meerwasser drang in den Kesselraum ein. Die schlafenden Passagiere wurden von dem schleifenden Geräusch nicht einmal geweckt.«

»Und Sie, Mr. Ismay?«, fragte Dr. Watson.

»Ich ahnte, dass etwas Bedeutsames geschehen war. Ich sah Eis vor dem Bullauge. Das Ausmaß der kommenden Katastrophe jedoch war mir nicht bewusst. Ich eilte zur Kommandobrücke, um dem Kapitän und seinen Offizieren beizustehen. Der Kapitän hatte sich entschlossen, mit halber Geschwindigkeit weiterzufahren. Man wollte dem Eisfeld ausweichen.«

»Ein schrecklicher Fehler«, meinte Holmes.

»Aus heutiger Sicht, ja. Durch die Bewegung gelangte immer mehr Wasser in das Schiffsinnere.«

»Mein Mann und ich erwachten nicht wegen eines Stoßes, sondern weil plötzlich absolute Stille herrschte. Das Schiff bewegte sich nicht mehr«, berichtete Hilda Farland. »Nur Peter schlief fest.«

»Wir hatten keine Ahnung, in welchem Ausmaß die Titanic beeinträchtigt war«, erklärte Mr. Ismay. »Ein Offizier war von seinem Rundgang zurückgekehrt und berichtete, dass das Schiff unversehrt sei. Wir konnten ihm keinen Glauben schenken. Also befahl ihm der Kapitän, die Inspektion zu wiederholen und begab sich selbst auf Tour. Thomas Andrews von Harland & Wolff und ich begleiteten ihn dabei. Kurz nach Mitternacht teilte uns Andrews mit, dass die Titanic sinken würde. Aber warum, fragten wir ihn, die Titanic galt als unsinkbar. Sie wird sinken, wiederholte Andrews, und Kapitän Smith begann die nötigen Schritte zu unternehmen. Rettungsboote klar machen, Reisende wecken und ihnen befehlen, die Korkwesten anzulegen.«

»Erst eine Viertelstunde nach Mitternacht ging der erste Hilferuf vom Schiff aus. Warum dauerte dies so lange?«, fragte Holmes.

»Sie haben sich detailliert mit den Berichten beschäftigt«, sagte Mr. Ismay.

Holmes nickte nur stumm und wartete auf eine Antwort. Als die nicht kam, wiederholte er seine Frage: »Warum kam der erste SOS-Ruf so spät?«

»CQD. Come quick, danger, und SOS«, sagte der Reedereibesitzer und fuhr stotternd fort: »Weil … ach, ich kann es nicht sagen. Es hat vermutlich mit der Psyche eines stolzen Kapitäns zu tun, der nicht glauben konnte, was da los war.«

»Tödlicher Dilettantismus. Erwachsene Männer, die sich wie kleine Jungs beim Indianerspiel aufführen. Unerträglich!«, schimpfte Mrs. Farland.

»Aber das ist doch nicht wahr!«, wehrte Bruce Ismay den Angriff ab. »Jeder Einzelne gab sein Bestes in der ausweglosen Situation. Die Titanic konnte nur deswegen die Funksprüche abgeben, weil die Heizer die Anweisung hatten, die Stromversorgung unter Einsatz ihres Lebens aufrecht zu erhalten. Und diese Anordnung kam von Kapitän Smith.«

»Was hat es mit dem Brand in einem der Kohlebunker auf sich, von dem die Journalisten berichteten, Mr. Ismay?«, fragte Holmes.

»Ein an sich nicht unüblicher Vorfall. Man versucht möglichst schnell zum Brandherd vorzudringen und verfeuert das glühende Material.«

»Evans und Conolly behaupteten, dass es diesen Schwelbrand vom Beginn der Reise an gegeben hatte. Er wurde bereits in Southampton entdeckt und ist einer der Gründe, warum das Schiff ständig mit Volldampf unterwegs war.«

»Es war nicht so dramatisch«, beschwichtigte Mr. Ismay.

»Und dann standen nur zwanzig Rettungsboote für die 2.208 Passagiere und Besatzungsmitglieder bereit, die sich auf dem Dach des Dampfers sammelten, wo die Rettungsboote hingen«, sagte Holmes.

»Der lange Zug der Menschen zu den Booten verlief dem Luxusliner angemessen ruhig und diszipliniert. Doch dann begann die eigentliche Katastrophe. Das Chaos, die Angst der Menschen. Gier und Angst. Gemeinheit und Heldentum«, sagte Mrs. Farland. »Das Bereitstellen der Boote erfolgte geordnet, wenn auch mit Schwierigkeiten. Zwei der Rettungsboote funktionierten nicht und blieben oben. Ein Glück wenigstens, dass das Meer ruhig war. Neben all dem Elend habe ich vor allem eine Erinnerung. Die Musiker der Bordkapelle waren an Deck gekommen und spielten, um uns zu beruhigen. Es klang heiter. Dann wurde das erste Boot hinuntergelassen, sieben Etagen weit, bis zum Wasser. Es war nicht ganz voll und Männer waren dabei. Verdammt, dachte ich mir. Warum wird ein Boot hinuntergelassen, das nicht voll besetzt ist? Warum übernahmen Sie nicht das Kommando, Mr. Ismay? Es fehlte eine ordnende Hand.«

»Wir hatten Angst, die Boote würden kippen, wenn sie voll besetzt wären. Wir mussten anfangs vorsichtig sein. Aber missverstehen Sie mich nicht, Mrs. Farland, ich will mich nicht verteidigen. Es ist unverzeihlich, was geschah. Meine eigene Erklärung, um nicht verrückt zu werden, ist die, dass wir mit unserem Schiff am Beginn einer Entwicklung standen, am Beginn dieses Jahrhunderts, und Lehrgeld zahlen mussten für die Zukunft.«

»Ich halte diese Aussage für unerträglich. Sie mussten gar nichts zahlen. Wir Passagiere zahlten zuerst mit Geld, dann mit dem Leben der liebsten Angehörigen«, fauchte Mrs. Farland.

»Ich gebe Ihnen wieder recht. Und ich nehme mich nicht aus von denen, die an ungeheuren Fehlern Schuld tragen. Es wurden zum Beispiel nicht alle Passagiere geweckt.«

Holmes wandte ein: »Nach den Artikeln von Conolly und Evans konzentrierte man sich zuerst auf die Rettung der Passagiere der ersten Klasse.«

»Es gab keinen Notfallplan, weil ein Notfall undenkbar war«, erklärte Bruce Ismay.

Mrs. Farland setzte fort: »Als das Schiff mit dem Bug immer tiefer ins Eiswasser tauchte, als sich alles auf dem Schiff in Schräglage befand, wurde mir klar, wie ernst die Lage war. Mein Mann hatte mich bisher beruhigt, der Junge wirkte gefasst, fast interessiert. Er plauderte mit den beiden Mädchen, die ihn so anhimmelten. Er wollte unerschrocken wirken. Ich muss gestehen, ich dachte, es seien Rettungsboote für alle vorhanden, und wir müssten nur geordnet warten, und alles werde gut. Signalraketen wurden in den sternenklaren Himmel abgefeuert und erhellten die Umgebung des Schiffes. Die Musikkapelle spielte weiter. Das zweite Boot wurde halb leer zu Wasser gelassen. Viele Frauen wollten nicht, dass ihre Männer allein zurückblieben, und Männer durften nicht mehr an Bord. Da schleuderte mich ein Mann aus der Besatzung mit voller Brutalität in das nächste, das dritte Boot. Seine Augen funkelten vor Zorn. Ihr werdet alle ersaufen, aus lauter Dummheit!, schrie er mit irischem Akzent. Peter!, rief ich. Peter ist ein Kind. Und dann wurde auch mein Enkelsohn in das Boot gestoßen, gemeinsam mit den beiden Mädchen. Ein Mann hat nichts im Boot zu suchen!, schrie ein erwachsener Mann, der schon im Boot war. Und er packte Peter an seinen langen blonden Haaren und schleuderte ihn in weitem Bogen auf das Schiff zurück, wo ihm mein Mann auf die Beine half.«

Alle schwiegen, jeder mit der Verarbeitung dessen beschäftigt, was Mrs. Farland soeben erzählt hatte. Es war unfassbar. Unerträglich.

Mit heiserer Stimme fuhr schließlich Bruce Ismay fort: »Wenigstens wurden die Passagiere der ersten Klasse nicht gegenüber den Zwischendeckleuten bevorzugt. Die fünf Millionäre an Bord kamen alle ums Leben: Colonel Astor, Benjamin Guggenheim, Charles Hays, George Widener, John Thayer.«

»Wie gelangten Sie selbst in eines der Rettungsboote?«, fragte Mrs. Farland.

»Ich war fest entschlossen, auf dem Schiff bis zum Ende auszuharren, als ich einen heftigen Stoß verspürte und im nächsten Moment in einem Boot landete, das bereits zu Wasser gelassen wurde. Es war das 15. Rettungsboot. Ich konnte nicht zurück auf das Schiff, ich konnte mich nicht um meine drei Begleiter kümmern, also tat ich trotz der Schmerzen in meinem linken Knie, mit dem ich nach dem tiefen Sturz auf Holz aufgekommen war, was ich konnte. Ich ergriff eines der Ruder und begann, unterstützt von einigen Männern der Besatzung, mit dem Boot vom Schiff, das sich in beträchtlicher Schieflage befand, weg zu rudern, um nicht im Sog der sinkenden Titanic in die Tiefe gerissen zu werden. Die Bewegung gegen die schneidende Kälte der Nacht tat gut. Das Schiff sank weiter. Und ich lebte. 109 Frauen, 52 Kinder kamen im Meer ums Leben. Von den Männern ganz zu schweigen, von denen nur 338 überlebten.«

»Davon 192 Männer der Besatzung«, bemerkte Holmes trocken.

»Mehr als 68 Prozent der Menschen an Bord starben«, sagte Joseph Bruce Ismay. »Wir entfernten uns vom Schiff, von dem wir noch die Band spielen hörten. Und ringsum keine Lichter anderer Schiffe. Keine Rettung in Aussicht. Obwohl sich die Carpathia bereits auf Kurs befand. Ich will nicht daran denken, was mit den Menschen geschah, die im Schiff zurückblieben. Dann sahen wir in der Entfernung, wie sich das Heck der Titanic aus dem Wasser hob. Das Schiff drehte sich wie eine Schraube in das tiefschwarze Wasser, rötlich beleuchtet von den Lichtmaschinen, die noch immer arbeiteten. Menschen fielen ins Meer, mit und ohne Schwimmwesten. Einer der Schlote riss aus seiner Verankerung und stürzte ins Meer, wo Menschen um ihr Leben kämpften, und erschlug sie. Die Höllenfahrt der Titanic hatte begonnen.«

»Ich schlage vor, Sie machen eine Pause«, schlug Doktor Watson dem schweißnassen Joseph Bruce Ismay vor. »Es ist zu schrecklich, was Sie zu berichten wissen.«

»Ja, gönnen Sie sich etwas Ruhe«, sagte Mrs. Farland in versöhnlichem Ton. Sie streckte ihre rechte Hand aus und legte sie beruhigend auf die von Bruce Ismay. Dieser atmete tief durch und begann zu weinen.

Die Brüder Smith entfernten sich schweigend.

Als der Detektiv mit Joseph Bruce Ismay in die Kabine zurückkehrte, wartete erneut der Steward auf ihn. Er berichtete: »Sie hatten recht, Mr. Holmes. Die Kette ist dort, wo Sie sie vermuteten.«

»Gute Arbeit, Conolly«, bedankte sich Holmes.

Der Journalist Robert M. Conolly legte die Uniform eines Schiffsstewards ab. Er teilte sich einen Raum mit Bruce Ismay in Holmes' Kabine.

»Wie fühlen Sie sich heute Abend, Conolly?«, erkundigte sich der Detektiv.

»Ausgezeichnet. Die Kur, die mir Dr. Watson verschrieben hat, greift. Die Blutungen haben aufgehört. Es geht voran.«

»Das freut mich zu hören. Watson wird noch vorbeikommen und Sie untersuchen. Aber nun zur Planung des morgigen Tages. Die Katastrophe der Titanic begann kurz vor Mitternacht des 14. Aprils. Wir werden eine Gedenkzeremonie abhalten, an den Rettungsbooten, um Mitternacht. Mit Bordmusik und Geistlichem, und alle entscheidenden Personen dazu einladen. Es wird, so wie vor drei Jahren, der Augenblick der Wahrheit sein. Ich gebe eines zu bedenken, Mr. Conolly: Es gibt Menschen, die diesen Augenblick der Wahrheit hinter sich haben, die wissen, wie sie sich in einer dermaßen entscheidenden Situation verhalten, wofür sie sich entscheiden. Mr. Ismay weiß es. Er hat in die Tiefen seines eigenen Wesens und in das vieler anderer Menschen geblickt. Im Gegensatz zu Ihnen. Und ich denke mir, dieses große Ereignis lässt sich symbolisch wiederholen.«

»Es bedeutet eine große seelische Belastung«, wandte Mr. Ismay ein. »Viele werden fernbleiben.«

»Das ist möglich. Muss aber nicht sein. Auf jeden Fall gibt uns das Verhalten entscheidender Personen an Bord dieses Schiffes wichtige Hinweise.«

»Sie wissen, was sich hinter der Katastrophe der Titanic verbirgt?«, fragte Conolly.

»Ich ahne was und wer dahintersteckt.«

»Könnten Sie uns einen Hinweis geben? Damit wir nicht völlig überrascht werden.«

»Ich habe Sie beide, meine Herren, in Sicherheit gebracht, und wache abwechselnd mit meinem Freund Watson über Ihr Leben. Das sollte genügen«, gab sich der Detektiv verschlossen. »Ich kann momentan nur so viel verraten: Zwischen dem Bräutigam, zwischen Graham Hornby und der Malerin bestand eine interessante Verbindung.«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Holmes«, gab sich Watson ratlos.

»Erklären Sie es dem Doktor, Mr. Conolly«, bat der Detektiv.

»Nun. Ich hatte den Auftrag von Mr. Holmes, nach meinem Hinscheiden in der Uniform eines Stewards verschiedene Beobachtungsaufträge zu übernehmen. Eine davon bezog sich auf die Kabine von Mrs. Oldman-Smythe. Gott hab' sie selig, die alte Fregatte! Dabei sah ich zu meiner großen Überraschung, dass der Bräutigam auf Hochzeitsreise doch sehr geraume Zeit mit der Malerin verbrachte.«

»Des Nachts«, ergänzte Holmes. »Von Bedeutung für die Klärung ihres Verschwindens ist eine Aussage von Mrs. Oldman-Smythe selbst, die sie anlässlich der Eröffnung ihrer Vernissage machte. Sie meinte sinngemäß, dass der Käufer ihrer Gemälde nicht nur die Bilder, sondern auch ihr spezielles Wohlwollen erwerbe. Das weist darauf hin, dass sie etwas wusste, was andere geheim halten wollten. Vier der Bilder waren schon vor dem Beginn der Ausstellung verkauft worden. Aber nun schlage ich vor, dass wir uns vor dem morgigen Tag ein wenig Ruhe gönnen. Es wird kein leichter Tag werden.«

»Was haben Sie vor, Mr. Holmes?«, erkundigte sich der Journalist interessiert.

»Ich werde mit Ihnen, meine Herren, den Gedenkabend organisieren und am Vormittag …«

»Was, Holmes?«, fragte Watson begierig.

»Am Vormittag werde ich mich auf die Suche nach der Kette von Mrs. Oldman-Smythe begeben.«

»Sie wissen …«

»Eine sehr junge Dame und Mr. Conolly in seiner Maske als Steward konnten mir entscheidende Hinweise geben.«

*

»Der Detektiv macht Probleme, Sir. Exakt wie Sie es vorausgesehen haben.«

Der Mann hatte Haltung angenommen, als er mit Colonel David King sprach, obwohl das gar nicht so leicht war bei dem heftiger gewordenen Seegang, der die Olympic beben und schwanken ließ.

»Ignorieren Sie ihn einfach, konzentrieren Sie sich einzig und allein auf Ihren Auftrag, Private Samma. Sie machen das vorzüglich. Sie beobachten ihn, berichten mir, und Sie begrenzen die Gefahr, die von ihm ausgeht, indem Sie ihn isolieren. Das heißt …«

»Ich weiß, Sir, indem ich die Ausbreitung der Krankheit, die von ihm ausgeht, verhindere, Sir.«

»Mit tiefen Schnitten ins kranke Fleisch, wenn möglich.«

»Aber wäre es, mit aller Hochachtung, Sir, nicht einfacher, die Wurzel des Übels zu packen und …«

»Noch nicht, Private Samma. Der Zeitpunkt wird kommen. Er ist der Kopf unserer Gegner, der Ordnung bringt ins Chaos ihrer Pläne und Wünsche, und das erleichtert unser Vorgehen gegen sie«, entschied der Colonel.

Colonel David King litt unter berstenden Kopfschmerzen, die noch immer, dreizehn Jahre danach, auf die Kriegsverletzung in Südafrika zurückgingen. Es gab Stunden, in denen er nicht fähig war, klar zu denken, dann wieder strömte der Geist in ihn, erfüllte ihn mit Zuversicht, zeigte ihm klar den Weg der Veränderung. Das Land würde sich verwandeln und mit ihm die Welt. Es gab kein Zögern, kein Zaudern. Um zum Ziel zu gelangen, mussten Opfer gebracht werden. Auch wenn die Umstände schwierig waren. Die blühende Jugend konnte das Land gestalten. Er hatte die richtigen Männer ausgesucht.

David King betrachtete den blühenden Kirschzweig in der Vase, den einer seiner Bediensteten von einem tatsächlich blühenden Baum aus dem geschützten Teil des Schlossgartens hereingebracht hatte.


Es ist ein Ros entsprungen,

Aus einer Wurzel zart.

Wie uns die Alten sungen,

Aus Jesse kam die Art

Und hat ein Blümlein bracht,

Mitten im kalten Winter,

Wohl zu der halben Nacht.


Es gab Augenblicke in seinem Leben, in denen David King an seiner auserwählten Abstammung zweifelte. Aus Jesse kam die Art. Er stammte, wie ihm sein Vater anvertraut hatte, von König David ab, dessen Blutlinie über König Salomon, Josef und Jesus bis zu ihm heraufführte.

Der Vater war überzeugt von dieser Verwandtschaft, symbolisiert durch den blühenden Kirschzweig in kalter Jahreszeit. Die Mutter sprach von einem Sinnbild, das man nicht zu wörtlich nehmen durfte, letztlich seien alle Menschen miteinander verwandt.

Nein, er durfte sich in dieser entscheidenden Phase nicht durch Zweifel schwächen lassen. Der Vater hatte recht! Die Kings waren etwas Besonderes, das die zugeheiratete Frau nicht verstehen konnte. Wie Jesus hatte David King keine Frau und keine Kinder. Seine Apostel waren die Soldaten, mit denen er das darbende Land in dunkler Zeit zur Blüte führen würde.


Er hatte dem Colonel viel zu verdanken, eigentlich alles, überlegte der Mann, den der Colonel Private Samma nannte. Erst der Colonel hatte aus ihm einen Mann gemacht. Aus einem verzärtelten Jungen, der viel mehr von seiner Mutter hatte als von seinem tüchtigen Vater. Ein kleines Mädchen in der Gestalt eines Jungen. Nun deckte sich sein Aussehen mit seinem innersten Wesen, bis auf die Träume. Ein Grund, warum er ungern schlief. In den Träumen lebte das Verweichlichte in ihm weiter, so sehr er auch dagegen ankämpfte.

Aber auch das würde er schaffen, eines Tages, gemeinsam mit dem Colonel und den Kameraden.

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