VERNISSAGE

»Wer war es?«, fragte das Mädchen den Detektiv und wirkte dabei gar nicht glücklich. »Wer hat den Edelstein der Frau gestohlen?«

»Du wirst doch nicht selbst dahinter stecken, Christine? Als Kopf einer Diebesbande?«

»Nein, ich schwöre, ich war es nicht«, beteuerte das blonde Mädchen und hatte Tränen in den Augen.

»Gut. Ich schenke dir Glauben. Was lest ihr, meine Damen, das euch so traurig macht?«

»Ich habe ein sehr spannendes Buch«, begann Christine, wurde dann aber verlegen.

»Arsène Lupin, der Meister der Diebe. Verdächtig, verdächtig«, murmelte Holmes. »Aber ich habe schon gesagt, dass ich von deiner Unschuld überzeugt bin. Und ein wirklich erfahrener Detektiv ändert seine Meinung nur im äußersten Notfall. In welches Buch hast du dich vertieft, Alice?«

Das Mädchen hielt einen Finger in das Büchlein, damit es nicht zuklappte, dann drehte sie es um, damit der Detektiv den Titel lesen konnte. A. E. Leary, Der stille Junge.

»Und was ist so traurig an dieser Geschichte, dass es dich zum Weinen bringt, Alice?« »Das Buch erinnert uns an Peter«, sagte Christine. »Peter. Ein Junge, den ihr beide gern habt.« Alice nickte heftig. »Peter Farland. Wir lernten ihn vor drei Jahren kennen. Er war schon fast erwachsen. Und so schön. Er hatte langes blondes Haar«, erzählte Christine. Dicke Tränen rollten aus Alices dunklen Augen. »Er kam bei dem Unglück ums Leben«, stellte Holmes fest. Beide Mädchen nickten und Alice barg ihr Gesicht in beiden Händen.

»Das ist eine wirklich traurige Geschichte, die auch mich fast zum Weinen bringt«, sagte Sherlock Holmes. »Was für eine schreckliche Katastrophe!«

»Wir haben seine Granny gesehen, aber …«

»Ihr habt noch nicht mit Mrs. Farland gesprochen?«

»Nein«, antwortete Christine. »Alice kann nicht mit ihr reden und ich habe es noch nicht gewagt. Sie ist so stolz, so abweisend. Schon bei der ersten Fahrt. Ihr Mann war viel freundlicher. Wir hatten viel Spaß mit ihm und Peter.«

»Seid ihr einverstanden, wenn ich euch zu einem Gespräch mit Mrs. Farland begleite?«

Christine zögerte, aber Alice nickte mehrmals und faltete bittend ihre Hände.

»Ich bringe euch zu ihr.« Holmes erhob sich. Alice eilte ihm nach, Christine folgte den beiden etwas zögernd.

Holmes klopfte an die Tür zu Hilda Farlands Kabine. »Zwei Damen würden gerne mit Ihnen reden, Mrs. Farland. Sie haben Ihren Enkel Peter gekannt und ihn sehr gemocht.«

Die schlanke Frau öffnete und in einer heftigen Bewegung hob sie beide Hände und hielt sie abwehrend gegen den Detektiv.

»Nein, bitte nicht«, flüsterte sie.

»Ich werde mich in dieses Gespräch unter Frauen nicht einmischen«, meinte Holmes, »und mich diskret zurückziehen.«

»Kommt herein, Mädchen«, sagte Mrs. Farland schließlich. »Wir können reden.«

Der Detektiv kehrte in die Bibliothek zurück, wo er sich an den Platz setzte, den die Kinder verlassen hatten. Er nahm das geöffnete Buch, das die Abenteuer des stillen Jungen erzählte, und begann zu lesen.


Sollte er oder sollte er nicht?

Peter, der Junge mit den langen blonden Haaren, stand wieder vor der uralten Eiche im Garten des mächtigen Mannes, in dem die Kinder so glücklich lebten. Sollte er sich dem verbotenen Baum, den ein böser Geist bewohnte, wie es in den Büchern hieß, nähern, oder sollte er das Verbot beachten und den Baum meiden?

Dieses Mal entschloss sich Peter – er war ein tapferer Junge, der vor nichts und niemandem Angst hatte –, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Was sollte schon passieren?

Er ging auf den alten Baum zu, hörte das leise Rauschen seiner spärlich gewordenen Blätter, berührte die raue Rinde des mächtigen Stammes.

Der Baum schien zu atmen, zu leben. Er schien gut zu sein.

Eine Öffnung, die in das Innere der Eiche führte, lud geradezu ein, hineinzuklettern.

Auch in der Höhle fühlte sich Peter wohl. Es war angenehm warm.

»Wer bist du? Was machst du hier?«, fragte eine tiefe Stimme.

Peter erschrak. Er dachte, die Eiche spreche zu ihm. Als er aber nach oben blickte, erkannte er die leuchtenden Augen eines Vogels. Sie gehörten zu einer Eule.

»Ich bin Peter. Ich gehöre zu den Kindern, die im Garten des mächtigen, weisen und gütigen Mannes wohnen.«

»Weise und gütig«, wiederholte der weiße Vogel mit verächtlichem Ton in der Stimme. »Das redet man euch ein. Willst du die Wahrheit wissen?«

Als Peter schwieg, wiederholte die Eule ihre Frage.

»Welche Wahrheit?«, fragte er schließlich etwas zaghaft.

»Die Wahrheit über den Alten.«

»Natürlich«, antwortete Peter.

»Ich bin so alt wie er, oder sogar älter. Ich kenne ihn von Anfang an. Und ich kann bestätigen, dass er sehr gescheit ist und auch mächtig. Er hat den Garten tatsächlich so geschaffen, wie er ist, mit Ausnahme dieses Baumes. Der ist älter als wir alle. Ja, der Mann ist mächtig, aber er ist nicht gütig und nicht weise. Er kann brutal sein, grob, und er hat schon getötet.«

»Was sagst du da?«

»Er hat im Zorn getötet.«

»Wen hat er getötet?«

»Das tut nichts zur Sache.«

»Aber …«

»Du hättest nicht hierher kommen sollen, wenn du die Wahrheit nicht erträgst.« »Aber …« Als die Eule schwieg, kletterte der Junge traurig aus dem Baum.

Auf dem Weg zu den anderen Kindern erkannte Peter mit einem Mal, dass die Eule recht hatte. Zum ersten Mal sah er tote Käfer, auch ein Reh lag reglos neben dem Bach. Und er erinnerte sich, dass immer wieder Kinder verschwunden und nie mehr zurückgekommen waren.

»Was ist los mit dir? Du schaust so traurig«, begrüßten ihn die Gefährten.

Der blonde Junge schwieg. Er spielte weiter mit ihnen, aber redete nicht mehr. Er wollte die anderen Kinder nicht beunruhigen.

Diese gewöhnten sich bald an das neue Verhalten ihres Freundes und nannten ihn den stillen Jungen.


Holmes hatte sich in den Zeilen dieses Buches verloren, als ihn die Stimme von Watson in die Gegenwart der Schiffsbibliothek zurückholte.

»Hier sind Sie, Holmes!«, sagte der Doktor mit einer für die Schiffsbibliothek beachtlichen Lautstärke. Als er die Bibliothekarin sah, die wieder ihren Platz eingenommen hatte, senkte er jedoch seine Stimme zu einem Flüstern und entschuldigte sich für die Störung.

»Sie dürfen alles, Dr. Watson«, beruhigte ihn die Bibliothekarin. »Ihr Freund Sherlock Holmes stellte mir in Aussicht, dass Sie auf der Rückreise einen literarisch-kriminalistischen Abend gestalten werden. Das heißt, dass Sie aus Ihren Romanen lesen und Sherlock Holmes einige Anmerkungen dazu abgeben würde.«

»So, also das überrascht mich wirklich. Mr. Holmes ist sonst nicht sehr angetan, im Zusammenhang mit meinen Romanen in Erscheinung zu treten. Obwohl dies natürlich die Verkaufszahlen heben würde.«

»Ich denke, die Bücher verkaufen sich auch so nicht schlecht«, unterbrach ihn Holmes. »Aber ich finde, im Falle von Miss Ronstead, der Hüterin der Ruhe und des geschriebenen Wortes auf diesem Luxusliner, ist eine Ausnahme durchaus angebracht. Darf ich nach Ihrem Vornamen fragen, Miss Ronstead?«

»Joyce. Joyce Alexandra Ronstead«, hauchte die Bibliothekarin.

»Wir sehen uns, Miss Joyce«, verabschiedete sich Holmes, der Watson auf den Gang folgte.

»Ich wollte Sie zur Vernissage abholen, nicht ahnend, dass ich Ihre delikaten Avancen störe«, erklärte Watson.

»Alles für die Lösung des Falles. Wie immer«, schmunzelte Holmes.

»Bis auf einige Ausnahmen.«

»Bis auf eine einzige Ausnahme. An die ich hier und heute nicht erinnert werden will. Sie haben den Fall Irene Adler weiß Gott in Ihren Romanen genug breitgetreten.«

»Da haben wir es wieder! Und nun wollten Sie den gegenwärtigen Fall, wohl einen der spektakulärsten Ihrer Karriere, von einem Journalisten dokumentieren lassen.«

»Hüten Sie Ihre Zunge, Watson, sonst lasse ich Sie festnehmen wegen Verdachts des Mordes an dem armen Mann. Mord aus schnöder literarischer Eifersucht.«

»Ja, wenn wir es beide nicht besser wüssten, bestünde die Gefahr einer solchen Verdächtigung. Ach, die Vernissage hat schon begonnen.«

»Wir versäumen nichts. Mrs. Oldman-Smythe ist mitten in ihrer Ansprache. Der Champagner ist noch in den Flaschen«, beruhigte Holmes seinen Begleiter, als sie die Empfangshalle betraten, an deren Wänden Bilder der Malerin hingen.

Eine kleine Gruppe von etwa dreißig Passagieren, angeführt von Kapitän Hayes, saß vor der Künstlerin, die in Beschreibungen der wilden Schönheit des Meeres schwelgte, während einige der anwesenden Damen und Herren schon sehnsüchtig auf die Lachs- und Kaviarbrötchen lugten, die sich gefällig zur Linken von Mrs. Oldman-Smythe türmten. Die Gläser und die Champagnerflaschen standen rechts von ihr.

»Das Meer, jene riesige Wasserfläche, die über zwei Drittel unseres Erdballs einnimmt, besitzt Sanftheit und Gewalt. Es gibt Leben, es tötet, es heilt und verstümmelt. Es ist Mutter, Vater, Gott und Teufel, Mann und Frau zugleich, wie alles Leben. In ewiger leidenschaftlicher Verbindung mit dem Wind und der Sonne wechselt es sein Aussehen von Minute zu Minute. Mal zeigt es sich unbewegt, unergründlich, dann wieder spielerisch. Ich habe in meinem Testament festgelegt, dass ich nach meinem irdischen Hinscheiden für immer mit diesem Element verbunden sein will. Ich habe verfügt, dass meine Asche ins Meer …«

»Ihre Bilder sind gar nicht so schlecht wie das, was sie darüber sagt«, flüsterte Holmes dem Doktor zu.

»Das ist bei Vernissagen leider so üblich«, meldete sich Bruce Ismay ebenfalls leise zu Wort. »Die Bilder sind wirklich gut. Die roten Punkte an den Rahmen zeigen, welche Gemälde schon verkauft sind.«

»Vier«, flüsterte Holmes. »Beachtlich. Und das schon vor Beginn der Ausstellung. Da wird sie sich bald eine neue Kette kaufen können.«

»… darauf hinweisen, dass sämtliche meiner Bilder zu erwerben sind, außer denen, die schon Interessenten gefunden haben. Ich möchte meine Schöpfungen, die wie Kinder für mich sind, jedem einzelnen von Ihnen ans Herz legen. Die Preise sind nicht niedrig, aber Sie erwerben damit nicht nur eines meiner Gemälde, sondern auch mein spezielles Wohlwollen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«

Kapitän John Hayes las von einem kleinen Zettel eine fertige Rede über die Rolle der Kunst an sich ab. Sie klang, als ob er sie schon öfter gehalten habe.

»Es gibt da einen Ausspruch des französischen Schriftstellers Bruyère: Es ist ein Unglück, nicht genug Geist zu haben, um eine Rede zu halten und nicht genug, um zu schweigen. Ich hoffe, er ist als Kapitän etwas begabter«, brummte Holmes und ergriff ein Champagnerglas, das ihm ein Kellner reichte. Dann wandelte er mit den übrigen Gästen der Ausstellungseröffnung von Bild zu Bild und betrachtete wohlgefällig jene Aquarelle, die keine Gegenstände mehr zeigten, die nur aus Farbe und Stimmung bestanden.

Besonders lang verharrte der Detektiv vor einem Gemälde, das seiner Thematik wegen aus der Reihe der restlichen Bilder hervorstach. Es zeigte kein Wasser, keine Wolken und kein Schiff, sondern einen blühenden Kirschzweig.

Ein roter Punkt am Rahmen zeigte Holmes, dass das Bild bereits einen Abnehmer gefunden hatte.


Beim Abendessen attackierte Mrs. Farland erneut den Eigentümer der Schifffahrtslinie, Mr. Bruce Ismay. Dieser gab sich betroffen und schwieg, was den Zorn der Witwe deutlich abkühlte.

Sherlock Holmes erkundigte sich inzwischen bei John Hatter, dem Mann, der für die Royal-Maritime-Versicherung ein Netz von Funkkontakten errichtet hatte, wie weit der Schiffsfunk der Olympic reiche.

»Ich habe mich aus beruflichem Interesse für das Nachrichtensystem der Titanic interessiert. Sicherlich wurde dieses in den drei Jahren, die seither vergangen sind, weiterentwickelt«, beantwortete der Mann die Frage.

»Und wie sah dieses konkret aus?«, erkundigte sich Sherlock Holmes weiter.

»Die Titanic konnte über 350 bis 400 Seemeilen senden und empfangen. Bei besonders günstigen Bedingungen, besonders des Nachts, sogar bis zu 2.000 Meilen.«

»Das Problem bei der Titanic war«, schaltete sich Bruce Ismay in das Gespräch ein, froh darüber, auf ein anderes Thema zu kommen, »dass 1912 die Funktechnik erst in ihren Anfängen steckte und wir sie der Erzeugerfirma der Geräte, der Firma Marconi, überließen, die auch das Personal stellte. Das war einer der Gründe, warum die Kommunikation zwischen Funkstation und Kommandobrücke bei den Eiswarnungen nicht ideal funktionierte.«

»Die Namen der Funker von damals tauchen nicht in der Mannschaftsliste auf«, bemerkte Sherlock Holmes.

»Nein. Das überließen wir der Firma. Das ist, wie gesagt, heute anders. Wir haben auf der Olympic unsere eigenen Leute. Wenn Sie Interesse haben, organisiere ich eine Führung durch den sogenannten Bauch des Schiffes. Für mich ist das immer wieder ein gewaltiges Erlebnis.«

Holmes, Watson, Mrs. Vera Oldman-Smythe, John Hatter und Mr. Harrison, Alices Adoptivvater, meldeten sich zu dem Rundgang in Bereiche des Dampfers, die den Passagieren sonst nicht zugänglich waren. Auch Graham Hornby, der Juniorchef der Northern Steamships, Bruce Ismay und die Smith-Brüder schlossen sich an. Linda Hornby, die Tochter von J. P. Morgan, entschuldigte sich wegen heftiger Kopfschmerzen. Für eine Frau in den Flitterwochen wirkte die 22-Jährige wahrlich unglücklich.

»Der technische Bereich des Schiffes sowie die Laderäume nehmen die untersten drei Etagen ein. All dies ruht auf einem Doppelboden. Am gewaltigsten erscheinen die drei Vierzylinder-Kolben-Dampfmaschinen, deren Abdampf in eine Parsonsturbine geleitet wird, die über Schraubenwellen die drei Schiffsschrauben antreibt. Die Energie stammt von Heizkesseln, die mit Kohle befeuert werden.«

Hitze, Lärm, das Geschrei halbnackter, mit Kohlestaub und Öl bedeckter Männer empfingen die Besucher des Rundganges.

»Die Olympic«, erklärte der Kapitän weiter, »hat ein gewaltiges Kohlenlager für insgesamt 6.700 Tonnen. Wir verbrennen in 29 Kesseln mit 159 Feuerungen an die 640 Tonnen Kohle am Tag.«

»Die Männer haben komfortable Quartiere«, erklärte Bruce Ismay. »Wir haben zwei Mannschaften, die einander abwechseln, so dass genügend Zeit für Reinigung, Nahrungsaufnahme und Erholung bleibt.«

»Es erinnert mich von der Hitze und den Gerüchen her an Beschreibungen der Hölle. Eine faszinierende, aber Furcht erregende Welt«, sagte Mrs. Oldman-Smythe.

»Würde es Sie nicht reizen, die Unterwelt der Olympic zu malen?«, erkundigte sich Dr. Watson.

»Eine phantastische Idee, die durchaus etwas für sich hat«, kam die Antwort der Künstlerin.

Es folgten die Laderäume, der Postraum, die Kohlelager und Heizkessel, die Kolben-Dampfmaschinen, die Turbine, Provianträume mit Frischwassertanks, Schraubenwelle, Ersatzteillager, Propeller und Ruder am Heck des Dampfers. Die Gesamtlänge der Olympic vom Bug bis zum Heck betrug an die 886 Fuß.

»Alles was mit Navigation, aber auch mit Be- und Entladung zu tun hat, befindet sich in den obersten Etagen des Schiffes, von den Ladekränen über das Krähennest, die Kommandobrücke, den Funkraum bis hin zum Kompass«, bemerkte der Kapitän zum Abschluss des eineinhalbstündigen Rundgangs durch den Rumpf des Schiffes. »Vielleicht ergibt sich auf dieser Reise noch die Möglichkeit, Ihnen auch in diesen Teil des Schiffes Einblick zu geben.«

Als Holmes in seine Suite zurückkehrte, wurde er von einem Steward erwartet. Der Mann hatte es sich auf der Couch bequem gemacht. Auf dem Tisch stand ein leeres Whiskyglas.

»Der Bräutigam verbrachte die Nacht mit der Malerin«, teilte er Holmes mit.

»Sie meinen, Graham Hornby suchte die Kabine von Mrs. Oldman-Smythe auf.«

Der Steward nickte.


Der 13. Juni, ein Dienstagmorgen, machte einem Unglückstag alle Ehre. Mrs. Vera Oldman-Smythe war nicht zum Frühstück erschienen. Die Stewards fanden sie auch nicht in ihrer Kabine. Die Männer durchkämmten das Schiff systematisch von ganz oben nach unten, konnten aber außer der verlassenen Staffelei auf dem Promenadendeck mit einem unvollendeten Gemälde der nun immer stürmischer werdenden See keine Spur von Mrs. Oldman-Smythe entdecken.

»Frau über Bord«, hieß es daher. Die Malerin, die schon am frühen Morgen zu arbeiten begonnen hatte, musste in den Atlantik gestürzt und dort umgekommen sein.

Sherlock Holmes und Dr. Watson untersuchten die Stelle auf dem Promenadendeck, wo der Klappstuhl und das letzte Bild der Künstlerin standen.

»Der Seegang ist nicht schuld an Mrs. Oldman-Smythes Verschwinden«, stellte der Detektiv fest. »Staffelei und Stuhl stehen unverrückt nebeneinander. Ich vermute einen kräftigen Mann hinter dem Anschlag, einen Mann, der Mrs. Oldman-Smythe über die Reling katapultierte, was bei der etwas fülligen Dame durchaus einer beachtlichen sportlichen Leistung entspricht.«

»Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen, Holmes?«, fragte Watson.

»Doch. Sie fehlt mir in ihrer Aufgewühltheit und Unruhe. Eine Frau, die glaubte, das eigentliche Leben stünde noch bevor, eine rastlose Kämpferin für das eigene Wohlbefinden. Andererseits verkündete sie öffentlich ihren Wunsch, eines Tages ihre Asche in das Meer zu streuen, und dem kommt die Tatsache, dass sie über Bord ging, doch ziemlich nahe.«

»Was für ein Nachruf!«, kritisierte der Doktor indigniert.

»Wenn Sie sich selbst äußern wollen, Watson, dann tun Sie es. Ich lausche Ihren Worten mit Interesse.«

»Möge ihr Ende nicht allzu schrecklich gewesen sein. Möge Gott sie in sein Reich aufnehmen!«, sagte Watson.

»An Ihnen ist ein Pastor verloren gegangen«, brummte Holmes. »Und nun nehme ich mir die Kabine der Verschollenen vor.«

Der Detektiv untersuchte in Kabine 23-C jedes Detail aus dem Gepäck der Malerin, besonders ihre Schreibutensilien und Briefe, fand aber nichts Außergewöhnliches. Als der Kapitän ihm mitteilte, dass im Tresorraum des Schiffes eine Kassette aus dem Besitz von Mrs. Oldman-Smythe aufbewahrt wurde, bat Holmes, ihm diese zu überlassen. Der Detektiv benötigte über eine halbe Stunde, das Schloss des Stahlbehälters zu öffnen. Darin befanden sich Ringe, Ohrgehänge und Ketten von beträchtlichem Wert. Auf einem Briefumschlag standen die Worte: Zu öffnen im Falle meines Todes.

Holmes dachte an ein Testament und brach das Siegel. Im Kuvert steckte ein einziges Blatt Papier, auf das die Malerin die Worte einer Bibelstelle geschrieben hatte.

Dies sind die Namen der Helden Davids: Jasobeam, der Sohn Hachmonis, ein Vornehmster unter den Rittern; er hob seinen Spieß auf und schlug achthundert auf einmal. Nach ihm war Eleasar, der Sohn Dodos, des Sohnes Ahohis, unter den drei Helden mit David. Nach ihm war Samma, der Sohn Ages des Harariters.

»Ein interessanter Hinweis«, fand der Detektiv, dann wandte er sich mit einer Bitte an den Kapitän. »Damit auf der weiteren Reise auf diesem Schiff nicht noch mehr tragische Ereignisse eintreten, muss ich ein Gespräch mit Mr. Ismay führen. Könnten Sie ihn bitte zu mir schicken lassen?«

Sherlock Holmes bat Bruce Ismay dringend, seine Suite aufzugeben und in die Kabine des Detektivs zu ziehen. Ohne Aufsehen und ohne, dass sonst jemand davon erfuhr.

»Und Sie verlassen den Raum nur in meiner Begleitung.«

»Warum diese Vorsichtsmaßnahme, Mr. Holmes? Ich fühle mich nicht gefährdet. Außer der unglücklichen Frau, die ihren Mann und ihren Enkel verlor, hat kein Passagier mich in irgendeiner Weise beschimpft. Und ich glaube nicht, dass Mrs. Farland zu einer Gewalttat fähig ist.«

»Es ist Ihre Entscheidung, Mr. Ismay. Ich habe Gründe, Ihnen diesen Vorschlag zu machen«, sagte Holmes ruhig.

»Dann werde ich selbstverständlich Ihrem Wunsch nachkommen.«


Beim dritten Abendessen der Erinnerungsfahrt gedachte die Tischgesellschaft des zweiten Menschen, der ihnen auf dieser Fahrt abhanden gekommen war. Dennoch nahm der Abend rasch den üblichen Verlauf. Man genoss ein erlesenes Mahl, begleitet von den Weisen der Bordkapelle.

Und Mrs. Farland startete einen ihrer schon zur Gewohnheit gewordenen Angriffe auf Bruce Ismay. »Was Sie an Unglück über so viele Menschen gebracht haben, durch Ihre Gier. Am liebsten würde ich Sie ohrfeigen!«, zischte sie diesem beim Abendessen zu.

»Darf ich Sie, Mrs. Farland, und Sie, Mr. Ismay, zu einem Gespräch in meinem Beisein in den Rauchsalon bitten?«, unterbrach Mr. Holmes die Tiraden der Frau. »Nach dem Abendmahl. Ich denke, es gibt viel zu sagen, und ich werde darauf achten, dass keiner die Grenzen des anderen überschreitet. Ich für meinen Teil – und wenn Sie damit einverstanden sind, dass mich Doktor Watson begleitet – erhoffe mir von der Aussprache einen Eindruck von der Gewalt des Unglücks, das die Titanic traf. Etwas, das auch meine Vorstellungskraft übersteigt.«

»Ich bin dazu bereit«, sagte Bruce Ismay. »Es ist mir ein Bedürfnis, endlich meine Sicht der Ereignisse darstellen zu können. Ich möchte jedoch zwei weitere Gesprächsteilnehmer einbinden, die Brüder des Kapitäns der Titanic, Reginald und Bertram Smith.«

»Von meiner Seite besteht kein Einwand dagegen«, meinte Holmes. »Ich begrüße es, die beiden Herren näher kennenzulernen.«

»Ich werde kommen, auch wenn es mir schwerfällt, besonders nach der berührenden Begegnung mit den beiden Mädchen, die meinen Enkel noch in so lieber Erinnerung haben.«

Mrs. Farland brach in Tränen aus und Watson reichte ihr ein Taschentuch.

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