Das alte Mimoid

Ich saß am großen Fenster und schaute in den Ozean hinaus. Ich hatte nichts zu tun. Der Bericht, den wir in fünf Tagen ausgearbeitet hatten, war nun eine Bündelung von Wellen, die irgendwo jenseits des Sternbilds Orion durch den leeren Raum preschte. Hatte sie erst den aus Staub bestehenden Dunkelnebel erreicht, der sich über einen Bereich von acht Trillionen Kubikmeilen ausbreitet und jedes Signal und jeden Lichtstrahl verschluckt, so traf sie auf die erste aus einer Kette von Relaisstationen. Von dort sollte sie von Funkboje zu Funkboje in milliardenkilometerweiten Sprüngen die Krümmung eines riesigen Bogens entlangflitzen, bis die letzte Relaisstation — ein Metallblock voll dicht aneinandergepackter Präzisionsinstrumente und mit gelängter Schnauze, der Richtantenne — die Nachricht nochmals sammelte und weiter in den Raum schleuderte, der Erde entgegen. Dann, nach dem Verstreichen von Monaten, sollte ein ebensolches Energiebündel, hinter sich drein eine Furche von stoßbedingten Deformationen des Gravitationsfeldes der Galaxis ziehend, von der Erde abgeschossen die Front der kosmischen Wolke erreichen, hindurchschlüpfen, längs der Perlenschnur aus langsam dahintreibenden Bojen immer wieder verstärkt, und mit unverminderter Schnelligkeit den Zwillingssonnen der Solaris entgegenflitzen.

Der Ozean unter der hohen roten Sonne war schwärzer als jemals. Rostfarbener Nebel verschmolz seine Grenzlinien mit dem Himmel, dieser Tag war ausnehmend schwül, so, als verhieße er eines jener ungemein seltenen und unvorstellbar heftigen Gewitter, die einige Male im Jahr den Planeten heimsuchen. Es bestehen Grundlagen zu der Annahme, sein einziger Bewohner kontrolliere das Klima und führe diese Gewitter selbst herbei.

Noch einige Monate lang sollte ich aus diesen Fenstern schauen, aus der Höhe die Spiele von weißem Gold und ermatteter Röte beobachten, die sich ab und zu in irgendeiner flüssigen Eruption, in der silbrigen Blase einer Symmetriade spiegelten, die Wanderschaft der schlanken, gegen den Wind geneigten Schneller beobachten, halbverwitterte, abbröckelnde Mimoide antreffen. Eines Tages sollten alle Visofonschirme von Licht zu schwirren anfangen, das ganze seit langem tote elektronische Signalsystem sollte aufleben, in Betrieb gesetzt durch einen Impuls, der aus einer Entfernung von Hunderttausenden Kilometern ausgesendet wurde, und das Nahen eines Metallkolosses ankündigen, der sich mit langgezogenem Donnern der Gravitoren über den Ozean herabsenken sollte: der Ulysses oder der Prometheus oder ein anderer der großen Fernkreuzer. War ich erst vom Flachdach der Station aus über das Fallreep hinaufgestiegen, so bekam ich auf den Decks die Reihen weiß gepanzerter, massiver Automaten zu Gesicht, die mit dem Menschen die Erbsünde nicht teilen und so unschuldig sind, daß sie jeden Befehl ausführen — bis zur völligen Zerstörung ihrer selbst oder eines Hindernisses, das sich ihnen in den Weg stellt — sofern ihr in den Kristallen oszillierendes Gedächtnis so programmiert worden ist. Dann aber sollte sich das Raumschiff in Bewegung setzen, geräuschlos, schneller als die Stimme, und hinter sich einen bis an den Ozean reichenden Kegel in Baßoktaven zerbrochenen Donnems zurücklassen, und die Gesichter aller Menschen sollte einen Augenblick lang der Gedanke aufhellen, daß sie heimkehrten.

Aber ich war nirgends daheim. Die Erde? Ich dachte an ihre großen, vollgestopften, tosenden Städte, worin ich untergehen sollte, mich verlieren, fast als hätte ich getan, was ich in der zweiten oder dritten Nacht zuvor hatte tun wollen, mich in den Ozean gestürzt, der schwer in der Finsternis gewogt hatte. — Im Menschengewimmel werde ich ertrinken. Ich werde ein schweigsamer und aufmerksamer und deshalb geschätzter Gefährte sein, ich werde viele Bekannte haben, sogar Freunde, und viele Frauen, und vielleicht sogar eine. Gewisse Zeit hindurch werde ich mich zwingen müssen, zu lächeln, mich zu verbeugen, aufzustehen, die Tausende von kleinen Tätigkeiten auszuführen, aus denen sich das irdische Leben zusammensetzt, endlich werde ich aufhören, sie zu spüren. Ich werde neue Interessengebiete finden, neue Beschäftigungen, aber ich werde mich ihnen nicht zur Gänze hingeben. An nichts und an niemanden, nie wieder. Und vielleicht werde ich in der Nacht dort hinauf schauen, wo am Himmel die Finsternis der Dunkelwolke wie ein schwarzer Vorhang den Glanz zweier Sonnen aufhält, und ich werde mich an alles erinnern, auch an das, was ich jetzt denke, und mit nachsichtigem Lächeln, worin ein wenig Trauer, aber auch Überlegenheit liegen wird, werde ich meiner Rasereien und Hoffnungen gedenken. Mich, den aus der Zukunft, halte ich durchaus nicht für etwas Schlechteres als den Kelvin, der bereit war, alles zu tun um eines Ziels willen, das «Kontakt» hieß. Und niemand wird das Recht haben, über mich abzuurteilen.

Snaut kam in die Kabine. Er blickte um sich, dann sah er mich an, ich stand auf und ging zum Tisch.

— Wolltest du etwas?

— Du scheinst nichts zu tun zu haben…? — fragte Snaut blinzelnd. — Ich könnte dir etwas geben, weißt du, da sind gewisse Berechnungen, zwar nicht allzu dringend.

— Ich danke dir — ich lächelte — aber das ist unnötig.

— Bist du sicher? — fragte er und schaute aufs Fenster.

— Ja. Ich habe über Verschiedenes nachgedacht, und

— Mir wäre lieber, du würdest nicht so viel denken.

— Ach, da weißt du überhaupt nicht, worum es sich handelt. Sag einmal… glaubst du an einen Gott?

Er warf einen raschen Blick auf mich.

— Was sagst du da? Wer glaubt heutzutage noch… Unruhe glomm ihm in den Augen.

— So einfach ist das nicht — sagte ich in gewollt leichtem Ton. Es geht mir nämlich nicht um den traditionellen Gott irdischer Glaubensvorstellungen. Ich bin kein Religionskundler und habe vielleicht nichts Neues erdacht, aber weißt du nicht zufällig, ob es jemals so einen Glauben gegeben hat… an einen gebrechenbehafteten Gott?

— Gebrechenbehaftet? — wiederholte er und zog die Brauen hoch. — Wie meinst du das? In gewissem Sinne war der Gott jeder Religion mit Gebrechen behaftet, weil mit menschlichen Merkmalen belastet, die nur vergrößert waren. Der Gott des Alten Testaments war zum Beispiel gierig nach Unterwürfigkeit, gewalttätig zu den Opfern, eifersüchtig auf andere Götter… die griechischen Götter mit ihrer Zanksucht, ihren Familienzwistigkeiten, waren nicht weniger nach Menschenart mit Gebrechen behaftet…

— Nein — unterbrach ich ihn. — Mir geht es um einen Gott, dessen Unvollkommenheit nicht aus der Schlichtheit seiner menschlichen Schöpfer folgt, sondern seinen wesentlichsten innewohnenden Zug darstellt. Das soll ein Gott sein, der begrenzt ist in seiner Allwissenheit und Allmacht, fehlbar beim Voraussehen der Zukunft seiner Werke, einer, den der Verlauf der von ihm geformten Phänomene in Entsetzen versetzen kann. Das ist ein… krüppelhafter Gott, der immer mehr begehrt, als er kann, und sich das nicht sofort klarmacht. Einer, der die Uhren konstruiert hat, aber nicht die Zeit, die sie abmessen. Naturgefüge oder Mechanismen, die bestimmten Zielen dienen; aber sie wuchsen über diese Ziele hinaus und verrieten sie. Und er hat die Unendlichkeit erschaffen, die von dem Maß seiner Macht, das sie hätte sein sollen, zum Maß seines grenzenlosen Versagens geworden ist.

— Einstmals, der Manichäismus — begann Snaut unschlüssig.

Die argwöhnische Zurückhaltung, die er mir in letzter Zeit entgegengebracht hatte, war verschwunden.

— Das hat doch nichts mit dem Element von Gut und Böse zu tun — unterbrach ich ihn sofort. — Dieser Gott besteht nicht, außer in der Materie, und kann sich von ihr nicht befreien, er will das, und sonst nichts…

— Eine derartige Religion kenne ich nicht — sagte er nach kurzem Schweigen. — So eine war nie… nötig. Wenn ich dich recht verstehe, und ich fürchte, das tue ich, dann denkst du an einen evolvierenden Gott, der sich zeitlich entwickelt und heranreift, sich auf immer höhere Stufen der Macht erhebt, bis zum Bewußtsein ihrer Kraftlosigkeit? Dein Gott da, das ist ein Wesen, das in die Göttlichkeit eintrat wie in eine ausweglose Lage, und als es das begriff, überließ es sich der Verzweiflung. Ja, aber der verzweifelnde Gott, das ist ja der Mensch, mein Bester? Um den Menschen geht es dir… Das ist nicht bloß gestümperte Philosophie, das ist sogar gestümperte Mystik.

— Nein — antwortete ich starrsinnig — es geht mir nicht um den Menschen. Möglich, daß er in bestimmten Zügen dieser vorläufigen Definition entspräche, aber dann nur, weil sie voller Lücken ist. Dem Schein zum Trotz schafft der Mensch sich die Ziele nicht selbst. Die Zeit, in die er hineingeboren wird, zwängt sie ihm auf, er kann ihnen dienen oder sich gegen sie auflehnen, aber der Gegenstand der Dienstbarkeit oder Auflehnung ist von außen gegeben. Um in der Suche nach Zielen volle Freiheit zu erfahren, müßte der Mensch allein sein, und daraus kann nichts werden, denn ein Mensch, der nicht unter Menschen groß wird, kann nicht zum Menschen werden. Meiner… das muß ein Wesen sein, das keine Mehrzahl hat, weißt du?

— Ah — sagte er — daß ich nicht gleich…

Und deutete mit der Hand zum Fenster hinaus.

— Nein — widersprach ich — auch er nicht… Höchstens als das, was in seiner Entwicklung die Chance der Göttlichkeit versäumt hat, weil es sich zu früh in sich verkapselte. Er ist eher der Anachoret, der Einsiedler des Kosmos, nicht sein Gott… Er wiederholt sich, Snaut; der, an den ich denke, täte das niemals. Vielleicht entsteht er eben irgendwo im Winkelwerk der Galaxis und wird bald in Anwandlungen jugendlicher Trunkenheit anfangen, die einen Sterne zu löschen, andere anzuzünden, und wir bemerken das dann nach einiger Zeit…

— Haben wir schon bemerkt — sagte Snaut säuerlich. — Die Novae und Supernovae… sind das deiner Ansicht nach die Kerzchen seines Altars?

— Wenn du das so wörtlich nehmen willst, was ich sage…

— Und vielleicht ist eben die Solaris die Wiege deines göttlichen Säuglings — knüpfte Snaut an. Ein immer deutlicheres Lächeln umrahmte seine Augen mit feinen Falten. -Vielleicht ist gerade er nach deinem Dafürhalten die Urform, der Keim des Gottes der Verzweiflung, vielleicht übertrifft seine vitale Kindlichkeit noch berghoch seine Intelligenz, und das alles, was unsere solaristischen Bibliotheken enthalten, das ist bloß ein großer Katalog seiner Säuglingsreflexe…

— Wir aber waren eine Zeitlang sein Spielzeug — endigte ich. Ja, das ist möglich. Und weißt du, was dir da geglückt ist? Eine völlig neue Hypothese zum Thema Solaris zu schaffen, und so etwas passiert wahrlich nicht alle Tage! Und du hast sofort die Erklärung für die Unmöglichkeit des Kontaktknüpfens, für das Ausbleiben der Antwort, für gewisse — nennen wir es so — Extravaganzen im Umgang mit uns; die Psyche eines kleinen Kindes…

— Ich verzichte auf die Urheberschaft — murmelte er und blieb beim Fenster stehen. Wir schauten längere Zeit auf den schwarzen Wellenschlag. Am östlichen Horizont zeichnete sich im Nebel ein blasser langgestreckter Fleck ab.

— Wie kommst du auf diese Konzeption des gebrechenbehafteten Gottes? — fragte Snaut plötzlich, ohne den Blick von der glanzüberfluteten Wüste zu wenden.

— Ich weiß nicht. Sie erschien mir sehr… sehr wahr, weißt du? Das ist der einzige Gott, an den ich zu glauben geneigt wäre, einer, dessen Qual keine Sühne darstellt, nichts erlöst, zu nichts dient, nur da ist.

— Ein Mimoid… — sagte Snaut ganz leise mit anderer Stimme.

— Was hast du gesagt? Ja richtig. Ich habe es schon vorhin bemerkt. Sehr alt ist es. Wir schauten beide auf den rostrot verhangenen Horizont.

— Ich fliege — bekundete ich unvermutet. — Um so mehr, als ich die Station noch nie verlassen habe; das hier ist eine gute Gelegenheit. Ich bin in einer halben Stunde zurück…

— Was sagst du? — Snaut riß die Augen auf. — Du fliegst? Wohin?

— Dorthin — ich wies auf den fleischfarbenen Fleck, der im Nebel flirrte. — Was schadet das? Ich nehme den kleinen Hubschrauber. Es wäre lächerlich, weißt du, wenn ich einmal — auf der Erde — zugeben müßte, ich sei ein Solarist, der nie auch nur den Fuß auf solarischen Boden gesetzt habe…

Ich ging zum Schrank und begann bei den Overalls herumzuräumen. Snaut beobachtete mich schweigend, endlich sagte er:

— Das gefällt mir nicht.

— Was? — ich wandte mich um, einen Schutzanzug in den Händen. Erregung überkam mich, wie ich sie seit langem nicht erlebt hatte. — Was meinst du? Karten auf den Tisch! Du fürchtest, ich könnte… Unsinn! Mein Wort darauf, nein. Nicht einmal daran gedacht habe ich. Nein, wirklich nicht.

— Ich fliege mit dir.

— Ich danke dir, aber allein ist es mir lieber. Das ist ja doch etwas Neues, etwas ganz Neues — sagte ich schnell und streifte dabei den Schutzanzug über. Snaut sagte noch etwas, aber ich hörte ihm nicht recht zu, ich suchte die Sachen, die ich brauchte.

Er ging hinter mir drein auf den Flughafen, half mir, die Maschine aus der Box in die Mitte der Startplattform zu rollen. Als ich den Raumanzug anlegte, fragte Snaut plötzlich:

— Hat dein Wort für dich noch irgendwelchen Wert?

— Du lieber Gott, Snaut, reitest du immer noch darauf herum? Ja, hat es. Und ich habe es dir schon gegeben. Wo sind die Reserveflaschen?

Er sagte nichts mehr. Als ich die durchsichtige Kuppel geschlossen hatte, gab ich ihm einen Wink. Snaut setzte den Aufzug in Betrieb, ich fuhr langsam auf die Außenfläche der Station hinauf. Der Motor regte sich, sauste gedehnt, die drei Rotoren begannen zu wirbeln, und seltsam leicht hob sich der Apparat und ließ unter sich den immer kleineren, silbrigen Diskus der Station zurück.

Ich war zum ersten Mal allein über dem Ozean; der Eindruck war völlig anders als das, was man von den Fenstern aus erlebte. Vielleicht bewirkte dies auch der Tiefflug; ich glitt kaum ein paar Dutzend Meter über den Wellen dahin. Jetzt erst sah ich nicht bloß, sondern fühlte, daß die abwechselnden, fettig glänzenden Buckel und Schrunden des Abgrunds sich nicht wie die Meerflut oder wie eine Wolke bewegten, sondern wie ein Tier. Unausgesetzte, wenn auch ungemein langsame Anspannungen eines muskulösen nackten Rumpfes — so sah das aus; der Kamm jeder Welle wandte sich träge um und loderte im Rot des Schaums; als ich eine Kurve flog, um genau Kurs auf die ungemein langsam dahintreibende Mimoidinsel zu nehmen, schlug mir die Sonne direkt in die Augen, sprühte Blutblitze in den vorgewölbten Scheiben, während der Ozean selbst tintig bläulich wurde, mit Sprenkeln aus dunklem Feuer.

Der Kreis, den ich nicht geläufig genug beschrieb, trug mich weit nach der Luvseite ab, und das Mimoid blieb als breiter, heller, mit unregelmäßigem Umriß vom Ozean abstechender Fleck hinter mir zurück. Es hatte die rosige Farbe eingebüßt, die ihm der Nebel verliehen hatte; es war gelblich wie ein ausgetrockneter Knochen; für einen Moment entschwand es meinen Blicken; statt seinersah ich in der Ferne die Station scheinbar dicht über dem Ozean schweben, gleich einem riesigen, altvaterischen Luftschiff. Mit voll angespannter Aufmerksamkeit wiederholte ich das Manöver; das Mimoidmassiv mit seinem steilen, grotesken Relief wuchs gerade vor mir an. Es schien mir, ich könnte die höchsten seiner knolligen Vorsprünge streifen, und ich zog den Hubschrauber so plötzlich hoch, daß er an Geschwindigkeit verlor und ganz ins Schlingern kam; die Vorsicht war überflüssig, denn die abgerundeten Wipfel der absonderlichen Türme glitten tief unter mir vorbei. Ich glich den Flug der Maschine der treibenden Insel an und begann langsam, Meter für Meter, an Höhe zu verlieren, bis die brüchigen Wipfel die Kabine überragten. Das Mimoid war nicht groß. Von einem Ende zum anderen maß es vielleicht eine Dreiviertelmeile, und die Breite betrug kaum ein paar hundert Meter; an manchen Stellen wies es Einschnürungen auf, die anzeigten, daß es dort bald auseinanderbrechen sollte. Es bildete gewiß ein Absprengsei von einer unvergleichlich größeren Formation; solarischen Maßstäben nach war das ein kleiner Splitter, eine Scherbe, die weiß Gott wieviele Wochen und Monate alt war.

Ich entdeckte etwas wie eine Küste, die zwischen den faserigen Erhebungen dicht über dem Ozean abbrach, einige Dutzend Quadratmeter ziemlich abschüssiger, aber fast platter Fläche; dorthin lenkte ich die Maschine. Das Landen erwies sich als schwieriger, als ich gemeint hatte; um ein Haar wäre ich mit dem Rotor an eine Wand angestoßen, die vor meinen Augen emporwuchs, aber ich schaffte es. Ich stellte sofort den Motor ab und warf die Kuppel zurück. Auf dem Flügel stehend, überprüfte ich noch, ob der Helikopter nicht etwa Gefahr liefe, in den Ozean abzurutschen; die Wellen leckten die gezahnte Kante einige zehn Schritte weit von meinem Landeplatz, aber der Hubschrauber stand sicher auf den breit auseinandergespreizten Kufen. Ich sprang auf die…»Erde». Was ich vorhin für eine Wand gehalten hatte, an die ich fast angestoßen wäre, das war eine riesige, wie ein Sieb durchlöcherte, hautdünne knöcherne Platte, die hochkant aufgestellt war, durchwachsen von balustradenartigen Verdickungen. Ein mehrere Meter breiter Spalt schnitt sich schräg durch diese ganze mehrstöckige Fläche und öffnete ebenso, wie ihre großen, unregelmäßig verstreuten Löcher — den Blick in den Hintergrund. Ich kletterte auf die nächste, schiefe Gurtung der Wand, dabei stellte ich fest, daß die Schuhe des Raumanzugs ungemein gut angriffen, und daß der Raumanzug selbst bei den Bewegungen überhaupt nicht hinderlich war; als ich mich etwa vier Stockwerke über dem Ozean befand und mich dem Inneren der skelettigen Landschaft zuwandte, konnte ich sie erst richtig genau ins Auge fassen.

Erstaunlich war die Ähnlichkeit mit einer archaischen, halb in Schutt verwandelten Stadt, irgendeiner exotischen, jahrhundertealten marokkanischen Ansiedlung, die von einem Erdbeben oder einer anderen Katastrophe zerschmettert worden ist. Am deutlichsten sah ich gewundene, teilweise verschüttete und von Trümmern blockierte Straßenschluchten, die verschlungen und abschüssig zum Ufer hin zusammenliefen, das von pappigem Schaum umspült war; höher oben zeigten sich heilgebliebene Zinnen, Bollwerke, ihre rundlichen Unterbauten, und in den vorgebauchten und zurückgewölbten Wänden waren schwarze Öffnungen, die zerschmetterten Fenstern oder Festungsschießscharten ähnlich sahen. Mit schwerer Schlagseite, wie ein halb versenktes Schiff, glitt diese ganze Inselstadt in unsinniger, besinnungsloser Bewegung dahin und drehte sich dabei ganz langsam, wie das scheinbare Weiterrücken der Sonne am Firmament anzeigte; sie ließ die Schatten zwischen den Ruinenwinkeln träge voranschleichen, und manchmal schlüpfte ein Sonnenstrahl zwischen ihnen hervor und erreichte den Platz, an dem ich stand. Ich kletterte noch höher, schon mit beträchtlichem Risiko, bis aus den aufgebogenen und über meinem Kopf hängenden Auswüchsen Rinnsale von feinem Schutt zu rieseln begannen; im Fallen erfüllten sie die gewundenen Schluchten und Gäßchen mit großen Staubschwaden; natürlich ist ein Mimoid kein Fels, und seine Ähnlichkeit mit Kalkstein verschwindet, sobald man einen Splitter in die Hand nimmt; es ist weit leichter als Bimsstein, feinzellig und dadurch ungemein luftig.

Ich war schon so hoch oben, daß ich spürte, wie es sich bewegte. Es glitt nicht nur vorwärts, von den Stößen der schwarzen Ozeanmuskeln angetrieben, aus dem Unbekannten weiter ins Unbekannte, sondern es neigte sich auch überaus langsam einmal nach der einen, dann nach der anderen Seite; jede dieser pendelnden Abweichungen war von dem langgezogenen, klebrigen Geräusch der braunen und gelben Schaumwellen begleitet, die vom auftauchenden Rand abflössen. In diese wiegende Bewegung war das Mimoid vor sehr langer Zeit versetzt worden, wohl bei seiner Geburt, und es verblieb darin infolge seiner riesigen Masse; als ich von meinem luftigen Standort aus alles besehen hatte, was ich sehen konnte, stieg ich vorsichtig ab; und merkwürdig: nun erfaßte ich erst, daß meine Neugier überhaupt nicht dem Mimoid galt, daß ich nicht hergeflogen war, um dem Mimoid zu begegnen — nein, dem Ozean.

Ich setzte mich auf die rauhe, zersprungene Fläche, den Hubschrauber hatte ich einige zehn Schritte hinter mir. Eine schwarze Welle kroch schwerfällig am Ufer hoch, drückte sich platt und entfärbte sich zugleich; als sie zurückgewichen war, flössen an der Kante des Massivs zitternde Schleimfäden ab. Ich glitt noch tiefer und streckte die Hand der nächsten Welle entgegen. Da wiederholte sie getreu das Phänomen, das die Menschen vor fast einem Jahrhundert zum ersten Mal erlebt hatten: sie zauderte, wich zurück, umfloß meine Hand, doch ohne sie zu berühren, so daß zwischen der Oberfläche des Handschuhs und dem Inneren der Mulde, das sofort die Konsistenz vom Flüssigen ins nahezu Fleischige abänderte, eine feine Luftschicht verblieb. Nun hob ich den Arm, und die Welle, oder vielmehr ihr schmaler Ausläufer, folgte ihm in die Höhe, immer noch mit einer heller und heller durchscheinenden, schmutzig-grünlichen Abkapselung meine Hand umfangend. Ich stand auf, denn anders hätte ich den Arm nicht mehr höher heben können; die Brücke aus gallertiger Substanz spannte sich wie eine schwingende Saite, aber sie riß nicht; ihre Grundlage, die völlig plattgedrückte Welle, schmiegte sich wie ein seltsames, geduldig das Ende dieser Versuche abwartendes Geschöpf ans Ufer, rund um meine Füße (und gleichfalls, ohne sie zu berühren). Das sah aus, als wäre dem Ozean eine dehnbare Blume entsprossen, deren Kelch meine Finger umschlösse, als ihr genaues, obgleich nirgends anstoßendes Negativ. Ich wich zurück. Der Halm erbebte und kehrte nach unten zurück, gleichsam lustlos, elastisch, schwankend, unsicher, und die Welle stieg und sog ihn ein, dann verschwand sie hinter der Uferkante. Ich wiederholte dieses Spiel, bis wieder wie vor hundert Jahren irgendeine soundsovielte Welle teilnahmslos davonfloß, wie gesättigt von dem neuen Eindruck; und ich wußte, ich hätte einige Stunden lang warten müssen, ehe ihre «Neugier» erwacht wäre. Ich setzte mich, wie zuvor, aber selbst gleichsam verändert durch dieses aus der Theorie so wohlbekannte Phänomen, das ich ausgelöst hatte; die Theorie kann das reale Erlebnis nicht wiedergeben, sie bringt das nicht zuwege.

Durch das Knospen, Heranwachsen, Um-Sich-Greifen dieser Lebendbildung, durch jede ihrer Bewegungen einzeln und durch alle zusammen äußerte sich — ich bin versucht zu sagen, vorsichtige, aber nicht schreckhafte Naivität: wenn dieses Gebilde so hingegeben und schnell die neue, unvermutet angetroffene Form zu erkennen, zu erfassen suchte und auf halbem Wege zurückweichen mußte, sobald es die durch geheimnisvolles Gesetz festgelegten Grenzen zu überschreiten drohte. Welcher unaussprechliche Kontrast — zwischen dieser wendigen Neugier und dem Unmaß, das glanzerfüllt alle Horizonte erreichte! Noch nie hatte ich so seine riesenhafte Anwesenheit verspürt, sein starkes, unbedingtes Schweigen, das regelmäßig im Wellenschlag atmete. Vertieft, entgeistert, sank ich in unzugänglich erscheinende Bereiche der Unbeweglichkeit hinab, und in wachsender Intensität des Selbstvergessens verband ich mich mit diesem flüssigen, blinden Koloß, als hätte ich ihm ohne die mindeste Anstrengung, ohne Worte, ohne einen einzigen Gedanken alles verziehen.

Die ganze letzte Woche hindurch verhielt ich mich so vernünftig, daß das mißtrauische Glitzern in Snauts Augen endlich aufhörte, mir nachzustellen. Nach außen hin war ich ruhig; insgeheim, und ohne mir dies deutlich klarzumachen, erwartete ich etwas. Was? Ihre Rückkehr? Wie konnte ich? Jeder von uns weiß, daß er ein materielles, den Gesetzen der Physiologie und der Physik unterworfenes Wesen ist, und daß die Kraft aller unserer Gefühle zusammengenommen gegen diese Gesetze nicht ankämpfen kann; sie kann sie nur hassen. Der ewige Glaube der Verliebten und der Dichter an die Macht der Liebe, die dauerhafter sei als der Tod, jenes «finis vitae sed non amoris», das uns durch die Jahrhunderte verfolgt — das ist eine Lüge. Aber diese Lüge ist nur vergeblich, nicht lächerlich. Was sonst? Eine Uhr sein, die immer wieder zerschellend und von neuem zusammengesetzt den Zeitablauf mißt, und in deren Mechanismus, sobald der Konstrukteur das Räderwerk anstößt, mit der ersten Bewegung zugleich Verzweiflung und Liebe abzulaufen beginnen, mit dem Wissen, ein Repetierwerk zu sein für die Qual, die sich um so mehr vertieft, je komischer sie wird durch die Vielzahl der Wiederholungen? Das menschliche Dasein wiederholen, gut; aber so wiederholen, wie ein Säufer eine abgedroschene Melodie wiederholt, indem er immer neue Kupfermünzen in die Musikbox einwirft? Keinen Augenblick lang glaubte ich, daß diesen flüssigen Koloß, der vielen Hunderten Menschen in sich den Tod bereitet hatte und mit dem meine ganze Rasse seit Jahrzehnten vergeblich auch nur ein Fädchen der Verständigung anzuknüpfen suchte, ihn, der mich wie einen Staubsplitter unwissentlich mit sich forttrug — die Tragödie zweier Menschen rühren könnte. Aber sein Handeln richtete sich auf irgendein Ziel. Freilich, nicht einmal dessen war ich ganz sicher. Aber fortzugehen, das hieße, diese vielleicht winzige, vielleicht nur in der Vorstellung existierende Chance auszutilgen, die in der Zukunft verborgen war. Dann also Jahre zwischen Gerätschaften und Dingen, die wir gemeinsam berührt hatten, Jahre in der Luft, worin noch die Erinnerung an ihren Atem war? Um welcher Sache willen? Um der Hoffnung auf ihre Rückkehr willen? Hoffnung hatte ich nicht. Aber in mir lebte das letzte, was mir davon noch verblieben war: die Erwartung. Auf welche Erfüllungen, welchen Spott, welche Qualen war ich noch gefaßt? Ich wußte nichts, und so verharrte ich im unerschütterlichen Glauben, die Zeit der grausamen Wunder sei noch nicht um.

Zakopane, Juni 1959 — Juni 1960

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