Die «Kleine Apokryphe»

Im Gesicht und an den Händen hatte ich verbrannte Haut. Ich erinnerte mich, daß ich in der Hausapotheke einen Tiegel Brandsalbe bemerkt hatte, als ich das Schlafmittel für Harey gesucht hatte (jetzt hätte ich über meine Einfalt gelacht, wenn ich nur gekonnt hätte), ich ging also auf mein Zimmer. Ich öffnete die Tür, und im roten Licht des Sonnenuntergangs sah ich auf dem Lehnsessel, bei dem vorhin Harey gekniet hatte, jemanden sitzen. Der Schreck lähmte mich, ich zuckte in Panik zurück, um zu flüchten, das dauerte einen Bruchteil einer Sekunde. Der Sitzende hob den Kopf. Es war Snaut. Die Beine übereinandergeschlagen, mir den Rücken kehrend (und wieder in derselben von Reagenzien verätzten Leinenhose), sah er irgendwelche Papiere durch. Einen ganzen Stoß davon hatte er neben sich auf dem Tischlein liegen. Als er mich erblickte, legte er alles weg und betrachtete mich eine Weile finster über die zur Nasenspitze vorgerutschte Brille hinweg.

Ohne ein Wort ging ich zum Waschbecken, holte die halbflüssige Salbe aus der Hausapotheke und begann die am ärgsten verbrannten Stellen auf der Stirn und den Wangen damit einzuschmieren. Zum Glück war ich nicht sehr geschwollen, und die Augen waren unversehrt, da ich die Lider fest zugedrückt hatte. Einige größere Blasen auf Schläfe und Wange stach ich mit einer sterilen Injektionsnadel auf, dann quetschte ich die seröse Flüssigkeit heraus. Hierauf klebte ich mir zwei angefeuchtete Mullstücke ins Gesicht. Die ganze Zeit sah mir Snaut aufmerksam zu. Ich ignorierte das. Als ich endlich mit dem Verarzten fertig war (und das Gesicht immer heftiger brannte), setzte ich mich auf den zweiten Lehnsessel. Erst mußte ich Hareys Kleid von dort wegnehmen. Das war ein ganz gewöhnliches Kleid, bis auf diese Geschichte mit dem Verschluß, der nicht existierte.

Snaut, der die Hände um das spitze Knie flocht, verfolgte kritisch meine Bewegungen.

— Na, wie steht's, halten wir ein kleines Plauderstündchen? redete er mich an, sobald ich saß.

Ich hielt das Mullstück fest, das auf der Wange zu verrutschen begann, und antwortete nicht.

— Gäste gehabt, stimmt's?

— Ja — entgegnete ich trocken. Ich hatte nicht die mindeste Lust, mich Snauts Ton anzupassen.

— Und losgeworden? Schau, schau, du hast das ja gleich im Sturm angepackt!

Er berührte seine Stirn, von der sich noch immer die Haut abschälte. Rosige Flecken frischer Oberhaut erschienen. Ich starrte belämmert hin. Warum hatte mir bisher dieser sogenannte Sonnenbrand bei Snaut und Sartorius nicht zu denken gegeben? Die ganze Zeit hatte ich gedacht, das sei von der Sonne, — dabei sonnt sich doch niemand auf der Solaris…

— Aber angefangen hast du wohl bescheiden? — sagte Snaut, ohne auf diesen Lichtstrahl plötzlichen Begreifens zu achten, der mich durchblitzte. — Das und dies, narcotica, venena, Freistilringen, oder?

— Was willst du? Wir können auf gleichem Fuß miteinander reden. Wenn du den Hanswurst spielen willst, dann geh lieber.

— Manchmal ist man ein Hanswurst wider Willen — sagte Snaut. Er richtete die eingekniffenen Augen auf mich.

— Du wirst mir doch nicht einreden, daß du keinen Strick benützt hast, keinen Hammer? Und du hast nicht vielleicht zufällig ein Tintenfaß geschleudert, wie Luther? Nicht? Oho — er verzog den Mund — du bist ja ein ganz toller Bursche! Sogar das Waschbecken ist ganz, du hast überhaupt nicht den Schädel einzuschlagen versucht, nichts, das Zimmer hast du gar nicht demoliert, sondern sofort einfach zick, zack, einpacken, abschießen, und Punktum?

Er schaute auf seine Uhr.

— An die zwei oder vielleicht auch drei Stunden müßten wir in diesem Fall Zeit haben — sagte er abschließend. Er schaute mich an und schaute, mit einem unangenehmen Lächeln, schließlich begann er wieder:

— Also du willst sagen, du hältst mich für eine Sau?

— Für eine ausgemachte Sau — bestätigte ich mit Nachdruck.

— Ja? Aber würdest du mir glauben, wenn ich dir etwas sagen wollte? Würdest du mir wenigstens ein einziges Wörtchen glauben?

Ich schwieg.

— Gibarian hat das als erster durchgemacht — setzte er fort, immer mit diesem falschen Lächeln. — Er hat sich in seiner Kabine eingeschlossen und nur durch die Tür mit uns gesprochen. Und wir, kannst du dir denken, was wir dazu gesagt haben?

Ich wußte es, aber ich zog vor, zu schweigen.

— Klar. Wir haben ihn für verrückt erklärt. Er sagte uns so einiges durch die Tür, aber nicht alles. Du kannst dir vielleicht sogar denken, warum er verheimlicht hat, wer bei ihm war? Na, das weißt du doch schon: suum cuique. Aber er war ein echter Wissenschaftler. Er verlangte, wir sollten ihm eine Chance geben.

— Was für eine Chance?

— Na ja, ich nehme an, er versuchte das irgendwie einzuordnen, damit ins Reine zu kommen, das Problem zu lösen, er hat in der Nacht gearbeitet. Weißt du, was er gemacht hat? Sicher weißt du es!

— Diese Berechnungen — sagte ich. — In der Schublade. In der Funkstation. Das war er?

— Ja. Aber damals habe ich davon noch nichts gewußt.

— Wie lange hat das gedauert?

— Das Gastspiel? Vielleicht eine Woche. Gespräche durch die Tür. Und wie es drinnen zuging! Wir dachten, er habe Halluzinationen und sei motorisch erregt. Ich gab ihm Skopolamin.

— Wie?… Ihm!?

— Genau. Er hat es genommen, aber nicht für sich. Er hat experimentiert. Und so ging das dahin.

— Und ihr…?

— Wir? Am dritten Tag beschlossen wir, zu ihm vorzudringen. Wir wollten die Tür eindreschen, wenn es nicht anders ging, aus lauter Seelengüte wollten wir ihn heilen…

— Ach… Deshalb! — entfuhr es mir. -Ja.

— Und dort… in diesem Schrank…

— Ja, Freundchen. Ja. Er wußte nicht, daß auch uns inzwischen Gäste heimgesucht hatten. Und daß wir uns nicht mehr mit ihm beschäftigen konnten. Aber er hat das nicht gewußt. Jetzt… jetzt ist das schon eine gewisse… Routine.

Er sagte das so leise, daß ich das letzte Wort eher erriet als hörte.

— Wart einmal, ich verstehe das nicht — sagte ich. — Wieso, ihr müßt doch etwas gehört haben. Du sagst selbst, ihr habt gehorcht. Ihr müßt zwei Stimmen gehört haben, also…

— Nein. Nur seine Stimme, und selbst wenn es dort allerlei unverständliches Gezisch gab, verstehst du wohl, daß wir alles ihm zugeschrieben haben…

— Nur seine Stimme…? Aber… wieso?

— Weiß ich nicht. Ich habe zwar eine bestimmte Theorie zu diesem Thema. Aber ich denke, damit brauche ich mich nicht zu

beeilen, um so mehr, als sie zwar das eine oder andere erklärt, aber nichts hilft. Ja. Aber du mußt schon gestern etwas gesehen haben, sonst hättest du uns beide für verrückt gehalten.

— Ich dachte, ich selbst sei verrückt geworden.

— Ja, wirklich? Und du hast niemanden gesehen?

— Doch.

— Wen?!

Seine Grimasse war kein Lächeln mehr. Ich sah ihn lange an, bevor ich antwortete:

— Die… Schwarze…

Er sagte nichts, aber sein ganzer geduckter und vorgebeugter Körper lockerte sich fast unmerklich auf.

— Du hättest mich trotz allem warnen können — begann ich, schon nicht mehr so überzeugt.

— Ich habe dich doch gewarnt. -Ja, aber wie!

— Auf die einzig mögliche Art. Versteh doch, ich habe nicht gewußt, wer das sein wird. Das hat niemand gewußt, das kann niemand wissen…

— Hör zu, Snaut, ein paar Fragen. Du kennst das… seit einiger Zeit. Diese… dieses… was wird aus ihr?

— Du meinst, ob sie wiederkommt? — Ja.

— Sie kommt wieder, aber ohne wiederzukommen.

— Was heißt das?

— Sie kommt so wieder, wie am Anfang… des ersten Besuchs. Sie wird einfach von nichts wissen, oder, um genau zu sein, sie wird sich so verhalten, als wäre alles, was du getrieben hast, um sie loszuwerden, niemals dagewesen. Wenn du sie nicht durch die Verhältnisse dazu zwingst, wird sie nicht aggressiv sein.

— Durch was für Verhältnisse?

— Das hängt von den Umständen ab.

— Snaut!

— Was willst du denn?

— Den Luxus von Heimlichkeiten können wir uns nicht leisten!

— Das ist kein Luxus — unterbrach er mich trocken. — Kelvin, ich habe den Eindruck, daß du noch immer nicht verstehst… Oder, wart einmal!..

Ihm blitzten die Augen.

— Kannst du sagen, wer hier war?

Ich schluckte den Speichel hinunter. Senkte den Kopf. Ich wollte Snaut nicht ansehen. Ich hätte lieber mit einem anderen zu tun gehabt, nicht mit ihm. Aber ich hatte keine Wahl. Ein Mullfleck löste sich und fiel mir auf die Hand. Ich zuckte, als er glitschig auftraf.

— Die Frau, die ich…

Ich sprach den Satz nicht zu Ende.

— Sie ist in den Tod gegangen. Sie machte sich… sie spritzte sich… Snaut wartete.

— Sie hat Selbstmord begangen…? — fragte er, weil ich schwieg. -Ja.

— Das ist alles? Ich schwieg.

— Das kann nicht alles sein…

Ich hob rasch den Kopf. Snaut sah mich gar nicht an.

— Woher kannst du das wissen? Er antwortete nicht.

— Gut — sagte ich und leckte die Lippen. — Wir haben gestritten. Oder eigentlich nicht. Nur ich habe mit ihr so gesprochen, du weißt schon, wie man im Zorn oft daherredet. Ich habe meinen Kram gepackt und bin ausgezogen, sie hat mir etwas angedeutet, sie hat es nicht ausdrücklich gesagt, aber das ist auch unnötig, wenn du mit jemandem jahrelang zusammenlebst… Ich war sicher, daß sie nur so redete, daß sie sich fürchten würde, so etwas zu tun, und… auch das habe ich ihr gesagt. Am nächsten Tag fiel mir ein, daß ich im Schubfach diese… Spritzen… liegengelassen hatte; sie wußte etwas darüber, ich hatte das aus dem Laboratorium mit heimgenommen, ich brauchte das zu etwas, und ich hatte ihr damals gesagt, wie das wirkt. Ich erschrak und wollte das holen gehen, aber dann dachte ich, das könnte aussehen, als hätte ich ihre Worte ernstgenommen, und… ich ließ es dabei bewenden, aber am dritten Tag bin ich doch hingegangen, das ließ mir keine Ruhe. Schon… als ich hinkam, da war sie schon tot.

— Ach du unschuldiger Knabe…

Ich schnellte hoch. Aber als ich ihn ansah, begriff ich, daß er nicht spottete. Ich sah ihn gleichsam das erste Mal. Er war grau im Gesicht, unbeschreibliche Ermüdung zeigte sich in den tiefen Furchen der Wangen, er sah aus wie ein schwerkranker Mensch.

— Warum sagst du so etwas? — fragte ich seltsam eingeschüchtert.

— Darum, weil diese Geschichte tragisch ist. Nein, laß — ergänzte er rasch, weil ich mich rührte, — du verstehst noch immer nicht. Selbstverständlich, das kann dich schwer mitnehmen, du kannst dich sogar für einen Mörder halten, aber… das Ärgste ist es nicht.

— Was du nicht sagst! — sagte ich höhnisch.

— Ich freue mich, daß du mir nicht glaubst. Wirklich. Was geschehen ist, das kann furchtbar sein, aber am furchtbarsten ist das, was… nicht geschehen ist. Nie.

— Ich verstehe nicht… — sagte ich schwach. Ich verstand wirklich nichts. Er nickte.

— Ein normaler Mensch — sagte er. — Was ist das, ein normaler Mensch? Einer, der nie etwas Scheußliches getan hat? Ja, aber hat er nie daran gedacht? Oder er hat nicht einmal daran gedacht, es hat sich selbst gedacht, es ist ihm aufgestiegen, vor zehn oder dreißig Jahren, vielleicht hat er das verscheucht und vergessen und keine Angst davor gehabt, weil er ja wußte, daß er das niemals in die Tat umsetzen würde. Ja, aber jetzt stell dir vor, auf einmal, am hellichten Tag, mitten unter den Leuten, trifft er DAS, es ist Fleisch geworden, an ihn gekettet, unvemichtbar, was dann? Was hast du dann vor dir?

Ich schwieg.

— Die Station — sagte er leise. — Dann hast du die Station Solaris.

— Aber… was kann das letzten Endes schon sein? — sagte ich zögernd. — Du bist schließlich kein Verbrecher, und Sartorius auch nicht…

— Aber du, Kelvin, bist schließlich Psychologe! — unterbrach er mich ungeduldig. — Wer hat nicht irgendwann einmal so einen Traum gehabt? Ein aufsteigendes Bild? Denk dir… denk dir einen Fetischisten, und nun verliebt sich der, was weiß ich, in ein Stück dreckiger Unterwäsche, er wagt seine Haut, bis er sich durch Bitten und Drohen diesen innigstgeliebten, garstigen Lumpen erobert, das muß lustig sein, was? Wenn ersieh ekelt vor dem Objekt seiner Begierde, und zugleich verrückt danach ist, und bereit, das Leben dafür aufs Spiel zu setzen, vielleicht mit den Gefühlen eines Romeo für seine Julia… Solche Sachen kommen vor. Das stimmt, aber du verstehst wohl, daß es auch Sachen geben muß… Situationen… solche, daß sie niemand zu verwirklichen gewagt hat, außer in Gedanken, in einem einzigen Moment der Sinnesverwirrung, Erniedrigung, Raserei, nenne das, wie du willst. Und das Wort wird Fleisch. Das ist alles.

— Das ist… alles — sprach ich sinnlos nach, mit einer Stimme wie Holz. Mir dröhnte der Schädel. — Aber… aber die Station? Was hat die Station damit zu schaffen?

— Du verstellst dich wohl — murmelte er. Er sah mich prüfend an. — Ich rede doch andauernd von der Solaris, nur von der Solaris, von nichts anderem. Ich kann nichts dafür, wenn sich das so kraß von deinen Erwartungen unterscheidet. Im übrigen hast du schon genug erlebt, um mich wenigstens bis zu Ende anzuhören.

Wir brechen in den Kosmos auf, wir sind auf alles vorbereitet, das heißt, auf die Einsamkeit, auf den Kampf, auf Martyrium und Tod. Aus Bescheidenheit sprechen wir es nicht laut aus, aber wir denken uns manchmal, daß wir großartig sind. Indessen, indessen ist das nicht alles, und unsere Bereitschaft erweist sich als Theater. Wir wollen gar nicht den Kosmos erobern, wir wollen nur die Erde bis an seine Grenzen erweitern. Die einen Planeten haben voll Wüste zu sein, wie die Sahara, die anderen eisig wie der Pol oder tropisch wie der brasilianische Urwald. Wir sind humanitär und edel, wir wollen die anderen Rassen nicht unterwerfen, wir wollen ihnen nur unsere Werte übermitteln und, als Gegengabe, ihrer aller Erbe annehmen. Wir halten uns für die Ritter vom heiligen Kontakt. Das ist die zweite Lüge. Menschen suchen wir, niemanden sonst. Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel. Mit anderen Welten wissen wir nichts anzufangen. Es genügt unsere eine, und schon ersticken wir an ihr. Wir wollen das eigene idealisierte Bild finden; diese Globen, diese Zivilisationen haben vollkommener zu sein als die unsere, in anderen wiederum hoffen wir das Abbild unserer primitiven Vergangenheit zu finden. Indessen ist auf der anderen Seite etwas, was wir nicht akzeptieren, wogegen wir uns wehren, und schließlich haben wir von der Erde nicht nur das pure Destillat aus lauter Tugenden mitgebracht, das heroische Standbild des Menschen! Wir sind so hierhergeflogen, wie wir wirklich sind, und wenn die andere Seite uns diese Wahrheit zeigt, diesen Teil von ihr, den wir verschweigen, — dann können wir das nicht hinnehmen!

— Also was ist das? — fragte ich, nachdem ich ihn geduldig angehört hatte.

— Das, was wir gewollt haben: der Kontakt mit einer anderen Zivilisation. Da haben wir den Kontakt! Übersteigert, wie unter dem Mikroskop — unsere eigene monströse Häßlichkeit, unsere Albernheit und Schande!!!

Ihm zitterte die Wut in der Stimme.

— Du meinst also, das ist… der Ozean? Er ist das? Aber wozu? Der Mechanismus soll im Moment einmal das Wenigste sein, aber um Gottes Barmherzigkeit willen, wozu?! Denkst du im Ernst, daß er mit uns spielen will? Oder uns strafen?! Das ist mir erst eine primitive Dämonologie! Ein Planet in der Gewalt eines sehr großen Teufels, der seinem Hang zu satanischem Humor Genüge tut, indem er den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Expedition Sukkuben unterschiebt! Du glaubst doch wohl selbst nicht an eine so ausgemachte Idiotie?!

— Dieser Teufel ist gar nicht so dumm — knurrte er durch die Zähne. Ich sah ihn verblüfft an. Mir kam der Gedanke, daß er letzten Endes nervlich zerrüttet sein konnte, selbst wenn das, was in der Station vorging, nicht aus dem Wahnsinn herzuleiten war. — Reaktive Psychose…? — huschte es mir noch durch den Kopf, als Snaut, fast ohne einen Ton von sich zu geben, ganz leise zu lachen anfing.

— Stellst du mir die Diagnose? Wart lieber noch. Im Grunde hast du das in so milder Form an dir erfahren, daß du weiterhin nichts weißt!

— Aha. Der Teufel hatte Erbarmen mit mir — versetzte ich. Das Gespräch wurde mir allmählich lästig.

— Was willst du eigentlich? Daß ich dir sagen soll, was ix Billionen metamorphes Plasma für Pläne gegen uns wälzen? Vielleicht gar keine.

— Was heißt gar keine? — fragte ich verdutzt. Snaut lächelte andauernd.

— Du solltest wissen, daß die Wissenschaft sich nur damit befaßt, wie etwas geschieht, und nicht warum etwas geschieht. Wie? Nun, das hat acht oder neun Tage nach diesem Röntgenexperiment begonnen. Vielleicht hat der Ozean die Strahlung durch irgendeine andere Strahlung beantwortet, vielleicht hat er damit unsere Gehirne sondiert und gewisse psychische Abkapselungen aus ihnen gefördert.

— Abkapselungen?

Das begann mich zu interessieren.

— Genau. Von allem übrigen abgetrennte Prozesse, irgendwelche in sich geschlossene, unterdrückte, zugemauerte Entzündungsherde im Gedächtnis. Er hat sie als Anleitung behandelt, als Konstruktionsplan.. du weißt ja, wie ähnlich einander diese asymmetrischen Kristalle sind, die der Chromosomen und die jener Nukleinverbindungen der Cerebroside, die das Substrat der Merkprozesse bilden… Vererbendes Plasma ist schließlich Plasma, das «sich etwas merkt». Also hat er das aus uns herausgeholt, exzerpiert, und dann, na du weißt, was dann war. Aber warum das gemacht worden ist? Puh! Jedenfalls nicht, um uns zu vernichten. Das könnte er viel einfacher haben. Überhaupt — bei so viel Freiheit in der Technologie — könnte er eigentlich alles, er könnte uns zum Beispiel gegen Doppelgänger auswechseln.

— Ah! — rief ich — Deshalb bist du am ersten Abend so erschrocken, als ich kam!

— Ja. Im übrigen — knüpfte er an — hat er das vielleicht auch getan. Woher kannst du wissen, ob ich wirklich dieser biedere alte Ratz bin, der vor zwei Jahren hierherflog?…

Er begann leise zu lachen, als gewönne er Wunder was für Befriedigung aus meiner Verdutztheit, aber er hörte gleich wieder auf.

— Nein, eh nichts, — murmelte er — auch ohne das reicht es schon. Vielleicht gibt es noch mehr Unterschiede, ich kenne nur den einen: uns beide kann man töten.

— Und die nicht?

— Ich rate dir nicht, daß du es ausprobierst. Ein furchtbares Schauspiel!

— Durch nichts?

— Weiß ich nicht. Jedenfalls nicht durch Gift, Messer, Strick…

— Atom-Werfer?

— Würdest du es probieren?

— Ich weiß nicht. Wenn einer ja weiß, daß das keine Menschen sind.

— Sind sie aber in gewissem Sinne. Subjektiv sind sie Menschen. Sie sind sich durchaus nicht klar über ihre… Herkunft. Das hast du wohl bemerkt?

— Ja. Also… wie ist das?

— Sie regenerieren in unerhörtem Tempo. In unmöglichem Tempo, vor deinen Augen, sag ich dir, und von neuem beginnen sie sich zu verhalten, wie… wie…

— Wie was?

— Wie unsere Vorstellungen von ihnen, diese Aufzeichnungen im Gedächtnis, wonach…

— Ja. Das stimmt — bestätigte ich. Ich achtete nicht darauf, daß mir die Salbe von den verbrannten Wangen rann und auf die Hände tropfte.

— Hat Gibarian gewußt…? — fragte ich plötzlich. Er betrachtete mich aufmerksam.

— Das, was wir wissen, meinst du? — Ja.

— Fast sicher.

— Woher weißt du das, hat er es dir gesagt?

— Nein. Aber ich habe da bei ihm so ein Buch gefunden…

— Die «Kleine Apokryphe»?! — rief ich und fuhr vom Sitz hoch.

— Ja. Aber woher kannst denn du das wissen? — fragte Snaut voll plötzlicher Unruhe, die Pupillen in mein Gesicht verbohrend. Ich quittierte das durch ein Kopfschütteln.

— Nur ruhig — sagte ich. — Du siehst ja, daß ich verbrannt bin und kein bißchen regeneriere? In der Kabine war ein Brief an mich.

— Ein Brief? Was du nicht sagst?! Was stand drin?

— Nicht viel. Eigentlich eine Notiz und kein Brief. Bibliographische Verweise auf den Solaris-Annex und auf diese «Apokryphe». Was ist das?

— Eine alte Sache. Möglich, daß sie etwas damit zu tun hat. Nimm.

Er zog ein dünnes, in Leder gebundenes, an den Ecken abgewetztes Bändchen aus der Tasche und reichte es mir.

— Und Sartorius…? — versetzte ich, das Buch einsteckend.

— Was, Sartorius? In einer solchen Situation verhält sich jeder, wie er es… schafft. Er bemüht sich, normal zu sein, bei ihm heißt das: offiziell.

— Also, weißt du!

— Aber gewiß doch. Ich war mit ihm einmal in einer Situation, die Einzelheiten übergehe ich, jedenfalls blieben uns für acht Leute fünfhundert Kilogramm Sauerstoff übrig. Einer nach dem anderen gaben wir unsere täglichen Beschäftigungen auf, gegen Ende gingen wir alle mit Barten herum, nur er rasierte sich, putzte sich die Schuhe, das ist so ein Mensch. Natürlich, was immer er jetzt tun wird, das wird Getue sein, eine Komödie oder ein Verbrechen.

— Verbrechen?

— Gut, dann eben kein Verbrechen. Wir müssen uns ein neues Wort dafür ausdenken. Zum Beispiel «Rückstoßscheidungsverfahren». Klingt das besser?

— Du bist außerordentlich witzig — sagte ich.

— Möchtest du lieber, daß ich weinen soll? Also, schlag was vor. -Ach, laß mich in Ruh.

— Nein, ich rede im Ernst: du weißt jetzt etwa soviel wie ich. Hast du irgendeinen Plan?

— Du bist drollig! Ich weiß nicht, was ich anfange, wenn sie… wiederum erscheint, sie muß ja erscheinen?

— Wohl schon.

— Auf welchem Weg gelangen sie eigentlich herein, die Station ist doch hermetisch? Vielleicht hat der Panzer…

Er winkte ab.

— Der Panzer ist in Ordnung. Ich habe keine Ahnung, wie. Am häufigsten haben wir Gäste nach dem Aufwachen, und letzten Endes muß der Mensch hin und wieder schlafen.

— Irgendwo einsperren?

— Das hilft nicht für lange. An Mitteln bleiben nur, na, du weißt schon, welche. Er stand auf. Ich stand auch auf.

— Hör mal, Snaut… Geht es dir um die Auflassung der Station, und du willst nur, daß das von mir ausgehen soll?

Er schüttelte den Kopf.

— So einfach ist das nicht. Natürlich, jederzeit können wir flüchten, und sei es auf das Satelloid, und von dort SOS senden. Sie werden uns selbstredend als Irre behandeln… irgendein Sanatorium auf der Erde, bis zu dem Zeitpunkt, da wir alles brav widerrufen werden… Fälle von kollektivem Wahnsinn kommen an solchen isolierten Stützpunkten ja vor… Das wäre vielleicht nicht das Schlimmste. Ein Garten, Ruhe, weiße Zimmerchen, Spaziergänge mit den Wärtern…

Snaut sprach in vollem Ernst, die Hände in den Taschen, den Blick in die Zimmerecke geheftet, ohne etwas zu sehen. Die rote Sonne war schon hinter dem Horizont verschwunden, und die schaumgekrönten Wellen verschwammen zu tintiger Wüste. Der Himmel loderte. Über dieser zweifarbigen, unbeschreiblich trostlosen Landschaft fluteten Wolken mit lilafarbenem Saum.

— Also, willst du nun flüchten? Oder nicht? Noch nicht? Snaut lächelte.

— Du unverzagter Eroberer… Du hast das noch nicht verkostet, sonst würdest du nicht so darauf drängen. Nicht das zählt, was ich will, sondern das, was möglich ist.

— Was?

— Das eben weiß ich nicht.

— Wir bleiben also hier? Denkst du, daß sich ein Mittel findet…

Er sah mich an, schmächtig, mit diesem zerfurchten Gesicht, auf dem sich die Haut abschuppte.

— Wer weiß. Vielleicht zahlt sich das aus. Über ihn werden wir kaum etwas erfahren, aber vielleicht über uns…

Er wandte sich um, hob seine Papiere auf und ging. Ich wollte ihn anhalten, aber aus dem geöffneten Mund kam kein Ton. Es gab nichts zu tun, ich konnte nur warten. Ich trat ans Fenster und blickte auf den blutig schwarzen Ozean, fast ohne ihn zu sehen. Mir kam der Gedanke, ich könnte mich im Flughafen in einer der Raketen einschließen, aber das dachte ich nicht im Ernst, das war allzu dumm; früher oder später hätte ich ja doch herauskommen müssen. Ich setzte mich ans Fenster und zog das Buch hervor, das mir Snaut gegeben hatte. Das Licht reichte noch aus, rosig überhauchte es die Seiten, das ganze Zimmer war rot durchglüht. In dem Buch hatte ein gewisser Magister der Philosophie Otto Ravintzer Artikel und Arbeiten von zumeist nicht einmal mehr zweideutigem Wert gesammelt. Immer steht jeder Wissenschaft irgendeine Afterwissenschaft zur Seite, ihr verschrobenes Zerrbild in Gemütern eines ganz bestimmten Typs; die Astronomie hat die Astrologie zur Parodistin, die Chemie hatte sie einst in der Alchemie, es ist also verständlich, daß die Geburt der Solaristik von einer wahren Hochflut an Denk-Ungetümen begleitet war; eben diese Art Geistesnahrung füllte Ravintzers Buch, im übrigen, wie ich um der Gerechtigkeit willen hinzufügen muß, durch ein Vorwort aus seiner eigenen Feder eingeleitet, worin er sich von diesem Panoptikum distanzierte. Er meinte einfach, und nicht mit Unrecht, eine solche Sammlung könne ein wertvolles Zeitdokument für den Historiker wie auch für den Psychologen der Wissenschaft darstellen.

Bertons Bericht nahm in dem Buch einen würdigen Platz ein. Das Dokument bestand aus mehreren Teilen. Der erste war die Abschrift von Bertons Logbuch und sehr lakonisch.

Von vierzehn Uhr bis sechzehn Uhr vierzig nach der angenommenen Zeitrechnung der Expedition waren die Aufzeichnungen lakonisch und negativ: Höhe 1000 oder 1200 oder 800 Meter, nichts beobachtet, Ozean leer. Das wiederholte sich einige Male.

Dann, um 16.40: Roter Nebel steigt auf. Sicht 700 Meter. Ozean leer.

Um 17.00: Nebel dichter, Stille, Sicht 400 Meter, mit Aufhellungen. Herunter auf 200.

Um 17.20: Bin im Nebel. Höhe 200. Sicht 20-0 Meter. Stille. Auf 400 hinauf.

Um 17.45: Höhe 500. Nebelbank bis an den Horizont. Im Nebel — trichterartige Öffnungen, durch die der Ozeanspiegel hindurchschaut. In ihnen geht etwas vor. Ich versuche, in einen dieser Trichter einzulenken.

Um 17.52: Ich sehe eine Art Wirbel — er wirft gelben Schaum aus. Von Nebelwand umschlossen. Höhe 100. Herunter auf 20.

Damit endete die Aufzeichnung in Bertons Logbuch. Die Fortsetzung des sogenannten Berichts bildete ein Auszug aus Bertons Krankengeschichte; genauer gesagt, war das der Text einer Aussage, die Berton diktiert hatte, unterbrochen durch Fragen der Kommissionsmitglieder.

«Berton.. Als ich auf dreißig Meter heruntergegangen war, wurde es schwierig, die Höhe zu halten, denn in diesem runden nebelfreien Raum herrschten stoßweise Winde. Ich mußte mich um die Steuer kümmern, und einige Zeit, vielleicht zehn oder fünfzehn Minuten lang, schaute ich daher nicht aus der Gondel. Die Folge war, daß ich ohne meine Absicht in den Nebel geriet, ein starker Luftstoß trug mich hinein. Das war kein gewöhnlicher Nebel, sondern eine Art Suspension, mir scheint, ein Kolloid, denn er hat mir alle Scheiben verkleistert. Mit dem Reinigen hatte ich reichlich zu tun. Das war sehr klebrig. Inzwischen reduzierte es mir die Drehzahl um einige dreißig Prozent, durch den Widerstand, den dieses Nebelzeug dem Rotor entgegensetzte; also begann ich an Höhe zu verlieren. Da ich sehr tief flog und eine Kopflandung auf einer Welle befürchtete, gab ich Vollgas. Die Maschine hielt die Höhe, aber hinauf ging sie nicht. Ich hatte noch vier Raketenbeschleunigerpatronen. Die verwendete ich nicht, denn ich dachte, die Situation könnte sich verschlimmern, und dann könnte ich die benötigen. Bei vollen Touren entstand sehr starke Vibration; ich erriet, daß mir diese merkwürdige Suspension den Rotor verpappte; auf der Skala der Hubleistung hatte ich aber immer noch null, also konnte ich dagegen nichts machen. Die Sonne sah ich nicht, seit ich in den Nebel eingedrungen war, aber aus ihrer Richtung her phosphoreszierte es rot. Ich kreiste andauernd, ich hoffte, ich könnte schließlich in eine dieser nebelfreien Stellen ausbrechen, wirklich gelang mir das nach etwa einer halben Stunde. Ich flog in freien Raum hinaus, in einen fast regelrechten Kreis von einigen hundert Metern Durchmesser. Begrenzt wurde er vom Nebel, der heftig brodelte, wie von starken Konvektionsströmen hochgetrieben. Deshalb suchte ich möglichst in der Mitte des „Lochs“ zu bleiben, da war die Luft am ruhigsten. Ich bemerkte nun die Veränderung der Ozeanoberfläche. Die Wellen waren fast ganz verschwunden, und diese Flüssigkeit — das, woraus der Ozean ist, — wurde in der obersten Schicht durchscheinend mit rauchigen Trübungen; die verschwanden dann, nach kurzer Zeit kam es zu völliger Klärung, und ich konnte durch eine wohl etliche Meter dicke Schicht ins Innere schauen. Dort sammelte sich etwas wie gelblicher Schlamm, der in dünnen, senkrechten Bändchen nach oben stieg; sobald er auftauchte, wurde er glasig glänzend, begann zu wallen und zu schäumen und versteifte sich; nun sah er so ähnlich aus wie dicker, angebrannter Zuckersirup. Dieser Schlamm oder Schleim sammelte sich zu dicken Knoten, wuchs über die Ozeanfläche empor, erzeugte höckerige Erhebungen und bildete langsam allerlei Formen aus. Es begann mich zur Nebelwand hin abzutreiben, also mußte ich ein paar Minuten lang mit Gas und Steuer dieser Bewegung entgegenarbeiten; als ich wieder hinausschauen konnte, erblickte ich tief unter mir etwas, was an einen Garten erinnerte. Ja, an einen Garten. Ich sah Zwergbäumchen, und Hecken, und Wege, alles nicht echt, das war alles aus dieser einen Substanz, die schon völlig steif war, wie gelblicher Gips. So sah das aus; der Ozeanspiegel glänzte stark, ich ließ mich hinab, wie ich nur konnte, um das genauer zu besehen.

Frage: Diese Bäume und die anderen Pflanzen, die du gesehen hast, hatten die auch Blätter?

Antwort Bertons: Nein. Das war nur so die allgemeine Form, so etwas wie das Modell eines Gartens. Oh, genau! Das Modell! So hat das ausgesehen. Ein Modell, aber wohl in natürlicher Größe. Nach einer Weile begann alles zu springen und zu zerbrechen; durch die Ritzen, die ganz schwarz waren, quetschte sich dicker Schleim wellenweise an die Oberfläche hervor und erstarrte, teils rann er ab, teils blieb er, und alles begann immer energischer durcheinanderzustürzen und bedeckte sich mit Schaum, und außer Schaum sah ich nichts mehr. Zugleich begann mich der Nebel von allen Seiten einzuengen, also erhöhte ich die Drehzahl und stieg auf dreihundert Meter.

Frage: Bist du ganz sicher, daß das, was du gesehen hast, an einen Garten erinnerte, an nichts anderes?

Antwort Bertons: Ja. Weil ich dort verschiedene Einzelheiten bemerkt habe. Zum Beispiel erinnere ich mich, daß an einer Stelle so würfelförmige Kistchen aufgereiht standen. Später fiel mir ein, daß das eine Bienenzucht gewesen sein konnte.

Frage: Später fiel dir das ein? Aber nicht, während du es gesehen hast?

Antwort Bertons: Nein, denn das war alles wie aus Gips. Und ich sah noch andere Sachen.

Frage: Was für Sachen?

Antwort Bertons: Ich kann nicht sagen, was für welche, denn genau konnte ich sie in der Geschwindigkeit nicht ansehen. Ich hatte den Eindruck, daß unter einigen Sträuchern Werkzeug lag, das waren längliche Formen mit wegstehenden Zähnen, etwas wie Gipsabgüsse kleiner Gärtnermaschinen. Aber das weiß ich nicht völlig sicher. Das andere — ja.

Frage: Hast du dir nicht gedacht, daß das eine Halluzination war?

Antwort Bertons: Nein. Ich habe gedacht, das sei eine Fata Morgana. An eine Halluzination habe ich nicht gedacht, denn ich fühlte mich völlig wohl, und auch deshalb nicht, weil ich nie im Leben etwas Derartiges gesehen hatte. Als ich auf dreihundert Meter hinaufstieg, warder Nebel unter mir von Einbuchtungen durchlöchert, ganz wie ein Käse hat er ausgeschaut. Eines dieser Löcher war leer, und ich sah darin den Ozean wogen, in anderen wieder brodelte etwas. Ich flog in eine dieser Stellen hinein, und aus vierzig Meter Höhe sah ich, daß unter der Ozeanoberfläche, aber knapp darunter, eine Wand lag, etwas wie die Wand eines sehr großen Gebäudes; sie schimmerte hell durch die Wellen und hatte Reihen regelmäßiger, rechteckiger Öffnungen, wie Fenster; es schien mir sogar, daß sich in manchen Fenstern etwas bewegte, aber dessen bin ich nicht so ganz sicher. Diese Wand begann sich langsam zu heben und aus dem Ozean hervorzutauchen. Der Schleim troff in ganzen Wasserfällen an ihr herab, und auch irgendwelche schleimige Gebilde, solche geäderte Verdichtungen. Plötzlich zerbrach sie in zwei Teile und ging so schnell unter, daß sie im Nu verschwunden war. Ich zog nochmals die Maschine hoch und flog so dicht über dem Nebel weiter, daß ich ihn fast mit dem Fahrgestell berührte. Ich sichtete die nächste leere trichterartige Stelle, sie war wohl ein paarmal so groß wie die erste.

Schon von weitem sah ich etwas schwimmen; weil das hell war, fast weiß, bildete ich mir ein, das sei Fechners Raumanzug, um so mehr, als das wie ein Mensch geformt war. Ich wendete die Maschine, sehr jäh, denn ich befürchtete, über diese Stelle hinauszufliegen und sie nicht wiederzufinden; nun hob sich diese Gestalt ein wenig, das sah aus, als schwimme oder stehe sie bis zum Gürtel in der Welle. Ich beeilte mich und ging so tiefhinunter, daß ich das Fahrgestell an etwas Weiches schlagen fühlte, an den Kamm einer Welle, nehme ich an, denn dort war eben eine große. Dieser Mensch, ja, das war ein Mensch, trug keinen Raumanzug. Trotzdem bewegte ersieh.

Frage: Hast du sein Gesicht gesehen?

Antwort Bertons: Ja.

Frage: Wer war das?

Antwort Bertons: Das war ein Kind.

Frage: Was für ein Kind? Hast du es schon irgendeinmal im Leben irgendwo gesehen?

Antwort Bertons: Nein. Nie. Jedenfalls erinnere ich mich nicht. Im übrigen, sobald ich ihm nur nahe kam — ich war an die vierzig Meter von ihm entfernt, vielleicht ein klein wenig mehr —, erfaßte ich, daß etwas Ungutes mit ihm los war.

Frage: Was verstehst du darunter?

Antwort Bertons: Sag ich gleich. Zuerst wußte ich nicht, was es war. Erst nach einer Weile erfaßte ich es: das Kind war außerordentlich groß. Riesig, das ist noch zu wenig gesagt. Es war vielleicht vier Meter groß. Ich erinnere mich genau, als ich mit dem Fahrgestell gegen die Welle stieß, hatte das Kind den Kopf etwas höher als ich, und wenn ich auch in der Kabine saß, muß ich mich doch an die drei Meter über der Ozeanoberfläche befunden haben.

Frage: Wenn es so groß war, woher weißt du dann, daß es ein Kind war?

Antwort Bertons: Weil das ein sehr kleines Kind war.

Frage: Findest du nicht, Berton, daß deine Antwort unlogisch ist?

Antwort Bertons: Nein. Durchaus nicht. Ich habe ja sein Gesicht gesehen. Und im übrigen waren die Proportionen des Körpers kindlich. Es sah aus… fast nach einem Säugling sah es aus. Nein, das ist übertrieben. Vielleicht war es zwei oder drei Jahre alt. Es hatte schwarzes Haar und blaue Augen, riesige! Und nackt war es. Völlig nackt, wie neugeboren. Es war feucht, oder eher glitschig, die Haut hat ihm so geglänzt.

Dieser Anblick hat scheußlich auf mich gewirkt. Ich glaubte nicht mehr an eine Fata Morgana. Ich sah es zu genau. Es hob und senkte sich je nach der Bewegung der Welle, aber unabhängig davon bewegte es sich, das war ekelhaft!

Frage: Warum? Was hat es so Besonderes getan?

Antwort Bertons: Es hat ausgesehen, also wie halt in irgendeinem Museum, wie eine Puppe, aber wie eine lebendige Puppe. Es hat den Mund auf und zu gemacht und allerlei Bewegungen ausgeführt, eklige. Ja, denn das waren nicht seine eigenen Bewegungen.

Frage: Was meinst du damit?

Antwort Bertons: Ich bin ihm nicht nähergekommen als fünfzehn, zwanzig Meter, vielleicht ist zwanzig die beste Schätzung. Aber ich sagte ja schon, wie riesig es war, dadurch habe ich es überaus genau gesehen. Die Augen haben ihm geblitzt, und überhaupt hat es nach einem lebendigen Kind ausgesehen, bloß diese Bewegungen, wie wenn jemand probiert… wie wenn irgend jemand sie alle durchprobiert.

Frage: Bemühe dich, näher zu erklären, was das heißt.

Antwort Bertons: Ich weiß nicht, ob mir das gelingen wird. Ich hatte diesen Eindruck. Das war intuitiv. Ich habe darüber nicht nachgedacht. Diese Bewegungen waren unnatürlich.

Frage: Willst du damit sagen, daß sich beispielsweise die Hände so bewegten, wie menschliche Hände sich infolge der beschränkten Beweglichkeit der Gelenke nicht bewegen können? Antwort Bertons: Nein. Durchaus nicht. Sondern… diese Bewegungen haben keinen Sinn ergeben. Sonst bedeutet doch jede Bewegung etwas, dient zu etwas…

Frage: Findest du? Die Bewegungen eines Säuglings müssen nichts zu bedeuten haben.

Antwort Bertons: Ich weiß. Aber die Bewegungen eines Säuglings sind ungeordnet, nicht gezielt. Verallgemeinert. Aber diese waren, ah, ich weiß schon! Methodisch waren sie. Sie spielten sich der Reihe nach in Gruppen und Serien ab. So, als wollte jemand untersuchen, was dieses Kind mit den Händen zu tun imstande ist, und was mit dem Oberkörper, und was mit dem Mund, beim Gesicht war das am ärgsten, ich nehme an, deshalb, weil das Gesicht am meisten ausdrückt, dieses da war aber wie das Gesicht… nein, ich weiß das nicht zu benennen. Es war lebendig, ja, und trotzdem war es nicht menschlich. Das heißt, die Züge schon. Und ob. Auch die Augen, auch die Haut, alles, aber der Ausdruck, das Mienenspiel nicht.

Frage: Waren das Grimassen? Weißt du, wie das Gesicht eines Menschen bei einem epileptischen Anfall aussieht?

Antwort Bertons: Ja. Ich habe einen solchen Anfall gesehen. Ich verstehe. Nein, das war etwas anderes. Bei der Epilepsie sind da Krämpfe und Zuckungen, während es hier vollkommen flüssige und stete Bewegungen waren, elegante, oder wie soll ich sagen, melodische. Ich habe keine andere Bezeichnung. Und das Gesicht wiederum, mit dem Gesicht war es dasselbe. Ein Gesicht kann nicht so aussehen, daß die eine Hälfte lustig ist und die andere traurig, daß ein Teil davon droht oder sich fürchtet, und ein anderer triumphiert oder sowas, aber gerade so war es bei diesem Kind. Außerdem spielten sich alle diese Bewegungen und Mienen mit unerhörter Geschwindigkeit ab. Ich war sehr kurz dort. Vielleicht zehn Sekunden. Ich weiß nicht, ob überhaupt zehn.

Frage: Und du willst sagen, daß du in so kurzer Zeit dazugekommen bist, das alles zu sehen? Im übrigen, woher weißt du, wie lange das dauerte, hast du das mit der Uhr kontrolliert? Antwort Bertons: Nein. Ich habe das nicht mit der Uhr kontrolliert, aber ich fliege seit sechzehn Jahren. In meinem Beruf muß man die Zeit nach Sekunden genau abschätzen, kurze Augenblicke, meine ich, es geht um den Reflex. Das ist für die Landungen nötig. Ein Pilot, der nicht unabhängig von den Umständen erfassen kann, ob irgendein Phänomen fünf oder zehn Sekunden dauert, wird nie viel taugen. Genauso ist es mit der Beobachtung. Das lernt einer mit den Jahren, daß er alles in kürzestmöglicher Zeit aufnimmt.

Frage: Ist das schon alles, was du gesehen hast?

Antwort Bertons: Nein. Aber an das übrige erinnere ich mich nicht so genau. Ich nehme an, das war für mich etwas zu viel auf einmal. Das Hirn war mir wie zugestöpselt. Der Nebel begann sich zu schließen, und ich mußte aufsteigen. Ich mußte, aber ich erinnere mich nicht, wie oder wann ich das getan habe. Zum ersten Mal im Leben hätte ich fast eine Kopflandung gebaut. Die Hände schlotterten mir so, daß ich das Steuer nicht ordentlich halten konnte. Mir scheint, ich schrie etwas und rief die Basis, obwohl ich wußte, daß ich keine Verbindung hatte.

Frage: Versuchtest du nun zurückzukehren?

Antwort Bertons: Nein. Denn am Ende, als ich draußen auf Gipfelhöhe war, dachte ich, vielleicht sei Fechner in einem dieser Löcher. Ich weiß, das klingt unsinnig. Trotzdem dachte ich so. Wenn solche Sachen geschehen — dachte ich —, dann gelingt es mir vielleicht, auch noch Fechner zu finden. Deshalb nahm ich mir vor, in so viele Nebellücken hineinzufliegen, wie nur irgend möglich. Aber beim dritten Mal, als ich wieder aufstieg, nach allem, was ich da gesehen hatte, da begriff ich, daß ich es nicht schaffte. Ich konnte nicht. Ich muß das sagen, das ist im übrigen bekannt. Mir ist übel geworden, und ich habe mich in der Gondel erbrochen. Ich wußte bis dahin nicht, was das heißt. Mir war nie schlecht.

Frage: Das war ein Symptom der Vergiftung, Berton.

Antwort Bertons: Möglich. Weiß ich nicht. Aber das, was ich beim dritten Mal gesehen habe, das habe ich mir nicht ausgedacht, das war nicht durch die Vergiftung bewirkt.

Frage: Woher willst du das wissen können?

Antwort Bertons: Das war keine Halluzination. Eine Halluzination ist doch das, was von meinem eigenen Gehirn erzeugt wird, oder?

Frage: Ja.

Antwort Bertons: Eben. Und das kann es nicht erzeugt haben. Daran werde ich niemals glauben. Es wäre dazu nicht fähig.

Frage: Sag lieber, was das war, gut?

Antwort Bertons: Zuvor muß ich erfahren, wie das ausgewertet werden wird, was ich bisher gesagt habe.

Frage: Was macht das für einen Unterschied?

Antwort Bertons: Mir — einen grundsätzlichen. Ich sagte schon, daß ich etwas gesehen habe, was ich nie mehr vergessen werde. Falls die Kommission dem, was ich gesagt habe, wenigstens ein Prozent Wahrscheinlichkeit zuerkennt, so daß entsprechende

Untersuchungen dieses Ozeans aufzunehmen sind, in dieser Richtung, meine ich, — dann sage ich alles. Aber falls das von der Kommission für irgendwelche Wahnvorstellungen meinerseits gehalten werden soll, sage ich nichts.

Frage: Warum?

Antwort Bertons: Weil der Inhalt meiner Halluzinationen, selbst wenn er um Rache zum Himmel schreit, meine persönliche Angelegenheit ist, der Inhalt meiner Solaris-Erfahrungen hingegen nicht.

Frage: Soll das heißen, daß du jedwede weitere Antwort verweigerst, bis die zuständigen Organe der Expedition einen Beschluß gefaßt haben werden? Denn du siehst wohl ein, daß die Kommission nicht dazu ermächtigt ist, sofort einen Beschluß zu fassen

Antwort Bertons: So ist es.»

Damit endete das erste Protokoll. Da war noch der Ausschnitt aus einem zweiten, das elf Tage später abgefaßt worden war.

«Vorsitzender… dies alles in Betracht ziehend, ist die Kommission, zusammengesetzt aus drei Ärzten, drei Biologen, einem Physiker, einem Ingenieur und Mechaniker, sowie dem stellvertretenden Expeditionsleiter, zu der Überzeugung gelangt, daß die von Berton geschilderten Vorgänge den Inhalt eines halluzinatorischen Syndroms darstellen, das unter dem Einfluß einer Vergiftung durch die Planetenatmosphäre ablief und sich in Bewußtseinstrübungen mit begleitender Erregung der assoziativen Zonen der Hirnrinde äußerte, und daß diesen Vorgängen in der Realität nichts oder fast nichts entsprach.

Berton: Verzeihung, was heißt das, „nichts oder fast nichts“? Was ist „fast nichts“? Wie groß ist das?

Vors.: Ich bin noch nicht zu Ende. Gesondert protokolliert wurde ein Votum separatum des Doktors der Physik Archibald Messenger, der erklärte, seiner Meinung nach könne sich das, was Berton erzählt hat, in Wirklichkeit zugetragen haben und sei gewissenhafter Untersuchung würdig. Das wäre alles.

Berton: Ich wiederhole meine Frage von vorhin.

Vors.: Das ist ganz einfach. „Fast nichts“, das besagt, daß gewisse reale Phänomene deine Halluzinationen angeregt haben können, Berton. Der normalste Mensch kann in einer windigen Nacht einen bewegten Strauch für irgendeine Gestalt halten. Was ist nun erst auf einem fremden Planeten, wenn die Geisteskräfte des Beobachters unter Gifteinwirkung stehen. Das ist keine Beleidigung für dich, Berton. Wie lautet nun in Anbetracht des obigen deine Entscheidung?

Berton: Ich erführe gern vorher, was dieses Votum separatum von Herrn Doktor Messenger für Konsequenzen hat.

Vors.: Praktisch gesehen, keine. Das heißt, daß diesbezügliche Untersuchungen nicht aufgenommen werden.

Berton: Wird das protokolliert, was wir reden?

Vors.: Ja.

Berton: Dann möchte ich sagen, daß meiner Überzeugung nach die Kommission nicht mich beleidigt hat — ich zähle hier nicht —, sondern den Geist dieser Forschungsreise. So, wie ich es das erste Mal gesagt habe, werde ich nun weitere Fragen nicht mehr beantworten.

Vors.: Ist das alles?

Berton: Ja. Aber ich möchte gern Herrn Doktor Messenger sprechen. Geht das?

Vors.: Natürlich.»

Damit endete das zweite Protokoll. Am unteren Rand der Seite befand sich die kleingedruckte Anmerkung, Dr. Messenger habe am nächsten Tag ein fast dreistündiges vertrauliches Gespräch mit Berton geführt und sich hierauf abermals mit der Forderung nach Untersuchungen zu den Aussagen des Piloten an den Expeditionsrat gewandt. Messenger habe behauptet, dafür sprächen neue, zusätzliche Informationen, die er von Berton erhalten habe, aber erst nach einem positiven Ratsbeschluß aufdecken könne. Der Rat, verkörpert durch Shannahan, Timolis und Trahier, habe diesen Antrag abschlägig beschieden, womit die Angelegenheit abgeschlossen worden sei.

Das Buch enthielt auch noch die Fotokopie einer Seite eines Briefes, den man bei Messengers Nachlaßpapieren gefunden hatte. Das war wahrscheinlich ein Konzept; Ravintzer hatte nicht feststellen können, ob dieser Brief abgeschickt worden war, und was er für Konsequenzen hatte.

… seine abgrundtiefe Stumpfsinnigkeit" — so begann der Text.» Aus Sorge um die eigene Autorität hat der Rat, oder konkret gesagt, haben Shannahan und Timolis (denn Trahiers Stimme gilt nichts) meine Forderungen abgelehnt. Ich wende mich nun direkt ans Institut, aber Du verstehst selbst, das ist nur ohnmächtiger Protest. Durch mein Wort gebunden, kann ich Dir leider nicht mitteilen, was Berton mir gesagt hat. Auf den Ratsbeschluß hat sich selbstredend ausgewirkt, daß mit der großen Entdeckung ein Mensch ohne jeden wissenschaftlichen Grad daherkam, obwohl so mancher Forscher diesen Piloten um seinen wachen Verstand und seine Beobachtungsgabe beneiden könnte. Sende mir bitte postwendend folgende Angaben:

1) Einen Lebenslauf Fechners, mit Berücksichtigung seiner Kindheit.

2) Alles, was Du nur über seine Familie und seine Familienangelegenheiten weißt; er soll ein kleines Kind hinterlassen haben.

3) Die Topographie der Ortschaft, wo er aufgewachsen ist.

Ich möchte Dir gern noch sagen, was ich von alldem halte. Wie Du weißt, entstand einige Zeit nach dem Aufbruch Fechners und Caruccis im Zentrum der roten Sonne ein Fleck, der durch seine Korpuskularstrahlung die Funkverbindung zerstörte, und zwar nach den Angaben des Satelloids vor allem auf der Südhalbkugel, d.h. dort, wo sich unsere Basis befand. Fechner und Carucci entfernten sich unter allen Forschungsgruppen am weitesten von der Basis.

So dichten, beharrlich ruhenden Nebel bei völliger Windstille hatten wir bis zum Tag der Katastrophe während unseres ganzen Aufenthalts auf dem Planeten nicht beobachtet.

Ich denke, das, was Berton gesehen hat, war ein Teil einer» Operation Mensch», die von diesem klebrigen Monstrum vollzogen wurde. Die eigentliche Quelle aller von Berton wahrgenommenen Gebilde war Fechner— sein Gehirn, im Zuge einer für uns unbegreiflichen» psychischen Sezierung»; es ging um experimentelle Wiedergabe, um Rekonstruktion mancher Spuren in seinem Gedächtnis (wohl der dauerhaftesten).

Ich weiß, das klingt phantastisch, ich weiß, ich kann mich irren. Ich bitte Dich also um Hilfe; ich befinde mich derzeit auf dem Alarich und werde dort Deine Antwort erwarten.

Dein A.»

Ich konnte kaum lesen, so finster war es geworden, das Buch in meinen Händen wurde grau, endlich begann mir der Druck vor den Augen zu verflimmern, aber das leere Stück der Seite zeigte an, daß ich ans Ende dieser Geschichte gelangt war, die ich im Licht der eigenen Erlebnisse für sehr wahrscheinlich ansah. Ich wandte mich zum Fenster um. Darin stand tiefes Violett, über dem Horizont glommen noch ein paar Wölkchen, wie erlöschende Kohlen. Der Ozean, in Dunkel gehüllt, war unsichtbar. Ich hörte die Papierstreifen über den Ventilatoren schwach prasseln. Die erwärmte Luft mit schwachem Ozongeschmack stand leblos still. Vollkommene Stille erfüllte die ganze Station. Ich dachte, daß unser Entschluß — zu bleiben — nichts Heldenhaftes an sich hatte. Das Zeitalter heroischer Planetenbezwingungen, kühner Ausfahrten, entsetzlicher Todesfälle — wie etwa der des ersten Ozean-Opfers Fechner — war längst abgeschlossen. Es kümmerte mich schon fast nicht mehr, wer bei Snaut oder Sartorius «zu Gast» war. — Nach einiger Zeit — dachte ich — werden wir aufhören, uns zu schämen und abzusondern. Können wir die Gäste nicht loswerden, so werden wir uns an sie gewöhnen und mit ihnen leben, und wenn ihr Schöpfer die Spielregeln abändert, werden wir uns auch den neuen anpassen, wenn wir auch eine Zeitlang zappeln und strampeln werden, und vielleicht sogar einer oder der andere Selbstmord begeht, aber am Ende wird auch dieser künftige Zustand sich einpendeln. Die Finsternis, die das Zimmererfüllte, wurde der irdischen immer ähnlicher. Schon hellten nur mehr die weißen Formen des Waschbeckens und des Spiegels das Dunkel auf. Ich stand auf, fand tastend den Watteballen auf dem Regal, wusch mir mit einem angefeuchteten Bausch das Gesicht und legte mich auf den Rücken aufs Bett. Irgendwo über mir, dem Schwirren eines Nachtfalters ähnlich, regte sich das Prasseln am Ventilator und verklang wieder. Ich sah nicht einmal das Fenster, Schwärze umfing alles, ein Streifchen Helligkeit aus unbekannter Quelle schwebte vor mir, ich weiß nicht, ob an der Wand oder weit draußen, tief in der Wüste jenseits des Fensters. Mir fiel ein, wie mich am Vorabend der leere Blick der solarischen Weite erschreckt hatte, und fast lächelte ich. Ich fürchtete ihn nicht. Nichts fürchtete ich. Ich hielt das Handgelenk vor die Augen. Als phosphomes Kränzchen leuchtete das Zifferblatt meiner Uhr. In einer Stunde sollte die blaue Sonne aufgehen. Ich genoß die herrschende Finsternis, ich atmete tief, ich war leer, befreit von allem Denken.

Einmal, als ich mich bewegte, spürte ich die flache Form des Tonbandgeräts an der Hüfte aufliegen. Richtig. Gibarian. Auf Spulen festgehalten — seine Stimme. Nicht einmal eingefallen war mir, sie zu wecken, anzuhören. Das war alles, was ich für ihn tun konnte. Ich zog das Bandgerät hervor, um es unter dem Bett zu verstauen. Ich hörte etwas rascheln, und leise knarrte die aufgehende Tür.

— Kris..? — erklang eine leise, fast flüsternde Stimme. — Bist du da, Kris? Es ist so dunkel.

— Das macht nichts — sagte ich. — Hab keine Angst. Komm.

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